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Die ersten Herbststürme jagen über Cornwalls Küste, und DI Collin Brown ist in melancholischer Stimmung. Seine Frau ist für mehrere Wochen verreist, er und die Kinder sind auf sich allein gestellt. Ausgerechnet jetzt wird er mit einem beunruhigenden Fall konfrontiert: Die sechzehnjährige Carla Wellington ist verschwunden. Collin versucht das Mädchen mithilfe von Hundertschaften und Freiwilligen zu finden, doch es fehlt jede Spur. Da stößt er auf einen ungeklärten Vermisstenfall, der sich vor acht Jahren im Nachbarort ereignete: Auch dort verschwand ein Mädchen nach einem Schulfest spurlos, auch sie war Mitglied des Schulorchesters und sehr begabt. Das kann kein Zufall sein. Doch gibt es eine Verbindung? Collin bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn er Carlas Leben retten will …

Mit erstaunlicher Beobachtungsgabe und großem Gespür für die Psychologie ihrer Figuren leuchtet Iris Grädler die Leerstelle aus, die das Verschwinden eines Kindes in einer Familie hinterlässt. ›Das Wüten der Stille‹ ist ebenso ein packender Kriminalroman wie ein einfühlsam erzähltes Familiendrama.

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© Sheldon Koetzé

Iris Grädler wurde 1963 in Halle/Westfalen geboren. Sie veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten und hat mehrere Anthologien herausgegeben. Bei DuMont erschienen bislang ihr Debütroman ›Meer des Schweigens‹ (2015), der für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert war, und ›Am Ende des Schmerzes‹ (2016). Iris Grädler lebt in Swakopmund, Namibia.

Iris Grädler

DAS WÜTEN
DER STILLE

Kriminalroman

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Meer des Schweigens
Am Ende des Schmerzes

eBook 2017

www.dumont-buchverlag.de

 

Tief
und tiefer
hinab
in
Stille
und
Schwarz
ins Salz des frühesten Seins
den Menschen fern
Fisch werden
Atem
los

1

Jory Kellis schob die Gardine ein Stück zur Seite, bis er den Garten ganz im Blick hatte. Neben dem Haselnussbaum stand die Schaukel, die er einst eigenhändig zwischen Holzpfosten angebracht hatte. Sie schwankte sachte und quietschte in der verrosteten Aufhängung. Das Geräusch zerrte an seinen Nerven. Eine Axt sollte ich nehmen, sie endlich zu Kleinholz hacken, dachte er und ließ den Blick über die wuchernde Hecke streifen. Dahinter lag eine steil ansteigende Wiese mit kurzem, blassem Gras, das von der Meeresbrise gestreichelt wurde. Schafe im Winterpelz grasten gemächlich und in aller Unschuld darauf. Jory heftete die Augen an eins mit dunklerem Fell. Das schwarze Schaf. Manche bleiben unerkannt. Ungeschoren zu bleiben ist der Wunsch aller Schafe, fiel ihm ein Ausspruch seines Vaters ein. Er setzte sich, schlug das Tagebuch auf, schrieb wie jedes Jahr zuerst das Datum, unterstrich es zwei Mal, fügte ein Aufrufezeichen hinzu. Er blätterte um, fuhr mit der Hand über die Seite und notierte, Buchstabe für Buchstabe, bedächtig wie ein Erstklässler, der das Gewicht des Füllers und die Saugkraft des Papiers spürt, den Satz, der ihn schon den ganzen Morgen quälte wie eine Feile an der Magenwand: »Sie wäre nun – heute auf den Tag genau – vierundzwanzig Jahre alt.« Er ließ den Füller sinken, ein Geschenk zur Meisterprüfung, hörte die Tür zum Garten zuschlagen und sah Heather mit der Gießkanne den Plattenweg entlanggehen. Ihre Holzpantinen, eine sentimentale Erinnerung an ihre holländischen Vorfahren, schabten über den Waschbeton, den er vor langer Zeit, als alles noch hell war, in Sand gelegt hatte. Inzwischen waren einige der Platten eingesackt, Moos hatte sich ihrer bemächtigt und in den Fugen spross Unkraut, um das sich niemand kümmerte, ebenso wenig wie um den Garten. Bis auf die Trachycarpus fortunei, eine chinesische Hanfpalme. Im milden Klima Cornwalls gedeihen Palmen so gut wie an der Südsee, hatte ihnen damals der Verkäufer im Gartencenter versprochen. Heather stand nun vor dem wie in einen Leinensack gehüllten Stamm mit den drei fächerförmigen Blättern, die dem Spiel des Windes, der beständig vom Meer wehte, ausgesetzt waren. In den acht Jahren war die Palme allerdings kaum gewachsen, ein Zwerg, der Erde näher als dem Himmel. Das Wasser aus der Kanne sickerte zwischen den Muschelsteinen ein, die auf der Umfriedung lagen, gesammelt an einem fernen Tag, als das Meer ruhig und voll flüsternder Versprechungen war. Hatte die Palme bei dem vielen Regen der letzten Wochen nicht genug Feuchtigkeit bekommen?, überlegte Jory. Aber natürlich hatte das Bewässern für Heather eine höhere Bedeutung. Ein paar Tropfen Zuversicht aus der rosafarbenen Kindergießkanne, Weihwasser und Glaube.

Jory zog die Gardine mit einem Ruck zu und einen Strich unter den ersten Satz und schrieb, nun mit rascher Hand, was ihm durch den Kopf fuhr: »Retten wird es sie nicht. Ihr Blattwerk färbt sich schon braun. Vermutlich wird sie sterben.« Oder sie ist schon tot, dachte er, wagte aber nicht, die Worte dem Papier anzuvertrauen. Was einmal blau auf weiß in seinem Tagebuch stand, war so etwas wie die Wahrheit. Er pustete über die frische Tinte und musterte durch die Spitzengardine seine Frau, die reglos neben der Palme stand und auf die schmale Landstraße dahinter blickte. Doch es kam niemand. Der Zufahrtsweg war eine Sackgasse, die zwischen den hügeligen Wiesen bergab in die Senke führte, wo ihr Cottage stand. Die Sonne ging hier immer etwas später auf und früher unter. Feuchtigkeit kroch aus dem Unterholz des Waldstücks und aus dem hohen Farn am Ufer des Bachs hinter dem Haus. Vor über einem Jahrhundert war das Cottage eine Mühle gewesen. Das Mühlrad an der Außenwand hat inzwischen Moos angesetzt, und der Mühlstein liegt uns nun auf den Schultern, dachte Jory und wandte den Blick von seiner Frau ab. Einst hatte er es geliebt, sie zu betrachten wie ein Stillleben. Jetzt hatte ihr Rücken, ihre ganze Gestalt nichts mehr, was ihn gefangen hielt. Heather war gealtert. Über Nacht war ihr Haar weiß geworden und ihr gerader Rücken in sich zusammengesunken. Heute war ein weiteres Jahrzehnt hinzugekommen, ein weiterer Faltenwurf in ihrem erloschenen Gesicht. Sie bückte sich zu dem Windlicht, das sie am Vormittag neben die Palme gestellt hatte, und zündete ein neues Teelicht darin an. Wie an jedem 25. September. In diesem Jahr ausgerechnet ein Sonntag. An jedem anderen Tag würde er jetzt in seinem Laden an der Fräsmaschine sitzen.

