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Eine Liebeserklärung ans Gärtnern

Der verwilderte Großstadtgarten mit Kiefernbestand und Sandboden interessierte Gabriele Frydrych nicht die Bohne. Aber dann wuchsen aus den lustlos verbuddelten Discount-Blumenzwiebeln tatsächlich Schneeglöckchen und Narzissen; Rotkehlchen und Meisen flogen auf ihren Frühstückstisch. Spätestens, als eine Fuchsfamilie das Gelände eroberte, war es um Frau Frydrych geschehen.

Ihr Werkeln im Garten blieb nicht unbemerkt, und so standen der Garten-Novizin bald die lieben Nachbarn auch ungefragt mit guten Ratschlägen zur Seite, etwa der Ästhet mit eigenem Gärtner oder der kleine Naturforscher Till. Und auch ihre Ökofreundin Sabine, die ihre Schnecken einzeln in den Wald bringt, übernahm willig die Rolle des schlechten Gewissens. Humorvoll und mit bestechend genauer Beobachtungsgabe erzählt Gabriele Frydrych von Pflanzen, Tieren und dem Mikrokosmos ihrer Siedlung – für alle Gartenliebhaber und die, die es noch werden wollen.
 
 

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© Günter Schmidt

 

Gabriele Frydrych schreibt Kolumnen für ›Landlust‹ und ›Kraut und Rüben‹, zudem veröffentlicht sie Glossen über ihre Erfahrungen als Lehrerin an Berliner Brennpunktschulen, u. a. für die ›Süddeutsche Zeitung‹ und den ›Berliner Tagesspiegel‹, die auch in Buchform erschienen sind.

GABRIELE FRYDRYCH

Mein wundervoller
Garten

 

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Unkraut jäten? Ohne mich!

»Endlich kümmert sich mal jemand um diesen Garten!«

Ein Herr im seidenen Morgenrock steht am Zaun und sieht mir wohlwollend zu, wie ich Umzugskartons, Wäscheständer und Stehlampen schleppe. Um den Garten kümmern? Was meint er damit? Die Wildnis hinter unserem Hexenhaus? Die vielen Kiefern, Hecken und Misthaufen? Ich lächle milde und stelle mich als neue Nachbarin vor. Dezent flechte ich ein, dass ich beruflich völlig ausgelastet bin, genauso wie mein Mann. Auch am Wochenende verwachsen wir mit unseren Schreibtischen und korrigieren Klausuren, Tests, Aufsätze, Erörterungen, Diktate und Essays, bis wir, entnervt von all den inhaltlich-stilistischen Ungeheuerlichkeiten, vom Rotstift zum Rotwein wechseln und kaputt ins Bett fallen. Vom Gärtnern habe ich übrigens keine Ahnung. Ich habe auch nicht vor, das zu ändern. Wenn ich mal Freizeit habe, gehe ich lieber ins Theater – und nicht zum Kompostsieben. Ich beabsichtige auch nicht, in einem müffelnden Bio-Eimer Küchenabfälle zu sammeln und benutzte Filtertüten als Düngemittel zu verwenden. Was soll ich damit hier auch düngen? Den Löwenzahnbestand? Die Brennnesselkolonien?

»Warum sind Sie dann überhaupt hierhergezogen?«, steht im Stirnrunzeln meines neuen Nachbarn.

»Das kann ich Ihnen genau erklären«, antwortet mein leicht mokanter Gesichtsausdruck.

In der Berliner Innenstadt lebt es sich wunderbar, solange man jeden Abend eine neue Kneipe kennenlernen möchte. Aber irgendwann nervt es, wenn man auf der Suche nach einem Parkplatz ewig durchs Viertel fahren muss. Oder man plant gleich eine halbe Stunde Fußweg bis nach Hause ein, zusammen mit Bücherstapeln, Einkaufstüten und Sporttaschen. In den letzten Monaten bin ich deshalb mit all meinem Reisegepäck mit der U-Bahn zur Schule gefahren. Irgendwann hat man einfach keine Lust mehr, mit Getränkekisten, Gemüse und Brot vier Treppen hochzusteigen. Irgendwann gehen einem auch die grölenden Kieztouristen auf den Geist, die nachts um drei noch ausgesprochen gut gelaunt gegen Laternen und Hauswände pinkeln. Irgendwann findet man es auch nicht mehr lustig, wenn liebe Mitmenschen ihre Sofas, Fernseher und Kühlschränke einfach vorm Haus an den Straßenrand stellen.

Mein Mann und ich wollten einfach weg aus der Innenstadt. In ein kleines Eigenheim, wo man nachts noch Klavier spielen, laut Rolling Stones hören oder Wäsche waschen kann, ohne dass es jemanden stört. Wo man nicht mehr den chronischen Raucherhusten des Nachbarn durch die Wand hört oder die anderen seltsamen Geräusche, die er beim Duschen produziert. Der Traum vom eigenen Garten hat uns nicht unbedingt verfolgt. Radieschen, Tulpen und Erdbeeren kann man auch auf dem Markt kaufen.

»Unser neuer Nachbar denkt wirklich, dass ich nichts Besseres zu tun habe, als unsere Brache in ein landschaftliches Idyll zu verwandeln«, erzähle ich spöttisch meinem Mann.

