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Lahore. In einem Café sitzen sich ein mitteilsamer Pakistani und ein zurückhaltender Amerikaner gegenüber. Als langsam die Nacht über die Stadt hereinbricht, enthüllt der Pakistani immer mehr Details seiner Lebensgeschichte. Changez heißt er, und er erzählt, wie er als junger, ehrgeiziger Gaststudent nach Princeton kommt. Als Vorzeigestudent wird er nach seinem Abschluss sofort von einer Elite-Firma engagiert. Er stürzt sich ins pulsierende Leben New Yorks, erhält durch seine reiche Freundin Erica Zugang zu Manhattans High Society und wähnt sich auf der Seite der Gewinner.

Aber nach dem 11. September fällt sein amerikanischer Traum vom unaufhaltsamen Aufstieg langsam in sich zusammen. Plötzlich erscheint Changez die Bindung an seine Heimat wichtiger als Geld, Macht und Erfolg. All dies berichtet der Pakistani dem Amerikaner, dessen Motivation an dem Gespräch im Dunkeln bleibt. Allein im Spiegel des Erzählers zeichnet sich ab, dass der grausame Höhepunkt der Geschichte kurz bevorsteht.

Autor

© Jillian Edelstein

Mohsin Hamid, geboren in Lahore, Pakistan, studierte Jura in Harvard und Literatur in Princeton. Nach Stationen in New York und London lebt er heute mit seiner Familie wieder in Lahore. Seine Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt. ›Der Fundamentalist, der keiner sein wollte‹ stand auf der Shortlist des Booker-Preises und wurde von Mira Nair verfilmt. Bei DuMont erschienen zuletzt seine Romane ›So wirst du stinkreich im boomenden Asien‹ (2013) und ›Exit West‹ (2017) sowie der Essayband ›Es war einmal in einem anderen Leben‹ (2016).

Mohsin Hamid

Der Fundamentalist,
der keiner sein wollte

Roman

Aus dem Englischen
von Eike Schönfeld

1

Entschuldigen Sie, Sir, kann ich Ihnen behilflich sein? Oh, jetzt habe ich Sie erschreckt. Sie brauchen keine Angst vor meinem Bart zu haben: Ich liebe Amerika. Mir ist aufgefallen, dass Sie nach etwas suchten; eigentlich mehr als das, es sah eher danach aus, als seien Sie mit einem Auftrag hier, und da ich in dieser Stadt lebe und Ihre Sprache spreche, habe ich gedacht, ich könnte Ihnen meine Dienste anbieten.

Woher ich gewusst habe, dass Sie Amerikaner sind? Nein, nicht wegen Ihrer Hautfarbe; wir haben eine ganze Palette von Schattierungen in diesem Land, und Ihre findet man häufig bei den Menschen an unserer Nordwestgrenze. Auch Ihre Kleidung hat Sie nicht verraten; jeder europäische Tourist hätte sich so einen Anzug mit Rückenschlitz und ein Button-down-Hemd problemlos in Des Moines beschaffen können. Gut, Ihre kurz geschnittenen Haare und Ihre breite Brust – ich würde sagen, die Brust eines Mannes, der regelmäßig Bankdrücken macht und gut und gern über zwei fünfundzwanzig schafft –, die sind typisch für einen bestimmten Typus Amerikaner, aber auf der anderen Seite: Sehen Sportler und Soldaten aller Nationalitäten nicht irgendwie gleich aus? Vielmehr gestattete mir Ihre Haltung, Sie zu identifizieren, und das meine ich nicht beleidigend – ich sehe, Ihr Gesicht hat sich verhärtet –, es war lediglich eine Beobachtung.

Wollen Sie mir nicht sagen, wonach Sie gesucht haben? Zu dieser Tageszeit kann Sie gewiss nur eines in das Viertel Alt-Anarkali geführt haben, das, wie Sie bestimmt wissen, nach einer Kurtisane benannt ist, die wegen ihrer Liebe zu einem Prinzen eingemauert wurde – und das ist die Suche nach der perfekten Tasse Tee. Habe ich richtig geraten? Dann gestatten Sie mir, Sir, Ihnen mein Lieblingslokal unter den vielen hier zu empfehlen. Ja, genau, dieses hier. Die Metallstühle sind nicht besser gepolstert, die Holztische sind genauso roh, und wie die anderen ist es auch unter freiem Himmel. Doch ich versichere Ihnen, die Qualität des Tees ist ohnegleichen.

