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Irgendwo im Pazifischen Ozean befindet sich die japanische Insel Aburi, ein aus der Zeit gefallenes Fleckchen Erde. Auf der Insel bestimmen die Natur, die Witterung und das Meer das Leben – und die strikten Traditionen der Einheimischen. Der junge Ryosuke, der seine Stelle als Koch in einem Restaurant in Tokio verloren hat, nimmt hier einen Job als Bauarbeiter an. Nicht ganz ohne Hintergedanken: Hashi, ein Freund seines toten Vaters, lebt auf Aburi. Doch bevor er sich auf die Suche nach ihm macht, gilt es, sich auf der Insel einzugewöhnen. Was nicht eben einfach ist: Die Arbeit ist hart, die Einheimischen beäugen ihn skeptisch und einzig die Freundschaft zu zwei seiner Kollegen stellt einen Lichtblick dar. Als Ryosuke den alten Hashi schließlich trifft, ist dies eine Begegnung mit der Vergangenheit und einer möglichen Zukunft zugleich. Hashi besitzt eine kleine Ziegenherde, stellt selbst Käse her und verdingt sich als ​Fischer. Ryosuke bekommt eine Ahnung davon, wie ein anderes Leben aussehen könnte, eines, das ihn erfüllt: ein Leben mit einer Aufgabe, im Einklang mit der Natur und ohne das stetige Hadern mit sich. Aber ein Neuanfang ist nicht leicht, wenn die Verletzungen der Vergangenheit noch nachwirken …

Autor

 

Durian Sukegawa, geboren 1962, studierte in Tokio Philosophie. Er schreibt Romane und Gedichte, außerdem ist er in Japan als Schauspieler, Punkmusiker und Fernseh- sowie Radiomoderator bekannt. ›Kirschblüten und rote Bohnen‹ (DuMont 2016) war in Japan ein Bestseller und wurde von Naomi Kawase als Beitrag für Cannes 2015 verfilmt.

 

Luise Steggewentz, geboren 1988, studierte in München Japanologie und Literarisches Übersetzen. Sie verbrachte längere Zeit als Austauschstudentin in Japan und lebt mittlerweile in Tokio.

Durian
Sukegawa

Die Insel
der Freundschaft

Roman

Aus dem Japanischen
von Luise Steggewentz

 

Wenn du nicht stirbst, lebst du.

Auch wenn du stirbst, lebst du.

Überstürz es nicht.

Die Breitfußschnecke am Meeresgrund,

ein leuchtend bunter Regenschirm.

 

Ein Harlekin
von einer weit entfernten Insel

1

Als es aufhörte zu regnen und die Wolkendecke aufbrach, wurde der Abend in ein klares Licht getaucht. Die Möwen flogen über der Mole hin und her und die Männer gingen im Schein der Abendsonne auf dem Containerplatz ihrer Arbeit nach. Das Fährschiff, das von R. zu den Aburi-Inseln unterwegs war, hatte soeben vom Kai abgelegt und verließ langsam die Bucht.

Von seinem Platz im Speiseraum des Schiffes aus sah Ryosuke das Hafenbecken vorüberziehen und konnte auch einen Teil des Decks und den Gang an der Reling betrachten. Dort hatte sich eine Wasserpfütze gebildet, die so intensiv schimmerte, als wäre ein Stück der Sonne hineingefallen. Lichtreflexe wanderten über die Kommandobrücke, ein flimmerndes Muster aus vielen sich überlappenden Kreisen, das sich im Takt der schwankenden Fähre beständig auflöste und wieder zusammenfügte. Ryosuke verfolgte diesen Rhythmus aus den Augenwinkeln. Während er die unsteten Lichtkreise besah, drifteten seine Gedanken ab.

»Hören Sie mir eigentlich zu?«

Der Mann mit der Brille, der schräg gegenüber auf der anderen Seite des Tisches saß, blickte Ryosuke in die Augen. Er war Bauleiter und überwachte die Arbeiten auf der Insel, die sie ansteuerten.

»Ich muss Sie wirklich bitten, mir zuzuhören. Auf dem Bau können Sie auch nicht vor sich hin träumen.«

Der Aufseher, der ungefähr Mitte vierzig sein musste, fasste sich an die Brille und strich dann über seinen äußerst spärlichen Bart. Die Fähre hatte gerade erst abgelegt, und bisher hielt sich nicht mehr als eine Handvoll Gäste im Speiseraum auf. Ein Mann, wahrscheinlich ein Fischer, nippte an einem Becher Shochu, und eine Gruppe älterer Damen unterhielt sich im Dialekt der Insel miteinander. Ansonsten befanden sich nur Ryosuke und der Bauleiter im Restaurant.

»Ryosuke Kikuchi, achtundzwanzig Jahre alt …«

Die Vibration des Motors ließ den Tisch mitsamt Ryosukes Lebenslauf erbeben. Der Bauleiter fixierte das Papier und verfolgte jede einzelne Zeile mit dem Finger.

»Studium abgebrochen. PKW-Führerschein. Zuletzt Anstellung als Koch. Ach ja, das wollte ich Sie bei unserem Telefonat noch fragen. Wo haben Sie denn gearbeitet? In einem chinesischen Restaurant?«

»Nein … in einem Restaurant mit westlicher Küche.«

»Können Sie Spaghetti mit Seelachsrogen kochen? Das ist mein Lieblingsgericht.«

»Ja.«

»Und Reis mit Omelette?«

»Ja.«

»Aha. Und wie sieht es mit französischer Küche aus? Nicht, dass ich mich da groß auskennen würde. Aber was ist mit … sagen wir … Escargots?«

»Dafür braucht man besondere Schnecken aus Frankreich.«

»Kann man nicht auch die Schnecken von der Insel nehmen? Es gibt dort so ganz kleine.«

Der Bauleiter krümmte Daumen und Zeigefinger, um zu demonstrieren, wie winzig die Schnecken waren, murmelte dann aber wie zu sich selbst: »Na ja, hier am Meer schmecken Muscheln bestimmt sowieso besser.«

Er wandte sich erneut Ryosukes Lebenslauf zu.

»Da noch nicht abzusehen ist, wann die Bauarbeiten beendet sein werden, können Sie möglicherweise für eine ganze Weile nicht nach Hause fahren. Weiß Ihre Familie Bescheid?«

»Nein …«

»Wie bitte?«

»Ich … habe keine Familie.«

Der Bauleiter nahm das Blatt mit dem Lebenslauf in die Hand. Seine Augen bewegten sich hinter den Brillengläsern rasch hin und her.