»Och, das wäre wirklich ganz schön, wenn es bei uns mehr grünt und blüht und etwas gepflegter aussieht. Du hast doch so einen Hang zu Natur, Tier und Umwelt«, fällt mir mein Mann in den Rücken, »gerade heute habe ich gelesen, dass Gartenarbeit etwas sehr Heilsames und Spirituelles hat.« Er holt irgend so eine Postwurfsendung und zitiert daraus: »Das Einebnen des Bodens kann eine beruhigende Wirkung haben. Das Säen nährt die Vorfreude auf Neues. Wenn du die Pflanzen beim Wachsen beobachtest, kannst du über deinen eigenen Platz im Leben nachdenken. – Mit intensiver Gartenarbeit brauchst du vorm Korrigieren kein autogenes Training mehr«, behauptet er.

»Geh du doch Unkraut jäten, wenn das so heilsam ist«, entgegne ich und enteile ins Internet. Mein Mann will aber auch nicht im Garten meditieren, sondern lieber bei der Sportschau. Ich werde ganz sicher nicht im Erdreich wühlen und Unkraut zupfen! Vielleicht, wenn ich pensioniert bin.

Unser Hexenhaus steht in einem ehemaligen Waldgebiet. Wald in Berlin bedeutet: jede Menge Sand, jede Menge Kiefern. In unserem Garten stehen allein 13 davon. Und fünf Baumstümpfe im Gelände zeugen davon, dass es einst noch mehr waren. Unter den Bäumen wächst, was auch im Wald so vor sich hin wächst – wenn man nicht dagegen ankämpft. Ich stehe auf der Terrasse Aug in Aug mit Brennnesseln, Farn und Gestrüpp in allen Formen und Farben.

Unser neuer Nachbar bietet uns freundlich Unterstützung an: »Ich könnte mit Ihnen ins Gartencenter fahren und Sie beraten. Das mache ich wirklich gern! Sie brauchen unbedingt ein paar Büsche, zum Beispiel hier.« Er zeigt auf unsere Dreckecke, in der sich alte Zweige, Kiefernnadeln und Laub auf einem Haufen treffen. Auch wenn mein Mann und ich Gartenarbeit nicht lieben, müssen wir hin und wieder die Wege fegen, damit wir vom Haus aus zur Garage, zum Briefkasten und zur Mülltonne gelangen. Der Nachbar entpuppt sich als Ästhet, der nicht gern vom Frühstückstisch aus auf unseren Gartenabfall schaut. Ich weiß gar nicht, warum er sich mit seinen Ideen so intensiv an mich wendet. Bekommen Frauen eher ein schlechtes Gewissen und räumen deshalb die alten Äste und Eimer wirklich weg? Meinen Mann beeindruckt es nicht sehr, dass der Nachbar sich an unserer »Gartengestaltung« stört. Als sich in den nächsten zwei Monaten bei uns nichts Entscheidendes verändert, außer dass der Dreckhaufen weiter wächst, steht der Nachbar mal wieder im seidenen Morgenrock am Zaun und lästert: »Na, so ein rustikaler Garten hat ja auch was!«

Er kann gut reden. Seinen Landschaftspark pflegen zwei Gärtner. Er selbst muss keinen Finger krumm machen. Nur wenn er Anweisungen gibt und zeigt, was abgeschnitten, hochgebunden und eingegraben werden soll. Manchmal krieche ich frühmorgens durchs Brombeergestrüpp und schaue heimlich über den Zaun. Der Nachbar ist wirklich ein Ästhet. Sein Garten ist genauso geschnitten wie unserer, aber er wirkt dreimal so groß. Bei ihm sind raffinierte Lenné’sche Sichtachsen eingebaut, was immer das ist. Malerische Büsche und Zierpflanzen umgeben Sitzecken mit zierlichem Gartenmobiliar. Eine bronzene Statue steht an einem leise plätschernden Brunnen, alte Wagenräder und Mühlsteine ruhen an den Bäumen. Rosen ranken an schmiedeeisernen Gittern. Jedes Detail ist liebevoll erdacht. Man könnte neidisch werden, wenn man den sattgrünen Rasen sieht. Bei uns gibt es nur so etwas Steppenartiges mit Moos, Gänseblümchen und vereinzelten Grasbüscheln und viele platt getrampelte braune Flecken.

»Ihr müsstet den Rasen mal vertikutieren«, sagt meine Ökofreundin Sabine bei ihrer ersten Inspektion. Ich lasse mir erklären, was Vertikutieren ist, und delegiere diese eher unerfreuliche Aufgabe sofort an meinen Mann. Aber der gibt vor, an den diesjährigen Abituraufgaben zu sitzen. »Ich wusste gar nicht, dass Abiturienten jetzt auch Kreuzworträtsel lösen müssen«, lästere ich, als ich seine »Arbeitsunterlagen« sehe. In diesem Jahr wird sich die rasenartige Steppenlandschaft hinter unserem Haus vermutlich nicht ändern.

