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Berlin: Ein Mann wird zusammengeschlagen, der Täter entkommt unerkannt. Kripo-Hauptkommissarin Louise Bonì wird zu den Ermittlungen hinzugezogen, denn eine Spur führt nach Freiburg. Sie hat es mit einem beunruhigenden Fall zu tun: Der Täter scheint ein Profi zu sein, das Opfer ein Geheimdienstspitzel, die einzige Zeugin weiß mehr, als sie sagt, und im Hintergrund agiert der Verfassungsschutz, verweigert aber die Kooperation. Ein ums andere Mal wird Louise Bonì ausgebremst – doch wann hätte sie sich davon je beeindrucken lassen? Sie spürt, dass sich das Netz immer enger zusammenzieht. Doch bis sie die Wahrheit entdeckt, ist es für einen der Beteiligten bereits zu spät …

Oliver Bottini erzeugt in Kommissarin Louise Bonìs fünftem Fall eine faszinierend-bedrohliche Atmosphäre der Spannung, der sich keiner entziehen kann.

autor

© Hans Scherhaufer

Oliver Bottini wurde 1965 geboren. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem viermal den Deutschen Krimi Preis, den Krimipreis von Radio Bremen, den Berliner ›Krimifuchs‹ sowie zuletzt den Stuttgarter Krimipreis für ›Ein paar Tage Licht‹ (DuMont 2014). Oliver Bottini lebt in Berlin.

Der erste und der vierte Band der Louise-Bonì-Reihe, ›Mord im Zeichen des Zen‹ und ›Jäger in der Nacht‹, wurden 2014 und 2015 mit Melika Foroutan in der Hauptrolle für die ARD verfilmt. Der vorliegende Band ist der fünfte Fall für die Kommissarin Louise Bonì.

OLIVER BOTTINI

DAS VERBORGENE NETZ

EIN FALL FÜR LOUISE BONÌ

 

 

 

 

 

 

 

 

man hat sich verlaufen im eigenen tal
aber wie das erklären –

aus »troglodyten« von
Annina Luzie Schmid

PROLOG

DIE LETZTEN KILOMETER in der Dunkelheit, bevor am Ende der Autobahn der Funkturm auftauchen würde, eine Stahlnadel aus mattgelbem Licht. Mike Reuter liebte diesen Anblick, und selbst wenn er gefahrlos hätte fliegen können, wäre er immer mit dem Auto gefahren, diesmal aus dem Südwesten quer durch das ganze Land. Die wenigen Minuten im lichtlosen Grunewald, an dessen Ausläufern der illuminierte Turm wartete, waren reine Magie. Vorfreude und eine unbestimmte Sehnsucht erfüllten ihn, wie immer, wenn er nach Berlin kam. Als könnte auf dieser beinahe schnurgeraden Straße alles anders werden, ein neues Leben beginnen.

Dann beschrieb die Autobahn kaum merklich eine Kurve, und der Funkturm erschien, ein Anfang, vielleicht auch ein Ende, auf jeden Fall eine Verheißung, und für ein paar Momente war Mike beinahe glücklich.

An der Ausfahrt Konstanzer Straße verließ er die Autobahn. Er hatte sich ans Fahren ohne Navigationssystem gewöhnt, prägte sich die Strecken auf Parkplätzen und in Raststätten ein. Den Hohenzollerndamm überqueren, die Konstanzer bis zur Brandenburgischen Straße, links abbiegen, das Hotel gleich rechts. Langsam fuhr er daran vorbei. Ein breiter Gehsteig mit weißen Plastiktischen, an denen eine Gruppe älterer Touristen saß. Auf der anderen Straßenseite das Café, in dem Gretzki auf ihn wartete. Ein Tisch an der Außenwand, ein rötlich glimmender Punkt, der für einen Augenblick einen Kreis beschrieb – Gretzki hatte ihn gesehen.

Zwei Querstraßen weiter stellte Mike den Wagen ab, auf Umwegen kehrte er zu dem Café zurück.

Drei junge Männer, türkisch- oder arabischstämmig, in eine lautstarke Unterhaltung verstrickt, zwei ältere Frauen, ein krummer alter Mann mit langen Haaren und einem kleinen Hund; und im Dunkel an der Wand reglos Gretzki.

Er setzte sich zu ihm und sagte: »Ich hoffe, du hast nicht vor, dir das Rauchen abzugewöhnen.«

»Keine Sorge.« Schmunzelnd schob Gretzki ihm die Schachtel hin, und er zündete sich eine Zigarette an. Das Gelächter der Touristen drang zu ihnen herüber. Die Anspannung wuchs, wie immer in der Dunkelheit. Zu viele blinde Flecken, zu viele Möglichkeiten. Mikes Blick irrte von Gesicht zu Gesicht, Bewegung zu Bewegung, von dunklen Fenstern zu erleuchteten, bis er sich zwang, damit aufzuhören.

»Entspann dich«, sagte Gretzki freundlich.

Sie warteten, bis die Bedienung den Espresso gebracht hatte.

Während Mike Zucker hineinrührte, begann Gretzki mit leiser Stimme zu berichten. Die Maschine war pünktlich gelandet. Er hatte zur Sicherheit zwei seiner Männer mitgenommen, sie hatten ja nur Fotos der Zielperson gehabt. Außer ihnen hatte niemand am Flughafen gewartet. Gretzki hob die Zigarette an die Lippen, die Glut färbte seine verknitterte Haut rötlich. Die Zielperson war mit dem Taxi zum Hotel gefahren, fügte er hinzu, von Tegel nach Wilmersdorf, auch nicht gerade die billigste Variante. Seit ihrer Ankunft vor einer Stunde war sie nicht mehr aufgetaucht. Keine Kontakte, keine Telefonate bislang, auch nicht während der Fahrt.

Sie saßen dicht nebeneinander, und Mike atmete den Rauch ein, den Gretzki beim Sprechen aus dem Mund entweichen ließ.

»Sonst irgendwas?«

Gretzki schüttelte den Kopf.

Ohne den Hoteleingang aus dem Blick zu lassen, hob Mike die Tasse an die Lippen. Die Touristen standen auf, traten an den Straßenrand, wo ein Großraumtaxi gehalten hatte. Speckige Männer in Poloshirts und Bundfaltenhosen, mittlere Managementebene bedeutungsloser Firmen, die Frauen ähnlich massig und ähnlich gekleidet, falsches Gold blitzte herüber, Ruhrpott oder eine Kleinstadt abseits der Autobahnen. Lärmend quetschten sie sich in das Taxi, Zeit für die Berliner Nacht.

»Du siehst müde aus«, sagte Gretzki.

»Viel zu tun.«

»In Freiburg?« Ein sanftes Lachen, Scherze à la Gretzki.