»Und was ist mit dieser Notfallnummer?«

»Das war die Nummer meiner Mutter.«

»Ist sie gestorben?«

»Ja.«

»Und Ihr Vater?«

»Der ist schon vor sehr langer Zeit …«

»Und Ihre Geschwister?«

»Hab ich nicht.«

Der Bauleiter blickte hinauf zur Decke und seufzte. Ryosuke sah wieder aus dem Fenster. Das flimmernde Licht hüpfte immer noch an derselben Stelle der Kommandobrücke hin und her. Auf der Reling spreizten zwei Möwen gleichzeitig ihre Flügel und flogen aufs offene Meer hinaus. Ein Mann mit einem khakifarbenen Seesack ging hinter der Scheibe vorbei, sein langes Haar wehte im Wind.

»Herr Kikuchi, gibt es denn vielleicht sonst jemanden in Ihrem Leben?«

»Bitte?«

Verdutzt sah Ryosuke den Bauleiter an, der ihm vertraulich zuzwinkerte.

»Na ja, eine Freundin.«

»Nein«, entgegnete Ryosuke mit einem Kopfschütteln. Der Bauleiter verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Dann müssen Sie ja ganz schön einsam sein.«

Ryosuke stritt diese Aussage weder ab, noch bejahte er sie, er lächelte lediglich etwas unbeholfen. Vielleicht hatte der Bauleiter keine Lust, nach einem neuen Gesprächsthema zu suchen, jedenfalls blinzelte er noch mehrere Male und blickte Ryosuke schweigend an. In diesem Moment betrat der langhaarige Mann, der soeben noch auf dem Deck vorbeigegangen war, den Speiseraum. Er schaute sich um und ging dann geradewegs auf Ryosuke und den Bauleiter zu.

»Bin ich hier richtig?«, fragte er und deutete sich mit dem Finger auf die Brust.

»Moment mal.«

Halb im Stehen öffnete der Bauleiter seinen Ordner mit den Lebensläufen.

»Ähm … Herr Tachikawa? Sie sind wegen des Jobs auf der Insel hier?«

»Genau.«

Der Mann ließ seinen Seesack auf den Boden fallen und rief dann mit polternder Stimme, so laut, dass es jeder im Speiseraum hören konnte: »Hallo zusammen!«

»Moment mal … Einen Moment …«

Der Bauleiter legte den Kopf schief und verglich den Mann, der vor ihm stand, mit dem Foto auf dem Lebenslauf.

»Herr Tachikawa, nun, Sie sehen ganz anders aus als auf dem Bild, das Sie mir geschickt haben. Ihre Haare sind viel länger.«

»Das Foto ist ja auch schon vier Jahre alt.«

»Wie bitte? In der Anzeige stand doch ausdrücklich, dass die Aufnahme nicht älter als drei Monate sein sollte.«

»Tschuldigung, aber ich bin trotzdem noch der gleiche Mensch.«

»Sie sind nicht der Mensch auf dem Bild! Was werden die Leute auf der Insel nur zu Ihnen sagen? Könnten Sie sich die Haare vielleicht vor der Ankunft noch abschneiden?«

»Was? Meine Haare abschneiden?«

Tachikawas Miene verfinsterte sich, als würde er denken: Will der Alte mir etwa Vorschriften machen?

Der Bauleiter zögerte einen Moment lang, dann schüttelte er nervös den Kopf.

»Nein, also, das ist eigentlich in Ordnung. Ist schon in Ordnung … Nur …«

»Nur was?«

Der Bauleiter sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch er gab auf, als Tachikawa einen Stuhl zu sich heranzog und ihn angriffslustig taxierte.

Tachikawa ließ von ihm ab und streckte Ryosuke seine Hand entgegen. »Hallo, ich bin Jimmy«, sagte er. Einen Moment lang ließ Ryosuke die forsche Begrüßung des Neuankömmlings stocken, doch dann erwiderte er den Händedruck.

»Ryosuke Kikuchi.«

Erneut sah der Bauleiter auf Tachikawas Lebenslauf.

»Jimmy?«

»Ich habe früher in einem Host-Club gearbeitet, und das war mein Künstlername. Mein richtiger Name ist einfach nur langweilig.«

»Herr Ichizo Tachikawa.«

Tachikawa lachte etwas beschämt und zog dann die Stirn kraus, als hätte er nicht damit gerechnet, dass der Bauleiter seinen wahren Namen preisgeben würde.

»Stinknormal, wenn nicht sogar lächerlich. Ichizo … Klingt wie der Name von ’nem Clown«, sagte Tachikawa und wandte sich dann noch einmal an Ryosuke. »Komischer Name, oder?«

»Also, Herr Tachikawa, Sie sind dreiundzwanzig Jahre alt. Schule abgebrochen. Na, da haben Sie beide ja was gemeinsam! Und als Zusatzqualifikation sehe ich hier einen Englischtest, den Sie ganz knapp bestanden haben …«

»Hey, das müssen Sie doch hier nicht so ausposaunen!«

Mit einer schnellen Bewegung packte Tachikawa den Bauleiter an der Schulter. Er lachte nun nicht mehr. »Tut mir leid«, presste der Bauleiter hervor.

»Man muss doch nicht alles gleich jedem unter die Nase reiben, kapiert?«

»Es tut mir wirklich leid.«

Entschuldigend senkte der Bauleiter seinen Kopf, doch gleich darauf, warum auch immer, beugte er sich wieder über Tachikawas Lebenslauf und murmelte:

»Hachioji Boys-Bar, Host-Club Mondscheinschloss …«

»Was fällt Ihnen ein?«, knurrte Tachikawa und zog eine Augenbraue hoch.

»Oh, entschuldigen Sie! Das ist mir so herausgerutscht. Was ich sagen will: Sie beide haben Ihre Ausbildung abgebrochen und mehrmals die Arbeit gewechselt …«

Ryosuke und Tachikawa sahen sich an.

»Ich hoffe, Sie bleiben diesmal so lange, bis die Arbeiten beendet sind. Allerdings fährt die Fähre ohnehin nur ein Mal pro Woche. Sie kommen also gar nicht so einfach weg, selbst wenn Sie wollen.«

Der Bauleiter lachte laut auf, wobei er sein Zahnfleisch zeigte. Dann erhob er sich unvermittelt.

»Es wird übrigens noch jemand zu Ihrem Zweierbund dazustoßen. Seltsam … Am Telefon wurde mir gesagt, das Fährticket sei angekommen.«

»Wir sind also zu dritt?«

Tachikawa richtete die Frage nicht an den Bauleiter, sondern an Ryosuke. »Sieht so aus«, erwiderte dieser.