Der Ästhet von nebenan wehrt sich mit Schilfmatten und Bambus gegen die optischen Belästigungen ringsum. Hinter seinem Grundstück wohnt eine große Familie, deren Garten als Stellfläche für alles dient, was im Haus keinen Platz findet: alte Fahrräder, Schubkarren, Töpfe, rostiges Werkzeug, kindshohe Holzeisenbahnen, ein Trampolin und ein trojanisches Pferd. Irgendwann zieht der Ästhet auch eine Schilfmatte zu unserer Seite ein, weil die Holzreste und Müllsäcke vor seinem Frühstückstisch immer noch nicht verschwunden sind. Ich habe ein schlechtes Gewissen 

Als der erste Sommer im neuen Heim sich neigt, beginnt in den Gärten ringsum hektische Betriebsamkeit. Kein Tag vergeht, an dem nicht gehackt, gehäckselt und gemäht wird. In den hohen Kiefern klettern grüne Männlein mit Sturzhelmen und Seilen herum, sägen Äste ab oder fällen ganze Bäume. Wenn so ein Kiefernast im Herbststurm auf Autos oder gar auf Köpfe fällt, kann das teuer werden. Wer sich nicht regelmäßig um sein Totholz kümmert, bekommt von der Haftpflichtversicherung im Notfall keinen Cent. Eine nervige Geräuschkulisse, wenn man am Schreibtisch sitzt und Semesterarbeiten lesen muss. Irgendjemand schleift seine Türen und Fenster, woanders werden Gehwegplatten zerklopft und Holzplatten zurechtgesägt. Nachbarinnen tragen Haufen von Ranken und Ästen herum, stopfen ihre Rosenbüsche in Plastiksäcke und rufen ihren Männern laute Kommandos zu: »Schatz, der Laubsack muss noch vor die Tür!« – »Schatz, kannst du bitte mal den Häcksler holen?« Das Kosewort »Schatz« kann wie ein Peitschenhieb klingen, wenn der Gatte nicht spurt. Nervös warte ich darauf, dass jemand so einen nervigen Laubbläser zum Einsatz bringt, aber hier im Viertel wird noch per Hand geharkt.

Meine Ökofreundin Sabine schenkt mir einen großen Sack Blumenzwiebeln aus dem Naturversand: »Die musst du aber einsetzen, bevor der Boden friert!« Pflichtschuldig begebe ich mich in unsere Wildnis und suche nach freien Stellen. Das ist nicht so leicht. In allen Beeten liegen kniehoch Kiefernnadeln und Kiefernzapfen – Kienäppel nennt sie der Berliner. Dass es Beete sein sollen, erkennt man an den alten Steinen, die so eine Art Einfassung bilden. Ansonsten herrscht Wildwuchs, versetzt mit Büscheln gelber Blumen. Denen scheint es in diesem Garten zu gefallen.

Ich suche Werkzeug. Im alten Schuppen lagert alles, was im Laufe des letzten Jahrhunderts aus dem Weg geräumt wurde. Ich finde ein seltsames Gerät mit Bohrvorrichtung. »Die Spitze der Blumenzwiebel muss nach oben zeigen«, hat mich meine Ökofreundin Sabine belehrt. Sie weiß, dass ich keine Ahnung habe. Schon in der Schule war mir das Pflanzenbestimmen in Biologie ein Rätsel. Während meine Klassenkameraden in Windeseile durch Flussdiagramme eilten und herausfanden, dass sie fleischfarbenes Knabenkraut oder Wiesenkümmel vor sich hatten, grübelte ich noch über Blütenstand und Blattform.

Mit meinem Bohrgerät begebe ich mich in den Garten. Im Erdreich finde ich jede Menge Wurzeln: armdicke behaarte, kleine zerfranste, kahle und verzweigte. Kann ich die einfach abhacken? Nachher geht die riesige Kiefer zur Linken ein? Oder ich kappe die Ausläufer vom Rhododendron? Einige Gewächse hier im Garten scheinen ja mal absichtlich gepflanzt worden zu sein. Ich versenke die Blumenzwiebeln zwischen Wurzeln, urzeitlichem Gestein und merkwürdigen Ballen.

»Willst du Blumen, die nach unten wachsen? Du hast die Zwiebeln falsch rum eingegraben!«

Wer spricht da? Mein schlechtes Gewissen? Ich schaue hoch. Nebenan sind ein paar Bretter zu einer Art Riesennisthöhle zusammengefügt. Darin sitzt etwas Buntes mit einem Fernglas und beobachtet mich.

»Wer bist du denn?«, frage ich.

Aus dem Baum steigt ein bunt gekleidetes Kind nach unten. Es ist höchstens sechs Jahre alt. Es kommt an den Zaun und reicht mir ein Glas: »Ich bin Till, der Entomologe.«

»Ento-was?« Ich hatte zwar in der Schule viele Jahre lang Latein und Altgriechisch, aber so ein Wort kam bei Homer oder Cäsar nicht vor.

»Entomologe. Das ist ein Insektenforscher.« Till zeigt auf das Glas. Darin sitzt eine dicke, behaarte Spinne. Ich finde Spinnen interessant, aber nicht unbedingt niedlich. »Du kannst durch den Deckel schauen. Da ist eine Lupe drin.« Durch das Vergrößerungsglas wirkt die Spinne riesig. Mir scheint, sie wetzt ihre Zähne. »Sehr hübsch. Wie heißt denn deine Spinne?«

»Das ist eine Winkelspinne. Willst du mal einen Ameisenlöwen sehen?«

Ich kenne Ameisenbären aus dem Zoo, aber Ameisenlöwen? »Darfst du so was als Haustier halten?«

Till schaut mich nachsichtig an. »Das ist eine Larve, kein Haustier. Hier im Sand hat sie Trichter gebaut. Wenn eine Ameise da entlangläuft, rutscht sie ab und wird gefressen.« Der Ameisenlöwe zieht es heute allerdings vor, nicht in Erscheinung zu treten.

