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Die Stadt der Engel, des Wahnsinns und der Träume

Los Angeles ist die Stadt der erfüllten und unerfüllten Sehnsüchte. Keine Stadt der Welt ist medial so allgegenwärtig wie diese, keine produziert so viele Mythen und Legenden. Und keine kann zugleich so hart, brutal und zerstörerisch sein.
Jan Brandt bringt diesen schillernden Kosmos auf unerhörte Weise zum Sprechen. Er erzählt von Menschen, denen er auf Streifzügen begegnet ist: von Neohippies bis zum Starkoch, vom Start-up-Unternehmer und einer jungen Auftragsdichterin bis zum Gangsta-Rapper. Es sind Geschichten von Glücksrittern, die versuchen, trotz aller Widerstände den amerikanischen Traum zu leben. In ›Stadt ohne Engel‹ verbinden sich literarische Reportagen mit Essays, persönliche Begegnungen und Beobachtungen mit Zeitungsartikeln. Twitter-Meldungen und Facebook-Nachrichten verschmelzen zu einem kollektiven urbanen Rauschen.
Es ist ein Buch über die vielleicht wahnsinnigste Metropole der Welt – und über einen Autor, den es wegzieht vom Schreibtisch in der Stipendiatenvilla, weg von der Arbeit am Roman und hinein in diese pulsierende Stadt.
 
 

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© Eva Napp

 

Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sein Roman ›Gegen die Welt‹ (DuMont 2011) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien ›Tod in Turin‹ (DuMont 2015).

JAN BRANDT

STADT OHNE ENGEL

Wahre Geschichten aus Los Angeles

 

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Ankunft im Paradies

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Das Rauschen des Meeres unter mir, gewaltige Wellen, die gegen schroffe Felsen klatschen, das Rascheln der Palmblätter und Eukalyptuszweige, das durch die geöffneten Fenster, die vom Wind gebauschten Vorhänge in meinen Schlaf sickert. Etwas stökerig stehe ich auf und schaue auf das blendende Blau, auf die Bucht von Santa Monica, den weit ins Wasser hineinragenden Pier mit seiner Achterbahn und seinem Riesenrad, auf den Himmel dahinter, den Horizont, verschwommen im Morgendunst. Dann, als hätte ich den Traum, aus dem ich gerade erwacht zu sein glaube, noch nicht ganz abgeschüttelt, kippt das Bild, und in der Ferne lodern Flammen auf, und ich bin in einer Staubwolke gefangen und spüre nichts mehr.

Das war meine Vorstellung von einem Aufenthalt in der Villa Aurora, einer Künstlerresidenz in Pacific Palisades, einem schlossartigen Gebäude mit freiem Blick auf den Pazifik, dem Haus des vor den Nazis geflohenen Schriftstellers Lion Feuchtwanger und seiner Frau Marta. Drei Monate können Schriftsteller, Komponisten, Regisseure, Drehbuchautoren und bildende Künstler dort verbringen und arbeiten oder nichts tun. Dreimal hatte ich mich beworben, dreimal war ich abgelehnt worden. Aber die Geschichten von denen, die dort gewesen waren, hatten mich ermutigt, es wieder und wieder zu versuchen. Bei jeder Bewerbung verschob ich die Schauplätze meines seit Jahren in Arbeit befindlichen großen Amerikaromans, meines Auswandererromans, weiter nach Westen, von Newport über Kansas City nach Los Angeles – um das Aufnahmekriterium der Villa Aurora zu erfüllen, dass das Projekt etwas mit der Gegend zu tun haben müsse. Bei der vierten Bewerbung schrieb ich etwas von einem Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Beverly Hills Chefkoch eines Restaurants wird, in dem Hollywoodstars ein- und ausgehen. Die Reichen und Schönen bewundern ihn für seine Kochkünste, und er steigt in die höchsten Kreise der Gesellschaft auf – bis ihn seine Vergangenheit einholt und er nach Ostfriesland zurückkehrt. Es ist die Geschichte eines Selfmademans, dessen Leben sich im Rückblick als Fiktion erweist, ein Hochstapler, der aus dem Loch, das er sich selbst gegraben hat, herausklettert – nur um festzustellen, dass es oben auch nicht heller ist als unten.

Auf die Frage im Bewerbungsformular Bestehen Berührungspunkte in der künstlerischen Arbeit zur US-amerikanischen Kultur, falls ja, welche? antwortete ich: »Der Roman ist eine Auseinandersetzung mit der deutsch-amerikanischen Geschichte, vor allem mit dem konservierten Deutschlandbild derjenigen, die im Dritten Reich aufgewachsen sind. Die Geschichte hat einen semiautobiografischen Hintergrund: Aus jeder Generation meiner Familie – außer der gegenwärtigen – ist seit 1865 ein Mitglied in die Vereinigten Staaten ausgewandert.«

Zu meiner Überraschung wurde ich genommen.

Auf dem Flug von Frankfurt nach Los Angeles sitze ich in einer Reihe ohne Fenster zwischen einer Frau mit Hidschab und einem pickligen jungen Mann mit Hornbrille, der die ganze Zeit auf einem Gameboy Super Mario spielt. Nach seinem Statistik-Studium in Harvard sei er vier Monate durch Europa gereist, sagt er, ohne vom Display aufzuschauen. »Immer um Deutschland herum. Meine Urgroßeltern sind im Holocaust ermordet worden, deshalb habe ich das Land nicht betreten.«

»Was ist mit dem Frankfurter Flughafen?«, frage ich. »Da bist du doch umgestiegen.«

»Der zählt nicht«, sagt er, mich immer noch nicht anschauend. »Das ist ein Transitraum.«

Irgendwann, da bin ich gerade eingeschlafen, stößt mich die Frau neben mir an, sie weint, zeigt auf ihren linken Arm, streicht über ihre linke Schulter.

Ich frage sie, was los ist, aber anstatt zu antworten, zeigt sie auf ihren linken Arm, streicht über ihre linke Schulter. Der Steward kommt, stellt die gleiche Frage, erhält die gleiche Antwort, geht weg, bittet über Lautsprecher nach jemandem, der Farsi spricht. Wie sich herausstellt, gibt es unter den 467 Passagieren der Boeing 747-8 einen persischen Arzt. Ich werde neben einen Inder mit einer auf den Unterarm tätowierten Swastika platziert. Als er erfährt, wo ich herkomme, sagt er, auf seinen Arm deutend: »Dann kennen Sie das Zeichen ja. Aber es ist ein Symbol für das Leben, nicht für den Tod.« Kurz vor der Landung sitze ich wieder neben dem Gameboy und der Iranerin. Ihr Zustand, das signalisiert sie mir mit ausgestrecktem Daumen, hat sich stabilisiert.