»Vielleicht macht Nummer drei ja ein Nickerchen in der Schiffskabine«, schaltete sich der Bauleiter ein. »Ist jetzt nicht zu ändern, dann gehe ich doch erst einmal etwas zu trinken holen! Aber es bringt wirklich alles durcheinander, wenn sich die Leute nicht an Abmachungen halten …«

Der Seufzer des Bauleiters kam Ryosuke ziemlich affektiert vor, gerade so, als wollte er dem abwesenden Dritten die Schuld für die verkrampfte Stimmung geben, die von Beginn an das Gespräch bestimmt hatte.

»Wie ist der denn drauf?«

Tachikawa sah dem Bauleiter missmutig nach, als dieser auf den Schalter zuging, an dem Marken für Speisen und Getränke verkauft wurden. Ryosuke blickte wieder aus dem Fenster. Der Hafen war nun nicht mehr zu sehen, nur noch das weite, blauschwarze Meer und die lang gezogene Silhouette der Landzunge. Das Licht begann zu verblassen, und die orangerote Färbung des Himmels ging in eine Mischung aus Grau und Indigoblau über. Auch das flimmernde Lichtspiel auf der Kommandobrücke hatte sich aufgelöst.

»Vielleicht sollte ich den Job gleich an den Nagel hängen. Bei so einem Chef …«

Ryosuke verspürte keinerlei Lust, darauf einzugehen, deshalb schaute er weiter nach draußen und quittierte Tachikawas Aussage nur mit einem knappen: »Ja?«

»Der Stundenlohn ist ein Witz.«

»Stimmt, hoch ist er nicht«, entgegnete Ryosuke ruhig, als auch schon der Bauleiter mit einem Tablett voller Dosenbier zurückkam.

»Na, dann wollen wir mal!«

Er stellte noch ein paar Snacks auf den Tisch, dann prosteten sich die drei Männer zu, wie es sich in solch einer Situation gehörte. Tachikawa stellte noch immer unverhohlen seine Ablehnung zur Schau, sodass dem Bauleiter nichts anderes übrig blieb, als ein Gespräch mit Ryosuke anzufangen. Doch auch der war nicht gerade mitteilsam. Nach und nach füllte sich der Speiseraum mit Gästen und die Stimmung wurde zusehends heiterer, nicht so an ihrem Tisch.

»Langsam kommt mir das wirklich komisch vor. Vielleicht ist das Ticket ja doch nicht angekommen?«

Nervös rutschte der Bauleiter auf seinem Stuhl herum und schaute immer wieder auf die Armbanduhr. Unterdessen zog Tachikawa sein Handy hervor und begann auf dem Display herumzutippen, während Ryosuke weiter auf den Horizont starrte. Die Konversation kam endgültig zum Erliegen. Plötzlich sprang der Bauleiter auf.

»Da sind Sie ja endlich!«

Bei diesen Worten sahen Ryosuke und Tachikawa auf.

»Entschuldigung! Es tut mir wirklich leid!«

Eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und Lederjacke kam auf die Männer zu.

»Der Sonnenuntergang war so schön, dass ich ihn vom Deck aus beobachten wollte.«

»Und ich hatte schon Angst, Sie hätten die Fähre verpasst.«

Sichtlich erleichtert reichte der Bauleiter ihr ein Bier.

»Muss ich das jetzt zur Strafe austrinken?« Sie lachte und griff nach der Dose.

»Wie?«

Tachikawa wirkte vollkommen geschockt.

»Wie … Wie …«, stammelte er und erinnerte dabei an einen Goldfisch, der an der Wasseroberfläche nach Luft schnappt.

»Wie jetzt? Der Dritte ist eine Frau?«

Ryosuke hatte es vor Überraschung komplett die Sprache verschlagen. Er begrüßte die Frau mit einem knappen Nicken, das diese mit einem Lächeln erwiderte. Ihre Gesichtszüge waren auffallend ebenmäßig, doch in ihren Ohren und ihrer wohlgeformten Nase prangten derart viele Piercings, dass es geradezu grotesk wirkte.

»Ich bin Kaoru Motomiya.«

»Hallo, Kaoru! Ganz schön viele Nasenpiercings, die du da hast. Bist du in einer Rockband oder so?«, fragte Tachikawa. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wobei er sich zu Kaoru drehte. Diese schüttelte den Kopf.

»Freut mich, euch kennenzulernen«, entgegnete sie.

»Damit sind wir also endlich vollzählig!«, sagte der Bauleiter, sichtlich erleichtert.

»Mann, das ist ja ein Ding! Arbeitet Kaoru mit uns auf dem Bau? Ich meine, so richtig auf’m Bau?«

Tachikawas schlechte Laune schien wie weggeblasen und er grinste den Bauleiter ungeniert an.

»Ich habe verschiedene Aufgaben für sie, auch außerhalb der eigentlichen Bauarbeiten.«

»Ach ja, danach wollte ich Sie noch fragen«, mischte sich Kaoru ein.

»Immer mit der Ruhe, das erzähle ich Ihnen später. Alles zu seiner Zeit«, antwortete der Bauleiter betont gelassen, als hätten sie tatsächlich alle Zeit der Welt. Dann schob er Kaoru einen Teller mit frittiertem Hähnchen zu. Sie bedankte sich, rührte das Essen aber nicht an. Stattdessen setzte sie sich an den benachbarten Tisch und trank ihr Bier.

»Komm doch zu uns!« Tachikawa machte eine einladende Geste, aber Kaoru setzte bloß ein gezwungenes Lächeln auf und rümpfte die Nase.

»Alles zu seiner Zeit«, ahmte sie den Bauleiter nach, der sich an seinen dünnen Bart fasste und in schallendes Gelächter ausbrach.

»Was für ein Irrenhaus«, murmelte Tachikawa mit einem flüchtigen Blick auf seinen Chef, der in diesem Moment, als folgte er einer plötzlichen Eingebung, ein Blatt aus seinem Ordner hervorzog, wahrscheinlich Kaorus Lebenslauf. Als er jedoch Ryosuke und Tachikawas Blicke bemerkte, schob er das Dokument hastig wieder zurück.

»Ich empfehle Ihnen, sich mit dem Essen und Trinken zu beeilen und heute frühzeitig ins Bett zu gehen.«

»Warum?«, fragte Kaoru.

Der Bauleiter machte eine Kopfbewegung Richtung Meer, das eine dunkle Farbe angenommen hatte.

»Heute Nacht soll es hohen Seegang geben. Sobald wir die Bucht hinter uns gelassen haben, werden uns die Wellen wohl ziemlich durchschütteln.«

Ryosuke, Tachikawa und Kaoru sahen sich an.

»Ähm … Ehrlich gesagt ist mir jetzt schon übel«, meinte Kaoru.