Sein Handy summte, und er las die fast gleichlautende Nachricht, die er schon vor einer Stunde bekommen hatte, löschte sie und schaltete es aus. Es war keine Lösung, sich davonzustehlen. Die Erinnerung, die Fragen, die Hoffnung, die mit jedem Tropfen aus der Gießkanne in die Wurzeln der Palme flossen, würde er in jenes warme Bett mitnehmen, in das er sich sonst nur allzu gern hineinlocken ließ. Es war schon schwer genug, Theater zu spielen, und an diesem Tag stand ihm zu allem Überfluss noch das alljährliche Drama bevor. Kein Weg, der daran vorbeiführte. Jory öffnete das Fenster, sah neuen Regen aus den wie Trauerflor wehenden Wolken fallen, räusperte sich und hörte seiner Stimme zu, als er rief: »Komm rein! Erkältest dich noch.« Heather hielt kurz an dem verkrüppelten Rhododendron inne und wandte sich zum Haus. Vom Haus zum Gartentor und zurück. Weiter war seine Frau im letzten Jahr selten gegangen.

Jory schlug das Tagebuch zu und legte den Füller in den Kasten. Im Laufe der Zeit hatte er kaum mehr etwas geschrieben. Schließlich nur noch zwei Mal im Jahr und dann auch nur ein paar abgehackte Sätze. Was gab es zu sagen? Nichts.

Das Tagebuch bestand aus handgeschöpftem Papier, war in Leder gebunden und mit einem Schloss versehen. Eine Anschaffung von seinem ersten Lohn als Lehrjunge. Auf der ersten Seite hatte er ein Versprechen verfasst. Drei Dinge, die er in seinem Leben bewerkstelligen wollte: »Von meinem Leben wahrheitsgemäß und ungeschönt Zeugnis ablegen. Die Insel einmal zu Fuß umwandern. Einen Baum pflanzen.«

Alle Vorhaben hatte er nur halb erfüllt. Zwei Sommer lang war er Teilabschnitte des Küstenwanderwegs entlanggepilgert, nur um festzustellen, dass er lieber vom Wandern träumte und das tagelange Laufen nicht aushielt. Ich habe einen Baum gepflanzt, ja, dachte er. Er hatte eine Palme ausgewählt, weil sie an ein Südseeparadies erinnerte, aber nun goss Heather sie nur noch zwei Mal jährlich. Solange sie überlebte, sich vom Regen ernährte und vom Grundwasser, war Hoffnung da. Das hatte Heather beschlossen. Wenn es ihr half, nun gut. Er würde nichts tun, um die Palme zu retten. Im Gegenteil, dachte er und schloss das Tagebuch im Schreibtisch ein. Es war ihm nicht gelungen, wahrheitsgemäß und ungeschönt von seinem Leben zu berichten, als verdeckte das Aquamarinblau der fließenden Tinte das Eigentliche und hinderte ihn daran, sich der Wahrheit zu nähern.

Was Jory in seinem Leben bewerkstelligen wollte war ein Gemisch aus jenen Dingen gewesen, die ihm seine beiden Großväter einst mit auf den Weg gegeben hatten. Schreibe ein Buch, lerne eine fremde Sprache, pflanze einen Baum, hatte Großvater Conrad gesagt. Mach eine lange Schiffsreise, durchschwimme den Ärmelkanal, wandere einmal um die Insel, hatte Großvater Hayden gesagt. Baue ein Haus, errichte ein Geschäft, zeuge einen Sohn und Erben, hatte sein Vater ihm bei der Hochzeitsrede mit wedelndem Zeigefinger befohlen. Immerhin hatte Jory mit dem Schlüsseldienst sein eigenes Geschäft gegründet, doch wenn es so weiterging, würde er es schließen müssen. Sie wohnten in dem Cottage, eine Erbschaft von Heathers kinderloser Tante, und sie hatten keinen Sohn. Hätten sie einen, gäbe es nicht viel zu vererben. Jory hatte nichts unversucht gelassen, einen Sohn zu zeugen. Was vorbei war, war vorbei. Wiedergutmachung gab es nur im Traum. Und war nicht sowieso alles schon lange zum Albtraum geworden?

Im Esszimmer begann Heather den Frühstückstisch abzuräumen. Das dritte, unbenutzte Gedeck, das jeden Tag für ihren unsichtbaren Gast zwischen ihnen stand, verstaute sie im Geschirrschrank, zupfte an dem Herbststrauß auf dem Tisch herum und pustete die Kerze auf der Anrichte aus, die sonntags angezündet wurde. Eine weitere der langen Altarkerzen war inzwischen auf mehr als die Hälfte geschrumpft. Der Pfarrer, der in den ersten Tagen nach der Tragödie täglich teetrinkend und mit geschlossenen Augen verständnisvoll nickend auf dem Sofa saß, hatte Heather gleich mehrere davon geschenkt. Zweiundfünfzig mal acht, überschlug Jory im Kopf. Also rund vierhundert Sonntage hatten die Kerzen bereits gebrannt. Bald würden sie die nächste anstecken müssen oder die Zeremonie abschaffen. Diese und alle anderen.

»Wir müssen dann«, sagte Heather mit einem Blick zur Küchenuhr und machte sich im Flur zu schaffen. Es war kurz vor eins.

»Was soll’s bringen?«, fragte Jory mehr sich selbst als seine Frau, zog die Jacke an und rückte den Hut in die Stirn.

»Der Kuchen.« Heather eilte in die Küche und holte das Blech. Jory brauchte nicht zu fragen, was sie gebacken hatte. Es stand im Drehbuch. Zwischen Baiserschaum das satte Rot von Himbeeren, Erdbeeren und Rhabarber. Jenifers Lieblingskuchen. Ihr Name stand in einem rosa Herzen, das auf einem Zahnstocher steckte. »Also dann.« Sie trug den schwarzen Mantel mit den bunten Knöpfen, in dem sie einst elegant gewirkt hatte.

»Kennst doch kaum mehr jemanden«, murmelte Jory, griff nach den Regenschirmen und wandte sich zur Haustür. »Es gibt nur eine Leitkuh«, hatte Cliff neulich beim Kartenspielen erklärt. »Und wenn’s nich’ der Mann is’, dann isses die Frau Es war immer Heather gewesen, die die Richtung, die Abzweigungen, das Tempo, die Rastorte, ja selbst das Schuhwerk ihres gemeinsamen Weges bestimmt hatte. Auch nach der Tragödie war es so geblieben. Vielleicht, überlegte er, verändert ein Schicksalsschlag den Menschen nicht in seinen Grundfesten, sondern kehrt nur den verborgenen Kern nach außen wie Salpeter, das tief im Mauerwerk sitzt und zu blühen beginnt. Man fügt sich und hat keinen Ärger, erinnerte er sich an Cliffs Worte, schob den rostigen Querriegel vor die Flügeltür der Garage und schloss mit jenem Schlüssel ab, den er eigenhändig geschweißt hatte wie alle anderen für das Cottage. Der Schlüssel zum Herzen ist der wichtigste. Wer hatte das gesagt? Und wo war dieser Schlüssel? Sie stiegen ins Auto und Jory machte den Scheibenwischer an, der in ihr Schweigen quietschte. Kaum waren sie aus der Talsohle, wo sich ihr Cottage einsam unter Bäumen duckte, auf dem hügeligen Hochplateau angelangt, öffnete sich der Himmel über ihnen. Ein schwacher Glanz lag auf dem Meer, auf das sie zufuhren, und das Städtchen Cambrenne mit seinen grauen Dächern schmiegte sich vor ihnen in aller Beschaulichkeit an die Küste. Doch je näher sie kamen, desto mehr rückte jenes Gebäude in den Blick, das seinen Schatten bis auf ihr Zuhause warf. Jory setzte den Blinker und bog auf die Straße ab, die bergan zur Highschool führte, die freistehend, etwas außerhalb des Stadtkerns lag. Er nannte sie den »Schuldturm«.