»Ich muss jetzt rein, Mittag essen«, sagt Till. »Vielleicht werde ich später Käferdoktor.«

Viele meiner Oberschüler ekeln sich vor Insekten. Ich muss sie meist massiv davon abhalten, alles plattzumachen, was in ihrer Nähe kriecht, fliegt und krabbelt. Ich halte immer noch das Glas mit der dicken Winkelspinne in der Hand. Ich lasse sie hinter unserem Schuppen frei und vertraue darauf, dass sie auf das Nachbargrundstück flieht. Dann räume ich Schaufel und Hacke zurück zum Gerümpel und vergesse meinen gärtnerischen Eifer ganz schnell wieder.

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Der erste Winter

Der Winter offenbart, was der Sommer mit üppigem Grün verhüllt hat: wie nah die nächsten Nachbarn sind. Alle Hecken und Büsche sind jetzt kahl, die Kletterpflanzen erfroren. Mein Blick fällt ungehindert auf schiefe Zäune und seltsame Anbauten. Selbst der Ästhet von nebenan dreht uns eine unansehnliche Schuppenrückseite zu. Vorn sieht sein Schuppen wie ein nostalgisches Badehäuschen aus: weiße Holzplanken und verschnörkelte blaue Fensterrahmen. »Vorne hui und hinten pfui«, würde meine Mutter sagen. Leider sehe ich von meinem Schreibtisch aus nur das »Pfui« und zwei Gartenstühle, die hinterm Schuppen auf bessere Zeiten warten.

Schön wird der kahle Garten erst, als der erste Schnee fällt. Am Morgen ziehe ich die Gardinen beiseite, um mich an der unberührten Landschaft zu erfreuen. Unberührt? Wenn ich noch im Bett liege, tobt hier das Leben! Überall im Schnee sind Tierspuren. Auf der Terrasse haben Amseln das jungfräuliche Weiß entfernt. Auf der Suche nach Futter scharren sie überall. Die anderen Spuren sehen nach Vierbeinern aus. Im Internet findet die Anfängerin im Fährtenlesen jede Menge Fotos und Skizzen von Fußabdrücken. So eine Skizze drucke ich aus und wandere damit durch den Garten. Für mich sieht im Schnee eigentlich alles gleich aus: Hund, Katze, Fuchs oder Marder. Ich finde einen Braunbärenabdruck. Behauptet meine Skizze. Aber ein Bär in Berlin? Der auf einem Bein hüpft? Schwer vorstellbar.

Zu meinen raren Gartenaktivitäten zählt, dass ich im Herbst ein winziges Vogelhaus an eine Kiefer gehängt habe, Produktbezeichnung »Early Bird«. Also eigentlich hat es mein Mann dorthin gedübelt. Ich will kleine Singvögel anlocken. Tauben und Krähen gibt es in der Großstadt schon genug. Im Drogeriemarkt erwerbe ich Meisenknödel im Dreierpack und Streufutter in großen Vorratspackungen. Ein paar Spatzen schauen mal kurz vorbei. Am Abend ist das Futterhaus immer noch voll. Die Vögel hier scheinen verwöhnt zu sein. Sie werden in jedem Garten gefüttert. Dort hängen nicht so schlichte Futterhäuser wie bei mir, sondern schöne bunte Gebilde, in Form von kleinen Gartenlauben und Postkästen. Das Futter der Nachbarschaft stammt auch nicht aus dem Drogeriemarkt, wie ich herausfinde, sondern von speziellen Versandhäusern oder wird per Hand aus Nüssen und Fett zubereitet.

Egal, ob aus dem Baumarkt oder vom Naturversand: In den Tüten mit Vogelfutter erwirbt man bisweilen mehr als Getreideflocken und Rosinen. Das merke ich leider erst, als im Frühjahr seltsame Flugobjekte durchs Wohnzimmer flattern. Glücklicherweise findet man im Internet alles Wissenswerte und noch viel mehr! Bei uns haben sich Lebensmittelmotten angesiedelt. Ein paar Maden verstecken sich noch im Vogelfutter, die anderen sind längst unterwegs im Haus und suchen sich warme Nischen zum Verpuppen. Mit Pheromonfallen kann man ein paar Männchen erlegen, die Weibchen sind längst dabei, ihren Nachwuchs fachgerecht unterzubringen.

Mein Mann grollt. Er will keine Insekten im Wohnbereich. Ich entsorge das Vogelfutter in der Mülltonne und lese hinterher, ich hätte den Mottennachwuchs erst einfrieren oder erwärmen sollen. Jetzt leben die lieben Tierchen ungehindert auf der Mülldeponie weiter. Ich lese, dass man gegen diese Motten Schlupfwespen einsetzen kann. Die Wespen sind ganz findig darin, die Mottenbrut aufzuspüren und zu vernichten. Aber was macht man anschließend mit den vielen Schlupfwespen? Mit denen möchte ich auch nicht zusammenleben.