»Soll ich dir später den Rücken massieren? Vielleicht fühlst du dich dann etwas wohler.«

Tachikawa grinste anzüglich.

»Wirklich schade, aber da wird nichts draus. Wir sind nämlich gar nicht in derselben Kabine.«

Hier schaltete sich der Bauleiter wieder in das Gespräch ein.

»Es tut mir leid, Herr Kikuchi, Herr Tachikawa, aber Sie sind in einer Gruppenkabine in der zweiten Klasse untergebracht, wo die Matratzen nebeneinander auf dem Boden liegen. Frau Motomiya hat selbstverständlich eine Einzelkabine in der ersten Klasse.«

Kaoru sah sie triumphierend an, woraufhin Tachikawa missmutig mit der Zunge schnalzte. Er zuckte übertrieben schwungvoll die Schultern.

»Mann, mit euch ist echt nichts anzufangen.«

Ryosuke trank sein Bier aus und sein Blick glitt erneut zu der Landzunge, die in immer weitere Ferne rückte. Nach und nach gingen dort die Lichter an, während die Fähre unter dem tiefblauen Märzhimmel zielstrebig auf die südwestlich gelegenen Aburi-Inseln zusteuerte.

2

Obwohl die Kabine der zweiten Klasse mit Teppichboden ausgelegt war, war die Vibration des Motors deutlich zu spüren. Eingewickelt in eine Decke lag Ryosuke auf der Matratze und fühlte im Rücken das Hämmern des Motors, der auf Hochtouren lief, während sich das Schiff durch die Wellen kämpfte.

Das Schiff schaukelte von rechts nach links. Auch die Jacken der Fahrgäste pendelten an ihren Wandhaken im Gleichtakt hin und her. Neben der Garderobe hing eine einfache Seekarte, auf der die Aburi-Inseln abgebildet waren, und der Ärmel eines Anoraks schwang beständig über der Inselkette vor und zurück.

Auf der Karte konnte man erkennen, dass die Insel Aburi-jima dem Festland am nächsten lag. Danach folgten die Inseln Kegara-jima, Kisaki-jima und Nearai-jima, deren Häfen das Fährschiff der Reihe nach anlief.

Die Fahrzeit vom Hafen in R. bis Aburi-jima betrug elf Stunden. Zu den übrigen Inseln gelangte man laut der Seekarte in jeweils weiteren zwei bis drei Stunden.

»Wie kann man nur so am Ende der Welt leben?«

Tachikawa, der neben Ryosuke lag, lugte unter seiner Decke hervor. In einer Ecke der Kabine saßen noch einige Männer im Kreis und tranken, die meisten Fahrgäste lagen aber bereits auf ihren Matratzen, weshalb Tachikawa mit gedämpfter Stimme sprach.

Die Vorhersage des Bauleiters bezüglich des Seegangs war eingetroffen. Kaoru hatte sich vorzeitig mit den Worten: »Ich glaube, mir wird schlecht«, in ihre Kabine verabschiedet. Ryosuke, Tachikawa und der Bauleiter hatten noch Curry und Schnitzel bestellt, doch bereits während des Essens hatte das Schiff stark zu schwanken begonnen. Es hatte da die Mündung der Bucht erreicht und war dem starken Wellengang des ostchinesischen Meers ausgesetzt. Selbst den Passagieren, die mit Sicherheit an Schiffsfahrten gewöhnt waren, schien mulmig zumute zu sein. Mit einer Hand fest an den Tisch geklammert, hatten die drei Männer schnell ihre Mahlzeit beendet. Kurz darauf hatte die Küche den Betrieb eingestellt und der Bauleiter war in seiner Einzelkabine verschwunden. Gischt war auf den Gang und das Deck gespritzt. Tachikawa hatte sehen wollen, wie stürmisch das Meer wirklich war, doch vor der Tür zum Deck war ein Schild mit der Aufschrift »Durchgang verboten« aufgestellt worden. So gingen sie schließlich in ihre Kabine, während das Schiff ununterbrochen weiterschwankte.

Und hier waren sie nun. Die Männer in der Ecke der Kabine lachten jedes Mal, wenn Shochu verschüttet wurde. Einem älteren Herrn, der neben Ryosuke lag, ging es jedoch sichtlich schlecht. Auch Ryosuke bekam das wiederholte plötzliche Absinken des Schiffes nicht gut. Ihm war es, als drehte sich sein Magen wieder und wieder um, und die Übelkeit wollte einfach nicht verschwinden.

»Sag mal, Kollege.«

Tachikawa sah Ryosuke stirnrunzelnd an.

»Bist du auf normalem Weg hierhergekommen?«

Ryosuke, der seine Lippen fest aufeinandergepresst hatte, um den Brechreiz zu unterdrücken, wusste nicht, worauf Tachikawa hinauswollte.

»Normal?«

»Ich meine, hast du diesen Job im Netz gefunden oder so?«

»Nein, über eine Arbeitsvermittlung in Shinjuku.«

Als Ryosuke den Namen der Zeitarbeitsfirma nannte, nickte Tachikawa, als hätte er es bereits geahnt.

»Also doch. Ich habe ihn auch darüber. Findest du nicht, dass diese Firma ziemlich dubiose Jobs vermittelt? Die haben sonst noch Aufräumarbeiten im Atomkraftwerk oder Medikamententests im Angebot. Jobs, die man nicht einfach öffentlich ausschreiben kann. Die nehmen’s auch nicht so genau mit den Personalien. Sogar dieser eine Mörder aus der Zeitung hat von denen einen Job gekriegt, habe ich gehört.«

Tachikawa nannte den Namen eines Mannes, dessen Fall lange für Schlagzeilen gesorgt hatte.

»Ach, wirklich?«, erwiderte Ryosuke, ohne weiter darauf einzugehen.

»Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber … ich habe so ein Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmt.«

»Wie meinst du das?«

Tachikawa hob den Kopf und sah Ryosuke an.

»Ich meine, es geht um Bauarbeiten auf einer Insel im Nirgendwo. Warum lassen sie dafür extra Leute aus Tokio kommen? Die könnten doch auch Studenten, die aus der Gegend kommen, einstellen.«

»Stimmt.«

»Allein der Flug von Tokio muss ein Vermögen gekostet haben. Und dann ist da noch diese Kaoru. Was macht denn so ’ne Rockerbraut hier? Ich find’s einfach komisch, dass man gar keine Referenzen vorweisen musste und dass die sogar einer Frau so einen Knochenjob geben. Da ist doch was faul.«

»Faul?«

»Vielleicht wollen die uns nur auf die Insel locken und haben eigentlich was ganz anderes mit uns vor. Menschenversuche oder so. Vielleicht ist das eine Falle.«

Ryosuke lächelte unwillkürlich.

