cover

 

 

Ein winziges Dorf in den Hochmooren von Yorkshire: Alex Slingsby ist Ex-Fußballprofi, Grundschullehrer in Sinderby – und ein Mann mit Ambitionen. Unterstützt vom Schuldirektor, einem Exilungarn mit Doktor in Philosophie, nimmt er sich des amateurhaften örtlichen Fußballteams an. Und tatsächlich: Wie durch ein Wunder schaffen es die einfachen Männer aus Sinderby bis ins Pokalfinale im Wembleystadion. Aber dieser große Moment ist leider viel zu schnell vorbei …

›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ ist viel mehr als ein Buch über Fußball – es ist eine Geschichte vom Erfolg des Underdogs, eine Geschichte voller unvergesslicher Charaktere und mit viel Witz, die doch von einer leisen Melancholie durchwirkt ist.

cover

© Brendan King / National Portrait Gallery, London

J. L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994 an Leukämie. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Bücher. ›Ein Monat auf dem Land‹ (DuMont 2016) ist Carrs bekanntestes Werk und war 1980 für den Booker-Preis nominiert.

Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute als Übersetzerin und freie Lektorin tätig. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Mohsin Hamid, Naomi J. Williams, Richard Russo, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi und Theresa Révay.

Saša Stanišić ist Autor und offensiver Mittelfeldspieler, wenn das Knie hält. Zuletzt erschien von ihm die Erzählsammlung ›Fallensteller‹ (2016) und gewann ihm 111 Flaschen Rheingauer Riesling.

J. L. Carr

WIE DIE
STEEPLE SINDERBY WANDERERS
DEN
POKAL HOLTEN

Aus dem Englischen
von Monika Köpfer

Mit einem Vorwort
von Saša Stanišić

Das Loblied auf das niemals leichte Leben

GEGEN ENDE MEINER STUDIENZEIT meldeten ein paar Kommilitonen und ich uns für das größte »Studi-Turnier« der Stadt an. Sonst kickten wir sonntags auf dem Bolzplatz und waren gelegentlich gut genug, um an einem Gegenspieler vorbeizukommen, meistens aber so schlecht, dass wir den anschließenden Schuss über den Zaun auf den Tennisplatz holzten, mitten hinein in die blondierte Konzentration der Tennisdamen aus der Vorstadt.

Bei der Gruppenauslosung galten wir als »krasse Außenseiter«. Die anderen traten seit Jahren in eingespielter Besetzung auf und kickten in der Verbandsliga. Unseren Kleinmut trugen wir entsprechend im Team-Namen: Wir nannten uns »Der olympische Gedanke«. Und wurden Gruppensieger!

Drei Spiele, keine Niederlage. Wir gewannen sogar gegen das als übermächtig geltende »Forever VWL«, eine fiese Rotte viel zu netter Volkswirtschaftsstudenten, die alle Michi hießen. Ein winziges Fußballmärchen wurde wahr. Es roch nach Bänderriss bei Ingo und schmeckte nach warmem Bier in den Spielpausen.

Im ersten K.o.-Spiel schieden wir kläglich aus. Nicht so schlimm, sagten wir, war doch trotzdem super, und dann sagten wir nichts mehr, tranken das Bier und schlichen nach Hause, heiß duschen.

Etwas Wesentliches blieb unausgesprochen: etwas über Triumphe, ganz gleich, wie klein die sind, etwas über die Kameradschaft, etwas über das Verstreichen der Zeit. Unsere Wege würden sich bald trennen. Für einige ging das Studium zu Ende, Frank würde sein Jura-Examen endgültig nicht bestehen (wobei er das noch nicht wusste) und Ingo zog nach Spanien oder Ingolstadt.

Bis zur Lektüre von J. L. Carrs fantastischer Novelle fand ich für unser sportliches Kleinstwunder und die gute Zeit mit den Jungs nicht die treffenden Worte. Dabei ist es sehr simpel: »Jene Tage mit all ihren Höhen und Tiefen werden sich nicht wiederholen! Ebenso wenig, wie die vertrauten Gesichter je wieder an einem Ort zusammenkommen werden.«

Diese Erkenntnis ereilt Joe Gidner, den Erzähler von Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten. Mr Gidner soll die »offizielle Chronik« zum fantastischen Pokalerfolg des winzigen Dorfvereins verfassen, da er sich mit »Schreiben« seinen Lebensunterhalt verdient, auch wenn es sich bloß um das Schreiben von Versen auf Grußkarten handelt. Gidner, ein verhinderter Theologe, gestrandet in der Provinz und in einem nicht eben interessanten Job, gewinnt durch seine Tätigkeiten für den Verein (er ist zuständig für alles, außer für das Treten des Balls) beim Durchmarsch seiner Mannschaft zum Pokalsieg etwas Selbstachtung zurück, überhaupt einen Sinn im Handeln und Denken.