Er mochte Gretzki nicht. Ein kleiner, schmaler Mann Mitte fünfzig mit leblosen Augen, ein Schattenmensch, ideal für die Branche, aber zu arrogant und selbstzufrieden. Mikes Vater hatte ihn vor zehn, elf Jahren aus einer Clique ehemaliger BND- und Verfassungsschutzleute herausgefischt, inzwischen leitete er die Berliner Niederlassung. Es gab keine Klagen, keine Fehler. Er hatte Verbindungen, Erfahrung, und Mikes Vater vertraute ihm.

Trotzdem, er mochte Gretzki nicht.

»Was muss ich wissen?«, fragte Gretzki.

Mike wandte sich ihm zu.

Sie hörten Esther Grafs Telefone ab, lasen ihre E-Mails. Sie hatten gewusst, mit welcher Maschine sie fliegen würde und welches Hotel sie gebucht hatte. Doch sie wussten noch immer nicht, weshalb sie nach Berlin gekommen war. Sie hatte Anfang Oktober zweimal von einer Telefonzelle aus gesprochen, in ihrer Mittagspause. Vielleicht wegen Berlin, vielleicht nicht.

»Verstehe«, sagte Gretzki.

Gegenüber sammelte ein Hotelangestellter die Flaschen und Gläser von den Tischen ein. Durch die Fenster konnte Mike in den Barraum sehen, der leer war bis auf einen Gast am Tresen. Einer von Gretzkis Männern.

»Ist sie wichtig?«

»Wichtig und nützlich«, erwiderte Mike.

»Und wenn sie die Nerven verliert, fliegen wir auf?«

»Ja.« Er lauschte dem »Wir« nach. Gretzki hatte mit der Operation nichts zu tun, half nur aus, weil Esther über das Wochenende in Berlin war. Das »Wir« war für seine Verhältnisse zu beflissen.

»Noch jemand im Spiel?«

Mike zögerte. »Schwer zu sagen.«

Gretzki fragte nicht nach, wusste, was das bedeutete: Augen offen halten. Reglos saß er da, ein Teil der Dunkelheit, überlegen, unverwundbar, so kam es Mike vor. Es hatte Jahre gegeben, da wäre er gern wie Gretzki gewesen.

»Sie hat Zimmer 34, du die 35.«

»Gehen die Zimmer zur Straße oder nach hinten raus?«

»Nach hinten raus.«

Mike spürte, wie Gretzkis Augen über ihn glitten. Ein Gefühl, als bewegten sich Blutegel auf seiner Haut.

»Was, wenn du ihr im Flur zufällig über den Weg läufst?«

»Sie hat mich nie gesehen«, sagte Mike.

Er dachte an den Funkturm und die unbestimmte Sehnsucht. Zu dieser Sehnsucht gehörte, dass er nichts mehr mit Menschen wie Gretzki zu tun haben wollte. All den Ehemaligen aus West und Ost, den Kriegern, die sein Leben bevölkerten. Teil des »Wir« waren.

»Wanzen und Kameras sind installiert. Die Standortliste und die Geräte sind in einem Koffer unter dem Bett.«

Mike nickte, während er versuchte, den selbstgefälligen Klang in Gretzkis Stimme zu ignorieren. Sie hatten das Zimmer hergerichtet, noch bevor Esther überhaupt im Hotel eingetroffen war.

Keine Fehler, viel Erfahrung.

Plötzlich verspürte er den Wunsch, Gretzki zu schlagen. Ihn in eine Gasse zu zerren und wieder und wieder zu schlagen. Als könnte er sich auf diese Weise von allem, wofür Gretzki stand, befreien.

»Sie hat an der Rezeption ein Taxi für morgen bestellt. Neun Uhr.«

»Weißt du, wohin?«

»Nein.« Gretzki legte den Zimmerschlüssel auf den Tisch. »Wie lange brauchst du uns?«

Mike nahm den Schlüssel. »Bis wir wissen, weshalb sie hier ist.«

»Willst du eine Theorie? Ein hübscher Käfer, aber verklemmt und einsam. Kommt nach Berlin, um sich auszutoben.«

Mike erwiderte nichts. Er zog den Aschenbecher heran, drückte den Zigarettenstummel aus.

»Swingerklub, Lesbenparty, Schwulenbar. Oder Drogen.« Gretzkis Augen sahen ihn düster an.

»So?«

Gretzki tastete nach der Zigarettenschachtel, ohne ihn aus dem Blick zu lassen. »Oder eine Internetbekanntschaft.«

»Wir werden sehen.«

»Das ist Berlin«, sagte Gretzki.

Mike wandte sich ab und versuchte, die plötzliche Wut zu kontrollieren. Vielleicht, dachte er, sollte er es tatsächlich tun – Gretzki schlagen. Auf diese Weise alles beenden, noch heute Abend.

Die Wut ebbte ab, als er wieder den Grunewald vor sich sah, den Funkturm mit seinem freundlichen Licht.

Das, dachte er, war Berlin.

Ein kleines Zimmer mit Holztäfelung, Vorhänge, die nach Zigarettenrauch stanken, auf dem schmutzigen Teppich vor der Badtür ein riesiger Wasserfleck. Als er sich auf das Bett setzte, sank er tief in die Matratze. Zimmer mit oder ohne Raufasertapete, heruntergekommen oder luxuriös, mit festen oder weichen Matratzen, stinkend oder duftend, immer fremd, immer an ein anderes, ähnliches Zimmer angrenzend, in dem sich jemand aufhielt, der nicht ahnte, dass er überwacht wurde.

In den ersten Jahren hatte er dieses Leben genossen. Fremd und unsichtbar zu sein, und doch geschah nichts, ohne dass er es mitbekam. Er hatte die Macht genossen.

Die Bettfedern quietschten, als er sich nach unten beugte und Gretzkis Aluminiumkoffer hervorzog.

Eine Kamera im Baldachin der Deckenleuchte, eine in einem Gemälderahmen an der Wand zu seinem Zimmer, eine im Bad im Lüftungsschacht über der Tür. Je eine Wanze im Telefon, unter der Schreibtischplatte, auf der Rückseite der Badheizung. Kein toter Winkel, und selbst ein Flüstern würde zu hören sein – ein perfekt präpariertes Zimmer. Nicht zum ersten Mal dachte Mike, dass sein Vater zu Recht große Stücke auf Gretzki hielt.

Die Zimmerlampen waren ausgeschaltet, und es dauerte einen Moment, bis er Esther im trüben Schein des Mondes auf dem kleinen Schwarzweißmonitor sah. Sie hatte das Fenster geöffnet, hockte auf dem Sims, in einer Hand eine Zigarette, in der anderen ein Glas, Rotwein vermutlich, das einzige alkoholische Getränk, das sie mochte. Sie trug eine Jeans und die hellblaue Bluse, die ihm so gefiel, die Haare offen, hatte die Beine ausgestreckt, den Kopf zurückgelehnt. In dem großen Fensterrahmen wirkte sie noch zierlicher als sonst. Ihre Bewegungen waren langsam, und er glaubte zu spüren, dass sie ein wenig zur Ruhe gekommen war.