»Darüber freust du dich auch noch?«

»Ich dachte nur, wenn das stimmt, dann bin ich umso gespannter auf die Insel.«

»Du bist ja drauf!«

Tachikawa sank in sein Kissen zurück und stieß einen leisen Seufzer aus.

»Ah, mir ist speiübel. Diese Seekrankheit macht einen wirklich fertig. Und es gibt kein Entkommen … Von dieser Insel bestimmt auch nicht so schnell.«

»Da hast du wohl recht.«

»Sag mal, Kollege, du warst doch vorher Koch, oder?«

»Ja.«

»Warum hast du denn aufgehört und so einen komischen Job angenommen? Hast du etwa Mist gebaut?«

»Ja …«

»Echt?«

Tachikawa hob wieder den Kopf, er wirkte jetzt hellwach.

»Was hast du denn angestellt?«

Ryosuke sah Tachikawa in die Augen und überlegte kurz.

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete er dann.

»Jetzt fängst du auch schon damit an!«

Die Männer in der Ecke standen auf und richteten ihre Schlafplätze her. Ryosuke zog sich die Decke bis unters Kinn und wünschte Tachikawa eine gute Nacht, doch der schien das Gespräch noch nicht beenden zu wollen.

»Was hast du angestellt?«, flüsterte er noch einmal.

Aber Ryosuke blieb die Antwort schuldig und so gab er auf.

Bald war bis auf das kleine Licht, das den Notausgang markierte, die Beleuchtung in der Kabine erloschen und Finsternis hüllte die dicht aneinanderliegenden Männer ein. Mit der fortwährenden Vibration des Motors im Rücken schaukelten die Liegenden heftig im Rhythmus des Seegangs. Dennoch war schon bald aus verschiedenen Richtungen das Schnarchen einiger Männer zu vernehmen. Auch Tachikawas Atem wurde ruhiger und gleichmäßiger. Ryosuke sah zur dunklen Decke hinauf.

»Was hast du angestellt?«

Der Klang dieser Worte hallte noch in seinem Inneren wider. Langsam ließ er die Hand über dem Hemd bis zu der Stelle etwas unterhalb seiner linken Brust gleiten. Eine gerade Linie von ungefähr zehn Zentimetern Länge, eine leicht wulstige Erhebung war als Narbe zurückgeblieben. Die Wunde war inzwischen vollständig verheilt, aber den Schmerz und den Schock, als das Messer in seinen Körper eingedrungen war, konnte Ryosuke nicht vergessen.

Nachdem Ryosuke sein Studium abgebrochen hatte, nahm er eine Stelle in der Küche einer Bar an, in der auch Speisen serviert wurden. Er hegte keine besondere Leidenschaft fürs Kochen, doch ehe er sichs versah, war er in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters getreten und stand wie dieser mit Kochschürze in der Küche. Da er keinerlei Erfahrungen vorzuweisen hatte, wurde er anfangs nur für den Abwasch eingesetzt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ihm mehr Verantwortung übertragen wurde, denn er hatte diese besondere Eigenschaft, sich voll und ganz in die Arbeit zu stürzen und dabei scheinbar alle Gefühle auszublenden. Vorgesetzte und Kollegen hatten ihn allerdings immer wieder dafür kritisiert, dass er so schweigsam war und man nie wusste, was er gerade dachte. Ryosuke war dennoch Koch geblieben. Zwar hatte er es nie in eine Hotelküche oder ein erstklassiges Restaurant geschafft, doch um sich fortzubilden, hatte er sich für zu Hause professionelle Kochmesser angeschafft.

Warum hatte er sich eines dieser Messer in die eigene Brust gestoßen?

Todessehnsucht. Ein Verlangen, das ihn seit seiner Jugend verfolgte und die Ursache für sein stetes Bemühen war, Gefühle nicht zuzulassen. Nur indem er so tat, als könnten Schmerz und Einsamkeit ihm nichts anhaben, und indem er sich durch eine unsichtbare Mauer von der Umwelt abschottete, schaffte er es, die Tage zu überstehen. Sein ausgeprägter Drang zu sterben war der Grund dafür, dass er sich anderen gegenüber unnahbar geben musste. Es war eine Überlebensstrategie, die er sich mit der Zeit angeeignet hatte.

In jener Nacht hatte er sein wirkliches Ich jedoch nicht unterdrücken können. Dass er etwas zu viel getrunken hatte, war lediglich einer der Auslöser gewesen. Auch dass ihm sein Chef vorgeworfen hatte, er würde die Stimmung in der Küche trüben, zählte zu den Gründen. Die Frau, die ihn verlassen hatte, und das Handy, das fast nie klingelte, hatten wohl auch ihren Teil dazu beigetragen.

Doch die gewichtigsten Gründe waren gewesen, dass die Welt ihn einfach nicht zu akzeptieren schien und dass er einen tiefen Hass gegen sich selbst verspürte.

Ryosuke hatte sein Hemd auf den Küchenboden fallen lassen und sich dann, im Schneidersitz, die Spitze des Messers in die linke Brust gestoßen. Er hatte das Messer nach rechts bewegt und sofort quoll Blut hervor, das ihn von der Hand, die das Messer noch immer hielt, bis hinunter zu den Knien besudelte. Im Licht der Neonlampe glänzte es wie Lackierfarbe. Rot. Das nahm Ryosuke noch wahr. Dann durchfuhr ihn ein Schmerz, der ihn aufstöhnen ließ. Das Messer glitt ihm aus der Hand und er versuchte, die Wunde mit den Händen verschlossen zu halten, aber es war bereits zu spät. Die Blutlache breitete sich immer weiter aus. Sein Tod, den er selbst herbeigesehnt hatte, rückte immer näher. Doch plötzlich wurde Ryosuke von einem so starken Lebenswunsch überwältigt, dass sogar der bohrende Schmerz in seiner Brust dahinter zurücktrat. Mit der einen Hand hielt er sich die Wunde und mit den blutbeschmierten Fingern der anderen griff er zum Telefon, um den Notarzt zu rufen. Ryosukes Geist bäumte sich auf und seine Gedanken flackerten wild wie eine Kerze im Wind.

Wieso hatte ihn auf einmal ein so starker Überlebenswunsch heimgesucht, wo er sich den Tod doch gewünscht hatte? Ob sein Vater auch diese Zweifel verspürt hatte, als er seinem Leben ein Ende gesetzt hatte?

Ryosuke versuchte vergeblich einzuschlafen. Während sich die Schnarchgeräusche der Männer im Raum miteinander vermischten, starrte er unentwegt an die Decke. Sein Rücken und seine Achseln waren schweißnass. Der für Schiffe typische Ölgestank in der Kabine trug dazu bei, dass er bald meinte, den aufsteigenden Brechreiz nicht mehr unterdrücken zu können.