Sinnfindung: zu bedeutungsschwer? Ist doch auch mal schön. Carr bevölkert sein fiktives englisches Dorf mit Männern und Frauen, die alle irgendwie Sinnsuchende sind und denen Fußball, oder genauer, das Protagonist-Sein in einem Fußballmärchen, die Bürden des von Zuckerrüben umzingelten Provinzalltags erleichtert.

Es gibt den Alkoholiker, die religiöse Fanatikerin, den Pfarrer, den Milchmann (wir befinden uns in den Siebzigern) und mit Mr Fangfoss natürlich auch eine Art Monarch, dem so ziemlich alles in Steeple Sinderby, inklusive Fußballverein, gehört (»Von Fußball hatte er nicht die geringste Ahnung«).

Trotz des fußballerischen Ausnahmezustands bleibt Dorf: Dorf. Und Mensch: Mensch. Der schwierige Charakter wird in den Dienst der Mannschaft gestellt, aber bleibt schwierig. Das Talent zu Zirkusnummern wird umgemünzt zum Talent, Bälle zu fangen. Das Abstellgleisige fährt zum Finale im Wembley-Stadion und hat Fans. Auch so etwas wie Liebe findet auf einmal doch statt, die religiöse Leere füllt sich, wenn auch mit absurdem Sektenzeug. Bloß die Krankheit können der Sport, der Zusammenhalt, der Erfolg nicht heilen. Das ist selbstverständlich, rührt aber dennoch an: Das Zerbrechliche des Lebens bleibt auch im Märchen fragil.

Das Bedeutungsschwere kommt bei Carr leicht daher. Was wäre die englische Provinz, ja Provinz überhaupt, wenn man sie nicht mit Humor erzählen würde? Eine graue, braune, verregnete, verhärmte, Tag um Tag der Illusion auf bessere Tage beraubte Liaison zwischen Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Aggression.

Carr spart die Tristesse nicht aus. Das Erzählte, also auch die weniger heiteren Realitäten des ländlichen Zurechtkommens, steht dabei im feinen Spannungsverhältnis zu der humorigen Mannigfaltigkeit des Erzählens. Carr ist ein stilistisch versierter Autor, dem haltlos übertriebene Spielberichte aus der Feder der jungen Lokaljournalistin mit dem wunderbaren Namen Ginchy Trigger ebenso gut gelingen wie die absurde Protokollprosa von Dorfversammlungen oder hochkomische, hochpointierte Porträts der ruralen Landschaft und ihrer Bewohner.

Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten ist ein Buch über Fußball, das jedem Fußballfan eine Freude sein wird – schlicht deswegen, weil jeder Fußballfan sich gerne ausmalt, wie das wäre, wenn seiner Mannschaft etwas derart Unwahrscheinliches gelänge wie der unerhörte Coup der Steeple Sinderby Wanderers.

Doch J. L. Carr erzählt viel mehr als nur das. Mr Gidner sagt ja selbst: »Denn was ist ein Spiel schon? Nichts weiter als ein Ball, der mal hierhin, mal dorthin rollt! Die wirklich faszinierenden Spiele ereigneten sich hinter der Bühne – unser heimisches Drama.«

Wir haben es hier mit einem Buch über die Dramen der Provinz zu tun, die persönlichen, die infrastrukturellen; wohl aber gerade wegen des Ungeschönten ist es auch ein Loblied auf das ungemütliche, irgendwie niemals leichte Leben fernab der ungemütlichen, irgendwie niemals leicht zu lebenden Großstadt.

Über den Äckern und Freistößen schwebt – die Sehnsucht. Carr gelingt eine vorzügliche erzählerische Studie über unser aller Träumerei, dass da etwas unseren Weg kreuzen könnte – größer, als wir selbst – und uns mitnehmen könnte – zum Sieg, zur Geltung, zur Verwandlung zum Besseren, zur Erfüllung. Und das auch ein Talent aus uns fördert, mit dessen Einsatz wir zu Helden werden.