»Die Millows sind da und die Carfields.« Heather reckte den Kopf, als sie auf den Parkplatz einbogen, der fast voll besetzt war. »Und Agent Helston. Da ist sein Wagen.« Jory biss sich auf die Lippe. Er hatte es sich abgewöhnt, sie zu verbessern. Für Heather war der längst pensionierte DI Helston ein Agent, in geheimer Mission unterwegs wie sie selbst.

Heather kramte in ihrer Handtasche. Früher hätte sie einen Lippenstift herausgezogen. Nun war es erst ein Taschentuch, mit dem sie sich die Augen tupfte, dann das Notizheft.

»Hat sicher Enkel hier. Weißt ja, ist Rentner«, murmelte Jory. Helston hatte den Fall damals nicht einmal bearbeitet, sondern sein ebenfalls lange pensionierter Vorgänger John Ladock. Doch den konnte Heather nicht mehr behelligen. Ladock hatte seinen Alterssitz irgendwo in Spanien bezogen. Ja, dachte Jory kurz, woanders hin, weg von allem hier, das sollte man tun.

»Ein Agent bleibt immer im Dienst.« Heather schloss die Tasche. »Unser Parkplatz ist wieder besetzt. Wenn man zu spät kommt …«

Sie fuhren an der Hecke vorbei, die damals kaum hüfthoch und ihnen inzwischen über die Köpfe gewachsen war wie auch alles andere. Unter der Laterne direkt neben der Hecke hatten sie damals geparkt. Sie waren zusammen ausgestiegen, und Jenifer war vorausgeeilt, in Richtung Aula. Sie hatte sich nicht von ihnen verabschiedet, wortlos und verärgert über ihre Verspätung die Autotür zugeschlagen, die Tasche über die Schulter geworfen, eine aus buntem Patchwork, und war davongestürmt, mit gewaschenem Haar, das noch feucht auf den Schultern wippte und wie Lack glänzte. Jory schob die Erinnerung beiseite und hielt hinter der Laterne an.

»Lass dich hier raus und such ’nen anderen Parkplatz.« Er versuchte ein Lächeln, das sich in den Mundwinkeln festhakte, reichte Heather das Backblech, und sie strebte mit einem Eifer, der ihm zuwider war, dem Schulhof zu wie eine unersättliche Taube, die frisch gestreute Körner auf dem Futterplatz gewittert hat. Er drehte mehrere Runden, bis er sich für eine weit entfernte Stelle am Straßenrand entschied. Dann schob er den Hut tiefer in die Stirn und ging lustlos auf das Lärmen zu. Unter breiten Schirmen waren Essensstände aufgebaut, hinter denen Mütter das Regiment führten. Väter waren für Sportaktivitäten eingeteilt. Jüngere Schüler verkauften Tombola-Lose. In einem Zelt war eine Disco eingerichtet, die wichtigste Attraktion für die älteren Jahrgangsstufen, eine Party bis Mitternacht, und Jenifer hatte damals diesem Ereignis entgegengefiebert. In jenem Jahr hatte sie einen Tag zuvor Geburtstag gehabt und wollte an dem Sonntag des Schulfestes mit ihren Freundinnen nachfeiern. Und wohl auch mit ihrem zweifelhaften Freund. Jory blieb vor dem Eingang stehen, betrachtete die glitzernden Lichter der Discokugel, unter der ein paar Schüler zaghafte Tanzschritte machten, und versuchte, sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen. Nicht das Gesicht auf einem der Fotos, die Heather an alle Wände gehängt hatte und die verschwammen, sobald er sie ohne Brille betrachtete, sondern Jenifers lebendiges Gesicht. Es wollte ihm nicht gelingen. Das war das Schlimmste: Wie sich die Erinnerung in Nebel hüllte.

»Das Wetter spielt ja dieses Jahr nicht mit«, hörte er eine bekannte Stimme neben sich. Es war Arthur Milton. Ausgerechnet, dachte Jory und gab ihm die Hand.

»Solange kein Dauerregen ist.«

»Kann man nichts machen.« Arthur stützte sich mit beiden Händen auf seinen Gehstock, als wollte er seinen dürren Leib genau hier, neben Jory, am Eingang der Disco einpflocken. »Wo ist denn deine bessere Hälfte?«

»Bringt ihren Kuchen zu deiner Frau.«

»Backt immer den besten. Solche Eltern braucht man.« Arthur nickte vor sich hin. »Und keine Selbstverständlichkeit … nach allem.«

Längst war es nicht mehr so, dass Gespräche verstummten, Blicke sich in ihre Rücken bohrten, Augen sich abwandten, wenn sie ihr alljährliches Stelldichein gaben. Längst war das Geschehen für die anderen Geschichte geworden, eine verblasste Nachricht auf dem Scheiterhaufen der Zeit. Dennoch wusste Jory, dass man ihnen, wo immer sie auftauchten, insbesondere aber hier und heute, stets einen Schritt weit fern blieb. Eine Bruchstelle, über die hinwegbalanciert wurde, die niemand beim Namen zu nennen wagte. Das Leben der anderen, hatte Jory irgendwann erkannt, verlief weiter wie ein Fluss, während ihr eigenes zu einem stehenden Tümpel geworden war, und wer mochte schon mit ihnen länger an einem solch brackigen Gewässer verweilen? Im Schmerz war man nach kurzer Zeit gottverlassen und allein. Hinter einer Tür, die sich nicht mehr öffnen ließ, weil der Schlüssel, für den es keinen Ersatz und keine Kopie gab, verloren gegangen war.

»Na denn. Die Vorführung sollte wohl bald losgehen.« Arthur hob den Stock und machte sich nach allen Seiten grüßend zum Eingang der Aula auf. Sein Vater hatte die Schule gegründet, er selbst war jahrelang in der Elternpflegschaft gewesen, und noch immer fühlte er sich als der wichtigste Mann hinter den Kulissen, auch wenn seine eigenen Kinder längst den Abschluss in der Tasche und Cambrenne verlassen hatten. Bis auf Dolph, seinen Jüngsten. Der war zurückgekehrt, dachte Jory und schmeckte Bitternis auf der Zunge, als er Vater und Sohn zusammen beim Eingang zur Aula beobachtete. Sie steckten die Köpfe zusammen und lachten. Für sie war alles begraben und vergessen. Er holte sich einen Pie und sah, kaum hatte er einen freien Stehtisch gefunden, das Unvermeidliche auf sich zukommen.