Sie sitzen lieber da, mit dem Rücken so dicht an der Wand? Wie Sie wollen, obwohl Sie dort weniger von der Brise haben, die immer mal wieder auffrischt und die die warmen Nachmittage angenehmer macht. Und wollen Sie nicht Ihr Jackett ablegen? So förmlich! Das ist ja nun nicht typisch amerikanisch, jedenfalls meiner Erfahrung nach. Und meine Erfahrung ist beträchtlich; ich habe viereinhalb Jahre in Ihrem Land gelebt. Wo? Ich habe in New York gearbeitet, und davor war ich an einem College in New Jersey. Ja, Sie haben recht: Es war tatsächlich Princeton! Gut geraten, das muss ich sagen.

Wie ich Princeton fand? Nun, die Antwort auf diese Frage bedarf einer Geschichte. An meinem ersten Tag dort betrachtete ich die gotischen Gebäude um mich herum– die, wie ich später erfuhr, jünger als viele der Moscheen dieser Stadt sind, aber mittels einer Säurebehandlung und geschickter Steinmetzarbeit auf alt gemacht – und dachte, ein Traum ist wahr geworden. Princeton weckte in mir das Gefühl, mein Leben sei ein Film, in dem ich die Hauptrolle spielte und alles möglich war. Ich habe Zugang zu diesem schönen Campus, dachte ich, zu Professoren, die auf ihrem Gebiet Koryphäen sind, und Kommilitonen, die auf dem Weg sind, Philosophenkönige zu werden.

Ich muss zugeben, dass ich in meinen anfänglichen Mutmaßungen über das Niveau der Studentenschaft allzu großzügig war. Nahezu alle waren intelligent und viele auch brillant, aber während ich in meinem Eingangsseminar einer von nur zwei Pakistanis war – zwei von einer Bevölkerung von über hundert Millionen Seelen, müssen Sie wissen –, hatten es die Amerikaner in dem Auswahlprozess mit einer weit weniger entmutigenden Relation zu tun. Eintausend Ihrer Landsleute wurden immatrikuliert, fünfhundert Mal so viele also, obwohl die Bevölkerung Ihres Landes nur doppelt so groß wie die meines ist. Die Folge war, dass die Nicht-Amerikaner unter uns im Durchschnitt bessere Leistungen zeigten als die Amerikaner, und ich selbst hatte mein Abschlussjahr erreicht, ohne auch nur einmal schlechter als »sehr gut« abgeschnitten zu haben.

Rückblickend wird mir die Macht dieses Systems klar; es ist pragmatisch und effektiv wie so vieles in Amerika. Wir internationalen Studenten kamen aus der ganzen Welt. Wir wurden nicht nur mit ausgefeilten Einheitstests ausgesiebt, sondern auch mit genau auf den Einzelnen abgestimmten Bewertungen – Auswahlgesprächen, Essays, Empfehlungen –, bis die Besten und Klügsten von uns identifiziert waren. Ich hatte exzellente Examensergebnisse in Pakistan und spielte außerdem noch so gut Fußball, dass ich in der Uni-Mannschaft mithalten konnte, wo ich auch einen Stammplatz hatte, bis ich mir im zweiten Jahr das Knie verletzte. Studenten wie ich erhielten Visa, Stipendien, also volle finanzielle Unterstützung, und wir wurden in die Welt der herrschenden Elite eingeführt. Als Gegenleistung erwartete man von uns, dass wir unsere Begabungen in Ihre Gesellschaft einbrachten, die Gesellschaft, der wir uns anschlossen. Und ganz überwiegend taten wir das auch gern. Ich jedenfalls, zumindest am Anfang.

In jedem Herbst ließ sich Princeton von den Personalleuten der großen Firmen, die auf den Campus kamen, in den Ausschnitt gucken und zeigte ihnen ein wenig Haut, wie Sie in Amerika sagen. Die Haut, die Princeton zeigte, war natürlich eine gute – jung, eloquent und klug wie nur etwas –, doch selbst inmitten all dieser Haut war ich, wie ich in meinem letzten Jahr wusste, etwas Besonderes. Ich war die perfekte Brust, wenn Sie so wollen – gebräunt, knackig und scheinbar der Schwerkraft trotzend –, und ich war überzeugt, jeden Job zu bekommen, den ich haben wollte.