Leise stand er auf und verließ die Schiffskabine vorsichtigen Schrittes, um nicht versehentlich gegen einen der Schlafenden zu stoßen. Er hastete zur Toilette und übergab sich mehrmals hintereinander.

Der Spiegel über dem Waschbecken war gesprungen, und als Ryosuke sich den Mund ausspülte, sah er sein Bild in Fragmente zerteilt. Ryosuke fuhr mit dem Finger an seinen Augen entlang, die tief in den Höhlen lagen. Vor und hinter den Ohren waren seine Haare bereits vollständig ergraut, und er fand selbst, dass er nicht wie achtundzwanzig aussah.

Die Übelkeit hatte nachgelassen, doch er wollte noch nicht in die Schiffskabine zurückkehren, in der so laut geschnarcht wurde, dass er weiterhin nicht hätte einschlafen können. Stattdessen stieg er die schwankende Treppe zum Deck hinauf. Er klammerte sich ans Geländer und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Immer noch stand dort das Schild mit der Aufschrift »Durchgang verboten«, doch Ryosuke stieß die Tür trotzdem auf.

Sogleich fegte ihm eine starke Windböe entgegen. Gischt spritzte ihm ins Gesicht und sein Haar und seine Wangen wurden nass. Der Wind peitschte erbarmungslos.

Ryosuke hielt sich an der Reling fest und bewegte sich in Richtung des Bugs. Wohin er auch blickte, überall war es stockfinster. Das Meer war kaum zu erkennen. Nur die Wogen direkt unter dem Schiff wurden von Lampen an der Längsseite beleuchtet. Immer wieder schwoll dort das schwarze Wasser zu einer Welle an, die sich dann brach und wieder in der Dunkelheit verschwand.

Während Ryosuke gebannt das stetige Kommen und Gehen der Wellen beobachtete, brach ihm erneut der Schweiß aus.

Tief in ihm schlummerte noch immer das Verlangen, sich einfach fallen zu lassen, in das Wasser, in die Dunkelheit. Ein Körper, der im reißenden Strudel wild zappelt und dann vom Meer verschluckt wird. Ryosuke hatte das Gefühl, als wäre es jeden Moment so weit. Das Licht des Schiffes würde sich entfernen und keiner der Passagiere ahnen, dass ein Mann über Bord gegangen war.

Sogar das Pfeifen des Windes, der am Lüftungsrohr auf dem Deck vorbeifegte, machte Ryosuke jetzt Angst. Er hatte das Gefühl, wenn er hier weiterhin still ausharrte, würden böse Stimmen ihn übermannen.

Fest an die Reling geklammert, tastete Ryosuke sich langsam, Schritt für Schritt, zurück. Selbst als sich der riesige Schiffsbug seitwärts hob und die Gischt spritzte, hetzte er sich nicht. Er trat durch die Tür. Als er jedoch versuchte die Treppen hinabzusteigen, verließen ihn seine Kräfte und er musste sich auf die Stufen setzen.

Ryosuke atmete flach und dachte an die Insel.

Ob die Person, nach der er suchte, immer noch auf Aburi-jima lebte? Ob er es schaffen würde, ihr das zu überreichen, was er ganz unten in seinem Rucksack verstaut hatte? Und würde es ihm gelingen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, wenn er das Geheimnis seiner Kindheit gelüftet hätte?

3

Das Schiffshorn ertönte, während Ryosuke sich im Traum noch durch dichten Nebel kämpfte. Er hatte das Gefühl, jemanden zu verfolgen und gleichzeitig verfolgt zu werden. Der grelle Ton ging durch Mark und Bein und löste den Nebel auf. Ryosuke wachte auf und spürte wieder die Vibration des Motors im Rücken.

Hinter den runden Fenstern wurde es bereits hell. Im einfallenden Licht sah Ryosuke, wie sich die Männer unter ihren Decken räkelten. Auch Tachikawa rieb sich die Augen. Einige Männer schnarchten noch immer, andere hörte man bereits flüstern: »Sind wir da?« Oder: »Wie spät ist es?«

Ein Mann, der direkt neben der Wand lag, sah auf seine Armbanduhr. Ryosuke schlug die Decke zurück und stand leise auf. Er holte sein Waschzeug aus dem Rucksack und trat auf den Gang. Das Schwanken hatte nachgelassen und man musste die Oberschenkel beim Gehen kaum noch anspannen.

»Guten Morgen. Die Fähre wird in etwa dreißig Minuten Aburi-jima erreichen. Aufgrund des starken Seegangs haben wir eine leichte Verspätung. Um kurz nach sechs werden wir am Südhafen der Insel, Minamigasaki-ko, anlegen.«

Noch während der ersten Ansage des Tages verließ Ryosuke das Bad wieder. Auf dem Gang winkte ihm Tachikawa zu. Er fuhr sich mit einer Hand durch das lange Haar und verzog dabei sein Gesicht.

»Mir ist so schlecht, ich würd mich am liebsten übergeben. Bei dir alles klar, Kollege?«

»Auch nicht wirklich«, antwortete Ryosuke mit einem gequälten Lächeln.

»Lass uns an Deck gehen! Vielleicht sieht man schon die Insel.«

Tachikawa deutete zur Treppe. Einen Moment lang zögerte Ryosuke, doch dann folgte er ihm. Das Schild mit der Aufschrift »Durchgang verboten« stand nicht mehr da. Mit der Schulter stieß Tachikawa die Tür zum Deck auf und sofort wurde Ryosuke vom Sonnenlicht geblendet.

»Wow! Abgefahren!«, rief Tachikawa. Er stand an der Reling und sein Haar wehte im Wind.

Die Insel war in Sicht.

Unter dem graublauen Himmel breiteten sich unzählige Wogen und weiß schäumende Wellen bis ins Unendliche aus. Inmitten der gewaltigen Wassermassen erhob sich ein schroffer Berg.

Ryosuke hatte sich die Insel ganz anders vorgestellt, nicht so steil und spitz. Rings um den Berg herum ragten weitere Felsen auf, und es wirkte fast so, als stritten sie sich um den höchsten Punkt. Der Berg war grün, doch die Klippe bestand zur Hälfte aus nacktem Stein. Sie fiel steil bis zu einer rauen Felsenküste ab, an der sich die Wellen brachen und ins Meer zurückgeschleudert wurden.

Würden sie wirklich hier an Land gehen?

Ryosuke hielt nach so etwas wie einer Siedlung Ausschau, doch mit Ausnahme eines Sendemastes auf dem Berggipfel deutete nichts auf die Anwesenheit von Menschen hin. Er sah weder Häuser noch Straßen noch einen Hafen.