»Schmeckt’s?« Lizzy trug ihr bestes Lächeln zwischen goldenen Ohrsteckern, stellte ihr Glas ab und winkte mit drei Fingern jemandem zu.

Jory spürte Hitze und Kälte zugleich unter dem Hut und konzentrierte sich aufs Kauen. Ein Stehtisch ist ein Stehtisch, beruhigte er sich. Öffentliches Terrain. Unverfänglich.

»Die Cliffords machen die besten Pies«, sagte Lizzy laut und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ich warte auf eine Antwort.«

»Kennst sie. Heute nicht.« Jory wischte sich den Mund ab und blickte sich nach Heather um. Wo war sie? Sie würde das Konzert keinesfalls verpassen wollen. Der Schulhof leerte sich merklich, und über Lautsprecher ertönte gerade der letzte Aufruf. »Musst du nicht zu deinen Schülern?«

»Ich mach das nicht mehr lange mit«, zischte Lizzy statt einer Antwort, leerte das Glas und lief mit jenem erhobenen Kopf, der seinen eigenen im vorletzten Herbst wie einen Schraubverschluss verdreht hatte, zum Hintereingang der Aula.

Jory wollte nicht wissen, was sie nicht mehr lange mitmachen wollte. Er wollte nicht wissen, was Helston zu Heather gesagt hatte und was genauso oder anders war als damals. So oder so, es war wie bei einem Bohrmuldenschlüssel: Wie man ihn auch wendet und in den Zylinder einführt, der Schlüssel schließt die Tür.

Vom Eingang der Aula winkte ihm Heather zu. Steif ging er in ihre Richtung. Ich muss zu einer Entscheidung finden, wusste er, als er mit ihr in der vorletzten Reihe Platz nahm, alles ist falsch, ihre Tränen, die sie sich aus den Augen wischte, dieser abgetragene Anzug, sein kahl gewordener Kopf, ihr Arm in seinem. Er schloss die Augen, als das Scheinwerferlicht erst auf den Schuldirektor fiel, dann auf Dolph Milton, der jenes Siegerlächeln trug, das Politikern zu eigen ist, und ein dunkelblaues Hemd mit dem Logo der Tories – eine Eiche, der Union Jack als Krone –, lauschte Lizzys kurzer Rede, öffnete dann die Lider und hielt im Klatschen inne, als ein Mädchen mit einer Violine auf die Bühne trat, hörte Heather einen Laut von sich geben, spürte, wie sich ihre Fingernägel in seine Haut gruben, ließ die Musik an seinen Ohren vorbeirauschen und konnte die Augen nicht von dem Mädchen auf der Bühne abwenden. »Wie konnte sie das tun?«, wisperte ihm Heather ins Ohr, als der Scheinwerferkegel das Mädchen mit dem langen schwarzen Haar erfasste und sie zu spielen begann. Ein Violinsolo. Jory glaubte ein Raunen in den Reihen der Zuschauer zu hören, aber vielleicht raunte es nur in ihm. Seit damals hatte Lizzy kein Violinsolo mehr für das alljährliche Schulkonzert ausgewählt. Es war ein grausames Déjà-vu. Jenifer hatte damals als Solistin dort oben gestanden, die Geige unters Kinn geklemmt, ihr rotes Kleid ein Zuviel an Farbe gegen ihre weiße Haut, von der mehr zu sehen gewesen war als von dem zarten Stoff. Mit geschlossenen Augen hatte sie gespielt, eine bläuliche Ader pochte an der Schläfe, danach stehende Ovationen, und Arthur Miltons Sohn Dolph war mit einem Blumenstrauß auf die Bühne gestürmt und weit geöffneten Armen, in die sich Jenifer fallen gelassen hatte. Sie hatten in der zweiten Reihe gesessen, waren aus den Sitzen gesprungen wie alle anderen, hatten »Bravo, Bravo« gerufen, sich vor Stolz und Glück an den Händen gehalten, sich angelacht, und doch waren nicht sie es gewesen, die diesen Augenblick mit Jenifer geteilt hatten. Der damalige Direktor, natürlich Lizzy, ihre Musiklehrerin, Freundinnen, selbst Arthur Milton hatten sie umringt, ein Journalist der Regionalzeitung, die Klassenlehrerin, der Talentsucher einer Musikakademie, alle hatten Jenifer auf und hinter der Bühne noch gesehen, das Shampoo in ihrem Haar gerochen, ihre Stimme gehört, ihr Lachen, ihr Atmen, die Wärme ihrer Haut gespürt, das Strahlen in ihren Augen gesehen. Warum, hatte sich Jory wieder und wieder gefragt, hatten sie sich zurückgehalten und darauf gewartet, dass ihre Tochter sich ihrer erinnerte? Warum hatten sie geglaubt, sie würde des Trubels bald überdrüssig und wie ein verschrecktes Vogeljunges sogleich ins Nest zurückkehren? Natürlich hatte sie nicht nach Hause gewollt. Das Schulfest war ja noch nicht vorbei, und sie wollte ihren Geburtstag nachfeiern. »Dolph bringt mich später zurück«, hatte sie ihnen über die Schulter hinweg zugerufen, nachdem sie ihnen die Tasche mit dem Bühnenkleid und den Violinenkoffer überreicht hatte. Sie war ganz durcheinander, wollte Heather an ihrer Stimme gehört haben. Sie war noch immer sauer, glaubte dagegen Jory in ihrem Gesicht gelesen zu haben. Das Bild war ihnen geblieben: Wie Jenifer, bereits umgezogen, an den hochgewachsenen zwanzigjährigen Studenten geschmiegt in Richtung Discozelt gegangen war. Alle anderen Bilder waren nicht ihre eigenen. Und nur, was man mit eigenen Augen sieht und erinnert, hält man für die Wahrheit.

2

Die Meerjungfrau hatte wallendes Haar, den Körper einer Barbiepuppe und ihr Schuppenkleid funkelte wie Strass. Kitsch, dachte Detective Inspector Collin Brown gelangweilt und legte das Bild, das der alte Tamar offenbar aus einer Illustrierten ausgeschnitten hatte, zurück auf die Werkbank, wo der Rohling auf den ersten Schlag wartete. Er hatte die Vorlage immer wieder betrachtet, aber nichts hatte sich in seinen Händen geregt, keine Schwingung, nichts hinter dem lächelnden Gesicht hatte sein Inneres berührt. Er war um den Stein herumgewandert, ein mittelkörniger, blaustichiger Granit, den er bei einem Angelausflug mit seinen Söhnen im Fluss Tamar gefunden hatte. Er hatte ihn in verschiedene Richtungen gedreht und gelegt, die Klüfte betrachtet, an denen er den Diamantschleifer ansetzen konnte, hatte über die raue Kruste gestrichen, doch keine Figur, kein Leben darin entdeckt, das er hätte herauslocken können. Ich werde dem alten Tamar eine Absage erteilen, nahm er sich vor. Soll er einen anderen Idioten finden, der ihm eine Nixe für seinen Gartenteich meißelt. Es war Collins erste Auftragsarbeit. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt, mehr als das: Stolz und ein wenig wichtig war er sich vorgekommen, als Tamar von allen Hobbybildhauern, die im Spätsommer an jener Ausstellung teilgenommen hatten, ausgerechnet ihn gefragt hatte. Und der Stein aus dem gleichnamigen Fluss war wie ein Zeichen gewesen. Als hätte er auf den alten Fischer gewartet. Collin hatte nicht geahnt, wie sehr ihn diese Aufgabe nun unter Druck setzen würde.