Bis auf einen: Underwood Samson & Company. Sie haben nicht davon gehört? Es war eine Unternehmensberatung. Sie sagten ihren Klienten, wie viel eine Firma wert war, und das taten sie, wie es hieß, mit einer geradezu unheimlichen Präzision. Sie waren klein – eigentlich eine Boutique, minimale Belegschaft–, und sie zahlten gut; frisch vom College bekam man da ein Grundgehalt von über achtzigtausend Dollar. Was aber wichtiger war, sie gaben einem ein solides Handwerkszeug und einen gediegenen Markennamen, der war so gediegen, dass man nach zwei Jahren als Berater dort die Aufnahme zur Harvard Business School praktisch in der Tasche hatte. Deswegen schickten über hundert Angehörige des Princeton-Jahrgangs 2001 ihre Zeugnisse und Lebensläufe bei Underwood Samson ein. Acht wurden ausgewählt – nicht für einen Job, um das klarzustellen, sondern für ein Bewerbungsgespräch –, und einer davon war ich.

Sie wirken besorgt. Dazu besteht kein Anlass; der kräftige Bursche da ist bloß unser Kellner, und Sie brauchen auch nicht in Ihr Jackett zu greifen, nach Ihrer Brieftasche, wie ich vermute, denn wir bezahlen erst später, wenn wir gehen. Möchten Sie lieber normalen Tee mit Milch und Zucker oder grünen, oder vielleicht die hiesige duftigere Spezialität, Kaschmir-Tee? Eine ausgezeichnete Wahl. Ich nehme das Gleiche, und vielleicht auch noch einen Teller Jalebis. Und schon ist er weg. Ich gebe es ja zu, ein recht einschüchternder Zeitgenosse. Aber von einwandfreien Umgangsformen: Sie wären von seiner reizenden Art überrascht gewesen, wenn Sie denn Urdu verstünden.

Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Underwood Samson. Am Tag meines Bewerbungsgesprächs war ich sehr nervös, was eigentlich nicht meine Art ist. Sie hatten nur einen Vertreter geschickt, und der empfing uns in einem Zimmer des Nassau Inn, ein normales Zimmer, muss ich dazu sagen, keine Suite; sie wussten, dass wir auch so schon ausreichend beeindruckt waren. Als ich an die Reihe kam, trat ich ein und stand vor einem Mann, der rein äußerlich nicht viel anders aussah als Sie; auch er wirkte wie ein bewährter Offizier. »Changez?«, fragte er, worauf ich nickte, denn so heiße ich. »Kommen Sie, setzen Sie sich.«

Er heiße Jim, sagte er, und ich hätte genau fünfzig Minuten, um ihn zu überzeugen, mir eine Stelle anzubieten. »Verkaufen Sie sich«, sagte er. »Was ist das Besondere an Ihnen?« Ich begann mit meinen Studienunterlagen, verwies darauf, dass ich auf einen Abschluss summa cum laude zusteuerte, dass ich noch nie schlechter als mit »sehr gut« abgeschnitten hätte. »Sie sind bestimmt ein pfiffiger Junge«, sagte er, »aber von allen, mit denen ich heute spreche, wurde auch keiner schlechter als mit ›sehr gut‹ benotet.« Das war für mich eine beunruhigende Offenbarung. Ich sagte ihm, ich sei hartnäckig, ich hätte die Physiotherapie nach meiner Knieverletzung doppelt so schnell hinter mich gebracht, als es die Ärzte erwartet hatten, zwar könne ich nicht mehr Uni-Fußball spielen, aber ich liefe die Meile inzwischen wieder in unter sechs Minuten. »Das ist gut«, sagte er, und zum ersten Mal glaubte ich, Eindruck auf ihn gemacht zu haben, doch dann fragte er weiter: »Aber was noch?«