Eine Mitarbeiterin der Villa holt mich in einem weißen Van vom Flughafen ab. Das Erste, was mir auffällt, ist das Licht. Diese alles durchdringende Helligkeit. Wir umkurven das Theme Building, das wie ein Ufo in der Raumstation aussieht und mein Gefühl verstärkt, in einer anderen Welt zu sein, schwenken auf den Lincoln Boulevard ein und fahren durch Playa del Rey und Venice Richtung Norden. Links und rechts Taco-Läden und Tankstellen, Liquor Stores und Motels, über uns die Sonne und Billboards und der von Kabeln zerschnittene blaue Himmel.

Wir sprechen über die Fußballweltmeisterschaft und den Krieg in der Ukraine. Sie fragt nach Berlin – sie hat an der Freien Universität studiert, ist vor Jahren hierhergezogen –, und ich erzähle ihr von den Flüchtlingen in Kreuzberg, von ihrem Camp am Oranienplatz, von den Mahnwachen und der Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule, ihrer Räumung durch die Polizei. »Seit einer Woche sind die Straßen da abgeriegelt«, sage ich. »Anwohner müssen sich ausweisen, um nach Hause zu kommen. In ihrem eigenen Kiez.«

»Das ist doch gar nichts«, sagt sie. »Die Polizei hier würde noch viel härter reagieren. Es gibt nur eine Übereinstimmung zwischen L. A. und Berlin. Beide Städte haben kein Zentrum.«

Als wir vom Santa Monica Boulevard kommend auf den Pacific Coast Highway einbiegen, denke ich, nein, das stimmt nicht, L. A. hat ein geheimes Zentrum, einen Ort, dem alle zustreben: das Meer.

Vor uns ragen Hügel auf. Häuser am Hang. Hinter einer Tankstelle schwenken wir auf den Sunset Boulevard ein und kurz darauf auf den Paseo Miramar, Serpentinen, die sich den Berg hochschlängeln. Die Villa ist von unten nicht zu sehen, erst als wir beim Garten parken und ich aus dem Auto steige, erkenne ich das Bild aus dem Internet wieder: die mediterrane Festung mit den weißen Wänden und roten Dachziegeln, davor zwei Palmen, die das Gebäude überragen. Neue Eindrücke, die ich nicht erwartet habe: das Plätschern eines Springbrunnens, der Duft frisch gemähten Grases. Der von unten heraufziehende Verkehrslärm, stärker als jede Brandung.

Die Mitarbeiterin führt mich durch den Hintereingang ins Büro, stellt mich Nina, der Praktikantin, vor und verabschiedet sich, sie wohne ein ganzes Stück entfernt und brauche um diese Uhrzeit Stunden nach Hause. »Was andernorts das Wetter ist«, sagt sie, »ist hier der Verkehr – Small-Talk-Dauerthema.«

Nina ist groß, größer als ich, einen halben Kopf, ihre langen dunkelblonden Haare sind zum Dutt hochgesteckt, unter ihrer halbtransparenten weißen Bluse zeichnet sich ein schwarzer BH ab, die schwarze Jeans sitzt so eng, dass ich mich frage, wie sie da hineingekommen ist. »Komm«, sagt sie. »Bevor du mich noch länger anstarrst, zeige ich dir mal dein Zimmer.« Wir gehen durch einen schmalen Gang und steigen eine Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Unter jedem unserer Schritte knarren die dunklen Dielen. Links ist mein Zimmer, »Marta’s Room«, wie Nina sagt: mintgrün gestrichene Wände, großes Doppelbett, rustikales Sideboard, Schreibtisch, Badezimmer mit handbemalten Kacheln und ein begehbarer Kleiderschrank. Ich stelle meine Koffer hinein. »Von hier aus konnte man mal nach nebenan«, sagt sie und erzählt von der dünnen Trennwand, einer sogenannten Tapetentür, die es jetzt nicht mehr gibt. »In Lion’s Room.«

»Und wer wohnt da?«, frage ich.

»Sergej. Ein russischer Komponist. Aber der ist noch nicht da. Außer dir ist niemand hier.« Im Internet habe ich gelesen, dass für die nächsten Monate neben Sergej und mir noch ein peruanischer Künstler, ein deutscher Dichter und dessen Frau – eine Zeichnerin – und eine vietnamesische Bloggerin in der Villa wohnen werden; die Einzige von uns, die im Exil leben muss, weil sie in ihrer Heimat politisch verfolgt wird.

Nina öffnet einen der weißen Einbauschränke und zieht eine blaue Tasche heraus. »Das ist wichtig«, sagt sie. »Das ist das Earthquake Kit, da ist alles drin, um drei Tage unter Trümmern zu überleben. Hast du überhaupt schon mal ein Erdbeben erlebt?«, fragt sie.

Ich schüttele den Kopf.

»Das letzte große Beben gab’s hier 1994. 57 Tote. Fast 9 000 Verletzte. Das nächste könnte schlimmer sein. Was glaubst du, was man machen muss, um das zu überstehen?« Bevor ich antworten kann, stellt sie mir weitere Fragen: »Würdest du aus dem Haus rennen oder im Zimmer bleiben? Dich unters Bett legen oder in den Türrahmen stellen? An was denkst du zuerst, wenn du glaubst, sterben zu müssen? Und an was zuletzt?«

»Äh. Keine Ahnung.«

Anstatt irgendeine Erklärung abzugeben, zieht sie einen Gegenstand nach dem anderen aus der blauen Tasche heraus. Tetra Paks voller Wasser, eine Trillerpfeife, Leuchtstäbe, eine Atemmaske, eine Taschenlampe zum Kurbeln, Plastikhandschuhe, Pflaster, Taschentücher, ein Regenponcho, eine Rettungsdecke und Tabletten gegen nukleare Strahlung. »Aber die brauchst du nicht. Sollte das passieren, ist es eh zu spät.« Nina packt alles wieder ein und stellt die Tasche in den Schrank zurück. Dann treten wir wieder auf den Gang. »Hier wohne ich«, sagt sie und öffnet die Tür gegenüber. »Im Turmzimmer.« Es klingt größer und mondäner, als es ist, ein kleiner Raum mit runden Wänden und einem Fenster, das in den Innenhof hinausgeht. »Das einzige Zimmer im Haus ohne Meerblick.« Als sie die Tür wieder schließt, sagt sie: »Übrigens gibt es hier Geister. Aber die kommen nicht zu jedem. Das ist ein Privileg.«