Meine Jungs und ich waren in einem sehr eingeschränkten Universum namens »Studentische Fußballturniere auf kleinem Feld« einen halben Tag lang so etwas wie Helden. Ingo hat dank seines Bänderrisses damals Heike kennengelernt, die beiden waren immerhin ein paar Wochen zusammen.

Helden können nicht immer Helden sein. Es gibt auch sonst viel zu tun. J. L. Carr hat Helden erschaffen, die bleiben werden: in einem wirklich guten, wirklich komischen Buch über Mannschaftssport, über das Dorfleben, über das Verlangen nach ein bisschen Größe.

Saša Stanišić, 2017

Vorbemerkung des Autors

DAS SCHREIBEN EINES BUCHS ist mitunter ein mühsames Unterfangen, und man braucht einen guten Ansporn, damit man nicht aufgibt. In diesem Fall war es die schwierige Frage: Wie kann es gelingen, das Bravourstück, um das es in diesem Buch geht, wahrhaftig erscheinen zu lassen, obwohl es in Wirklichkeit nie stattgefunden hat?

Ich arrangierte es so, dass ein Ausländer mit bemerkenswerten Theorien auftrat, ferner zwei junge Männer, die aus guten Gründen ihre erstklassige Fußballkarriere aufgegeben hatten, und ein Vorstand von napoleonischem Format.

Dann grub ich Erinnerungen an das Jahr 1930 aus, als ich im Alter von achtzehn Jahren als Hilfslehrer arbeitete, eine Spielzeit lang für South Milford White Rose kickte und wir ein nicht enden wollendes Finale gewannen. (Platzsturm und wilder Schlagabtausch sind schließlich keine neuzeitlichen Phänomene.) In diesem lange zurückliegenden Herbst, Winter und Frühling lernte ich viel über das Landleben …

Aber ist diese Geschichte glaubhaft? Nun, das hängt davon ab, ob Sie sie glauben wollen.

J. L. Carr, 1992

ERSTER TEIL

 

NACH DEM GROSSEN KASSENSTURZ waren noch ungefähr tausend Pfund übrig, die für eine offizielle Chronik verwendet werden sollten. Eine hochrangige Persönlichkeit aus dem Spitzensport brachte unseren Vorsitzenden auf diese Idee. In seinem Brief schrieb der Betreffende: »Diese glorreiche Heldentat in der modernen Sportgeschichte sollte – und muss – für die Nachwelt bewahrt werden, und ich wäre stolz und es wäre mir eine Ehre, Sir, diesen Dienst Ihnen und Ihrer furchtlosen Truppe zu erweisen, sofern wir uns auf angemessene Bedingungen einigen können …« Und, fügte er hinzu, er würde dafür plädieren, dass Mr Fangfoss ein kurzes Vorwort verfasse, und auf der zweiten Seite könne man ein farbiges Porträt unseres Vorsitzenden mit seiner Unterschrift abdrucken.

Zweifelsohne war der Briefschreiber genau der Richtige für das Erstellen der Chronik. Seine Spielberichte in den hochkarätigen Sonntagszeitungen waren wirklich von fabelhafter Qualität. Selbst wenn die Werbe- und Vertriebsleiter ihre üblichen Fehden einmal ruhen ließen und gemeinsam beschlossen, ihn in Richtung Norden unters gemeine Volk zu schicken, damit er vor Kälte bibbernd irgendeiner trostlosen Vierte-Liga-Keilerei beiwohnte, wusste man, dass man hinterher ein Stück Literatur zu lesen bekäme. Seine Reportagen waren sogar gesammelt als Bücher erhältlich, man konnte sie sich in Bibliotheken ausleihen, und einige waren in Schullesebüchern enthalten. Daher war es umso verblüffender, dass unser Vorsitzender Mr Fangfoss, als er von ihm hörte, zugeben musste, noch nie etwas über ihn gehört zu haben.

»X?«, fragte er seine Vorstandskollegen. »X …, wer soll das sein? Nein, Sie machen das, Mr Gidner, Sie sind genau der Richtige für diesen Job. Schließlich verdienen Sie mit Schreiben Ihre Brötchen.«

»Aber nicht so wie er«, entgegnete ich. »Das, was ich mache, hat mit richtigem Schreiben nichts zu tun …«

Wenn es darum ging, bei Versammlungen das letzte Wort zu haben, war Mr Fangfoss unschlagbar: Er änderte einfach nur die Grammatik und wiederholte das bereits Gesagte, nur eben deutlich lauter.