Sie hatte Hotel und Flug am 20. Oktober in der Firma über das Internet gebucht. Verwandtenbesuch, hatte sie zu den Kollegen gesagt. Es gab keine Verwandten in Berlin.

Sie hatte keine Telefonate mit Berlin geführt, keine entsprechenden E-Mails geschrieben, weder vom Büro noch von zu Hause aus. Zwei Tage vergingen, sie warteten und rätselten. Dann kamen sie auf die Idee, die Bewegungsprofile der Zeit davor durchzusehen, und stießen auf die beiden Anrufe aus einer Telefonzelle Anfang Oktober. »Sie ist aufgeflogen«, hatte sein Vater gesagt und sich mit Gretzki in Verbindung gesetzt.

Auf dem Monitor entstand Bewegung, Esther glitt von der Fensterbank. Vor dem Bett verharrte sie, streifte einen Pullover über. Die Weinflasche in der Hand, kehrte sie zum Fenster zurück.

Wolken zogen vor den Mond, sie verschwand im Grauschwarz. Dann eine Ahnung von Weiß – ihre Wange, ihr Hals, das Dekolleté.

Dass sie bereits geredet hatte, war im Grunde auszuschließen. Keine entsprechenden Treffen, keine geheimnisvollen neuen Bekannten, und an ihrem Verhalten hatte sich nichts verändert. Aber sie konnten nicht ausschließen, dass sie kontaktiert worden und deshalb nach Berlin gekommen war – zwei kurze Anrufe aus einer Telefonzelle, eine Minute fünfzig, eine Minute zehn.

Sie hatten gewusst, dass sie labil war. Deshalb waren sie vor sieben Monaten an sie herangetreten.

Das war die hohe Kunst: Im richtigen Moment zu akquirieren, im richtigen Moment abzutauchen. Sie hatten zu lange gewartet. Egal, was in Berlin geschehen würde, sie mussten sie fallenlassen. Es stand zu viel auf dem Spiel.

In Mikes Jackentasche vibrierte das Handy – Gretzki. Alles da, was du brauchst?, hatte er geschrieben.

Wieder dieser Gedanke: zu beflissen für Gretzki.

Er zog den rechten Handschuh aus. Alles da, antwortete er.

Auf dem Monitor flammte ein Feuerzeug auf. Schweigend saßen sie da, rauchten, seit sieben Monaten miteinander verbunden und doch auch wieder nicht.

Esther im Bad, unter der Dusche, beim Eincremen, in Blümchennachthemd und Socken am Waschbecken. Beim Zähneputzen stützte sie sich wie immer mit der linken Hand auf dem Beckenrand ab. Vier Minuten, zwei für oben, zwei für unten, selbst das Fiepen der elektrischen Zahnbürste übertrug die Wanze. Dann Zahnseide, Gesichtspflege, Abend für Abend die gleichen sparsamen Bewegungen, die gleichen Abläufe, als folgte sie einem festgeschriebenen Programm.

Abend für Abend, Morgen für Morgen, seit er sie kannte.

Später, als sie schlief, nahm er den kleinen Rucksack, verließ das Zimmer und ging ins Erdgeschoss hinunter. Ein ausgefranster Läufer verschluckte jedes Schrittgeräusch, aus dem Barraum drang Schlagermusik. Durch die Glasscheibe der Doppeltür sah er am Ende des Tresens Gretzkis Mann, ein erstarrter, massiger Körper ohne Gesicht, der Kopf außerhalb des Lichtscheins. Für einen Moment wirkte er wie ein lauerndes Reptil, und Mike verfluchte sich dafür, dass er Menschen wie ihn und Gretzki in Esthers Umgebung gebracht hatte.

Er trat auf den Gehsteig. Auch Gretzki war sicher noch in der Nähe, in einem Auto, einem Gebäudeeingang, nah genug jedenfalls, um ihn zu bemerken. Er wandte sich nach rechts. Unter seiner Haut prickelte das Adrenalin, sein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Alle Sinne wachsam, fingen Geräusche, Bewegungen, Lichtreflexe auf, die relevant sein könnten. Keine Kontakte, keine Telefonate, hatte Gretzki gesagt, und auch in Freiburg war ihnen nichts aufgefallen. Doch er wusste, dass das nichts bedeutete. Zu oft hatte er Menschen observiert, Informanten von einer auf die andere Seite geholt, in einem zweiten oder dritten Ring um eine Zielperson gestanden. Nein – keine Kontakte, keine Telefonate bedeutete nichts, und solange sie nicht wussten, weshalb Esther nach Berlin geflogen war, schien alles denkbar.

Dass noch jemand an ihr dran war – oder an ihm.

Bin noch mal unterwegs, schrieb er.

O. k., antwortete Gretzki.

Mit dem Funkpeiler überprüfte er unauffällig, ob der Wagen in der Zwischenzeit verwanzt worden war. Dann fuhr er zum Kurfürstendamm, hielt sich stadteinwärts, bog ab, bog wieder ab. Langsam glitt er durch Kopfsteinpflastergassen, seine Augen wanderten zwischen Straße und Rückspiegel hin und her. Gesichter, die für Momente ins Scheinwerferlicht gerieten, undeutliche Bewegungen außerhalb. Auch wenn er nicht mehr sein wollte wie Gretzki, beneidete er ihn doch um seine Ruhe. Gretzki war, was er tat, das machte ihn überlegen, und die Überlegenheit machte ihn ruhig. Er konnte den Schatten abstreifen. Konnte vergessen und vielleicht sogar vertrauen.

Nach dreißig Minuten war Mike davon überzeugt, dass ihn niemand verfolgte. Wieder der Kurfürstendamm, der Verkehr stand, ein Pkw war auf einen der gelben Doppeldeckerbusse aufgefahren und hatte sich quergestellt. Auf den Gehsteigen zogen Touristenströme vorüber, an einer Fassade flammten die blauen Neonbuchstaben eines Varietés auf, erloschen im immer gleichen Rhythmus. Gretzkis abfällige Worte über Berlin fielen ihm ein. Er dagegen mochte alles an dieser Stadt. Die Möglichkeiten, die sie bot, die Unwirtlichkeit, die Weite, die baumbestandenen Seitenstraßen, selbst die schwerfälligen Busse und die verkniffenen Gesichter ihrer Fahrer.

Die Phantasien, die Berlin auslöste, in denen alles denkbar war.

Weitere zwanzig Minuten später trat er auf die Brandenburgische Straße und spürte von einem Schritt zum nächsten Gretzkis Augen auf sich liegen.

Gretzki, der alles sah, alles wusste, natürlich auch, was er vorhatte.

Langsam ging er auf das Café zu, in dem er sich mit Gretzki getroffen hatte. Stühle und Tische waren fort, auch der langhaarige Alte mit dem unruhigen Hund war verschwunden.