»Aber zu dir schon?«

»Manchmal.«

Wir gehen weiter, an einer Büste von Marta vorbei, an Hanns Eislers Ledersofa, das er nach seiner Ausweisung zurücklassen musste, an einer auseinandergerollten hebräischen Schriftrolle hinter Glas – ein Auszug aus dem Buch Esther –, die als Inspiration für Feuchtwangers Roman Die Jüdin von Toledo diente, und gelangen ins Arbeitszimmer, ein großer heller Raum voller Bücherregale, ein Kamin auf der einen Seite, ein Balkon auf der anderen, ein Teewagen, ein weiteres Sofa ohne Geschichte und vier aneinandergestellte Armeeschreibtische mitten im Zimmer. »Hier hat er gesessen, jeden Tag von acht bis zwölf«, sagt Nina. »Er hat diktiert, und Hilde Waldo, seine Sekretärin, hat getippt, jede Fassung auf einem anderen Papier, rot, blau, grün, nur die letzte, die finale, die war weiß. Die Bibliothek umfasst insgesamt 30 000 Bücher, 22 000 sind noch hier, die anderen, die wertvollsten, in der Feuchtwanger Memorial Library an der University of Southern California. Was du hier siehst, ist seine dritte Bibliothek. Die erste wurde in Berlin von den Nazis beschlagnahmt, die zweite musste er in Südfrankreich auf der Flucht zurücklassen. Seine alte Sekretärin Lola Sernau konnte aber aus beiden einige Exemplare retten und ihm hinterherschicken. Das da«, sie weist auf ein Foto über den Regalen, »ist Thomas Mann, der wohnte nicht weit von hier, am San Remo Drive. Nach jeder Lesung im Haus durfte er als Erster sprechen. Es heißt, ursprünglich habe er selbst hier einziehen wollen, das Anwesen sei ihm dann aber zu klein gewesen, trotzdem nannte er die Villa ›ein wahres Schloss am Meer‹. Brecht«, sie zeigt auf das Bild daneben, »und Feuchtwanger waren sehr gut befreundet, schon in Deutschland. Er kam immer von Santa Monica herauf, aber er hat’s gehasst, weil es auf dem Berg so leer war, damals standen die ganzen Häuser noch nicht, niemand wollte hier wohnen. ›Pacific Palisades existiert nicht‹, hat er mal gesagt, ›es gibt nur Bäume und Hügel. Wenn man krank wird, gibt es keinen Arzt; wenn man eine Apotheke braucht, findet man keine.‹ Und der«, sie zeigt auf ein weiteres Foto, ganz am Rand, »war der erste Stipendiat hier, 1995, Heiner Müller. Kurz danach war er tot.«

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Der angrenzende Raum ist ganz von Fenstern umgeben und so klein, dass gerade mal ein Schreibtisch und ein Stuhl hineinpassen. »Das ist das Werfelzimmer«, sagt Nina. »Der hat hier nie gearbeitet, aber der Schreibtisch ist von ihm, aus seinem Haus in Beverly Hills.« Sie wendet sich zu mir um. »Werfel hat Kalifornien nicht überlebt. Ebenso wie Heinrich Mann, der war auch öfter hier, von dem gibt es kein Foto, und dessen Frau Nelly, die hat Schlaftabletten genommen. Die hatte aber auch Alkoholprobleme.«

»Ich nicht. Ich trinke nicht«, sage ich. »Dieses Jahr jedenfalls.«

»Warum?«

»Eine Wette von Silvester bis Silvester.«

»Um was?«

»Um nichts.«

»Mit wem?«

»Mit mir.«

»Gut«, sagt sie. »Dann kannst du ja immer fahren.«

»Ja«, sage ich. »Und schreiben.«

Sie zuckt mit den Schultern, als wolle sie sagen: »Mach, was du willst« und geht mir voran die Treppe runter.

Unten im Foyer hängen Schwarzweißfotos von Lion und Marta, Marta mit Stein, Marta im Kimono, Lion auf einem leeren Hügel, Lion mit Schildkröten. »Die sind immer abgehauen. Deswegen haben sie ihnen ihre Telefonnummer auf den Rücken geschrieben.« Im Salon, dem größten Raum des Hauses, steht ein schwarzer Blüthner-Flügel, in einer Nische befindet sich eine Orgel mit Spezialeffekttasten, neben denen die Worte block, bell, auto, train, whistle, police und bird stehen. Nina drückt auf eine nach der anderen, um sie mir vorzuführen, eine Klingel ertönt, ein Klacken, ein Hupen. »Das ist für die Stummfilme. Drüben, auf der anderen Seite«, sie zeigt auf die Wand gegenüber mit den weißen Paneelen, »ist der Pfeifenraum mit acht Pfeifenreihen und 34 Registern. Beim Silent Salon wird davor eine Leinwand herabgelassen. Dann werden hier Stummfilme gezeigt mit Buster Keaton und Charlie Chaplin, und von überall her kommen Gäste und bringen Essen und Trinken mit, und bevor es losgeht, picknicken sie im Garten.«

»Was für Gäste?«, frage ich.

»Filmemacher, Komponisten, Architekten, Mäzene, Journalistinnen, Kuratorinnen, Künstlerinnen. Bunt gemischt. Noch zu wenig Junge. Aber die alten Exilanten sterben ja langsam aus. Einer der letzten ist Walter Arlen, der ist schon über 90, den wirst du noch kennenlernen. Der kommt zu jeder Veranstaltung. Und hier«, sie führt mich am Kamin vorbei zu einem kleinen Raum, in dem auch überall Bücher stehen, »war Martas Arbeitszimmer, hier hat sie bis zum Schluss am meisten Zeit verbracht. Als Lion noch lebte, hat sie mal gesagt: ›Ich bin die Frau, die diesem Mann durchs Leben hilft.‹ Die hat alles für ihn gemacht. Würdest du einer Frau durchs Leben helfen? Auch wenn du weißt, dass sie dich betrügt?« Bevor ich antworten kann, sagt sie: »Du kannst überall arbeiten, oben bei dir, hier, draußen.«

Wir gehen durch den Salon auf die Terrasse, von wo aus man die ganze Bucht von Santa Monica überblicken kann. Über uns kreist ein Flugzeug mit einem Werbebanner, aber es ist zu weit weg, als dass man die Botschaft erkennen könnte.

»Die LA Times hat ab 1927 in ihrer Sonntagsbeilage ständig über neue Häuser berichtet. Das hier war ein demonstration house der Times, eine Mustervilla von Mark Daniels, im maurisch-spanischen Stil errichtet, und voller Luxus: eigene Orgel, eigener Filmprojektor, elektrisches Garagentor, Kühlschrank, Gasherd, Geschirrspüler, 14 Zimmer, sechs Badezimmer. Die Wände sind ziemlich dick und in Hohlbauweise gebaut, das ist eine natürliche Klimaanlage. Viele dieser Häuser sind später abgebrannt, weil in den Wänden immer mehr elektrische Leitungen verbaut wurden. Für Notfälle«, sie führt mich wieder ins Haus, durch den Salon, ins Foyer zurück, »gibt es hinter diesem Foto«, es zeigt Lion bei Liegestützen, »ein Paneel mit einem Schlüssel«, sie nimmt das Bild ab, und zum Vorschein kommt ein grauer, in die Wand eingelassener Kasten mit Knöpfen, LED-Anzeige, einem Schlüssel und einem Schlüsselschlitz, »bei Fehlalarm muss man den da reinstecken, auf alarm silence, local silence und reset drücken oder diese Nummer anrufen und sagen, was los ist. Hast du schon mal ein Feuer überlebt?«