»UNSER MR GIDNER IST DER RICHTIGE. ER VERDIENT MIT DEM SCHREIBEN SEINE BRÖTCHEN. WIR ALLE WISSEN DAS. Also, wer ist dafür? Ähm … alle, einstimmig! Sehr gut! Das hätten wir also. Es gibt fünfhundert sofort, die restlichen fünfhundert, wenn das Ding gedruckt ist. Und kein Geschwafel bitte. Halten Sie sich einfach an die ungeschminkte Wahrheit. Und wenn Sie nicht mehr genau wissen, was die Wahrheit war, fragen Sie mich. Gut, dann zum nächsten Punkt …«

Das hier ist noch nicht die offizielle Chronik. Es ist nur ein grober Entwurf. Die offizielle Chronik wird länger sein, jedes Detail wird minutiös geprüft werden, um sicherzustellen, dass wirklich nur die ungeschminkte Wahrheit gedruckt wird; Geschmacklosigkeiten werden getilgt werden, und der Text wird in stilistischer Hinsicht sowieso von ganz anderer Qualität sein. Deshalb wird sie auch mehr kosten.

Aber wenn Sie lediglich wissen wollen, was passiert ist, tut’s das hier bestimmt auch. Und was passiert ist, ist passiert, weil drei – nun, vielleicht auch vier – bemerkenswerte Männer zur selben Zeit am selben Ort waren. Einfach nur purer Zufall! Was bei genauerer Betrachtung fast immer der Grund ist, warum außergewöhnliche Dinge geschehen. Es läuft alles auf diese eine Sache hinaus: SIE WAREN DA.

Alles begann am Freitag, dem 14. März, dem letzten Spieltag der vorherigen Saison. In unserer Gegend die Zeit des Jahres, in der die Abflussrinnen auf den Zuckerrübenfeldern das letzte Winterregenwasser schlucken, woraufhin es weiter in die Gräben und von dort in die Kanäle fließt, sodass das Land wieder sicher über Meereshöhe steigt, die Zeit, in der klebrige Blüten in Konservengläsern gesammelt werden und, die verlässlichsten Vorboten des Frühlings überhaupt, Bewohner gemeindeeigener Sozialunterkünfte, die später im Jahr vom »Unser Dorf soll schöner werden«-Komitee wegen Vernachlässigung ihrer Vorgärten abgemahnt werden, vorsichtig ein paar Schritte vor die Tür machen und ein paar optimistische Spatenstiche wagen. Und die Dorfschule hatte kürzlich den Besuch eines Schulinspektors über sich ergehen lassen müssen. Kein formloses Nach-dem-Rechten-Schauen, sondern eine gründliche, kritische Prüfung sämtlicher Abläufe. Alex Slingsby erzählte mir davon.

Offenbar hatte der Spion, nachdem seine Mission erledigt war, seine schwarze Aktenmappe genommen, sich zum ersten Mal ein Lächeln abgerungen und auf halbem Weg zur Tür vorsichtig eingeräumt, dass es ihm eine Freude gewesen sei, Dr. Kossuths kleine Institution zu inspizieren, und man könne nur wünschen, dass es mehr Schulen dieser Art im Land gäbe – aber man möge ihn bitte nicht zitieren.

Nur eine letzte unbedeutende Kleinigkeit würde ihn noch interessieren: Wie dem Rektor das erstaunliche Wunder gelungen sei, ausnahmslos allen Kindern diese Kunst des Memorierens beizubringen, die er in der vergangenen Woche habe bestaunen können, zum Beispiel der Junge, der einhundert Zeilen aus der Ballade Wie Horatius die Brücke verteidigte rezitierte, oder das kleine Mädchen und dessen unglaublich genaue Beschreibung des Gemäldes Chaucer am Hof König Edwards III., das es bei einem Klassenausflug in die städtische Kunstgalerie von Birmingham gesehen hatte. »Ihre Beschreibung der Details der mittelalterlichen Kleidung … wirklich sehr bemerkenswert. Ich musste sie geradezu bitten, es gut sein zu lassen …! Was für eine Demonstration der Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses!«