Er stand auf und reckte die durch das lange Sitzen steif gewordenen Glieder, spürte die Kälte in seiner Werkstatt – eine Holzhütte im Garten –, entschied sich aber dagegen, das inzwischen heruntergebrannte Feuer neu anzufachen. Er lauschte in die Nacht hinein. Regen trommelte aufs Dach, und die Bäume rauschten wie auch das nahe Meer. Seit Tagen war die See stürmisch und das Geräusch der Wellen drang zu dieser stillen Stunde überlaut an seine Ohren. Es war inzwischen ein Uhr morgens und das Licht in den Kinderzimmern längst erloschen, wie er mit einem Blick aus dem Fenster zum gegenüberliegenden Cottage feststellte. Seine Söhne waren seit einigen Stunden wieder wohlbehalten vom Schulfest zurück. Collin war müde. Am morgigen Montag hatten die Kinder schulfrei und er hatte einen Tag Sonderurlaub. Seit vorletzter Woche, seit seine Frau Kathryn irgendwo in Thailand einen Yoga-Urlaub machte und die Surya Namaskara, den Sonnengruß, auf einer Matte am Strand zelebrierte, versuchte er Beruf und Familie unter einen Hut zu bekommen. Eine Aufgabe, die ihm wenig behagte und über den Kopf zu wachsen drohte, wie er beschämt feststellen musste. Er löschte das Licht der Stehlampe neben seinem Lesesessel, wo er noch in einem Buch über Michelangelo geschmökert hatte, und wollte gerade zur Tür hinaus, als sein Diensthandy klingelte. Die Polizeistation von St Magor, seinem Revier, war in den Nachtstunden nicht besetzt und alle eingehenden Anrufe wurden auf sein Handy umgeleitet. Das kleine St Magor war ein friedliches Dorf und Collins Nachtruhe wurde selten gestört. Er schaltete das Licht wieder an und hörte die atemlose Stimme eines Mädchens. Die Nachricht, die es ihm übermittelte, klang so konfus wie dringlich.

»Bist du denn allein zu Hause?«, fragte er und schlug seine Kladde auf, die griffbereit auf dem Tischchen neben dem Lesesessel lag.

»Meine Eltern sind bis morgen in Truro.«

Collin notierte sich Namen und Adresse des Mädchens, versuchte es zu beruhigen und legte unter dem Eindruck auf, sofort etwas tun zu müssen, auch wenn es sich um eine vage Vermutung der Schülerin handelte. Er ging mit der Kladde in der Hand und einem Grummeln im Magen zum Cottage hinüber, setzte Teewasser auf und starrte in die Nacht hinein. Dann wählte er die Telefonnummer von Robert Barker, dem Schuldirektor der John-Betjeman-Highschool. Endlich meldete dieser sich mit verschlafener Stimme und lauschte dann Collins Worten.

»Carla Wellington?«, fragte er. »Wieder einmal.« Collin hörte ein entnervtes Seufzen, eine längere Tirade über die Schülerin, die sie in einem nicht gerade positiven Licht erscheinen ließ, und Beschwichtigungen. »Sie ist sechzehn«, sagte Barker. »Da kann man sie nicht mehr anbinden. Ich informiere Sie, sollte Carla morgen nicht in der Schule sein.«

»Ich habe gerade erfolglos versucht sie auf dem Handy zu erreichen, und ihre Eltern melden sich auch nicht«, sagte Collin und spürte, wie Ärger in ihm hochkochte.

»Die Wellingtons sind irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Was schlagen Sie denn vor mitten in der Nacht?«

Es geht nicht um ein kleines Kind, dachte Collin, und dennoch. »Sorgen Sie dafür, dass das Schulgelände offen steht. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da.«

Die Klassenkameradin wird sich geirrt haben, dachte Collin, als er kurz in die Zimmer seiner Kinder schaute, dann in die Wachsjacke schlüpfte und den Wagen aus der Garage holte. Die Mädchen haben sich gestritten, das wird der Grund sein, warum Carla Wellington sich gegen die verabredete Übernachtung bei Brenda Dodley entschieden hat. Diese und andere Gedanken kreisten ihm im Kopf, als er vom unbefestigten Zufahrtsweg in die wenig beleuchtete Küstenstraße gen Osten abbog, St Magor rechts liegen ließ und auf die zwanzig Meilen entfernte Kleinstadt Cambrenne zusteuerte.

Seit einem halben Jahr besuchten Shawn und Simon, seine Zwillinge, die dortige John-Betjeman-Highschool, benannt nach dem wohl berühmtesten Dichter Cornwalls. Die musikalisch-künstlerische Ausrichtung der Schule hatte Collin und Kathryn vor einem halben Jahr bewogen, die Zwillinge dort anzumelden, auch wenn sie eigentlich zu weit entfernt lag. Aber da die Highschool den Namen eines Querdenkers wie Sir John Betjeman trägt, hatte Kathryn argumentiert, würden Simon und Shawn dort nicht anecken wie in der anderen Schule, sondern den Freiraum haben, den sie brauchten. Das Motto der Highschool, eine Gedichtzeile von Betjeman, lautete schließlich: Liberty lampshade, come shine on us all. Sie hatten gehofft, dass sich die Zwillinge für die kreativen Angebote interessieren würden. Ein Wunsch, der bislang nur teilweise in Erfüllung gegangen war. Immerhin hörte Shawn begeistert Rock der späten Siebzigerjahre, womit er einen für sein Alter nicht gerade zeitgemäßen Geschmack zeigte, und versuchte sich seit einem Monat im Gitarrenspiel, überließ sich Collin seinen Gedanken, als er die Lichter vom Küstenstädtchen Cambrenne auftauchen sah, die sich im Wasser der Bucht spiegelten. Laternen markierten die Jetty, einen langen Holzsteg, der von der Marina in die Bucht führte und von dem aus er erst vor einigen Wochen mit seinen Söhnen die Angelruten ausgeworfen hatte. Einige Boote schaukelten vertäut an Bojen. Die weiter entfernten Lichter der Leuchttürme fingerten über die unruhige See. Die Restaurants in Hafennähe waren um diese Zeit alle geschlossen, nur das »Box«, ein Club, zeigte mit grellviolettem Neonschild, dass hier die Nacht zum Tag gemacht wurde. Collin bog von der Küstenstraße ab und fuhr die Anhöhe hinauf, auf der das Schulgebäude vor einigen Jahren erbaut worden war. Wie versprochen hatte der Schuldirektor dafür gesorgt, dass das Tor zum Gelände offen stand, doch war dieser selbst, wie Collin missmutig feststellte, nicht vor Ort. Er schaltete die Polizeilampe an und suchte den vorderen Pausenhof ab, den Ort des alljährlichen Schulfestes. Collin war in diesem Jahr nicht dort aufgetaucht, er hatte Kathryns Abwesenheit schamlos ausgenutzt und geschwänzt. Und es war seinen Söhnen offenbar nur recht gewesen. Mit dreizehn fing man an, es peinlich zu finden, von den Eltern beim Bogenschießen oder Kricket angefeuert zu werden. Das hatte zumindest Shawn am Samstag unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Collin inspizierte zwei große Zelte, sah die langen Holztische mit den schmutzigen Papptellern in dem einen und die Discokugel unter der Decke des anderen, lief draußen an Tischen und Bänken vorbei, auf die der Regen tropfte, kletterte über einen niedrigen Zaun in einen Gemüsegarten, den die Schüler angelegt hatten, und wusste, dass er hier nichts ausrichten konnte, zumindest nicht allein. Nur wenige Stunden und die Sonne geht auf, beruhigte er sich, blieb am Haupteingang unter dem Fahnenmast stehen, hörte die Aufhängung im Wind klappern, blickte eine Weile auf den erleuchteten Turm von St David’s, der im Zentrum der Altstadt von Cambrenne wie etwas Tröstliches herausragte, und beschloss, nach Hause zu fahren.