»Nein«, sage ich. »Du?«

Nina schüttelt den Kopf und hängt das Bild zurück. »Was glaubst du, wie schnell all die Bücher brennen, so trocken, wie das hier ist? Meinst du, dass du es, wenn unter dir ein Feuer ausbricht, noch rausschaffst? Glaubst du, dass dich der Alarm rechtzeitig wecken wird? Und was ist deiner Ansicht nach schlimmer – zu ersticken oder zu verbrennen?«

Ich starre sie an, ohne ein Wort zu sagen, plötzlich spüre ich den langen Flug in jeder Faser meines Körpers. Als Nina im Nebenraum, dem Esszimmer, verschwindet, rufe ich ihr hinterher: »Bist du Pyromanin?« Aber sie ist schon weitergegangen, steht schon auf der Außentreppe, ich folge ihr durch den Garten zum Tor. »Dienstags kommen die Bettys. Das sind die Putzfrauen. Nur eine heißt Betty. Wer, wirst du merken. Dann müssen alle aus den Zimmern raus. Und am besten haust du dann gleich ganz ab. Weil die Dirty Girls dann auch hier sind, und die machen ziemlichen Lärm.«

»Die Dirty Girls

»Ja«, sagt sie. »Die Gärtner. Die heißen wirklich so. Die Firma jedenfalls. Hast du ein Auto?«

»Noch nicht.«

»Dann besorg dir eins. Ich brauch jemanden, der mich rumfährt. Ich hab zwar einen Führerschein, aber ich kann mir keinen Mietwagen leisten. Parken solltest du hier am Hang, nicht vorm Gashahn da drüben«, sie weist die Straße hoch, »und auch nicht vorm Briefkasten, aber immer mit eingeschlagenen Reifen, die müssen zur Bordsteinkante weisen, sonst zahlst du gleich ein paar hundert Dollar Strafe. Und sollte dich die Polizei mal anhalten: Hände aufs Lenkrad, nicht aussteigen, nicht abschnallen, nicht im Handschuhfach wühlen, keine unbedachten Bewegungen.«

»Findest du das nicht ein bisschen paranoid?«

Sie fängt an zu lachen. Dann hört sie damit auf und tippt mir mit dem Finger gegen die Brust. »Besser paranoid als tot. Und jetzt muss ich weiterarbeiten.«

Ich gehe in mein Zimmer, räume meine Sachen in den Schrank, lege mich aufs Bett und schlafe sofort ein.

Als ich morgens aufwache und aus dem Fenster schaue, ist es fast so, wie ich es mir vorgestellt habe, blauer Himmel, Blick über die Bucht bis zum Horizont. Nur dringt kein Meeresrauschen oder Blätterrascheln durch die geöffneten Fenster, sondern der Sound des Pacific Coast Highways. Und nichts liegt in Schutt und Asche. Noch nicht.

Beim Frühstück begegne ich Nina in der Küche. Sie sitzt am Tisch und blättert in der LA Times. »Hast du was von dem Erdbeben mitbekommen?«, fragt sie mit vollem Mund. Neben ihr liegen vier leere Muffin-Papierförmchen.

»Welches Erdbeben?«, frage ich, eine Hand am Kühlschrank.

»Hier in der Nähe. Wir warten hier ja alle auf The Big One. Auf das ganz große Ding, auf die große Katastrophe. Ist schon mehr als hundert Jahre überfällig. In diesem Jahr gab’s schon fünf kleine Beben über 4,0. Das ist zuletzt 1994 passiert. Aber heute ist hier nur ein Dachziegel runtergefallen.«

Ich hole mein Smartphone hervor, recherchiere im Internet und erfahre beim Southern California Earthquake Data Center, dass es um 3:39:36 Uhr 90 Meilen östlich, in den Redlands, ein Erdbeben der Stärke 2,4 auf der Richterskala gegeben hat.

Später im Garten sehe ich die Schindel im Gras liegen, leuchtend rot, vollkommen intakt. Ich hebe sie auf, halte sie in Händen, drehe sie um, starre ungläubig auf das, was auf der Unterseite in den Ton geritzt geschrieben steht: »REDLANDS«.

Als ich damit ins Büro komme, will keiner das als böses Omen verstanden wissen, die Leiterin streckt mir die Hand entgegen, stellt sich vor und sagt: »Hallo erst mal. Herzlich willkommen!«

Und Nina sagt: »Und ich bin paranoid, oder was?«

Am Nachmittag lasse ich mich im Villa-Van zur Autovermietung nach Santa Monica fahren. Auf dem Parkplatz stehen ein weißer Chevrolet Suburban, ein roter Ford Mustang, ein schwarzer Dodge Charger, eine gelbe Corvette Stingray und ein blauer Mini. Ich entscheide mich für den Mini. Nina findet den Wagen zu klein, ist aber froh, zum Einkaufen nicht mehr den Berg hinunterlaufen zu müssen. Auf dem Weg ins Village, wie alle in der Villa das Zentrum von Pacific Palisades nennen, zeigt sie ständig auf irgendwelche Autos und sagt: »Mein Gott, das war Ben Affleck!«, »Matt Damon!« oder »Taylor Swift! Wusste gar nicht, dass die auch hier wohnt.« Bei den ersten Malen frage ich noch »wo?« und schaue ihrem Finger nach, dann wird mir klar, dass sie nur Aufmerksamkeit will.

Am nächsten Tag sehen wir uns im Goethe-Institut am Wilshire Boulevard das Spiel Deutschland gegen Frankreich an und auf dem Sunset Boulevard die Parade zum Unabhängigkeitstag. Am Straßenrand alles voller Menschen, ganz in blau, weiß, rot gekleidet. Fallschirmspringer schweben vom Himmel und rufen: »Gott segne Amerika! Gott segne die Palisades! Und unsere Truppen, die für unsere Freiheit kämpfen!« Cowboys und Cowgirls ziehen an uns vorbei, eine Blaskapelle, Kamele, Cadillacs mit Lokalpolitikern, Dudelsack spielende Männer in Schottenröcken, Postkutschen, auf denen »Wells, Fargo & Company« steht, Kinder auf Fahrrädern, geschmückt in Nationalfarben, Flaggenschwenker, eine Hundestaffel, Clowns und Helden auf Segways, Mitglieder eines Baseballteams, eines Buchstabierclubs, eines Karatevereins. Die Polizei, die Feuerwehr – und ein Schwarzer mit Davidstern, kostümiert als Uncle Sam. Als ich ihn anspreche, ihn frage, ob ich ihn fotografieren darf, erklärt er, dass Gott mich geschickt habe. »HaShem, Adonai, Elohim.« Er nennt sich Mr. Patriot und glaubt an das amerikanische Volk, an die göttliche Vorsehung, den Frieden in unseren Herzen und den Globalen Frühling: dass alle Religionen der Welt zu einer verschmelzen.

»Es gibt einen Grund, weshalb du hier bist«, sagt er. Ihm fehlen die Vorderzähne.