»Das Riff ist beeindruckend, oder?«

Der Bauleiter hatte sich unbemerkt hinter sie gestellt. Mit gekrümmtem Rücken rauchte er den letzten Rest seiner Zigarette.

»Ist das wirklich unsere Insel?«, fragte Tachikawa, ohne dem Bauleiter einen guten Morgen zu wünschen.

»Ja, das ist Aburi-jima.«

»Aber da sieht’s ja total unbewohnt aus.«

»Es gab mal eine Zeit, als es wichtig war, dass die Insel für unbewohnt gehalten wurde.«

»Während des Krieges?«, fragte jetzt Ryosuke.

»Nein, noch früher. Es sollen hier schon vor sehr langer Zeit Menschen gelebt haben, aber das weiß ich auch nur aus Erzählungen. Sie werden während Ihres Aufenthalts bestimmt noch einige Geschichten über die Insel zu hören bekommen. Auf den ersten Blick wirkt sie nicht besonders einladend, aber sie hat auch viele gute Seiten.«

»Gute Seiten? Welche denn zum Beispiel?«, fragte Tachikawa hoffnungsvoll.

»Tja … Zum Beispiel gibt es hier keine Giftschlangen.«

»Das gehört für Sie schon zu den guten Seiten?«

»Es bedeutet, dass Sie beruhigt Ihrer Arbeit nachgehen können. Das ist doch wohl etwas Gutes. Ich muss Sie im Übrigen auch darauf hinweisen, dass es kein Krankenhaus auf der Insel gibt.«

Tachikawas Miene verfinsterte sich.

»Wie bitte? Und was ist, wenn wir uns verletzen?«

»Es gibt auch keine Polizeistation und keine Geschäfte. Außerdem können Sie Ihre Handys dort nicht benutzen.«

»Was?«

»Ich fordere Sie also auf, sich bloß nicht zu verletzen«, ermahnte sie der Bauleiter und verließ das Deck.

Ryosuke fragte sich, wo auf dieser schroffen Insel die Person wohnte, die er suchte.

Er stellte sich neben Tachikawa und betrachtete die raue Landschaft. Offenbar fuhr das Schiff um das aufragende Kap mit der steilen Klippe herum und steuerte auf den südlichen Teil der Insel zu. Die Bäume wogten im Wind und ihre grünen Blätter schimmerten im Licht der Morgensonne. Am Himmel zog eine Schar Vögel vorbei. Im unteren Bereich der Klippe klafften zwei schwarze Löcher, wahrscheinlich Höhlen, die aussahen, als führten sie in eine andere Welt.

»Vielleicht wohnt da ja ein Monster«, raunte Tachikawa. Im selben Moment meinte Ryosuke, ungefähr in der Mitte des Steilhangs eine Bewegung ausgemacht zu haben. Er kniff die Augen etwas zusammen. Ein schwarzer Punkt, der im Gestrüpp fast unterging, tauchte auf und verschwand wieder.

»Komisch«, sagte Ryosuke.

»Was ist denn da? Das Monster?«

Tachikawa folgte Ryosukes ausgestrecktem Finger mit den Augen.

»Nein … Gerade ist …«, setzte Ryosuke an und versuchte, Tachikawa die Stelle an der Felswand zu zeigen, an der er den schwarzen Punkt gesehen hatte, doch da war nichts mehr.

»Was meinst du? Die Insel?«

Ryosuke legte den Kopf zur Seite. Er war sich sicher, dass es genau an dieser Stelle gewesen war, aber der Punkt erschien nicht mehr, egal, wie konzentriert er die Klippe beobachtete.

»Was für ein Ausblick!«

Kaoru hatte sich zu ihnen gestellt. Sie trug eine Lederjacke zu zerschlissenen Jeans und hielt sich an der Reling fest.

»Diese Insel ist total abgefahren, Kaoru!«, sagte Tachikawa. Selbstbewusst warf er sein Haar zurück und machte aus unerfindlichen Gründen eine Siegerpose. Kaoru ahmte die Pose halbherzig nach und wandte sich dann mit einem Lächeln Ryosuke zu.

»Morgen!«

»Guten Morgen«, erwiderte dieser leise und blickte wieder zur Insel hinüber. Kaoru stellte sich neben ihn.

»Ob hier wirklich jemand wohnt?«

Sie schien dieselben Zweifel wie Ryosuke und Tachikawa zu hegen. »Wo sind wir hier nur gelandet?«, fügte sie hinzu und man konnte nicht sagen, ob sie damit Verwunderung oder Verzweiflung zum Ausdruck bringen wollte.

»Es gibt hier nicht mal Handy-Empfang«, erklärte Tachikawa.

»Wirklich?«

»Ja! Und Geschäfte gibt’s auch nicht.«

Kaoru stöhnte auf, lachte dabei aber. Plötzlich ertönte direkt über ihren Köpfen das Schiffshorn und sie hielten sich überrascht die Ohren zu. Dann rief Tachikawa so laut, als wollte er gegen das Schiffshorn anschreien: »Inseeeel!«

Von den Wellen geschaukelt passierte die Fähre das Kap und augenblicklich veränderte sich der Ausblick. Eine lange Mole, an der Gischt hochspritzte, kam in Sicht, und am Hang des Berges waren nun verstreut Häuser und Ackerland zu sehen.

4

Aburi-jima, Minamigasaki-ko.

Hinter der lang gezogenen Mole befand sich ein gemütlicher kleiner Hafen. Während sich das Schiff der Anlegestelle näherte, kamen nach und nach die anderen Fahrgäste, offensichtlich Inselbewohner, aus ihren Kabinen und versammelten sich an Deck. Sie waren mit so viel Gepäck beladen, dass sie selbst darunter zu verschwinden schienen. Sie erinnerten an mit Waren bepackte Hausierer.

Vom Deck aus war der Kai zu erkennen. Dort standen mehrere Kleintransporter. Männer in blauer Arbeitskleidung mit gelben Helmen zogen am Tau des Schiffes.

Ryosuke, Kaoru und Tachikawa, die auf dem Deck warteten, wurden von den anderen Fahrgästen neugierig beäugt.

»So was mag ich gar nicht«, seufzte Tachikawa und schüttelte den Kopf.

»Ich komme mir vor wie eine Schülerin in einer neuen Klasse«, meinte Kaoru und lächelte verlegen.

Ryosuke ließ flüchtig den Blick über die Gesichter der Wartenden schweifen. Vielleicht war auch die Person, nach der er suchte, zum Einkaufen auf das Festland gefahren und befand sich jetzt auf dieser Fähre. Er hatte jedoch keine Möglichkeit, es herauszufinden, denn Ryosuke wusste überhaupt nicht, wie die Person mittlerweile aussah.