Als auf der Hotelseite der Straße eine Treppenhausbeleuchtung ansprang, kehrte er dorthin zurück. Eine Frau eilte auf den Gehsteig, er fing die zufallende Tür auf. In dem feucht riechenden, schmalen Flur verharrte er und beobachtete, wie die Tür mit einem Klicken ins Schloss glitt. Lautlos lief er in den dritten Stock hinauf. Neben einem Fenster zur Straßenseite blieb er stehen.

Nachdem das Flurlicht erloschen war, nahm er das Nachtfernglas aus dem Rucksack und begann, die gegenüberliegende Gebäudefront abzusuchen, Fenster für Fenster, Haus für Haus.

Fünf Minuten verstrichen, ohne dass ihm etwas Ungewöhnliches auffiel. Da vibrierte das Handy.

Haus links von Cafe, schrieb Gretzki. Treppe zum Sou.

Mike hob das Fernglas. Ein Haus mit schmiedeeisernem Geländer, eine Treppe führte zum Souterrain, die Fenster vom Gehsteig halb verdeckt. Kein toter Winkel, aber viel Dunkelheit.

Gleich, schrieb Gretzki.

Die Wolken gaben den Mond frei, und vor den beiden Linsen tauchte ein Frauengesicht auf. Schmale Brille, gewölbte Nase, kurzes Haar, der Blick in Richtung Hoteleingang gewandt. Der geschlossene Mund bewegte sich, sie kaute. Um den Hals ein Trageriemen, vielleicht eine Kamera, vielleicht ein Fernglas. Keine Private, das war leicht zu erkennen. Das Bewusstsein, auf der Seite des Staates zu stehen, prägte die Gesichter, die Körperhaltung. Eine besondere Form von Selbstsicherheit, die keinen Zweifel kannte.

Mike fluchte stumm. Er zweifelte nicht daran, dass die Frau wegen Esther dort unten stand. Die Lawine war in Bewegung geraten, und sie hatten es nicht bemerkt.

Kannst du rausfinden, wer sie ist?, schrieb er.

Morgen wissen wir’s, antwortete Gretzki.

Mike beobachtete die Frau noch eine Weile, dann verstaute er das Fernglas im Rucksack. Er hatte nicht den Eindruck, dass sie von ihm und Gretzki wusste. Die Frage war nur, ob Esther von ihr wusste.

Am Samstagmorgen Nieselregen, die Stadt vollkommen grau, als wäre alles Bunte aus ihr herausgesogen worden. Ändert sich erst im April wieder, hatte Gretzki mit einem müden Achselzucken gesagt, und Mike hatte sich gefragt, ob das die Schwachstelle in Gretzkis Panzer der Überlegenheit sein mochte: dass er seiner Heimat überdrüssig geworden war.

Zwanzig vor neun, sie saßen in Gretzkis Passat, fünfzig Meter vom Hoteleingang entfernt.

»Erzähl schon«, sagte Mike.

Die Frau mit der Brille war um ein Uhr abgelöst worden, von einem Mann in einem zerknitterten Anzug. Schlechte Haltung, nachlässige Rasur, ein lustloser Beamter ohne Ehrgeiz und Stil, Gretzki tippte auf DDR-Herkunft. Eher Kripo oder Verfassungsschutz als BND, sagte er, da hielt man bisweilen noch etwas auf sich.

Mike überlegte, wie eine Berliner Behörde – welche auch immer – ins Spiel gekommen war. Genügten zwei kurze Telefonate ohne jeglichen Vorlauf, um einen Kontakt herzustellen und eine Verabredung zu treffen?

Gretzki schien seine Gedanken erraten zu haben. »Die wissen nicht, dass wir da sind. Sie sind an ihr dran, nicht an uns.«

»Wo sind sie jetzt?«

Gretzki wies auf einen blauen Audi, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite nahe der Souterrainwohnung parkte. Die Insassen waren im Regen kaum zu erkennen. Zwei Schemen, Fahrer und Beifahrer, einer hielt eine Zeitung.

»Dieselben wie letzte Nacht?«

»Nein, zwei Frische. Die Gewerkschaft achtet auf ausreichend Schlaf.«

Mike lächelte höflich.

Vor dem Café ging der Alte auf und ab, die Hände auf dem Rücken, der Hund folgte ihm. »Kein Tag in dieser Stadt ohne Bekloppte«, murmelte Gretzki. »In Freiburg studieren sie, dann kommen sie nach Berlin und werden bekloppt.«

In diesem Moment trat Esther vor das Hotel, Kopf und Schultern von einem leuchtend gelben Regenschirm mit der Aufschrift GoSolar verdeckt. Sie hielt den Schirm schräg, um nach dem Taxi Ausschau halten zu können. Ihre Haare waren zu einem Zopf gebunden, Strähnen hatten sich gelöst, die an ihrer Stirn klebten. Sie war blass und wirkte noch unruhiger als sonst.

»Willst du, dass wir eingreifen, wenn sie jemanden trifft?«, fragte Gretzki.

»Nein.«

»Wir können sie ohne Probleme für ein paar Tage verschwinden lassen. Dann taucht sie am Kottbusser Tor wieder auf, bei den Junkies, und die Junkies sagen jedem, der fragt, dass sie eine Weile mit ihnen unterwegs war, und weil sie noch ein bisschen Heroin im Blut …«

»Nein«, unterbrach Mike. »Es reicht, wenn wir wissen, wen sie trifft.« Zum ersten Mal fragte er sich, ob Esther in Gefahr war. Vielleicht hatte er die Interessen der Auftraggeber falsch eingeschätzt. Gretzki mochte nicht der Einzige sein, der sie für ein paar Tage verschwinden lassen würde. Und viele Menschen waren aus geringeren Anlässen getötet worden.

Das Taxi kam. Esther wollte vorn einsteigen, Gretzki sagte: »Vorn liegt die Stulle.« Mike sah den Taxifahrer gestikulieren, hastig trat Esther zur Fondtür. Gretzki kicherte.

Sie fuhren im Konvoi, das Taxi, der Audi, Gretzki und er.

Gretzkis Berliner Netze funktionierten, keine zehn Minuten später kam der Anruf. Er nahm das Handy aus der Freisprecheinrichtung und hielt es sich ans Ohr.

Sie standen an einer Ampel vor dem Großen Stern, das Taxi und der Audi waren von anderen Wagen verdeckt. Die Siegessäule, die im Sonnenlicht so glänzen konnte, ragte matt in den Himmel. Mike dachte daran, dass die Berliner die Säule »Goldelse« nannten und den Kurfürstendamm »Ku’damm« und die Kongresshalle »Schwangere Auster«, und was das über sie aussagte. Bezeichnungen, die zugleich zärtlich und verächtlich klangen.

»Sieh an«, sagte Gretzki ins Telefon.