»Ja«, sage ich. »Ich habe ein Stipendium.«

»Nein, nein.« Er schüttelt den Kopf. »Du bist hier, weil du Teil der Lösung bist.«

»Ich dachte immer, ich wäre Teil des Problems.«

»Das auch.«

Nina und ich setzen uns vor Ralphs, einem Supermarkt, in den Schatten und essen Sandwiches. Wie sich herausstellt, wohnt sie in Berlin, aber ursprünglich stammt sie aus Mecklenburg-Vorpommern, geboren in Bützow, aufgewachsen in Lalendorf, zwischen Güstrow und Teterow. Sie hat auf einem Bauernhof in Island gearbeitet, als Ankleiderin im Disneyland Paris und Kunst in Braunschweig studiert. Im dritten Semester hat ihr ein Freund von der Villa erzählt, und jetzt, nach dem Studium, hat sie sich selbst davon überzeugen wollen, dass Hollywood existiert, dass das ein echter Ort ist mit echten Menschen.

»Und?«, frage ich.

»Es stimmt«, sagt sie.

»Nein, ich meine, und jetzt?«

»Was ist das denn für eine bescheuerte Frage?«

In der Nacht klopft es dreimal hintereinander gegen die Tür. Ich fahre aus dem Bett hoch, sage: »Herein!«, aber die Tür bleibt zu, niemand sagt etwas, das Holz, das knarren müsste, wenn sich jemand auf dem Flur bewegt, knarrt nicht. Dann: wieder das Klopfen. Wie Donnerschläge. Dann: ein Glühen vor dem Fenster, ein Feuerregen.

Am Abend kommt Sergej an. Dichte blonde Haare, blaue Augen, groß, aber gedrungen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Er trägt ein langärmliges Shirt mit blauen Längsstreifen und weitem Ausschnitt. Hätte er eine weiße runde Mütze auf, würde ich ihn für einen Matrosen halten. Mit zwei Papiertüten von Vons steht er in der Küche. Als er an mir vorbeigeht, stößt er gegen den Tisch, den Stuhl, verstaut die Lebensmittel im Schrank und sagt etwas auf Russisch zu mir. Mehrmals bitte ich ihn, es zu wiederholen. Je öfter er es sagt, desto lauter wird er. Irgendwann merke ich, dass er die ganze Zeit Deutsch mit mir spricht. Er sagt: »Wirsprechenunsnoch« in einem Wort und poltert die Treppe hinauf in sein Zimmer.

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In der Dämmerung mache ich eine Bergwanderung, den Paseo Miramar hoch, vorbei an Villen mit hohen Fenstern und hohen Hecken und Security-Schildern im Vorgarten, die Dan Aykroyd oder Hilary Swank gehören – und ganz oben, an der Nummer 865 vorbei, einer der größten Villen von allen, in der alljährlich die Kandidatinnen von Germany’s Next Topmodel wohnen, wie Nina mir vorhin noch voller Stolz erzählt hat. Dahinter, an der Stelle, an der die Bebauung aufhört, ist auch der Asphalt zu Ende, und es geht auf einem Sandweg in den Topanga State Park hinein: spärlich mit Büschen bewachsene Hügel und Täler.

Ein Schild warnt vor Pumas und Klapperschlangen. Ich denke an das, was Nina mir am Nachmittag gesagt hat, dass man sich, wenn man gebissen wird, nicht mehr bewegen soll, um Blutzirkulation zu vermeiden. Stattdessen soll man den Notruf wählen.

Ich habe kein Handy dabei.

Ein Mountainbiker rast an mir vorbei, eine Staubwolke hinter sich herziehend. Ich hetze dem Sonnenuntergang hinterher, sehe noch ein Glimmen hinter der Bergspitze. Als ich auf dem Gipfel stehe, umschwirrt von Fledermäusen, sehe ich auf der einen Seite einen letzten Strahl und Hügelketten bis zum Horizont und auf der anderen das Meer, Lichter und Wolken über L. A., die höchsten Hochhäuser schauen daraus hervor wie Inseln. Auf dem Rückweg: Sterne, Halbmond, Zikaden.

Traum: Ich rufe einen Freund an. Er heißt Donny und sieht aus wie John Goodman. Obwohl er unglaublich groß und fett ist, trägt er immer Anzüge, die ihm viel zu weit sind.

Er: »Worüber willst du mit mir reden?«

Ich: »Nur so.«

Er kommt vorbei, schwitzt, wir reden, trinken Bier aus Dosen, dann fahren wir in einem Lastenaufzug in den dunklen Himmel hinauf. Die Erde ist eine Grotte mit offenen Wohnebenen in den Wänden. In jedem Stockwerk beugen wir uns kurz heraus, dann ziehen wir die Köpfe wieder ein.

Oben angekommen, sagt er: »Pass auf dich auf, mach keine Dummheiten, was immer es ist, du kommst schon darüber hinweg«, und reicht mir eine Handvoll Metall.

Als er gegangen ist, trete ich ins Licht einer Laterne, um zu sehen, was er mir gegeben hat: Namensschilder von Freunden, die im Krieg gefallen sind.

Nachmittags in der Küche: Orangensaftpfützen auf dem Tisch, die Espressokanne ist übergelaufen, vor dem Herd liegt Kaffeepulver. Der Mülleimer ist voll. Der Kühlschrank steht offen und piept. Auf dem Boden: Fußspuren, die nach draußen führen. Handtuch und Badehose über der Balustrade. Sergej sitzt auf der Terrasse, die Haare nass, die Haut rot wie ein Feuerball. Neben ihm ein leeres Glas. In der einen Hand eine Tasse, in der anderen ein Smartphone. Als ich mich zu ihm setze, entschuldigt er sich für gestern Abend, er sei total müde gewesen, Jetlag.

Wir reden über Berlin. Er wohnt seit 20 Jahren in der Stadt. Während andere Technopartys feierten, ging er auf klassische Konzerte: Helmut Lachenmann im Podewil, Claudio Abbado in der Philharmonie, Morton Feldman und Bach im Konzerthaus. Außer Bach kenne ich keinen. Er spricht von »Echtzeitmusik«, dem »Splitter Orchester« und einem Club namens »Raumschiff Zitrone«. Ich bin vier Jahre nach ihm nach Berlin gezogen und spreche von »O-Ton Ute«, dem »Gebäckflötenorchester« und dem »Antje Øklesund«, offenbar gab es keine Überschneidungen, dabei wohnten wir zeitweise nur wenige Straßen voneinander entfernt.

Sergej ist 41 und stammt aus Moskau, hat dort am Konservatorium studiert, an der Musikhochschule in Dresden und an der Universität der Künste, seine Werke werden in der ganzen Welt gespielt, seine Oper Franziskus wurde am Bolschoi-Theater aufgeführt, er hat mehr als 3 000 Freunde bei Facebook. Hier will er an einem szenischen Stück für sechs Solisten arbeiten, das auf Michael Lentz’ Roman Pazifik Exil basiert.