Dr. Kossuth zeigte sich angesichts dieses Lobs allenfalls milde erfreut, war er als Ausländer doch noch nicht an das allgegenwärtige Desinteresse gegenüber der Erziehung der Jugend unseres Landes gewöhnt. Ohne zu zögern, legte er seine Theorien dar, auf deren Details ich nicht weiter eingehen möchte (unser Thema ist schließlich Fußball). Nur so viel: Laut Dr. Kossuth muss man Kindern lediglich beibringen, wie man richtig lernt und das Gelernte so lange im Gedächtnis behält, wie es von irgendeinem praktischen Nutzen ist. Daher verbrachte jedes Schulkind von Steeple Sinderby wöchentlich siebeneinhalb Stunden mit dem Trainieren der genauen Beobachtungsgabe, des Schnelllesens und der Merkfähigkeit, und die besonders hellen Köpfe bekamen noch eine schwierige Extraaufgabe – Geschwätz und Hintergrundgeräusche auszublenden, während sie konstruktives Denken und das optimale Ausnützen der Zeit übten.

»Mhm … Ah-h-h«, murmelte der staatliche Schulinspektor, zweifelsohne beunruhigt von dem Gedanken, dass er und seinesgleichen arbeitslos würden, sollte sich der letzte Teil dieser revolutionären Doktrin durchsetzen.

»Wie auch immer«, fuhr Dr. Kossuth fort, auch wenn es ihn freue, dass die Kunst des Memorierens die Neugier seines hohen Gastes geweckt habe, so eigneten sich die beiden von ihm angeführten Beispiele keineswegs als Praxistest für die Kossuth’sche Methode, weil a) Horatius eine überaus anschauliche Geschichte sei und b) das Mädchen das beschriebene Bild tatsächlich gesehen habe. »Wählen Sie irgendein anderes Kind aus«, drängte er ihn – »Irgendeines!« (Das Los fiel auf Bill Fangfoss.) »Unser junger Freund ist noch nie in seinem Leben Zug gefahren, weil der ehemalige Vorstandsvorsitzende der British Railways, Dr. Beeching, noch vor Bills Geburt sämtliche Bahnstrecken in unserer Grafschaft stilllegen hat lassen. Nun gut, nennen Sie irgendeine Eisenbahnlinie in Großbritannien, auch wenn sie nur noch auf alten Landkarten existiert, und Billy wird Ihnen in der richtigen Reihenfolge sämtliche Bahnhöfe und Haltestellen aufzählen, bis er an einem Hauptstrecken-Knotenpunkt angelangt ist; dann müssen Sie ihm sagen, ob er nach links oder rechts oder geradeaus weiterfahren soll.«

»Von Banbury nach Cheltenham«, sagte der Mann zu Billy.

»Banbury – King’s Sutton – Adderbury – Milton – Hook Norton – Great Rollright – Chipping Norton – Kingham (für Bledington und Church Icomb) – Stow on the Wold – Bourton on the Water …«

»Danke, das reicht«, sagte der Schulinspektor. »Du bist ein cleveres Kerlchen und wirst die Prüfung für eine weiterführende Schule bestimmt ohne Weiteres bestehen.«

Und so machte sich der arme Mann von dannen, während er über ebendiese Enthüllung grübelte, welch – um mit dem Dichter Thomas Gray zu sprechen – manchen Edelstein aus reinstem klarem Strahlen die unergründlichen Höhlen des dunklen Britanniens bargen; gewiss schüttelte er, kaum war er um die erste Ecke gebogen, voller Ehrfurcht angesichts dieser Begegnung mit einem wahrhaft großen Geist den Kopf.

Nicht, dass Sie jetzt denken, der Titel dieser Geschichte sei eine Falle oder falsche Fährte: Es geht um Fußball. Und ich habe diese Begebenheit nur erzählt, um aufzuzeigen, dass in unserem nicht gerade ruhmbedeckten Dorf dieser Mann von wirklich verblüffender Originalität wohnte, der bereit und gewillt war, die verkrusteten Strukturen unserer nationalen Institutionen aufzustemmen – sogar, wie Sie noch sehen werden, die angelaufenen heiligen Reliquien auszubuddeln, die die Football League unter dem Vorsitz von Mr Hardaker begraben hatte – und sie für die heutige Zeit neu zu formen. Glauben Sie mir, solche Männer sind in diesem einst großen Land rar gesät.