Gleich nachdem Collin das Cottage betreten hatte, ging er in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den Computer und rief die Homepage der John-Betjeman-Highschool auf. Eine Alpenkrähe, der kornische Nationalvogel, eine Rose und ein Anker auf drei Wellenlinien zierten das in dunklem Blau gehaltene Logo der Schule. Collin klickte durch Dutzende von Fotos des Schulfestes, die er unter der Rubrik »News« gefunden hatte, bis er welche vom Schulorchester fand. Carla Wellington, Solistin unseres diesjährigen Konzerts, lautete eine Bildunterschrift und zeigte die Schülerin mit konzentriertem Gesichtsausdruck spielen. Auf einem anderen Foto lächelte sie selbstbewusst aus der Mitte des Schulorchesters heraus in die Kamera. Auf einem weiteren Schnappschuss saß sie mit Freundinnen auf einer Bank neben einem Getränkestand. Die wenigen Einträge auf der Homepage über die Schülerin bezogen sich alle auf das Schulorchester. Eine Künstlernatur, hatte ihm der Schuldirektor Barker am Telefon gesagt. Vergaß regelmäßig die Hausaufgaben, machte gerne blau, kam meistens zu spät in den Unterricht, verlor Taschen, Sportschuhe, Handys und zeigte nur in einem Fach Disziplin und Engagement: Musik. Es wird eine einfache Erklärung geben, warum sie nicht bei Brenda Dodley übernachtet hat und auch nicht erreichbar ist, glaubte Barker. Collin fuhr den Computer herunter, legte sich ins Bett und stellte den Wecker eine Stunde vor auf fünf Uhr. Schlaf fand er zunächst nicht. Was würde er tun, wenn eins seiner Kinder nach einem Schulfest nicht nach Hause gekommen wäre? Himmel und Hölle in Bewegung setzen.

3

Es war noch dunkel, als er unausgeschlafen und mit Kopfschmerzen im Garten unter der Kastanie stand und Kaffee trank, die nun mildere Luft von Feuchtigkeit vollgesogen. Collin war schweißgebadet erwacht, mit Traumbildern eines Mädchens vor Augen, das allein und voller Angst zwischen kargen Felsen herumirrte und um Hilfe schrie. Er war in die Küche gegangen, hatte aus dem Fenster in die Dunkelheit gestarrt, bis er nur noch sein eigenes Spiegelbild registrierte. Es musste nichts heißen. Es war eine Vermutung. Aber sollte Carla nicht bald zurückkommen, so würde sich der Albtraum, in dem sie sich vor einigen Jahren befunden hatten und der ihn vor Schreck aus dem Schaf hatte fahren lassen, womöglich wiederholen. Nur dieses Mal würde er die Verantwortung tragen. Und im Grunde, wurde ihm klar, trug er sie bereits jetzt. Er hatte in den frühen Morgenstunden im Internet gesurft und alles zum Kellis-Fall gelesen, was er finden konnte. Danach hatte er sich auf das Schaffell vor das Bett seiner Tochter Ayesha gehockt und ihr schlafendes Gesicht betrachtet, auf das der Schein der gedämmten Nachtlampe fiel, ohne die sie sich im Dunkeln fürchtete, vor allem, wenn ihre Mutter nicht da war. Sie hatte ihr Lieblingsstofftier, eine aus bunten Flicken von Kathryn selbst genähte Giraffe im Arm, eine kindliche Hommage an Äthiopien, das Land ihrer Geburt. Acht Jahre war es nun her, dachte Collin mit einem Anflug von Dankbarkeit, dass er mit seiner Familie nach Addis Abeba geflogen war und sie dort in einem Kinderheim die damals zweijährige Ayesha kennengelernt hatten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie hatte mit ihren kleinen Händen in sein rotes Haar gefasst, um dann mit ernstem Gesicht die Fotos von Cornwall zu betrachten. Als sie auf einer Aufnahme Schafe erblickte, jauchzte sie vor Aufregung. Nachdem sie Ayesha zunächst als Patenkind aus der Ferne in die Familie aufgenommen hatten, war die Entscheidung gereift, sie zu adoptieren, und zwei Jahre später war sie mit ihnen ins Flugzeug nach Cornwall gestiegen. Ihre Vorstellung, Ayesha sei an einem sicheren Ort, wo sie sorglos und glücklich aufwachsen könne, war nur Illusion. Sie mochte der Not entkommen sein, doch die Nachtseite des Lebens konnte einem überall begegnen. Sowohl dort, wo immer die Sonne schien, als auch dort, wo sie sich gern hinter Regenwolken verbarg, wie am südlichsten Zipfel Großbritanniens. Ein Paradies, wusste Collin, existierte nicht auf dieser Welt. Aber zumindest waren die eigenen vier Wände ein Zufluchtsort. Er hatte die Bettdecke über Ayeshas Arme gezogen und sich im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt.

Er hob eine Kastanie auf, rieb sie zwischen den Fingern und ging zurück ins Haus. Dort fand er zu seiner Überraschung Simon im Schlafanzug am Küchentisch sitzen.

»Etwa schon ausgeschlafen?«

Sein Sohn schüttelte wortlos den Kopf und strich auf seinem Smartphone herum, das er sich zusammengespart hatte. Er war schmächtiger als sein Zwillingsbruder Shawn, noch immer nicht im Stimmbruch und für Partys nicht zu haben. Aber auf dem alljährlichen Schulfest zu fehlen, hätte er sich am gestrigen Sonntag nicht getraut.

»Nein, aber …« Simon kaute auf der Unterlippe.

»Hast du etwas auf dem Herzen?« Sie sind in einem Alter, wo man ihnen alles aus der Nase ziehen muss, hatte Kathryn ihm neulich erklärt.