Ich spreche ihn auf den Krieg in der Ukraine an, auf die Annexion der Krim, und er sagt: »Meine Mutter wohnt da und einige Verwandte. Die Krim ist sehr rückständig, sehr arm, es gibt viel Kriminalität und Korruption und kaum Investitionen. Die Leute, die beim Referendum für eine Vereinigung mit Russland gestimmt haben, sehnen sich nach der Sowjetunion zurück, nach dem Archaischen, dem Imperialen, alter Macht und Größe.« Er holt mit dem Arm aus und stößt das Glas um. Es rollt bis zum Rand, bleibt an der Kante hängen. Sergej kümmert sich nicht darum. Stattdessen sagt er: »Das ist nicht nur ein russisches Problem.«

»Ja«, sage ich. »In Ungarn ist das ja auch so.«

»Bis vor ein paar Jahren war die Kultur in Russland sehr innovativ, sehr modern. Da gab es auch viel Unterstützung vom Staat. Seit Putin wieder Präsident ist, hat sich das geändert. Es gibt jetzt eine neue Kulturpolitik, die sich mehr auf traditionelle Werte beruft. Aber das Lustige ist, es gibt keine Künstler, die sich dafür hergeben. Im März wollte sich Putin mit berühmten Schriftstellern treffen, aber keiner mit ihm. Deswegen hat er sich dann mit Nachfahren von Dostojewski, Tolstoi und Puschkin getroffen.« Dann fängt er an zu lachen, ein eruptives Lachen, das durch seinen ganzen Körper geht, und verschüttet seinen Kaffee.

»Und wie ist die Stimmung im Land?«, frage ich, als erkundigte ich mich nach meiner Heimat und meinen Verwandten. Als wäre ganz Europa schon verloren.

So müssen die Exilanten vor 70 Jahren geredet haben.

»Ich komme gerade aus Moskau«, sagt Sergej. »Und das war merkwürdig. Auf Facebook und im Fernsehen nichts als Hysterie, und in der Stadt alles normal, sehr entspannt. Aber natürlich, niemand weiß, was passiert.« Er schaut aufs Meer, als läge da die Zukunft. Dann wendet er sich wieder mir zu. »Sag mal, fährst du nachher noch ins Village?«

»Ja, wieso?«

»Kannst du mich mitnehmen? Ich muss noch was einkaufen.«

»Klar.«

»Hab nämlich keinen Führerschein.«

Später, als wir zurück sind, sehe ich ihn im Salon über eine Partitur gebeugt am Flügel sitzen, Striche, Zahlen, winzige Punkte, eher ein Geheimcode oder ein Schaltplan als Noten. Zwischendurch spielt er ein Stück an, summt etwas, spricht etwas in einer ganz eigenen Sprache und macht sich Notizen. Anders als in der Küche, auf der Terrasse, im Auto ist er vollkommen bei der Sache. Konzentriert. Aufmerksam. In sich versunken. Er merkt gar nicht, dass ich hinter ihm stehe. Wie selbstverständlich gleiten die Finger der einen Hand über die Tasten, die der anderen übers Papier, eine fließende Bewegung. Keine Spur vom Grobmotorischen, das ihn im Alltag gegen Wände, Möbel, Gläser stoßen lässt, als ob die ihn umgebende Welt nur Beiwerk wäre, zu klein für seine Visionen.

Während Sergej unten im Salon am Blüthner immer wieder die gleiche Taste drückt, liege ich im Bett und lese Feuchtwanger, Jud Süß, Exil, die Biografie von Sternburg, alles durcheinander. Von seiner Zeit in München und Berlin, seiner Flucht nach Frankreich, seiner Reise nach Moskau, seiner Begegnung mit Stalin. Von seiner Frau und seinen Geliebten. Seinen Dramen und historischen Romanen. Seinem Erfolg im Ausland. Seinem Bücherwahn. In Südfrankreich wohnt er in dem Fischerdorf Sanary-sur-Mer, 50 Kilometer südlich von Marseille, direkt am Mittelmeer. Ein Traum, wenn die Nazis nicht wären. Als Jude und als Linker steht er auf deren Listen ganz oben. Sein Besitz in Deutschland ist konfisziert, das Konto gesperrt. Wie manch andere deutsche und österreichische Schriftsteller, die an der Riviera Schutz suchen – die Familie Mann, Bertolt Brecht, Ludwig Marcuse, Annette Kolb, Joseph Roth, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch etc. –, glaubt er, dass Hitler sich nicht lange an der Macht halten wird und, sollte das doch der Fall sein, nur die Volksfront, die Internationale, dem etwas entgegensetzen könne. Obwohl er nichts hat und sich komplett neu einrichten muss, schreibt er weiter, als wären ihm die Manuskripte, an denen er zuletzt in Berlin gearbeitet hat, nicht gewaltsam entrissen worden. Er lebt zurückgezogen mit seiner Frau auf einem Hügel, vollendet den zweiten Teil seiner Josephus-Trilogie und drei weitere Romane Die Geschwister Oppermann, Der falsche Nero und Exil – sowie den Bericht über seine Fahrt in die Sowjetunion Moskau 1937. Anstatt sich um ein Visum für Amerika zu kümmern, hält er an seinem Tagesablauf fest. Schreiben. Schwimmen. Spazierengehen. Er verdrängt die Gefahr, macht weiter wie bisher, stoisch, unbeirrbar, das Geheimnis seines Erfolges. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen werden die Exilanten von den französischen Behörden aufgefordert, sich nach Les Milles zu begeben, in eine zum Sammellager umfunktionierte Ziegelei. Auf Intervention der Engländer wird Lion zunächst entlassen, wenige Monate später, nach dem Westfeldzug, wieder eingesperrt. Marta informiert den amerikanischen Vizekonsul in Marseille, US-Präsident Roosevelt, dem er Jahre zuvor in New York begegnet ist, setzt sich für seine Freilassung ein. Als Frau verkleidet flieht er zu Fuß über die Pyrenäen, mit dem Zug nach Lissabon. An Bord der Excalibur verlässt er Europa. Ein halbes Jahr später fliegt er von New York nach Los Angeles. Erst wohnen Marta und er bei einer seiner Geliebten, dann mieten sie sich ein eigenes Haus, dann entdeckt Marta die Villa in Pacific Palisades, heruntergekommen, seit Jahren leerstehend und günstig, für 9 000 Dollar – ein Lehrerjahresgehalt. Die Feuchtwangers richten sich ein. »Der Garten ist herrlich«, schreibt Lion einem Freund, »und alles in allem arbeitet es sich sehr gut in diesem neuen Haus.« Hanns Eisler spielt bei der Einweihung Üb immer Treu und Redlichkeit. Andere Exilanten siedeln sich in der Nähe an, Schriftsteller, Komponisten, Künstler, Regisseure, den wenigsten geht es so gut wie Feuchtwanger, dessen Werke verfilmt werden und in Buchclubs erscheinen – mit bis zu 600 000 Exemplaren. Ludwig Marcuse nennt ihn »Kaiser aller deutscher Emigranten, ganz besonders Schutzherr des Stammes der Schriftsteller«, und die Villa wird zum Zentrum eines Neuen Weimar. Während der Kriegszeit herrscht Ausgangssperre zwischen 20 Uhr abends und sechs Uhr morgens, aber kaum ist der Frieden da, blüht das Leben der Exilanten auf, sie laden sich zu Premieren, Lesungen und Diskussionsabenden ein, zweimal im Jahr im Arbeitszimmer und im Salon am Paseo Miramar. Während einige nach Deutschland zurückkehren, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Ludwig Marcuse, Alfred Döblin und andere, wie Hanns Eisler, ausgewiesen werden, bleibt Feuchtwanger in Kalifornien – zu groß ist die Angst, dass man ihn aufgrund seiner Vorkriegshaltung zur Sowjetunion nicht mehr ins Land zurücklässt. Vom FBI wird er überwacht und verhört, vorm Haus parken Agenten. Er will nicht noch einmal alles verlieren. 1945 schreibt er an eine Freundin: »ich sitze seit vier jahren hier, habe das gebiet von los angeles auch nicht auf einen tag verlassen und jeden tag mindestens vier, häufig aber bis zu zehn stunden an meinem schreibtisch verbracht.« In den 18 Jahren seines amerikanischen Exils schreibt er sieben große Romane, drei Theaterstücke, mehrere Kurzgeschichten und Essays und einen ausführlichen Bericht seiner Lagerhaft in Frankreich. Lion stirbt 1958, Marta 1987, danach wandeln Freunde des Paares das Haus in eine Künstlerresidenz um, in ein lebendiges Museum des deutschsprachigen Exils.