Aber er war hier. Und weil er hier war, gewann Steeple Sinderby, dieses 547-Seelen-Dorf, das in der trockenen Jahreszeit knapp zehn Meter über dem Meeresspiegel liegt, diesen großen Wettbewerb, den englischen Fußballpokal. Nun, sagen wir, zum Teil weil er hier war. Andere trugen ebenfalls dazu bei. Auch meine Wenigkeit.

Wie bereits gesagt, war Dr. Kossuth kein geborener Engländer, was ich im Übrigen bedauere. Weil seine politischen Ideen genauso originell waren wie seine pädagogischen, hatten seine ungarischen Landsleute ihm seine Dozentenstelle weggenommen und hätten ihn bestimmt auch seiner Freiheit beraubt, hätte er das Land nicht rechtzeitig durch die Hintertür verlassen. Mittlerweile lebte er in seliger Abgeschiedenheit in unserem Schulhaus mit der rosenumrankten Tür und war zufrieden. Ein großer Trost war ihm sicherlich auch seine schöne junge Frau.

Er war Doktor der Philosophie, nicht der Medizin. Tatsächlich hieß es, es sei ihm sogar lieber, mit »Mr« angesprochen zu werden, damit die Leute ihm nicht ständig von ihren Rückenschmerzen erzählten. Aber Mr Fangfoss, unser Vorsitzender, der gleichzeitig der Vorsitzende des Schulvorstands war, bestand darauf, dass man den Rektor mit »Dr.« ansprach. Beide Söhne von Mr Fangfoss besuchten die Dorfschule, und er meinte, eine Dorfschule mit einem Doktor als Rektor sei ebenso gut wie eine Privatschule; im Gegenteil, noch besser, in Anbetracht der Schulgebühren, die man sich sparte.

Es war nur eine kleine Schule mit drei Angestellten – dem Doktor, Mr Croser (der schon als Schüler dort gewesen war, dann als Referendar und schließlich als Lehrer, alles in allem seit sechzig Jahren) und Alex Slingsby. Inzwischen kennen ihn alle – er ist zu einer Fußballlegende geworden, Alexander der Große des Fußballs. Und bei ihm ist es mehr als nur das übliche Tamtam: Er war ein ganz Großer. Und bereits an jenem Schicksalstag, an dem die Weichen gestellt wurden, hätte jeder eingefleischte Fußballfan, der regelmäßig über Tabellen brütet, als wären sie die Heilige Schrift, Ihnen sagen können, dass ein A. Slingsby sieben Jahre zuvor sechs Spiele für Aston Villa bestritten hatte, bevor er in der großen stillen Versenkung jenseits des Sportteils verschwunden war. Nun, er hatte sich nach Steeple Sinderby zurückgezogen, wo niemand auch nur ahnte, welch ruhmreiche Karriere ihm hätte bevorstehen können, und wo er die Dorfmannschaft trainierte. Inzwischen war er siebenundzwanzig.

Die vergangene Saison war für die Wanderers recht gut gelaufen. Zunächst hatte es sogar so ausgesehen, als würden sie sie als Dritte oder Vierte in der Barchester & District League beenden, und sie hatten gute Chancen, das Halbfinale des Lord-Channing-Wahlkreis-Wanderpokals zu erreichen, doch dann wurden sie von den Cascop Colliery Welfare, dem Team des dortigen Minenarbeiter-Wohlfahrtsverbands, in Stücke gerissen. Sich in diesen trüben, seichten Gewässern zu bewegen muss für Alex schlimm gewesen sein, doch er litt im Stillen, bis … bis das Staunen des Schulinspektors über die Methoden des Doktors ihn darauf brachte, so wie dieser in großen Bögen zu denken.

Sodann sagte er (und hier sind, fürs Protokoll, genau seine Worte):

»Ich bin mir sicher, Doktor, wenn Sie gründlich überlegten, würde Ihnen in Bezug auf den Fußball etwas genauso Revolutionäres einfallen. Und wenn es so weit ist, wäre es mir eine Ehre, wenn ich mit meinen Wanderers das, was Sie sich ausgedacht haben, in der Praxis ausprobieren könnte.«

Es war ein feierlicher Moment. Später bekannte er: »Es war, als hätte jemand anders gesprochen – und nicht ich.«

»Ich würde Ihnen sehr gern helfen, Mr Slingsby«, sagte Dr. Kossuth. »Mal sehen, ob mir etwas einfällt.«

Schlichte, aber gewichtige Worte, wie Sie noch sehen werden.