Drei Männer kamen verspätet an Deck und lachten unverhohlen, als sie die jungen Leute vom Festland sahen. Das Lachen klang verächtlich. Sie wirkten, als hätten sie in der letzten Nacht zu viel Alkohol gehabt und wären noch nicht wieder ganz nüchtern. Einer von ihnen, ein großer, kräftiger Mann, sprach den Bauleiter an.

»Wo kriegst du nur immer diese Typen her?«, fragte er.

Tachikawa drehte sich ruckartig um und wechselte einen Blick mit Ryosuke. Der Bauleiter sah zu Boden und antwortete etwas, woraufhin der Große laut auflachte und ihm fest auf die Schulter schlug. Der Bauleiter zuckte zusammen und fasste sich an die Schulter, lächelte die Männer dann aber schmeichlerisch an. Ryosuke konnte den Anblick nicht ertragen und sah weg.

»Das wird doch sowieso wieder nichts«, bemerkte der Große. Tachikawa zog die Augenbrauen hoch und starrte die Männer angriffslustig an, was diese sehr wohl bemerkten.

»Lass dich nicht von denen provozieren«, flüsterte Ryosuke, der einen Schritt auf Tachikawa zugegangen war.

»Genau, das ist doch albern. Lass es einfach!«, pflichtete ihm Kaoru bei. Tachikawa wandte daraufhin den Blick ab und sah missmutig zum Hafen hinüber.

Die Fähre legte an und es wurde eine Laufplanke heruntergelassen, über die der Reihe nach alle Passagiere an Land gingen, auch Ryosuke und seine Kollegen. Die meisten der anderen Fahrgäste unterhielten sich kurz mit den Männern, die am Hafen arbeiteten, bevor sie in die Kleintransporter stiegen. Die drei Männer, die sich den Neulingen gegenüber so feindselig gezeigt hatten, verließen das Schiff ganz zum Schluss und verschwanden, voll beladen mit Gepäck, im hinteren Teil des Hafens.

Ryosuke, Kaoru, Tachikawa und der Bauleiter warteten in einiger Entfernung zum Schiff auf die Fracht für die Bauarbeiten, die noch ausgeladen werden musste.

Ab und zu wehte der Wind vom Meer zu ihnen hinüber, der für diese Jahreszeit noch recht warm war. Am Ende der Mole gab es eine Anlegestelle, an der etwa zehn kleine Fischerboote vertäut lagen. Dahinter konnte man eine Straße sehen, die sich einen grünen Hang hinaufwand. Sie führte wahrscheinlich zu der Siedlung.

»Wohnen diese Leute auch auf der Insel?«, fragte Kaoru und deutete auf die Männer, die das Gepäck ausluden. Der Bauleiter wirkte niedergeschlagen, vielleicht hatten ihm die drei Männer auf dem Schiff noch irgendetwas anderes an den Kopf geworfen. Er rauchte geistesabwesend eine Zigarette und schien erst nicht zu verstehen, dass die Frage an ihn gerichtet war.

»Wie?«, entgegnete er zerstreut, fügte kurz darauf aber hinzu: »Ja, genau … Wenn die Fähre ankommt, helfen alle mit. Es ist die Aufgabe der Männer der Insel, die Ware nach Haushalten aufzuteilen und auf die Autos zu laden.«

»Müssen wir das auch machen?«, fragte Tachikawa.

»Nein, Sie sind nur Aushilfskräfte. Wenn Sie aber richtig hier leben würden, sähe das Ganze natürlich anders aus.«

Ryosuke musterte jeden einzelnen der Arbeiter. Alle hatten sonnenverbrannte Haut, ihre Gesichter und Hälse waren dunkelbraun. Ryosuke konnte keinen einzigen jungen Mann unter ihnen entdecken. Er schätzte sie alle auf mindestens vierzig.

Das Interesse der Neuankömmlinge an den Männern schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn letztere nutzten jede noch so kleine Unterbrechung ihrer Arbeit, um zu ihnen hinüberzuspähen. Als die Fracht für die Bauarbeiten mit einem Kran vom Schiff gehoben wurde und die drei Aushilfskräfte begannen, sie in die Kleintransporter zu verladen, wurden sie unverhohlen angestarrt. Es ging schließlich so weit, dass die Männer ihre Arbeit unterbrachen, um ihnen beim Tragen eines Bündels Abdeckplane zuzusehen. Sobald jedoch ihre Blicke erwidert zu werden drohten, senkten sie hastig ihre Köpfe.

Kaoru wurde am aufmerksamsten gemustert, und das wunderte Ryosuke kaum. Während der Arbeit hatte sie nämlich, weil sie meinte, ihr sei zu heiß, die Lederjacke ausgezogen. Darunter trug sie lediglich ein T-Shirt, das ihre nackten Arme entblößte. Mit ihrer blassen Haut und der auf dem Oberarm eintätowierten kleinen Rose war sie auf diesem Hafengelände ein echtes Kuriosum. Wenn Kaoru sich bewegte, blitzte die Rose mal unter dem Ärmel hervor, mal wurde sie vom Stoff verdeckt.

Es war abgemacht, dass der Transporter erst die Fracht ins Dorf fahren und sie danach abholen kommen würde. Der Bauleiter war vorgefahren und hatte die drei am Hafen zurückgelassen. Nach einer Weile des Wartens schlenderte Kaoru allein den Kai entlang. Sie sah sich die Boote an, beobachtete die Hafenarbeiten und näherte sich dabei unwillkürlich den Männern. Ein dicklicher Mann lief auf sie zu und sprach sie an. Kaoru erwiderte etwas, drehte sich um und marschierte mit düsterer Miene zurück zu Ryosuke und Tachikawa. Der dickliche Mann folgte ihr.

»Was ist da los?«, flüsterte Tachikawa Ryosuke ins Ohr, als auch schon Kaoru und ihr Verfolger vor ihnen standen.

»Ähm, ähm, ähm … Wer seid ihr? Die Neuen?«, fragte der Mann und grinste breit unter dem Helm. Seine Wangen waren rund und seine Augen bewegten sich unruhig hin und her. Er hatte eine große Stofftasche um die Schulter gehängt, auf der in schwarzen Buchstaben »Post« geschrieben stand.

»Ähm, ähm … Und bist du eine Frau?«

Der Mann machte Anstalten, sich Kaoru zu nähern, doch diese hatte sich bereits hinter Ryosuke und Tachikawa gestellt.

»Ja, und? Hast du was dagegen?«, entgegnete sie kämpferisch.