Die Ampel schaltete auf Grün. Esthers Taxi hielt sich in Richtung Norden, der blaue Audi folgte. Auf der Nebenspur schräg dahinter in einem Kleinwagen ein Fahrer, der Mike vage bekannt vorkam. Gretzkis Reptilienmann.

Dann war das Telefonat beendet.

»Wir hatten recht«, sagte Gretzki, während er eine Zigarette aus der Schachtel fingerte. »Verfassungsschutz Berlin. Baden-Württemberg hat um Unterstützung gebeten.«

Mike nickte. Das änderte alles. »Hast du noch mehr?«

Gretzki stieß den Rauch aus. »Die Namen der Fahnder. Und eine Kopie der Anfrage aus Baden-Württemberg.«

»Die brauche ich.«

»Viel steht nicht drauf.«

»Seit wann sie an ihr dran sind?«

»Nein.«

»Kannst du mir die Observierungsprotokolle besorgen?«

»Geht alles Montag oder Dienstag an dich raus.«

»Und das Gesprächsprotokoll, falls es doch ein Gespräch gibt.«

Sie fuhren jetzt in östlicher Richtung, passierten eine Kreuzung mit dem Hinweisschild Mitte. Gretzki hatte die Stirn gerunzelt, schien über mögliche Ziele nachzudenken. Aber dann sagte er: »Überleg dir das mit den Junkies, Mike.«

»Nein, das ist keine Option.«

Die kühlen Augen lagen auf ihm, und Mike ahnte plötzlich, dass Gretzki alles wusste, was es über ihn und Esther zu wissen gab.

Wenig später bog das Taxi in einen Komplex aus roten Backsteingebäuden ein und hielt, und Gretzki hielt ebenfalls und sagte: »Sieh mal an.« Er wies auf die Häuser links und rechts. »Die Charité.«

»Auf welche Krankheiten sind die spezialisiert?«

»Auf alle.«

Esther stieg aus. Als der gelbe Regenschirm aufsprang, rollte der Audi an ihr vorbei. Schweigend beobachteten sie, wie sie zum Haupteingang lief. Der Audi verschwand in einer Querstraße, doch Gretzkis Reptilienmann war plötzlich da und betrat das Gebäude unmittelbar hinter ihr.

Zwei Anrufe, eine Minute fünfzig, eine Minute zehn. Zeit genug, um einen Arzttermin zu vereinbaren? Oder doch, um einen Kontakt herzustellen und einen möglichst unauffälligen Treffpunkt auszumachen?

In Freiburg zwei Zahnarztbesuche innerhalb der vergangenen sieben Monate. Einmal Frauenarzt, einmal Internist, Influenza, sie war eine Wochen krankgeschrieben gewesen. Jetzt die Charité.

»Ich brauche alles, was ihr kriegen könnt«, sagte Mike.

»Dann muss ich ein paar Telefonate führen. Vielleicht jemanden treffen.«

Gretzki bewegte sich nicht, und Mike verstand. »Ruf mich an, wenn sich was tut.«

»Natürlich.«

Seine Augen glitten zu dem Taxi, das nach wie vor einige Meter vor ihnen in zweiter Reihe stand. »Ihr rührt sie nicht an, haben wir uns verstanden?«

»Ja. Ist keine Option, Mike.«

Er stieg aus. Der Regen war stärker geworden und fühlte sich kalt an.

Ein Flug über das ganze Land, nur um sich in einem Krankenhaus untersuchen zu lassen? Er hatte Fotokopien von Esthers Patientenakten gesehen. Keine ungeklärten Symptome, keine Notwendigkeit für weitergehende Untersuchungen. Warum also die Charité?

Und seit wann war der Verfassungsschutz involviert?

Keine Stulle auf dem Vordersitz, sondern Zeitungen und ein abgegriffenes Buch, kein Taxifahrer, sondern eine Taxifahrerin.

Auf dem glatten, hellen Leder der Rückbank, wo Esthers Regenschirm gelegen hatte, zitterten Wassertropfen mit den Unebenheiten der Straße, verliefen in den Kurven. In der Luft lag noch der Duft ihres Parfüms.

Mike spürte den Blick der Fahrerin im Rückspiegel, bevor sie sprach. »Und jetzt? Haben Sie sich entschieden?« Ein Schwall aus Zischlauten, Schwäbisch, mit Inbrunst hervorgestoßen.

»Da vorn wieder links.«

Ein Kopfschütteln, ein Knurren, erneut ein Zischen.

Vor der nächsten Kreuzung ließ er sie anhalten, reichte ihr zwanzig Euro. »Immer geradeaus fahren, bis Sie bei zehn Euro sind. Der Rest ist Trinkgeld.«

Er stieg aus, ging die paar Schritte bis zur Querstraße. Die dunkelroten Gebäude, die im Regen unendlich trist wirkten, der Audi nicht zu sehen, auch Gretzkis Passat war verschwunden. Er widerstand dem Impuls, Esther und dem Reptilienmann in die Klinik zu folgen, überquerte stattdessen die Straße. Wieder fühlte er Blicke im Rücken, Augen, die sich mit ihm mitbewegten, wo immer er ging. Die er nicht loswurde, nicht einmal dann, wenn er schlief, seine Träume waren von Augen bevölkert.

Ein paar Häuser weiter fand er ein Café. Selbstbedienung an der Theke, dahinter lustlose Angestellte, fahle Gesichter im Kunstlicht. Aus der Küche drangen wütende Stimmen, der Espresso roch wie zweimal aufgebrüht.

Er setzte sich in eine Ecke gegenüber von Fensterwand und Tür und griff nach dem Handy.

Sein Vater ging sofort dran.

»Wir haben offiziellen Besuch aus Stuttgart und Berlin.«

Ein Feuerzeug klickte, ein tiefer Atemzug. Schließlich sagte sein Vater: »Dann müssen wir saubermachen.«

»Ja.«

Sie schwiegen.

»Kein guter Moment für Besucher«, sagte sein Vater. »Kennen sie uns?«

»Wahrscheinlich nicht, nur unsere Freundin.«

»Gute Bekannte?«

»Sieht nicht so aus.«

»Sicher?«

»Nein, sicher bin ich nicht.«

Zwei junge Frauen betraten das Café, aus Umhängetaschen ragten Spiralblöcke – Studentinnen. Er kannte Geschichten von Studenten, die in Universitätsfluren von einem der Dienste angeworben worden waren. Doch diese beiden wirkten harmlos, das Gekichere klang echt.

»Wann kommst du nach Hause?«, fragte sein Vater.

Nach Hause, dachte er. Frankfurt also, nicht Freiburg. »Morgen Nachmittag.«

»Gut. Wir müssen neu disponieren.«

Die Studentinnen gingen mit Pappbechern. Der Streit in der Küche schien sich gelegt zu haben. Aus den Lautsprechern drang plötzlich Popmusik.