Doch zunächst muss ich erzählen, welch bescheidene Rolle ich bei dem Ganzen gespielt habe.

Nachdem ich aufgrund gewisser Probleme mein Theologiestudium abgebrochen hatte, verschlug es mich hier hoch nach Sinderby, von dem ich natürlich noch nie etwas gehört hatte. Ich hatte auf eine Annonce geantwortet, in der zwei mietfreie Zimmer im ersten Stock eines Hauses angeboten wurden – gegen »ein bisschen Hilfe bei der Betreuung einer Invaliden«. Wie sich herausstellte, bedeutete das nichts weiter, als hin und wieder nach Alex Slingsbys Frau Diana zu schauen und sicherzustellen, dass es ihr gut ging. Nach dem, was ich durchgemacht hatte, konnte es mir nicht abgeschieden genug sein. Mein regulärer Job gehörte zu der Sorte, die man an jedem Ort, wo es einen Postschalter gab, erledigen konnte, und wenn ich durch das bisschen Aushelfen bei den Slingsbys mietfrei wohnen könnte, würde ich gerade so über die Runden kommen. Glauben Sie mir, Verse für Grußkarten zu schreiben, ist nicht ganz so einfach, wie man denken würde. Sicher, das Bildmotiv einer Karte ist der wichtigste Verkaufsfaktor, aber dennoch schauen alle, die lesen können, sicherheitshalber nach, welcher Text innen eingedruckt ist. Eine Grußbotschaft muss kurz, knapp, aber unmissverständlich sein; die Kunden wollen Aufrichtigkeit und Wahrheit, garniert mit ein paar hübschen Floskeln. Mr Fangfoss, unser Vorstand, hält die Fahne der Wahrheit ebenfalls hoch. Das mag auch der Grund dafür sein, warum er mich auserkoren hat, die zur Veröffentlichung bestimmte Chronik der Ereignisse zu schreiben.

Ich war der ehrenamtliche Sekretär der Wanderers. Während der Spielzeit folgte meine Tätigkeit der immer gleichen Routine. Montagabends erledigte ich die anfallenden administrativen Aufgaben. Das heißt, ich schickte zunächst die Samstagsergebnisse dem Sekretär unserer Liga, Mr H. Willis in Barchester, der im richtigen Leben Gebühreneintreiber bei der Bezirksverwaltung war. Als Nächstes schrieb ich einen Bericht für den Barchester and District Weekly Messenger, der mir fünfzig Pence zuzüglich Porto bezahlte – das Pauschalhonorar, egal, ob sie zwei oder zwanzig Zeilen druckten. Dann notierte ich die Aufstellung für das nächste Spiel und brachte die Liste zum Black Bull, damit sie dort ins Fenster gehängt wurde. Zu guter Letzt trug ich die schmutzigen Sachen der Spieler zum Waschen zu Mrs Lennox (Trikots zweieinhalb Pence, Shorts ein Penny, ein Paar Stutzen ein halber Penny – das Bügeln der Trikots war im Preis enthalten). Falls Sie sich fragen, wie die Mannschaftsaufstellung zustande kam, so lautet die Antwort: Während sich die Spieler nach dem Match umzogen. Das heißt, der Kapitän brüllte: »Wer kann nächste Woche nicht?«

Ich hatte auch einen Assistenten – von allen nur Corporal genannt. Er war in Alamein am Kopf verwundet worden und hatte seither eine Silberplatte im Schädel, die er gern interessierten Kindern zeigte.

Samstag war immer unser großer Tag. Eine Stunde vor Anpfiff traf ich mich in der Regel mit Corporal beim Predigerkreuz, von wo aus wir gemeinsam zum Fußballplatz trotteten, um die Tornetze zu befestigen, nach möglichen Löchern zu fahnden, die Eckfahnen ins Gras zu stecken und mit Sägemehl Seiten- und Mittel- und die Strafraumlinien etc. zu ziehen. Schließlich kümmerte sich Corporal um etwaige Verstopfungen in den tief hängenden Abflussrohren der Toiletten, die den Urin in einen Entwässerungsgraben leiteten, und schloss danach Lücken in der Hecke, damit nicht irgendwelche Bengel ohne Eintrittskarte hindurchschlüpfen konnten, während ich in unserem zur Umkleide umfunktionierten Erste-Klasse-Waggon der London and Northeastern Railway die Halbzeitorangen aufschnitt. Immer derselbe Ablauf, von dem wir nicht einen Millimeter abwichen.