Der Naturschutzbund propagiert einen Vogelzähltag. Ich stelle mich mit einem Notizblock an die Terrassentür. Nach einer Stunde habe ich 72 Spatzen und 35 Kohlmeisen gezählt. Ein ornithologisch versierter Nachbar spottet: Sicher hätte ich ständig dieselben Vögel gezählt. Insgesamt hätte ich bestenfalls zehn Vögel im Garten. Alle anderen sind nämlich bei ihm: Schwanz-, Hauben- und Tannenmeisen, Seidenschwänze, Perltaucher, Kronenkraniche, Erlenzeisige, Bergfinken, Waldbaumläufer und Gartenbaumläufer. Na gut, das mit den Kronenkranichen ist übertrieben. Die wohnen in Berlin nur im Zoo.

Ich sehe im Bestimmungsbuch nach und frage mich, wie man Wald- und Gartenbaumläufer überhaupt unterscheiden kann. Vermutlich nimmt mein Nachbar mit einem Peilgerät das Piepsen auf und lässt es durch sein Stimmerkennungsprogramm laufen. Das hat er bei eBay ersteigert. Normalerweise ortet und identifiziert die CIA damit verdächtige Anrufer.

Die Artenvielfalt zwei Häuser weiter macht mich neidisch. Nach langem Insistieren habe ich Erfolg: Der Nachbar leiht mir den Katalog seines Naturversandhauses. Zwanzig Seiten allein über individuell gefertigte Nistkästen! Sogar für Eichhörnchen und Fledermäuse. Manche Nistkästen gibt es auch als Bausatz zum Aussägen und Anmalen.

Als Sättigungsbeilagen kann man alle Arten von Nüssen bestellen, sortiert oder gemischt, vorgebröselt oder im Stück, mit Fett oder Honig paniert. Vollwertsaatgut aus Afrika, Asien und Brandenburg, mit Kalorienangabe, aber garantiert ohne Ambrosia-Samen. Energierollen aus Fett in rosa, gelb und grau. Je nach Vogelart mit getrockneten Mücken, Mehlwürmern und Waldbeeren. Diese Leckerbissen werden auf multifunktionalen Futtertischen serviert: mit eingebauter Wasserstelle, Regenschirm und Schutzgitter. Da muss die Katze draußen bleiben! Die Säule »Silver Birdie« bietet 20 Vögeln gleichzeitig Platz. Sollte sich ein Waschbär oder eine neugierige Nachbarin hierhin verirren, schließen sich die Futterluken automatisch. Ich bestelle 15 Kilo »Rotkehlchendelikatessen« und freue mich, dass ich den Nachbarn damit ein paar Vögel abspenstig machen kann. Vorher überprüfe ich das Vogelfutter mit einer Lupe auf Madenbefall.

»Sieh mal, so viele Spatzen! Einer hat sogar einen roten Bauch«, staunt mein Mann beim Frühstück, als er das Gewimmel draußen entdeckt. Er kennt zwar die Vielfalt von Pfälzer Blut- und Leberwurst, aber nicht die von Gartenvögeln. Ich bringe ihm erst mal Grünling und Buchfink bei, bevor ich ihn mit Kleiber und Bergfink konfrontiere.

In gebührendem Abstand lauert die Katze von gegenüber. Sie ahnt irgendwie, dass ich ihr Treiben in Bezug auf Vögel nicht billige, und trollt sich, wenn ich sie nur scharf ansehe. Einmal habe ich sie erwischt, als sie oben auf dem Futterhäuschen saß. Mein schriller Schrei ist ihr anscheinend im Gedächtnis geblieben.

Beim Kauf des winzigen Futterhauses »Early Bird« habe ich allerdings die übrigen Gartenbewohner unterschätzt. Die Amseln landen – nach mehreren Anläufen – zielsicher auf Haferflocken und Rosinen und verteidigen zänkisch ihre Beute. Die Eichelhäher brauchen ein wenig länger für ihre artistischen Bemühungen. Sie landen zunächst auf dem Dach, und unter ihrem Gewicht wackelt und kippt das Futterhaus bedrohlich. Schließlich hängen sie sich im Klimmzug dran und stecken nur den Kopf ins Haus. Immer, wenn das Futterhäuschen völlig schief in den Angeln hängt, war mit Sicherheit ein Eichelhäher zugange.

Eines Morgens hat sich ein Eichhörnchen ins Futterhaus reingequetscht und füllt sich den Magen. Als ich näher komme, faucht es wütend und rennt einen Meter den Baum hoch. Dort hängt es kopfüber und wartet, dass ich wieder verschwinde.

In den nächsten Tagen lege ich ihm ganze Walnüsse hin. Kaum habe ich mich entfernt, hat das Eichhörnchen sie sich schon gekrallt. Aus dem Efeu hört man Säge- und Feilgeräusche. Da nagt das Eichhörnchen gerade eine Nuss auf. Mein Zahnarzt rät davon ab … Die leeren Schalen lässt es mir vor die Füße fallen. Die eine oder andere Nuss vergräbt es auch. Die finde ich im Frühjahr vermodert irgendwo im Garten.

Im Naturversand gibt es spezielle Futterstationen für Eichhörnchen: Holzkistchen mit Fenster. Da kann das Eichhörnchen schon von außen sehen, ob was Passendes drin ist. Das Kistchen hat einen Deckel, der erst geöffnet werden muss. So eine Art Intelligenztest für Eichhörnchen. Wenn es dort nichts mehr zu holen gibt, sitzt das Eichhörnchen am Fenstergitter vor meinem Schreibtisch und benagt mit Inbrunst den Meisenknödel.