»Und unser Berliner Freund?«

»Wie immer eine große Hilfe.«

»Ja«, sagte sein Vater, »man kann sich auf ihn verlassen.«

Er legte das Handy auf den Tisch, griff nach der Espressotasse. Das Warten begann.

Drei Stunden später kam Gretzki. Das selbstgefällige Lächeln, die selbstbewussten Bewegungen – sogar hier, in diesem unscheinbaren Café, hatte er ihn gefunden.

»Komm«, sagte Gretzki freundlich.

Sie gingen hinaus, stiegen in den Passat.

»Überweisung von einem Internisten aus Freiburg«, sagte Gretzki. »Verdacht auf Depression und Angstneurose. Sie hatte zwei Termine heute, einen bei einem Verhaltenstherapeuten, einen bei einem Angstexperten.« Er schüttelte den Kopf. »Was es alles gibt.«

»Kann das fingiert sein?«

»Die Termine sind echt.«

»Wie heißt der Internist aus Freiburg?«

Gretzki lächelte geduldig. »Köpfler.«

Mike nickte. Köpfler hatte im Spätsommer die Influenza behandelt. Merkwürdig war nur, dass er in der Patientenakte weder den Verdacht auf eine psychische Krankheit noch die Überweisung erwähnt hatte.

»Andererseits …«, sagte Gretzki.

Ihre Blicke begegneten sich, und natürlich dachten sie dasselbe: All das musste nichts heißen – die Charité, die Depression, die Termine.

Sie würden an Esther dranbleiben, bis sie wieder ins Flugzeug stieg.

Kurz nach vierzehn Uhr verließ sie das Krankenhaus und winkte ein Taxi heran. Reinhardtstraße in westlicher Richtung, nach Süden auf die Straße des 17. Juni, wieder die Siegessäule. Sie folgten mit fünfzig Metern Abstand, diesmal allein, der Verfassungsschutz war abgetaucht, auch Gretzkis Reptilienmann nicht zu sehen.

»Ich muss hier raus, Mike«, sagte Gretzki plötzlich. »Aus Berlin.«

Mike musterte ihn, ohne etwas zu erwidern.

»Für das Büro finde ich jemanden. Und vielleicht habt ihr ja woanders Verwendung für mich.«

»Wo zum Beispiel?«

»Freiburg wäre nicht schlecht.« Gretzki lachte verlegen.

Mike nickte, während er versuchte, den Gedanken zu verdrängen, der ihm durch den Kopf schoss: dass Gretzkis Äußerung mit Esther zu tun hatte.

»Hügel wären schön, weißt du. Hier ist alles offen, in alle Richtungen, man fühlt sich … Als würde der Stress aus allen Richtungen in die Stadt kommen.«

»Der Stress?«

»Der Stress, der Schmutz. All die Bekloppten und Verqueren. Und wenn man ein paar Hügel um sich herum hat, dann halten die das auf, zumindest …«

»… symbolisch.«

»Genau.« Gretzkis Lächeln wirkte erleichtert.

»Ich rede mit meinem Vater.«

»Danke.«

Das Taxi bog in die Brandenburgische Straße ein und blieb gegenüber vom Hotel vor dem Café stehen. Esther unter dem Regenschirm, auf eine Lücke im Verkehr wartend, ihr Gesicht gerötet. Plötzlich stand der alte Säufer hinter ihr, den Hund im Arm, zwei Köpfe größer als sie. Regenwasser tropfte ihm von Stirn und Nase. Er beugte sich zu ihr hinunter, Esther fuhr herum und wich zurück.

»Gibt’s das?«, murmelte Gretzki erstaunt.

Der Alte hielt ihr eine Hand hin, sprach auf sie ein, der Hund begann zu kläffen und zu zappeln. Esther schüttelte den Kopf, endlich wandte sich der Alte ab. Der Hund sprang zu Boden, gemeinsam entfernten sie sich.

Gretzki lachte. »Na ja, so weit ist es wohl noch nicht gekommen, dass der Verfassungsschutz die Bekloppten anheuert.«

Mike löste die linke Hand von der Gurtschließe, die rechte vom Türgriff.

Gretzki bog in die Konstanzer Straße ein und bremste. »Und jetzt?«

»Wir bleiben dran. Wenn der Verfassungsschutz wieder auftaucht, besorg noch zwei, drei Leute. Und lass den Alten überprüfen.«

Gretzki nickte. »Entspannen, Mike.«

»Ja«, sagte er und stieg aus und folgte dem gelben Regenschirm in Richtung Hotel, Gretzkis Blick im Rücken.

Noch immer Regen, ein stetes Pochen an der Fensterscheibe und, leiser, aus dem Lautsprecher. Esther lag seit ihrer Rückkehr auf dem Bett, angezogen und zusammengerollt, irgendwann war sie eingeschlafen.

Um vier eine SMS von Gretzki: Der Bekloppte ist nur bekloppt.

Gegen halb fünf setzte die Abenddämmerung ein. Mit jeder Minute verschwand Esther nun ein Stückchen mehr in der Dunkelheit.

Erneut vibrierte das Handy. Wir sind allein, schrieb Gretzki.

Das Bild auf dem Monitor war inzwischen grau und körnig. Mike wechselte von der Kamera im Baldachin der Deckenlampe zu der in dem Gemälderahmen an der Wand und zurück, erkannte nicht einmal mehr Esthers Konturen.

Plötzlich mischten sich ins Pochen des Regens weitere Geräusche – aus dem Flur waren Schritte zu hören, die sich langsam näherten. Die Schritte eines Mannes.

Ein Kribbeln lief über Mikes Haut, sein Herz raste. Er war aufgestanden, hielt den Kopf gesenkt, die Walther schon in der Hand. Gretzki würde sich lautlos bewegen. Der Reptilienmann? Nur ein Gast?

Die Schritte verharrten vor Esthers Zimmer. Ein leises Klirren erklang, vielleicht Schlüssel, vielleicht Münzen in einer Hosentasche, ein Feuerzeug. Ein Messer, eine Pistole, die gegen einen Ehering stieß …

Mike hob die Walther und schlug mit dem Griffstück gegen die Zwischenwand, einmal, noch einmal. Aus dem Lautsprecher war ein Rascheln zu hören, dann sprang auf dem Monitor Licht an. Esther saß auf dem Bett, erschrocken in seine Richtung blickend.

Im Flur Stille.

Lautlos trat Mike in den Eingangsbereich. Wieder das Klirren, leiser diesmal. Jetzt hörte er den Mann atmen.

Ein Schritt, das Klirren, hastige Atemzüge.