Ich verstummte. Normalerweise plaudere ich, wie Sie bestimmt gemerkt haben, sehr gern, aber in dem Augenblick wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich beobachtete ihn, wie er mich beobachtete, und versuchte zu verstehen, worauf er aus war. Er blickte auf meinen Lebenslauf, der zwischen uns auf dem Tisch lag, und dann wieder auf mich. Seine Augen waren kalt, ein helles Blau, und wertend, nicht so, wie man das Wort normalerweise benutzt, sondern in dem Sinn, dass er professionell taxierte, wie ein Juwelier, der sich aus reiner Neugier einen Diamanten ansieht, den er weder kaufen noch verkaufen will. Nachdem eine gewisse Zeit vergangen war – es mochte eine Minute gewesen sein, aber es fühlte sich länger an –, sagte er: »Erzählen Sie mir etwas. Woher kommen Sie?«

Ich sagte, ich sei aus Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans, der alten Hauptstadt des Punjab, wo fast so viele Menschen wohnen wie in New York, wo sich, ähnlich einer Sedimentebene, die Historie der Eindringlinge von den Ariern über die Mongolen bis zu den Briten in Schichten abgelagert habe. Er nickte lediglich. Dann sagte er: »Und erhalten Sie finanzielle Unterstützung?«

Ich antwortete ihm nicht gleich. Ich wusste, dass es Themenbereiche gab, die diese Leute nicht anschneiden durften – Religion beispielsweise und sexuelle Orientierung –, und ich vermutete, dass finanzielle Unterstützung dazugehörte. Doch das war nicht der Grund meines Zögerns; ich zögerte, weil diese Frage bei mir Unbehagen erzeugte. Dann sagte ich »Ja«. »Und ist es«, fragte er, »für ausländische Studenten nicht schwieriger herzukommen, wenn sie Unterstützung beantragen?« Wieder sagte ich »Ja«. »Dann«, sagte er, »müssen Sie das Geld wirklich nötig gehabt haben.« Und zum dritten Mal sagte ich »Ja«.

Jim lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, genau wie Sie jetzt. Dann sagte er: »Sie sind gebildet, gut gekleidet. Sie haben so einen gehobenen Akzent. Die meisten Leute glauben vermutlich, Sie kommen aus einem reichen Elternhaus.« Das war keine Frage, also gab ich auch keine Antwort. »Wissen Ihre Freunde hier«, fuhr er fort, »dass Ihre Familie es sich nicht leisten konnte, Sie ohne Stipendium hierher nach Princeton zu schicken?«

Es war, wie ich schon sagte, das wichtigste meiner Bewerbungsgespräche, und ich wusste auch, dass ich Ruhe bewahren sollte, doch nun ärgerte ich mich zunehmend, und ich hatte von dieser Fragerei die Nase voll. Also sagte ich: »Entschuldigen Sie, Jim, aber welchen Sinn hat das alles hier?« Das kam aggressiver raus, als ich es beabsichtigt hatte; meine Stimme wurde lauter und gewann an Schärfe. »Dann wissen sie es also nicht«, sagte Jim. Er lächelte und fuhr fort: »Sie haben Temperament. Das gefällt mir. Auch ich war in Princeton. Jahrgang 81. Summa cum laude.« Er zwinkerte. »Ich war aus meiner Familie der Erste, der ans College ging. Ich arbeitete Nachtschicht in Trenton, um das alles zu bezahlen, weit genug vom Campus entfernt, damit die Leute es nicht mitbekamen. Ich weiß also, wo Sie herkommen, Changez. Sie sind hungrig, und das finde ich gut.«

Das brachte mich, wie ich gestehen muss, aus dem Konzept. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Aber ich wusste sehr wohl, dass ich von Jim beeindruckt war; schließlich hatte er mich binnen weniger Minuten klarer durchschaut als viele, die mich seit Jahren kannten. Ich verstand, warum er bei Bewertungen so sicher war und warum seine Firma auf diesem Gebiet – folgerichtig – hohes Ansehen genoss. Auch freute ich mich, dass er in mir etwas entdeckte, was er wertschätzte, und so erholte sich mein Selbstvertrauen, das durch unser Treffen bis dahin erschüttert worden war, allmählich wieder.

Es lohnt sich, wenn Sie gestatten, an dieser Stelle ein wenig abzuschweifen. Ich bin nicht arm, weit gefehlt: Mein Urgroßvater beispielsweise war Anwalt und verfügte über die Mittel, für die Muslime im Punjab eine Schule zu stiften. Wie er besuchten mein Großvater und auch mein Vater eine englische Universität. Unsere Familie besitzt ein Grundstück mitten in Gulberg, einem der teuersten Viertel der Stadt. Wir haben mehrere Hausangestellte, darunter einen Fahrer und einen Gärtner – was in Amerika hieße, dass unsere Familie sehr wohlhabend ist.