Klaut das Eichhörnchen auch die »Energieblöcke«, die auf dem Terrassenboden stehen? Das sind Plastikschachteln mit einer Art Fettklumpen darin, damit die Vögel bei der Kälte ordentlich was auf die Rippen bekommen. (Haben Vögel Rippen? Ich muss mal den Ornithologen in der Nachbarschaft fragen. Er ist eigentlich Kriminalbeamter, aber in jeder freien Minute beschäftigt er sich mit Geflügel und Gefieder. Er hat die teuersten Ferngläser, mit denen er einen Zeisig auf zehn Kilometer Entfernung ausmachen kann.) In so einem »Energieblock« ist auch Eiweiß in Form leckerer Trockeninsekten. Die sind speziell für Rotkehlchen gedacht. Manchmal liegt der Napf morgens leer im Gebüsch. Unwahrscheinlich, dass ein Rotkehlchen ihn dorthin zerrt und im Laufe einer Nacht leer frisst. Vielleicht ein Rotkehlchen-Team? Es sind aber keine Vogelspuren im Schnee. Den Napf hat eindeutig ein Tier mit Pfoten verschleppt. Für ein Eichhörnchen oder einen Igel sind die Spuren zu groß. Außerdem müssen Igel jetzt Winterschlaf halten. Ein Waschbär? Ein Marder?? Ein Wolf??? Die leben doch jetzt wieder in Brandenburg. Und Brandenburg ist gleich um die Ecke.

In Brandenburg wohnt auch meine Ökofreundin Sabine, die Spezialistin für alle Natur- und Gartenfragen. Ihr Grundstück grenzt an einen dichten Wald. Zäune gibt es nicht. Sehr zur Freude von Rehen und Wildschweinen. Sogar Fasane schreiten durch den Garten. Die Rehe mögen Rosenknospen und Tulpenblüten. Die nicht so schmackhaften Blüten werden nur abgebissen und fallen gelassen. Die Wildschweine haben sich auf Blumenzwiebeln spezialisiert und graben auf der Suche netterweise gleich den Garten um. Meine Freundin Sabine tut keinem, wirklich keinem Tier etwas. Selbst Bremsen und Schnecken werden nur liebevoll umgesiedelt. Vielleicht glaubt Sabine an Reinkarnation? Da weiß man ja nie genau, ob sich in der Gestalt einer Stubenfliege nicht Beethoven oder Kleopatra verbirgt. Meine Ökofreundin verjagt auch den Waschbären nicht, der durch die Katzenklappe kommt. Ihr Kater findet das gar nicht gut. Das rührt den Waschbären aber nicht. Der geht in die Küche und sucht das Knäckebrot. Es rührt ihn auch nicht, dass im Türrahmen Menschen stehen und ihm ergriffen zusehen. Im Sommer führt der Waschbär seine ganze Familie in die Stachelbeeren. Damit erspart er meiner Freundin das Marmeladekochen. Sie hat jetzt allerdings eine der Katzenklappen zugenagelt, damit der Waschbär den betagten Kater nicht überfällt.

Trotz aller Naturkenntnisse weiß meine Ökofreundin Sabine auch nicht, welcher Vierbeiner bei uns fettiges Vogelfutter klaut. Durch systematische Beobachtungen stelle ich fest, dass der »Energieblock« gegen Mitternacht verschwindet. Ein-, zweimal setze ich mich ins dunkle Wohnzimmer, um den Dieb zu ertappen. Mein Mann murrt, weil er nicht im Dunkeln sitzen will. Aber er gibt sich geschlagen und geht mit seinem Schachcomputer ein Stockwerk höher. Von oben nölt die Computerstimme: »Sind – Sie – sicher?« Oder: »Schach – matt!«

Draußen strahlt der Vollmond, die Solarleuchten im Garten flackern noch ein wenig. Ab und zu schaukelt ein Ast im Wind. Ansonsten geschieht: nichts. Nach einer Stunde gehe ich resigniert ins Bett. Als ich morgens zur Arbeit fahre, ist das Vogelfutter wieder weg. Die leere Schachtel liegt im Gartenpark des Ästheten. Um die Beziehung nicht zu gefährden, ziehe ich das Plastikteil mit einem Ast zu mir herüber.

So viel Fett ist auf Dauer ungesund! Egal, wer es zu sich nimmt. Ich verstecke das Vogelfutter abends unter einem Eimer. Am nächsten Tag ist der Eimer umgeworfen, der Plastiknapf ist halb geleert. Wer macht so was?

»Kauf dir doch eine Wildkamera!«, spottet meine Schwester. Sie spottet noch mehr, als ich mir so ein Ding zulege: »Denk an den Datenschutz! Nicht, dass du heimlich die Nachbarn filmst!«

Wildkameras gibt es in diversen Formen und Preislagen. Sie sind in militärischen Tarnfarben gehalten, damit Hirsche und Elche sie nicht bemerken. In erster Linie sind sie für Jäger gedacht. Man kann sie am »Kirrungsplatz« oder an der »Luderstelle« aufhängen. Kirre? Luder? Nein, nicht, was Sie jetzt denken! Am »Kirrungsplatz« legen Jäger vegetarisches Futter aus. Und haben irgendwann ein bösartiges Reh vor der Flinte. An der »Luderstelle« soll ein totes Tier die Fleischfresser anlocken, etwa Geier und Hyänen. Ach nee, Hyänen gibt es ja nicht in Deutschland.