So sehr mich Lion Feuchtwangers unerschütterliche Produktivität auch beeindruckt – als ich mich, davon angestachelt, selbst an den Schreibtisch setze, um an meinem Amerikaroman zu arbeiten, merke ich, wie schwer es mir fällt, auch nur einen Satz zu schreiben. Immer wieder fange ich an, immer wieder breche ich ab, immer wieder schweift mein Blick aus dem Fenster auf die Lichter der Stadt. Wie soll ich über einen Ort schreiben, den ich nicht kenne, an dem ich erst einmal – und das liegt mehr als 20 Jahre zurück – gewesen bin? Welche Menschen wohnen hier? Was sind ihre Geschichten? Wie reden sie? Wie leben sie? Mir fällt nichts ein. Das Paradies kann auch die Hölle sein.

Traum: Ich sitze mit zwei Mitbewohnern im Wohnzimmer, wir trinken Bier aus Dosen, spielen Computerspiele, der Fußboden besteht aus Matsch. Wir sprechen über einen, der seit Monaten verschwunden ist.

»Was denkst du?«, fragt mich der eine.

»Was soll ich denken?«, sage ich, ohne vom Bildschirm aufzuschauen.

»Was ist mit ihm passiert?«, fragt mich der andere.

»Was weiß ich?«

Sie meinen, dass ich ihn abgeschrieben habe, dass ich die Hoffnung aufgegeben habe, er würde lebend zurückkommen, und das finden sie merkwürdig. Sie meinen, dass ich etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben müsse. Ich streite alles ab. Während wir so zusammensitzen und reden, wird der Boden immer schlammiger, sodass wir, wenn wir uns aus dem Kühlschrank neues Bier holen, kaum vorwärtskommen und bei jedem Schritt tiefer einsinken. Unter unseren Füßen knirscht es, als gingen wir auf Kies. Einer greift in den Schlick hinein und fischt einen braunen Brocken heraus, geht damit zur Spüle, hält ihn unter den Wasserhahn, dann ins Licht, dann mir vors Gesicht: ein abgebrochener Zahn, wie rausgeschlagen.

01. 07.

Ghost Highway1

Dass die Wege der Freiheit / nicht für Menschen ohne Motor gelten / merkt Marlene Mardella Pinnock, als sie / auf Hosocken, eine Tasche in der Hand, / über den Santa Monica Freeway geht. // Ihre Haut ist schwarz, ihre Tasche weiß, / sie wohnt nicht weit entfernt, / zwischen Trümmern und trash, / unter den Straßen der Stadt, / an der La Brea Avenue. // Sie geht gelassen, / als ginge sie spazieren, / auf dem Seitenstreifen / der Wagenwelt entgegen. / Eine Geistergängerin, // die einen Geist angeht: / Daniel L. Andrew, / ein Highway Patrolman, / der sie zu Boden schickt. // Seine Haut ist weiß, seine Hand schwarz, / die Finger sind vor Wut geballt, / als er mit voller Wucht / auf ihr Gesicht eindrischt. // David Diaz, der die Szene filmt / und den Film auf YouTube stellt, / sagt, man hört es im Off: / Oh, shit, stop, he’s beating her up, / why am I watching this? // In seinem Bericht schreibt Andrew dann, / sie hat mich den Teufel genannt. / Pinnocks Anwältin, Caree Harper, / sagt, der Teufel ist er nicht, / aber sicher ein naher Verwandter.

05. 07.

The White Shark

Es ist der Tag / nach dem Unabhängigkeitstag, / der in diesem Jahr / auf einen Freitag fällt. // Ein langes blauweißrotes Wochenende. // Der Strand ist voll, / voller als sonst. / Die See ist ruhig, / ruhiger als sonst. // Trotzdem gleitet Lance Nelson übers Wasser, / er wartet, / auf dem Brett / liegend, auf dem Bauch, / auf den richtigen Moment, / die perfekte Welle, / die niemals kommt. // Steven Robles, / ein Langstreckenschwimmer, / ist kurz vor dem Ende, / seiner täglichen Tour, von Hermosa / nach Manhattan Beach, als / ein weißer Hai, / angelockt von einem Angler / auf der Kai- / zunge, / aus der Tiefe / auftaucht / und ihm in die Brust beißt. / Er schreit. / Und die, die seine Schreie hören, / schreien auch. // Weiß! / Weiß! / Weiß! // Lance Nelson sagt später: / Ich sah Blut durchs Wasser spritzen. / Es war wie im Film. / Nur schlimmer. // Aber so schlimm wie im Film / ist es dann doch nicht. / So schlimm wie im Film / ist es in Wirklichkeit / nur ab / und zu. // Meist nehmen die Geschichten ein gutes Ende / und werden darum nie erzählt. / Werden sie es doch, / geraten sie / bald in Vergessenheit / und liegen stumm und Toten gleich. // Diese aber bleibt, / sie geht für lange Zeit / von Mund zu Mund, / von Seit’ zu Seit’: // Sie handelt, / hier keine Seltenheit, / von Helden. // Die lifeguards machen ihrem Namen / alle Ehre, / sie tragen Steven Robles, / auf ein Brett gebettet, / auf dem Rücken liegend, / aus dem Meer. // Er wartet auf Nadel und Faden, / auf den Notarzt, / der ihn zusammennäht / und dem zackigen Zahntattoo / des Weißen Hais / seine Gestalt verrät. // Und als es so weit ist, / sagt er: Was hab ich für ein Glück gehabt. // Nichts ist ab. / Alles dran. / Und zu.