Dennoch sind wir nicht reich. Die Männer und Frauen – ja, auch die Frauen – in meiner Familie arbeiten in gehobenen Berufen. Und für solche Leute war das halbe Jahrhundert seit dem Tod meines Urgroßvaters nicht gedeihlich. Die Gehälter sind nicht entsprechend der Inflation gestiegen, die Rupie hat gegenüber dem Dollar stetig an Wert verloren, und diejenigen von uns, die einstmals beträchtliche Familiengüter besaßen, mussten mit ansehen, wie diese von jeder – größeren – nachfolgenden Generation immer weiter aufgeteilt wurden. Mein Großvater konnte sich daher nicht das leisten, was sein Vater sich leisten konnte, und mein Vater konnte sich nicht leisten, was sein Vater sich leisten konnte, und als die Zeit kam, mich an die Universität zu schicken, war das Geld dazu einfach nicht da.

Doch wie in jeder traditionellen, klassenbewussten Gesellschaft sinkt der Status langsamer als der Reichtum. Wir sind also nach wie vor Mitglied im Punjab Club. Wir werden weiterhin zu den Empfängen, Hochzeiten und Partys der Elite der Stadt eingeladen. Und wir betrachten die aufsteigende Klasse der Unternehmer – der Inhaber legaler wie illegaler Geschäfte –, die in ihren neuen BMW-Geländewagen durch unsere Straßen brettern, mit einer Mischung aus Verachtung und Neid. Unsere Lage unterscheidet sich vielleicht nicht so sehr von jener der alten europäischen Aristokratie im neunzehnten Jahrhundert, die sich mit dem Aufstieg der Bourgeoisie konfrontiert sah. Nur dass wir natürlich Teil einer Malaise größeren Ausmaßes sind, die nicht nur die ehemals Reichen, sondern auch die ehemalige Mittelschicht befällt: die zunehmende Unfähigkeit, das zu kaufen, was wir früher einmal konnten.

Angesichts dieser Realität hat man zwei Möglichkeiten: Man tut so, als wäre alles gut, oder arbeitet hart dafür, dass es wieder so wird, wie es einmal war. Ich wählte beides. In Princeton gab ich mich wie ein junger Prinz, großzügig und sorglos. Gleichzeitig aber hatte ich drei Jobs auf dem Campus – alle an weniger frequentierten Orten wie beispielsweise der Bibliothek des Studienprogramms Naher Osten – und bereitete mich nachts auf meine Seminare vor. Die meisten meiner Bekannten waren von meiner zur Schau getragenen Fassade eingenommen. Jim nicht. Doch zum Glück sah er da, wo ich Scham sah, Chancen. Und er war – in mancher Hinsicht, nicht in jeder, wie ich später erfahren sollte – korrekt.

Ah, da kommt unser Tee! Schauen Sie doch nicht so argwöhnisch drein. Ich versichere Ihnen, Sir, dass Ihnen nichts Schlimmes widerfährt, nicht einmal Durchfall. Schließlich ist er ja nicht vergiftet. Kommen Sie, wenn es Sie beruhigt, tauschen wir die Tassen. So. Wie viel Zucker nehmen Sie? Keinen? Sehr ungewöhnlich, aber ich will Sie nicht drängen. Probieren Sie doch einmal diese klebrigen, orangefarbenen Süßigkeiten – Jalebis –, aber Vorsicht, sie sind scharf! Wie ich sehe, schmecken sie Ihnen. Ja, sie sind köstlich. Seltsam, wie erfrischend eine Tasse Tee selbst an einem warmen Tag wie diesem ist – eigentlich ein Wunder –, aber so ist es eben.