Das Schnappen des Riegels, als Mike die Zimmertür aufsperrte, kam ihm ohrenbetäubend laut vor. Nur schnell sein jetzt, dachte er und glitt in den Flur. Ein breites, ausdrucksloses Gesicht blickte ihm entgegen, nicht der Reptilienmann, niemand, dem er je begegnet war. Eine Waffe war nicht zu sehen, die Hände des Mannes steckten in den Jackentaschen. Jetzt fuhren sie heraus, doch Mike war schon bei ihm und schlug mit der Pistolenhand zu, ein zweites Mal, während der Mann mit einem Wimmern zurückwich. Mike fing ihn auf, als ihm die Knie wegbrachen, drängte ihn in Richtung Treppenhaus, den Gestank von Schweiß und Frittierfett in der Nase, eine Hand auf dem aufgerissenen Mund, die andere am Hinterkopf dagegen drückend, starrte in tränende Augen. Dicht aneinandergedrängt stolperten sie auf die Tür zu. Im Treppenhaus stieß er den Mann von sich, schlug erneut zu und noch einmal und noch einmal.

Ächzend sackte der Mann zusammen.

Als Mike sich über ihn beugte, nahm er im Rücken einen Luftzug wahr, plötzlich lagen Arme wie stählerne Klauen um seine Brust, drängte sich ein massiger Körper gegen ihn. Eine Stimme an seinem Ohr, die seinen Namen flüsterte, dann sagte die Stimme: »Du musst hier weg, Mike.«

Er ließ sich hochziehen.

Die Arme gaben ihn frei. »Wir kümmern uns um ihn«, flüsterte die Stimme, und er drehte sich um und sah den Reptilienmann an und nickte.

»Lebt er?«, fragte Gretzki, der in der offenen Tür stand.

Blut aus den aufgeplatzten Lippen, aus der gebrochenen Nase, eine dunkelrote Lache unter dem Kopf, die Schläfe verfärbt. Arme und Beine lagen verdreht, Atembewegungen waren nicht zu erkennen.

Der Reptilienmann kniete nieder und suchte den Puls. »Ein bisschen.«

»Gehen wir, Mike«, sagte Gretzki.

Eine Viertelstunde später saß er in seinem Wagen. Die Brandenburgische Straße, am Hotel vorbei, ein paar Minuten danach die Stadtautobahn im Samstagnachmittagsverkehr. Er hatte seine Sachen in die Reisetasche geworfen, das Hotel durch den Hofausgang verlassen. Gretzki würde das Equipment abbauen, die Rechnung bezahlen, morgen Esthers Zimmer säubern.

Im Gehen hatte Mike ein letztes Mal auf den Monitor geschaut. Esther hatte das Licht wieder ausgeschaltet, war nicht mehr zu erkennen gewesen.

»Nicht vergessen«, hatte Gretzki zum Abschied lächelnd gesagt. Mike hatte die Anspielung nicht gleich verstanden – Berlin, der Stress, Freiburg, die Hügel.

Das Handy summte, Gretzki schrieb: Hans Peter Steinhoff, Hamburg, freier Journalist. Mehr i. d. nächsten Tagen.

Er antwortete nicht. Mit Steinhoff hatte er nicht gerechnet.

Alles schien aus dem Ruder zu laufen.

Der Funkturm dieses Mal von Osten, aber er warf nur einen kurzen Blick darauf. Dann war er auf der Autobahn und durchquerte im dichten Verkehr den Grunewald.

Steinhoff lebte, würde in der Flurtoilette im dritten Stock erwachen. Falls die Polizei den Gast aus Zimmer 35 zur Fahndung ausschrieb, würde sie nicht weit kommen. Der Name war falsch, niemand hatte ihn gesehen, in diesem Augenblick kehrte er in die Dunkelheit zurück.

I

Der Schutzengel

1

DIE TÜRKLINGEL RISS LOUISE BONÌ aus dem Traum, der sie seit ihrer Rückkehr Nacht für Nacht heimsuchte. Fünfunddreißig matte Gesichter, siebzig lustlose Augen, alle auf sie gerichtet. Sie stand vor einer grünen Tafel, Kreide in den weiß verfärbten Fingern der rechten Hand, starrte auf die Zeiger einer überdimensionalen Uhr an der Wand hinter den Polizeischülern, zählte die Sekunden und starb vor Langeweile. Niemand sagte ein Wort, niemand rührte sich, so vergingen die Stunden. Wertheim in der fränkischen Provinz hatte sich in ihr Unterbewusstsein geschlichen und wollte nicht wieder hinaus.

Sie schlug die Decke zurück, setzte sich auf. 14 Uhr 45, vielleicht Samstag, vielleicht schon Sonntag, in jedem Fall November. Der Annaplatz war in Nebel getaucht, die Kirche ein schwarzer Schatten, vor den Straßenleuchten schräg fallende Regentropfen.

Seit sie wieder in Freiburg war, schlief sie fünfzehn Stunden am Tag. An manchen Tagen lagen zwei Ausgaben der Badischen Zeitung vor der Tür. An manche Morgendämmerung schloss sich übergangslos die Abenddämmerung an. Zwei Monate Langeweile verkehrten den Lauf der Zeit.

Ein Versuch, Buße zu tun. Im Sommer hatte sie im Dienst einen verhafteten Vergewaltiger geschlagen. Rolf Bermann hatte ihr die Selbstanzeige ausgeredet – eine Verurteilung hätte sie den Job gekostet – und hinter den Kulissen verhandelt. Am Ende hatten sich Marianne Andrele, die Staatsanwältin, und Reinhard Graeve, der Kripoleiter, davon überzeugen lassen, dass sie wegen Erschöpfung und eines leichten Schocks nicht bei Sinnen gewesen war. Ein paar Wochen Urlaub und Wertheim waren der Kompromiss gewesen.

Wenn sie geahnt hätte, dass in der fränkischen Provinz der Tod durch Ödnis drohte, hätte sie sich womöglich nicht darauf eingelassen. Die Wochenenden mit Ben in Freiburg hatten sie gerettet.

In Bens Lieblings-T-Shirt und Lieblings-Shorts taumelte sie in den Flur. Auf dem Boden lagen Wollmäuse, Schuhe, Kleidung, Zeitungen, Pizzakartons, im Spiegel bewegte sich unter einem Dschungel dunkler Haare ein Gespenst. Ein paar Monate ohne die neonhellen Flure der Kripo, die gestressten Kollegen, die alltägliche Anspannung, und das ganze Leben war ein Chaos.

Erneut klingelte es, dann drang aus der Gegensprechanlage eine zaghafte Stimme aus der Vergangenheit: »Louise, wir sind’s schon.«

Zwei schüchterne kleine Männer, der eine hing seit Sekunden an ihrem Hals, der andere hielt Blumen und Kuchen in den Händen und wusste nicht, wohin damit.

»Und deine Mami?«, flüsterte Louise.

»Ist ein bisschen krank«, flüsterte ihr Bruder.

»Wir sollen Grüße ausrichten«, sagte ihr Vater.

»Was hat sie?«

»Ach, eine Erkältung.«

»Sie hat Traurigkeit«, flüsterte ihr Bruder.