»Du bist doch Linguist«, sage ich zu meinem Mann. »Was haben eigentlich Boxenluder und Partyluder, die wehrlose Männer kirre machen, mit Aas und Jagd zu tun?«

Mein Mann nickt: »Ja, das ist ein schönes Thema für eine Promotion! Das Frauenbild in der Jägersprache.«

Ich bestelle den Testsieger unter den Wildkameras, obwohl ich eigentlich keine zeitgleiche Übertragung der Fotos aufs Smartphone brauche. Die Betriebsanleitung ist erstaunlich kurz. Offensichtlich haben Jäger und Förster so wenig Lust wie ich, dicke Broschüren zu studieren, um ein Elektroteil bedienen zu können. Ich muss nur sechs Batterien einsetzen, eine Speicherkarte kaufen und den »kleinen Spion« mit einem Gurt an einen Baum schnallen. Mein Mann ist froh, dass er auf der Terrasse (vorerst!) nichts bohren und dübeln muss.

Die Kamera blinkt rot, damit ich mich nach dem Einschalten schnell entfernen kann. Trotzdem entdecke ich am nächsten Morgen vor allem Fotos von mir. Die Tagaufnahmen sind bunt und relativ scharf, die Nachtaufnahmen schwarz-weiß und sehr verhuscht.

In der nächsten Nacht hat die Kamera mehrfach unsere völlig leere Terrasse aufgenommen. Sie reagiert auf Bewegung und Körperwärme. Haben die Gartenmöbel gezuckt? »Da ist doch was!«, sagt mein Mann. Tatsächlich, auf dem letzten Bild erkennt man ganz unten am Rand den Rücken eines Tieres. Eindeutig ein Fellträger.

Ungeduldig warte ich auf die nächste Nacht. Diesmal habe ich die Kamera auf der Terrasse positioniert, genau gegenüber vom Vogelfutter. Was heißt »positioniert«? Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, um den Gurt der Kamera im Fensterladen zu verknoten. Es gibt aus dieser Nacht genau zwei verschwommene Bilder. Darauf sind stark vergrößerte Schnürsenkel zu sehen. Die Kamera informiert mich freundlicherweise, dass sie diese Fotos um 22.13 Uhr aufgenommen hat. Dann sind es eindeutig meine Schnürsenkel. Die Kamera gibt auch die jeweilige Außentemperatur und die Mondphase an. Sie ist wind- und wasserfest. Übersteht sogar Schneeregen und Orkanböen. Wer das Vogelfutter bei zwei Grad minus geklaut hat, verrät sie allerdings nicht.

»Du hättest die Entfernung verändern müssen. Hier, an diesem Rändelrad. Die Kamera hängt viel zu dicht am Vogelfutter.« Das hätte mein Mann mir auch vorher sagen können. Mithilfe der Kamera stelle ich fest, dass er wieder bis nachts um zwei mit dem Schachcomputer gekämpft hat. Man sieht, dass im Wohnzimmer noch Licht ist. Kein Wunder, dass er so unausgeschlafen ist. Und einmal ist morgens auf einem Bild undeutlich die neugierige Nachbarin eingefangen. Sie späht über unseren Zaun. Sicher wüsste sie zu gern, an was für einem seltsamen Gerät ich mich jeden Tag zu schaffen mache. Von ihrem Fenster in der ersten Etage hat sie einen guten Überblick über vier benachbarte Gärten, Häuser und Garagen. Manchmal steigt sie sogar auf das Vordach ihres Wintergartens, um besser sehen zu können. Oder sie fährt im Schritttempo mit ihrem Auto ums Karree, um die Lage zu überprüfen. Im ersten Kontaktgespräch mit ihr haben wir festgestellt, dass sie wirklich alles über die Nachbarschaft weiß. Und dass sie darauf brennt, ihr Wissen mit anderen zu teilen.

Till, der kleine Entomologe, findet meine Kamera sehr spannend. Ich glaube, ich weiß, was er sich zu Weihnachten wünschen wird. Da ich mit der Bildauslese noch nicht richtig zufrieden bin, rät er mir, an jedem Baum eine aufzuhängen. Die Kosten für so ein Projekt überraschen ihn dann doch ein wenig.

Nach einer Woche werde ich belohnt. Auf einem Foto ist eindeutig ein Fuchs zu erkennen. Er steht um 4.50 Uhr auf den Hinterbeinen und angelt nach einem Meisenknödel. Auf den restlichen Fotos sieht man nur Teilstücke von ihm: den buschigen Schwanz, der aus dem Bild verschwindet, die Augen als zwei helle Punkte direkt vor der Terrassentür, einen Schatten, der um mein Fahrrad herumhuscht. Netterweise hat der Fuchs direkt unter der Kamera einen Haufen hinterlassen.