Ich habe Ihnen von meinem Bewerbungsgespräch mit Underwood Samson erzählt und dass Jim mich, wie er es nannte, hungrig fand. Ich wartete ab, was er als Nächstes sagen würde, und was er als Nächstes sagte, war Folgendes: »Gut, Changez, dann wollen wir Sie mal testen. Ich gebe Ihnen einen Geschäftsvorgang, eine Firma, die Sie bewerten sollen. Sie können mich alles fragen, was Sie wissen müssen – denken Sie an ein Ratespiel –, und Ihre Berechnungen können Sie mit dem Bleistift und Papier hier machen. Fertig?« Ich bejahte, und er fuhr fort: »Ich werfe Ihnen einen kniffligen Ball zu. Sie brauchen jetzt ein bisschen Kreativität. Die Firma ist einfach. Sie hat nur einen Geschäftszweig: Blitz-Reisen. Man betritt ihren Terminal in New York und taucht gleich darauf in ihrem Terminal in London wieder auf. Wie ein Transporter in Star Trek. Alles klar? Schön. Dann los.«

Nach außen hin dürfte ich in dem Moment wohl ruhig gewirkt haben, aber innerlich war ich in Panik. Wie bewertet man eine fiktive Fantasiefirma, wie er sie gerade beschrieben hatte? Wo fängt man da überhaupt an? Ich hatte keine Ahnung. Ich sah Jim an, doch für den war es offensichtlich kein Scherz. Also holte ich tief Luft und schloss die Augen. Als ich Fußball spielte, brachte ich mich immer in einen bestimmten Geisteszustand: Mein Ich verschwand, und ich war frei, frei von Zweifeln und Grenzen, frei, mich auf nichts als das Spiel zu konzentrieren. Wenn ich diesen Zustand erlangte, fühlte ich mich unaufhaltsam. Sufi-Mystiker und Zen-Meister würden das Gefühl wohl verstehen. Wahrscheinlich machten die Krieger im Altertum etwas Ähnliches, bevor sie in die Schlacht zogen, nahmen in einem Ritual ihren bevorstehenden Tod an, so dass sie unbelastet von Furcht funktionieren konnten.

In diesen Zustand versetzte ich mich nun in dem Bewerbungsgespräch. Mein ganzes Wesen war darauf gerichtet, meinen Weg durch das Projekt zu suchen. Ich begann mit Verständnisfragen zur Technik: wie skalierbar sie war, wie zuverlässig, wie sicher. Dann fragte ich Jim nach der Umgebung: ob es unmittelbare Konkurrenten gab, was die Regulierungsbehörde unternehmen würde, ob manche Lieferanten besonders bedenklich waren. Danach betrachtete ich die Kostenseite, um mir ein Bild zu machen, mit welchen Ausgaben wir rechnen mussten. Und schließlich sah ich mir die Einnahmen an, zog die Concorde als Beispiel dafür heran, wie es um Preisaufschlag und Nachfrage bestellt ist, wenn man die Reisezeit halbiert, und schätzte dann ab, wie viel mehr man bekommen würde, wenn man sie auf null reduzierte. Nachdem ich das alles getan hatte, rechnete ich die Profite für die Zukunft hoch und diskontierte daraus den NPV, also den Gegenwartswert. Und so gelangte ich zu einer Zahl.

»Zwei Komma drei Milliarden Dollar«, sagte ich. Jim schwieg eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf. »Maßlos optimistisch«, sagte er. »Sie schätzen die Akzeptanz der Kunden diesem Ding gegenüber viel zu hoch ein. Würden Sie denn gern in eine Maschine steigen, sich entmaterialisieren und dann Tausende von Kilometern entfernt wieder zusammensetzen lassen? Genau um so einen gehypten Mist durchzurechnen, bezahlen unsere Klienten Underwood Samson.« Ich ließ den Kopf hängen. »Aber«, fuhr Jim fort, »Ihr Ansatz war richtig. Sie haben die nötigen Voraussetzungen. Sie brauchen nur noch Training und Erfahrung.« Er hielt mir die Hand hin. »Sie haben ein Angebot. Wir geben Ihnen eine Woche für Ihre Entscheidung.«

Erst glaubte ich ihm nicht. Ich fragte ihn, ob das sein Ernst sei, ob ich nicht noch eine zweite Runde durchlaufen müsse. »Wir sind eine kleine Firma«, sagte er. »Wir verschwenden keine Zeit. Außerdem bin ich für die neuen Berater zuständig. Ich brauche keine zweite Meinung.« Mir wurde bewusst, dass seine Hand noch immer zwischen uns in der Luft hing, und voller Angst, sie könnte zurückgezogen werden, packte und schüttelte ich sie. Sein Griff war fest und schien mir in dem Moment zu übermitteln, dass Underwood Samson das Potenzial hatte, mein Leben mit derselben Gewissheit zu verändern, wie es seines verändert hatte, wodurch meine Sorgen bezüglich Geld und Status in eine ferne Vergangenheit gerückt wurden. Ich weiß noch, wie ich an jenem Spätnachmittag zu meinem Wohnheim zurückging – Edwards Hall hieß es. Der Himmel war von einem strahlenden Blau, so anders als der orangefarbene, staubige Himmel heute über uns, und ich spürte, wie etwas in mir aufwallte, ein Stolz, der so stark war, dass ich davon den Kopf hob und zu meiner Überraschung wie sicher auch der der anderen Studenten, die vorüberkamen, schrie: »Danke, Gott!«