»Haben Frauen manchmal«, flüsterte sie. »Jetzt aber runter.«

Die dunklen Locken flogen hin und her, die dünnen Arme schlossen sich fester um ihren Hals. »Keine Traurigkeit mit Blut.«

»Louise, wo …«

Sie wandte sich zu ihrem Vater um. »In der Küche.«

Gemeinsam sahen sie ihm nach, Wange an Wange, die große Schwester, der kleine Bruder, dessen Namen auszusprechen ihr auch nach zwei Jahren noch schwerfiel. Der Name gehörte, genau wie die lockigen Haare und die skeptischen Augen, zu dem anderen, dem echten Bruder. Der war 1983 bei einem Autounfall ums Leben gekommen und 1996 ohne große Umstände ersetzt worden, soweit das mit einer anderen Frau möglich gewesen war.

Seitdem gab es zwei Germains – einen toten und einen lebenden, der nichts dafür konnte, dass der Erste tot war. Dass ihr gemeinsamer Vater sieben Jahre gebraucht hatte, um Louise von der neuen Familie zu erzählen.

»Hast du etwa vergessen, dass wir kommen?«, rief ihr Vater aus der Küche.

Sie antwortete nicht. Germain, der nicht loslassen wollte, ihr Vater im Durcheinander ihrer Küche, ein bisschen viel für die schwergängigen Momente nach dem Aufwachen und dem Wertheim-Traum.

Sie gähnte ausgiebig.

Aus der Küche drangen Geräusche. Etwas klirrte, wurde über Holz geschoben. Ein Rascheln. Schranktüren klappten zu, Wasser lief. Schubladen rollten auf, rollten zu. Ein Räuspern, Stille. Dann wieder Wasser und das lustige Schnauben, das die fast leere Plastikflasche von sich gab, wenn man die Reste Spülmittel herauspresste.

Seufzend schloss sie die Augen, sah ihren Vater am Spülbecken. Akribisch wurden die Hemdsärmel nach oben geschlagen, dann tauchten die kleinen, schlaffen Hände ins Spülwasser. Sie fand das nur gerecht, auch ihr Vater sollte Buße tun. Wenn es nach ihr ging, für den Rest seines Lebens.

»Na dann«, sagte sie, schleppte den neuen Germain mit ins Bad und warf die Tür zu.

Die Blumen in einer Vase auf dem Esstisch arrangiert, eine Kerze angezündet, der Duft von frischem Café au lait. Dazu ein halbes Dutzend Kuchen- und Gebäckstücke, die aussahen, als stammten sie aus der Privatconfisserie des französischen Präsidenten. Wenn es ums Essen und Trinken ging, brach der Franzose in ihrem Vater durch, den er seit vierzig Jahren zu eliminieren versuchte. Der Akzent geschliffen, deutsche Spießigkeit antrainiert, die französische Familie ignoriert, und all das nur, um die sechziger und siebziger Jahre zu vergessen, die Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter, den Zerfall der Familie, das Scheitern eines Lebensplans, natürlich den Tod Germains ein paar Jahre danach.

Schweigend aßen sie, mit ihrem Vater zu sprechen wurde immer schwieriger. Manches konnte in Gegenwart des neuen Germain nicht angesprochen werden – dass es einen anderen Germain gegeben hatte, die Traurigkeit ohne Blut seiner Mutter –, anderes ging ihren Vater nichts an – Ben, das Problem, Wertheim.

Zaghaft wies er mit der Kuchengabel auf einen Notizzettel neben der Vase. »Du fliegst nach Berlin?«

Sie runzelte die Stirn, zog den Zettel heran. Stichwörter, Flugdaten für den morgigen Montag, von Karlsruhe / Baden-Baden nach Berlin-Tegel. Vage Erinnerungen formten sich in ihrem Gehirn. Ein Anruf von Rolf Bermann an einem Morgen – möglicherweise dem heutigen –, eine Bitte der Berliner Kollegen um Ermittlungshilfe. Eine Spur, die nach Freiburg führte.

»Ja, sieht so aus.«

»Dienstlich?«

Sie nickte.

»Mit Pistole?«, fragte Germain.

»Man darf keine Waffen in Flugzeuge mitnehmen«, sagte ihr Vater.

»Louise schon.«

»Nein, auch Louise darf das sicher nicht.«

»Die Polizei darf alles.«

»Nicht alles, Germain.«

»Alles.«

»Louise, wenn du ihm bitte …«

»Musst du in Berlin einen Killer abholen?«

»Germain …« Ihr Vater brach ab. Resignation lag in seinen Augen, und für einen kurzen Moment tat er ihr beinahe leid.

Dann musste sie lächeln. Er hatte Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie zur Polizei gegangen war. Ein Kind tot, das andere bei der Kripo – gab es für einen wie ihn Schlimmeres?

Dass auch das neue Kind von der Polizei fasziniert war.

Weil Germain genau informiert werden wollte, erzählte sie, sichtlich zum Verdruss ihres Vaters.

Nein, sie musste keinen Killer abholen, sondern mit einem Mann sprechen, der in einem Hotel in Berlin von einem anderen Mann verprügelt und mit einer Pistole bedroht worden war. Weil sich dieser andere Mann mit einem falschen Namen bei dem Hotel angemeldet hatte und von niemandem gesehen worden war, wussten ihre Berliner Kollegen nicht weiter und …

»Und weil die nicht weiterwissen, rufen die Louise an«, sagte Germain und zog die Augenbrauen triumphierend hoch.

»Das wird so nicht ganz korrekt sein«, sagte ihr Vater.

»Ist es.«

»Die haben dann die anderen Gäste überprüft«, sagte Louise, »und in dem Zimmer, vor dem der eine Mann den anderen angegriffen hat, hat eine Frau aus Freiburg gewohnt. Aber die hat keine Ahnung, was los war. Und weil das Ganze irgendwie sehr merkwürdig ist, und weil meine Kollegen nicht weiterwissen, kommen sie auf komische Ideen …«

»Und deswegen rufen die Louise an«, murmelte ihr Vater.

Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Louise zu lachen, und ihre beiden kleinen Männer stimmten ein.

Man entspannte sich. Germain erzählte von der Schule, ihr Vater von Bekannten in Kehl, deren Namen und Geschichten sie sofort wieder vergaß. Als Germain auf der Toilette war, sagte ihr Vater leise: »Und … das Problem?«

Da war es mit der Entspannung vorbei.

»Das Problem?«

»Du weißt schon, das Problem mit dem Alko…«

Abwehrend spreizte sie die Finger auf dem Tisch. »Es gibt kein Problem.«

»Das ist schön zu hören.«

»Es gab eines, und jetzt gibt es keines mehr, okay?«

»Ja. Das ist … schön.«

»Und Karin?«

»Oh, sie hat eine sehr unangenehme Erkältung.«

»Das ist Quatsch, Papa.«