»Da ist so ’n Post auf Facebook, also von einer aus der Schule. Brenda. Die sucht ihre Freundin. Die wollte bei ihr übernachten, also nach dem Schulfest, aber sie war auf einmal weg und geht nicht ans Handy …«

»Brenda hat sich gestern deswegen bei mir gemeldet.«

»Hat sie?« Simon zog seine Wollmütze, unter der einzelne Strähnen hervorlugten, tiefer in die Stirn. Sein Haar war wie das seines Bruders im letzten Jahr lockig und noch röter geworden. Seither konnte er sich auch im Sommer kaum von der Strickmütze trennen und setzte sie gleich morgens auf. Wie ich in dem Alter, dachte Collin und hoffte, dass seine Zwillinge keine Spitznamen abbekamen. Ihn riefen sie damals »Pumuckl«.

»Vielleicht hat sie woanders übernachtet.«

Simon schüttelte den Kopf. »Brenda hat schon alle aus ihrer Klasse gefragt und auch die beiden Parallelklassen. Hier, guck.« Simon zeigte ihm ein Foto von Carla. »Die anderen meinen, du …« Er verstummte und ließ den Kopf hängen.

»Du willst also wissen, was ich da machen kann?«, fragte Collin.

»Bist ja Polizist …«

»Und du würdest blöd dastehen, wenn du nicht antwortest, stimmt’s?«

Simon nickte mit abgewandtem Gesicht.

»Warten wir ab, ob Carla heute zum Aufräumen auftaucht.« Die älteren Jahrgänge, hatte ihm Schuldirektor Barker erklärt, waren am heutigen Montagmorgen eingeteilt, den Schulhof zu säubern. Am Dienstag würde der reguläre Unterricht wieder beginnen.

»Und wenn nicht?« Simon blickte ihn jetzt mit seinen wachen Augen an. Sie hatten die Farbe von Meerwasser. Alles konnte man darin lesen, fand Kathryn. Simon gelang nicht die harmloseste Lüge, kein diplomatisches Ausweichen oder hinterhältiges Bluffen, keine Scheinheiligkeit und kein Vorspielen von Gefühlen. Sein sommersprossiges Gesicht war wie ein offenes Buch. Wenn er ein Versprechen machte, hielt er es. Collin war sich sicher, dass Simon den Freundinnen des Mädchens versprochen hatte, seinen Vater um Hilfe zu bitten.

»Dann machen wir einen Plan.« Collin klopfte seinem Sohn auf die Schulter und hoffte, ihn beruhigt zu haben. Auch wenn er sich selbst Sorgen machte – Kinder verschwinden nicht so einfach, sagte er sich. Das Mädchen war schon sechzehn. Wahrscheinlich gab es auch eine einfache Erklärung, warum Carla ihr Handy ausgeschaltet hatte. »Was hast du heute noch vor?«

»Berry kommt nachher. Wollen noch ’ne Tour machen.«

»Bei dem Wetter?«

»Hab Windguru geprüft. Das Meer ist später platt.«

»Wohin soll’s denn gehen?«

»Richtung Dolphin Bay.«

Solange es nicht westlich hinter Cambrenne ist, dachte Collin, wo die See oft launischer und die Buchten unzugänglicher sind. »Vergiss die Schwimmweste dieses Mal nicht«, sagte er und versuchte, sorglos zu klingen. Simons Hobby war ihm ebenso unheimlich wie das Meer selbst, das er sich am liebsten aus sicherer Entfernung anschaute. Er schob die Bilder von scharfkantigen Felsen, die tückisch unter Wasser lagen, Unterströmungen, Sturmfluten und lecken Bootsplanken beiseite. Simon war der einzige Fisch der Familie. Jede freie Minute verbrachte er mit dem Surfbrett, der Taucherausrüstung, der Angel oder dem Kajak auf dem Meer. Die Erforschung von Küstenhöhlen war seine neueste Leidenschaft. Eine, die er nur mit wenigen teilen konnte. Berry ging es offenbar ähnlich. Warum sollte sonst ein Zwanzigjähriger seine Freizeit mit einem sieben Jahre jüngeren, noch halben Kind verbringen? Eine Höhlentour, hatte ihm Simon erklärt, konnte mehrere Stunden dauern. Berry fuhr zu den entlegensten Stellen, wo sie mit dem Kajak über den Schultern Felsen hinabkletterten, bevor sie es zu Wasser lassen konnten. Dann paddelten sie an den Felsenwänden entlang bis zum Eingang der Höhle, setzten sich Kopflampen auf und lenkten das Kajak in das dunkle Loch hinein, das sich über Millionen Jahre oft bis zu einer Meile in den Stein gefressen hatte. Simon machte Aufnahmen, sammelte Gesteinsproben und leuchtete jeden Winkel der Höhle ab. Er war überzeugt, dass Piraten, die die Küsten Cornwalls zu früheren Zeiten beherrschten, ihre sagenumwobenen Goldschätze dort gehortet hatten. Und einen solchen Schatz zu finden, war sein Traum. Vielleicht wird er heute auf einen stoßen. Collin hoffte, dass Berrys gebrauchter Pick-up nicht wieder den Geist aufgeben würde.

Dann widmete er sich seinen väterlichen Pflichten, weckte Ayesha, briet Speck und Eier, kochte Kakao, stellte Müsli und Cornflakes auf den Tisch und schichtete Brot in den Toaster. Um sieben Uhr wurde seine Tochter von einer Nachbarin abgeholt, die ebenfalls ein paar Meilen außerhalb von St Magor in einem Cottage wohnte und einen Sohn hatte, der mit Ayesha in die gleiche Dorfgrundschule ging. Zumindest war dieses Problem während Kathryns Abwesenheit gelöst, dachte er, als er Ayesha einen Kuss aufs Haar drückte und hinterherwinkte. Anschließend machte er sich selbst im Dienstwagen auf den Weg ins Revier. Die fünf Meilen nach St Magor, entlang der felsigen Küste, genoss er jeden Morgen. Heute war der Himmel über dem Meer wie eine Betonwand. Nur an einigen Stellen hatte sich die Morgensonne einen Weg gebahnt und warf dünne Streifen aufs Wasser. Er schloss die Polizeistation auf, ein einstöckiges Granitgebäude aus dem Mittelalter, das sich im Ortskern an einer steilen Straße nahe des kleinen Marktplatzes befand. Von seinem Büro aus konnte er ein Stück des Meeres sehen und stellte sich auch jetzt wie jeden Morgen zuerst ans Fenster und genoss den Ausblick über Dächer hinweg auf die schroffe Küste. Dann griff er zum Telefon und kontaktierte die drei Krankenhäuser der Umgebung. Doch eine Carla Wellington war in keinem registriert, auch kein Mädchen eingeliefert worden, auf das die Beschreibung passte. Wenig später trafen seine Kollegen Bill und Anne ein, die den Arbeitstag wie immer in der kleinen Küchenzeile begannen, um Tee zu kochen. Johnny, der vierte im Team, mit dem er sich sein zugiges und enges Büros teilte, glänzte derzeit mit Unpünktlichkeit. Er wollte gerade zum Hörer greifen, um ihn aus dem Bett zu jagen, da sah er ihn auf den Parkplatz fahren. Johnny stürzte mit einer Kiste unter dem Arm ins Büro.

»Was machst du denn hier? Langweilst du dich als Strohwitwer?« Er stellte die Kiste auf den Boden und pfefferte seinen Rucksack daneben.

»Was ist da drin?«, fragte Collin zurück.