Ich zeige dem Ästheten von nebenan meine Überwachungsbilder: »Sehen Sie mal, wir haben einen Fuchs im Garten. Und das mitten in der Großstadt!«

Der Ästhet winkt ab: »Den Fuchs kenne ich seit Jahren. Der hat doch schon die dritten Zähne!«

Dann ist das aber ein rüstiger Großvater! An einem Morgen im März zeigt mir die Wildkamera zwei Füchse, die im nächtlichen Garten herumlaufen. Einer wedelt freudig erregt mit dem Schwanz, der andere setzt sich dicht neben ihn und beknabbert ihn zärtlich. Da ich die Video-Sequenzen auf 30 Sekunden beschränkt habe, weiß ich leider nicht, was sie danach gemacht haben.

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Schwarze Fingernägel, ehrliche Arbeit

Ende Januar entdecke ich zwischen altem Laub, Schneeresten und Kiefernnadeln etwas Gelbes. Da hat sich tatsächlich ein einsamer Krokus durch den Dreck gebohrt! Mann, es ist doch noch mitten im Winter! Gerührt stehe ich vor dem Blümchen und verschaffe ihm ein wenig Freiheit, indem ich mit bloßen Händen Kiefernnadeln und Blätter beiseiteschiebe. Darunter kommen noch mehr junge Triebe zum Vorschein. Sind das Schneeglöckchen? Habe ich überhaupt welche gepflanzt? Ich hätte mir beim Eingraben der Blumenzwiebeln einen Lageplan zeichnen sollen!

Ich ziehe zwei alte Hosen und zwei Pullover übereinander, um bei den unwirtlichen Temperaturen meine Plantagen zu säubern. Beim Einsatz der großen Harke verschwinden nicht nur alte Blätter und abgebrochene Äste, sondern auch gleich ein paar der neuen Triebe. Mein Mann kauft mir ein Spielzeugset mit Schippchen, Kinderharke und Eimerchen. Damit knie ich mich ins Beet. In behutsamer Handarbeit lege ich Krokus für Krokus frei. Das dauert. Aber es macht Spaß.

Weniger spaßig ist, dass irgendjemand die Krokusse köpft und die Blüten einfach liegen lässt. Wer macht so was? Ich richte meine Wildkamera auf die überlebenden Krokusse und stelle abends fest, dass eine dicke Ringeltaube völlig ungerührt durchs Beet watschelt und einige zarte Blumen umknickt. Dann erscheint ein Star und zupft wütend im Beet rum. Zwei Amseln zerren an Gräsern, Halmen und Krokussen. Der Naturschutzbund erklärt mir, dass die Vögel Nistmaterial suchen. Ich solle ihnen ersatzweise Stöckchen und Heu anbieten. Warum lassen die Vögel aber die Blüten liegen und nehmen sie nicht wenigstens als Wohndekoration? Jetzt verstehe ich, warum ein paar Häuser weiter die bunten Primeln mit kleinen Schutzgittern versehen sind. Dort toben sich Spatzen-Gangs vor allem an den gelben Blüten aus. Man kann im Naturversand auch Nistmaterial kaufen. Das sind zusammengepresste Fusseln und Strickreste, die man in eine Art tönerne Glocke stopft und dann gut sichtbar aufhängt. Am selben Tag entdecken die Meisen das Fusselzeug und ziehen begeistert daran herum.

Ich knie fast jeden Nachmittag im Beet und kratze mit meiner Kinderharke herum. Die Jeans werden wahrscheinlich nie wieder richtig sauber. Mein Mann findet es witzig, mich beim Rumrutschen auf dem Boden zu fotografieren. Er kann es nicht fassen, dass ich vor irgendetwas niederknie. Der Ästhet von nebenan erscheint mal wieder am Gartenzaun und lobt meinen Eifer: »Endlich bekommen die Pflanzen ein bisschen Sauerstoff! Aber Sie müssen doch dabei nicht auf den Knien liegen. Es gibt spezielle Kissen und Bänkchen. Und vor allem ziehen Sie sich Gartenhandschuhe an!«

Ich starte zu meinem ersten Besuch im Gartencenter. Was es da alles gibt! Für jede Art Gartenarbeit die passenden Handschuhe. Aus Gummi, aus Leinen, aus Ziegenleder, aus Neopren. Rissfest, beißfest und gefühlsecht. Geblümt, kariert und nachtschwarz. Für jede Pflanze spezielle Blumenerde und Dünger. Samen für Zierrasen, Schattenrasen, Fußballfelder und Kinderspielwiesen. Geheimschränke mit Gift gegen Blattläuse, Wühlmäuse und Schnecken. Kilometerlange Gartenschläuche, mannshohe Blumenkübel und dekorative Rankhilfen. Und Blumen! Massenhaft Blumen. Ich kaufe zwei Kisten Primeln und Stiefmütterchen, 20 Tüten Blumensamen und ein grünes Schaumstoffkissen zum Knien. Es gibt auch Knieschoner, die man sich umschnallen kann. Ich wusste nicht, dass man so viel Geld für Gartenkram ausgeben kann. Und dass es nicht sinnvoll ist, schon so viele Blumen zu pflanzen, wenn eventuell noch Nachtfrost kommt. Ab jetzt höre ich täglich den Wetterbericht und packe bei Minusgraden die Primeln und Stiefmütterchen in Plastik. Meine Ökofreundin Sabine lacht, als ich ihr das erzähle. »Primeln und Stiefmütterchen sind winterfest. Denen macht Frost nichts aus.« Auch die Krokusse und Schneeglöckchen überstehen die letzten eisigen Nächte. Als es noch einmal schneit, kämpfen sie sich unverdrossen durch die Schneedecke.