Dann hängte ich mir meinen Soldatenmantel um und kauerte mich beim Weidegatter hin, um die Tickets zu verkaufen; ich riss sie von einer Rolle ab, die bereits seit vier Jahren in Gebrauch war. Ungefähr zehn Minuten vor dem Anpfiff übergab ich diesen Job stets einem Jungen aus dem Dorf und ging zum Eisenbahnwaggon hinüber, um die Stollen zurückzuklopfen, die sich im Lauf der Woche durch die Sohlen gedrückt hatten, und die Spieler mit Franzbranntwein einzureiben. Letzteres durfte ich keinesfalls vergessen, weil es immer ein, zwei Spieler gab, die die Schuld für ihre kläglichen Leistungen dem Umstand zuschrieben, nicht eingerieben worden zu sein.

Sie sehen also, bis auf das Treten des Balls selbst war ich quasi für alle anderen Aufgaben zuständig, die erledigt werden mussten. Aber nicht dass Sie denken, ich hätte mir deswegen leidgetan. Die Arbeit gefiel mir, a) weil sie mir an den trostlosen Wochenenden in der trostlosen Zeit Ende des Jahres etwas zu tun gab und b) weil ich mich gern unentbehrlich fühle. Heutzutage, da die meisten einen großen Bogen um ein öffentliches Engagement machen, mag das möglicherweise seltsam klingen. Es ist in diesen Zeiten kein Wunder, dass es Menschen gibt, die wegziehen oder aus dem Leben scheiden, ohne dass man es mitbekommt. Irgendwann sagt dann jemand: »Ich habe XY schon lange nicht mehr gesehen«, und ein anderer antwortet: »Oh, der! Meine Frau hat in der Zeitung gelesen, dass er tot umgefallen ist. Letzten Juli, wenn mich nicht alles täuscht. Oder war das sein Vater …?«

Nun, wenn ich tot umgefallen wäre, hätten es ein paar Menschen aus Steeple Sinderby recht schnell mitbekommen. Vor allem, wenn es während der Saison passiert wäre und entweder an einem Montag oder Samstag.

Und so trugen mir meine Bereitschaft, Wind und Wetter zu trotzen, und ein bisschen Speichelleckerei einen festen Platz in der Dorfgemeinschaft ein; man brauchte mich. Darüber hinaus verkürzte mir meine Tätigkeit die Samstag-, Sonntag- und Montagabende, an denen, um mit Tennyson zu sprechen,

… die Nerven kribbeln und prickeln

und einem weh wird ums Herz

und sich die Welt langsamer dreht …

Worte, denen jeder Junggeselle, der sein Leben zur Miete auf dem platten Land fristet, zustimmen würde. Die Leute haben ja keine Ahnung, was zwischen ihrem letzten hübschen Herbstausflug und der ersten zauberhaften Busreise zur Frühlingsblüte das ländliche England ausmacht. Schlamm, Nebel, Wasser, das unentwegt von den Bäumen tropft, schwarze Erde, Überschwemmung, verzogene Türen, durch die es hereinzieht, feuchte Kniekissen in der Kirche, klebrige Orgeltasten, kalte Steinfußböden und dazu dieser widerliche Modergeruch.

Sehen Sie mir meine Abschweifung bitte nach: Ich will einfach nur verstanden werden. Und auch wenn der ein oder andere Leser sich noch immer fragt, wann es endlich mit dem Fußball losgeht, so war die Zeit, die ich brauchte, um zu erklären, was es heißt, zweiundzwanzig Gladiatoren in die Arena zu schicken, nicht vertan: Und jetzt geht es los mit dem Fußball.

Zum Heimspiel am darauffolgenden Samstag erschien der Doktor mit Mrs Kossuth, seiner schönen Frau, von der ich Ihnen gern noch erzählen möchte. Sie war mindestens fünfzehn Jahre jünger als er, also ungefähr in meinem Alter, und es heißt, sie sei in Ungarn eine seiner Studentinnen gewesen. Es gibt kein treffenderes Wort als »atemberaubend«, um sie zu beschreiben