»Na, was wohl? Bella.« Johnny öffnete die Kiste und hob seine junge Katze heraus, eine Streunerin, die er vor wenigen Tagen unter den Holzplanken seiner Veranda gefunden hatte. Sie war dunkelgrau, hatte ein schwarzes und ein rotes Ohr, weiße Pfoten, ein rotes Gesicht und eine weiße Stirn. Eine gespaltene Katzenpersönlichkeit, glaubte Johnny in dem Schildpattmuster zu erkennen. Eine Ecke des Büros war inzwischen in ein Katzenkinderzimmer umgewandelt. Zumindest eine Frau, die mich liebt, hatte Johnny gefrotzelt.

»Mach wenigstens das Katzenklo mal sauber.«

»Was glaubst du, was ich gerade vorhatte?« Johnny zog eine Tüte Streu aus seinem speckigen Lederrucksack. »Hier, nimm mal die Kleine.« Johnny setzte ihm Bella auf den Schoß, klemmte sich die Tüte Streu unter den Arm und lief mit dem Katzenklo nach draußen.

»Beeil dich«, rief ihm Collin hinterher und streichelte das Kätzchen mit wachsender Ungeduld. Ayesha wäre begeistert, dachte er, und würde es wahrscheinlich sofort adoptieren. Sie war eine Tiernärrin und nervte ihn schon seit Tagen mit der Frage, wann sie endlich Johnny besuchen würden, damit sie mit Bella spielen konnte.

»Sauwetter.« Johnny schüttelte die nasse Mütze aus, unter der sein kinnlanges, zotteliges Haar zum Vorschein kam, plumpste auf seinen Stuhl, gähnte lautstark, zog einen Hotdog und eine Thermoskanne aus dem Rucksack und begann zu essen. Seit Tagen frühstückte er im Büro.

»Bist du jetzt endlich anwesend?«, fragte Collin.

»Ja, kannst den Haken auf der Anwesenheitsliste machen. Strohwitwer sollten zum Sonderurlaub gezwungen werden, weil sie nämlich den Kollegen mit ihrer schlechten Laune tierisch auf den Keks gehen«, sagte Johnny mit vollem Mund und grinste ihn an. »Oder brennt irgendwo gerade ein Haus ab?«

»Nein, aber möglicherweise ist eine Schülerin der John-Betjeman-Highschool verschwunden.« Collin skizzierte ihm kurz den Sachverhalt.

»Die John-Betjeman-Highschool?« Johnny kratzte sich mit dreckigen Fingern am Hinterkopf, was er immer tat, wenn er angestrengt nachdachte.

»Ja. Wasch deine Ohren und die Hände gleich mit. Hast du gestern wieder an deiner Rostbeule rumgeschraubt?«

»Vergaser. Läuft die Suppe nur so raus. Klemmer am Nadelventil oder Loch im Schwimmer. Muss ich noch rausfinden.«

»Dein Pulli mufft. Hab ich dir schon letzte Woche gesagt.«

»Riech nix.« Johnny steckte die Nase in den grauen Rollkragenpullover und klopfte sich dann mit dem Knöchel an die Schläfe. »Irgendwas klingelt da, wenn ich ›John Betjeman‹ höre. Weiß aber nicht, was.«

»Hier, hilft deinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge.« Collin warf ihm die Ausdrucke aus dem Internet und aus »Merlin« zu, der Datenbank für vermisste Personen, die er vor Ankunft der anderen vorbereitet hatte. »Der Kellis-Fall. September 2008.«

»Bingo. Kellis. Das Mädchen aus Cambrenne. Ja, du Raubkatze, das ist lecker Fleisch.« Johnny zupfte kleine Stücke vom Hotdog ab und fütterte Bella damit, die inzwischen auf seinem Schreibtisch herumspazierte, in einem Chaos aus Papierstapeln, CDs, Chipstüten und – seit Neuestem – Dosen mit Katzenfutter.

»Ich war damals …«, begann Collin.

»… in Äthiopien. Kann mich erinnern. Und ich hatte diesen verdammten Beinbruch. Vom Arsch ganz zu schweigen.«

Richtig, fiel Collin ein. Johnny war bei Reparaturarbeiten vom Dach seiner Fischerkate gefallen, unsanft knapp neben seinem Komposthaufen und schließlich mit gebrochenem Unterschenkel und Steißbein und einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus gelandet. Und wo waren Bill und Anne gewesen?

»Billy-Boy und unser Annilein waren noch nicht da, aber Sandra«, sagte Johnny, als hätte er Collins Gedanken erraten. Keiner aus ihrem jetzigen Team, wurde Collin bewusst, hatte sich damals aktiv an der über drei Wochen intensiv verlaufenden Suche nach Jenifer Kellis beteiligt, zu der DI John Ladock, der damals zuständige Kollege aus Cambrenne, alle Kräfte der umliegenden Polizeistationen angefordert hatte.

»Stimmt, Sandra war dabei«, murmelte Collin. Seine ehemalige Mitarbeiterin war jetzt im New Forest stationiert, einige Hundert Meilen von St Magor entfernt.

»Mal den Teufel nicht an die Wand. Muss nichts heißen, auch wenn’s dieselbe Schule ist.« Johnny schob die Unterlagen über den Kellis-Fall beiseite und füllte Bellas Futterschüssel.

»Lass uns gleich noch mal hinfahren. Vielleicht ist ja alles falscher Alarm.«

»Hoffen wir’s.«

Collin rief alle Kollegen zur morgendlichen Besprechung zusammen. In den letzten Wochen hatten sie eine ruhige Kugel geschoben, was eigentlich der Normalzustand war. St Magor war ein ruhiger Küstenort, wo alle einander grüßten und der Rest der Welt so weit entfernt schien wie ein anderer Planet. Das Leben verlief gemächlich, und die Uhren gingen alle nach, da man sich, so hieß es, mit jedem Schritt gegen den Seewind stemmen musste. Als Collin vor zwanzig Jahren hierher kam, wusste er, dass er nie wieder fort wollte. Vor allem nicht zurück in sein altes Leben in Southampton, wo er jeden Tag einen prall gefüllten Schreibtisch hatte, somit zwar größere berufliche Herausforderungen und eine Karriereleiter, die dicht vor ihm aufragte, doch es war ihm am Ende so vorgekommen, als liefe er mit einer Ladung Dynamit durchs Leben, die jeden Moment explodieren konnte. Sein Magen hatte rebelliert, er litt unter Schlaflosigkeit, und die Müdigkeit breitete sich auch in seiner Seele aus. Burn-out. Im dörflichen St Magor hatte er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden und einen neuen Sinn in seinem Beruf. Diese kleine Welt, dem Meer ganz nah, so hatte er sich vorgenommen, wollte er beschützen. Und bislang war ihm das schon deshalb halbwegs gelungen, weil anders als in Southampton nicht täglich mit Deliktfällen oder gar Kapitalverbrechen gerechnet werden musste. Ihre morgendliche Besprechung war daher nicht selten eine überflüssige Veranstaltung, die niemand außer ihm ernst zu nehmen schien. Und nun, da seit der letzten Woche das Katzenkind mit in den Besprechungsraum kam, war es mit dem Ernst ganz vorbei.