Ja, es war berauschend. So sehe ich Princeton, wenn ich, zugegebenermaßen etwas weitschweifig, daran zurückdenke. Princeton hat mir alles ermöglicht. Doch darüber habe ich nicht, ja, konnte ich nicht vergessen, wie sehr ich zum Beispiel den Tee hier in meiner Heimatstadt genieße, wenn er lange genug gezogen und eine kräftige, dunkle Farbe angenommen hat und dann noch mit frischer Vollmilch cremig gemacht wird. Er ist doch hervorragend, oder? Aber Sie haben ausgetrunken. Gestatten Sie, dass ich Ihnen noch eine Tasse eingieße.

2

Sehen Sie die Mädchen dort, in den Jeans mit Farbspritzern darauf? Ja, sie sind wirklich sehr attraktiv. Und wie anders sie aussehen als die Frauen der Familie, die da an unserem Nachbartisch in ihrer traditionellen Kleidung sitzen. Die Staatliche Kunstakademie ist nicht weit – eigentlich gleich um die Ecke –, und die Studenten kommen von dort oft auf eine Tasse Tee her, genau wie wir jetzt. Eine ist Ihnen offenbar besonders aufgefallen; sie ist in der Tat eine Schönheit. Sagen Sie, Sir, haben Sie in Ihrer Heimat eine Liebe zurückgelassen – männlich oder weiblich, ich kenne Ihre Neigungen ja nicht, wenngleich die Intensität Ihres Blicks Letzteres nahelegt?

Ihr Achselzucken ist unergründlich, aber ich bin mitteilsamer. Ich ließ nämlich eine zurück, sie hieß Erica. Wir lernten uns im Sommer nach dem Examen kennen, wir gehörten zu einer Gruppe Princetonier, die zusammen in Griechenland Urlaub machen wollten. Sie und die anderen waren Mitglied im renommiertesten Essclub der Universität, dem Ivy, und sie reisten mit freundlicher Unterstützung ihrer Eltern oder der Dividenden aus ihren Treuhandvermögen, zu denen sie nun aufgrund ihres Alters Zugang hatten; ich hatte mir mein Essen immer in der Souterrainküche meines Wohnheims zubereitet und konnte nur dank meiner Einstellungsprämie von Underwood Samson mitfahren. Ich war mit einem der Ivy-Leute, Chuck hieß er, aus meiner Fußballzeit befreundet, und einige andere, die ich durch ihn kennengelernt hatte, mochten mich als exotische Bekanntschaft ganz gern.

Wir trafen uns in Athen, wo wir mit verschiedenen Flügen gelandet waren, und als ich Erica sah, konnte ich nicht anders, als ihr anzubieten, ihren Rucksack zu tragen – so atemberaubend hoheitsvoll war sie. Ihr Haar war wie eine Tiara aufgetürmt, und ihr Nabel – ah, welch ein Nabel: seine Festigkeit hatte er, wie ich später erfuhr, durch jahrelanges Taekwondo – lugte unter einem kurzen T-Shirt hervor, auf dem ein Bild des Vorsitzenden Mao prangte. Wir wurden einander vorgestellt, sie lächelte, als sie mir die Hand gab – ob sie mich unwiderstehlich kultiviert oder seltsam anachronistisch fand, wusste ich nicht –, dann zogen wir alle nach Piräus los.

Es zeigte sich sogleich, dass ich bei meiner Werbung um Erica das Feld nicht für mich haben würde. Ja, kaum hatte unsere Fähre zu den Inseln abgelegt, begann ein junger Mann auf der anderen Deckseite – vor seiner nackten, aber nicht sehr muskulösen Brust hing ein Zahn an einer Lederschnur Summer of ’69