Die Auftragsdichterin

Abbildung

I

Am fünften Tag in Los Angeles habe ich ein Erweckungserlebnis. In jeder US-Stadt, in die ich reise, gehe ich in eine Kirche. Nicht weil ich gläubig wäre, sondern weil ich ein Gefühl für die Bewohner bekommen will, für ihren Umgang mit Fremden, ihre religiösen Rituale, ihre Vorstellung von Transzendenz. Früh morgens kurven Nina und ich in meinem blauen Mini Cooper die Serpentinen des Paseo Miramar hinunter, fahren den Pacific Coast Highway entlang und besuchen den Gottesdienst der First African Methodist Episcopal Church unterhalb des Santa Monica Freeway. Im Einklang mit dem Gospelchor vor mir auf der Bühne singe ich I must tell Jesus und Praise The Lord und spüre wie immer nichts, keine Erleuchtung, Einkehr, Erkenntnis.

Am Nachmittag aber sind wir auf dem Flohmarkt auf dem Parkplatz der Fairfax High School. Die Sonne brennt, die Luft flimmert, der Asphalt glüht. Unter aufgeheizten Plastikpavillons Mid-Century-Möbel, Schmuck, Schuhe, Kleider, Hot Pants, exotische Holzmasken, karierte Westernhemden, selbstgemalte Bilder, zerkratzte Schallplatten, zerlesene Taschenbücher für zehn Dollar das Stück. Viele Händler sprechen Spanisch, keiner lässt mit sich handeln. Im Food Court gibt es Tacos und Burger und Steaks. In einer Ecke: eine Jazz-Band, Keyboard, Schlagzeug, Kontrabass, alte Männer in Hawaiihemden. Über einem Stand mit Gothic-Nippes steht »Zombie Research Society«. Und inmitten all der Leute und Stände sitzt ein Mädchen mit Zahnspange, zurückgebundenen kastanienbraunen Haaren, aufgeknöpfter Bluse, schwarzem Top und weißgepunkteter Jeans. Sie sitzt an einem Klapptisch, über den sie eine helle Decke geworfen hat, vor ihr ein Schreibmaschinenkoffer mit der Aufschrift: »the poem stop – name your subject, name your price.« Die Menschen um uns herum beachten das Mädchen nicht. Das, was sie zu bieten hat, ist unsichtbar, noch nicht da, Zukunftsliteratur.

Nina und ich bleiben stehen, und ich sage: »Friendship, five Dollar.«

Mit ihren dunklen Augen sieht sie zu mir auf. »Normalerweise benutze ich die Schreibmaschine«, sagt sie, »aber ich habe kein Farbband mehr.« Sie reißt eine Seite aus einem Notizbuch, holt einen Kugelschreiber hervor und beginnt zu schreiben, ohne innezuhalten, ohne nachdenken zu müssen, ohne Zweifel.

Als sie fertig ist, liest sie es uns vor, so leise, dass wir uns zu ihr herabbeugen müssen: »This sacred relationship is created / to connect to someone who can give. / And in our blackest nights, / we find the twinkling and singing stars above us / that light up the path / that will lead us to satisfaction and living.«

Dann reicht sie mir das Blatt mit ihrer Unterschrift, ihren Initialen: »Maia Zelkha MZ.«

Und ich reiche ihr die Scheine.

»Die meisten Leute wollen Gedichte, die von Liebe handeln, von Glück, von Kindern, von der Sonne, vom Sommer«, sagt sie. Eins, das neben ihr liegt, das letzte, das sie mit der Schreibmaschine geschrieben hat, bevor das Farbband aufgebraucht war, heißt »Summertime and Bubble Gum«. Und in dem Moment meine ich, den Geruch von Sommer und Kaugummi, Hubba Bubba, Apfelgeschmack, wahrzunehmen, aber es ist nur eine Erinnerung an meine intensivsten Kaugummikindheitserlebnisse. Für Sekunden bin ich wie weggetreten, sie redet einfach weiter, von den Kunden, den Themen, dem Gewinn, dem Risiko. Heute, an ihrem ersten Tag, hat sie schon 20 Gedichte geschrieben und mehr als 100 Dollar verdient. Aber sie besteht nicht auf ihr Honorar, niemand muss etwas zahlen, wenn ihm das, was sie schreibt, nicht gefällt. So bleibt ihre Kunst rein, frei von finanziellen Erwägungen, unabhängig vom Geschmack der anderen.

Sie ist 14 Jahre alt.

Auf ihrem Unterarm, das sehe ich erst, als ich mich umwende, prangt ein Tattoo, ein Zitat, ein Song von Ice Cube: Gangsta Rap Made Me Do It, der mir auf dem Weg nach Hollywood, nach Los Feliz nicht mehr aus dem Kopf geht und den ich, während wir mit heruntergelassenen Fenstern und offenem Schiebedach die Melrose Avenue entlangfahren, im Geist übersetze: »Ihr beneidet den heißen Hexenmeister, Kriegskaiser, Vokalakrobaten / Aber ich muss meinen Reichtum nicht zeigen, um geile Bräute zu braten / Es geht nicht um Manier’n / Es geht um steile Wörter – und ums Transportier’n.«

Das ist ihr pyroklastisches Programm.

Am nächsten Sonntag werde ich mir Master of Puppets von Metallica auf den Arm tätowieren lassen, mich neben sie setzen und den »prose stop« eröffnen.

II

Das schreibe ich nach unserer ersten Begegnung in mein Notizbuch, berauscht von dem Erlebnis, eine sehr junge, sehr kompromisslose Dichterin kennengelernt zu haben. Und dann löse ich mein mir selbst gegebenes Versprechen doch nicht ein. Ich fahre zwar nach Venice Beach, laufe die Promenade entlang, an den Henna-Tattoo-Ständen vorbei, wirklich gewillt, mir auch so einen Spruch aufmalen zu lassen, erst einmal provisorisch, um zu testen, wie es aussieht. Aber als ich die Fotos sehe, die verschnörkelten esoterischen Beispiele, mit denen die Mehndi-Künstler für ihre Arbeit werben, denke ich: Das ist das Gegenteil von Heavy Metal oder Gangsta-Rap. Wenn, dann richtig. Keine verblassende Schrift. Nichts, was wieder weggeht. Nichts ohne Blut und Schmerzen. Worte für die Ewigkeit. Doch die Fotos und Motive vorm House of Ink sehen auch nicht besser aus, nur die Farben sind bunter, kräftiger, leuchtender.

Am Sonntag darauf sitzen Nina, Sergej und ich im San Fernando Valley, in einem Laden namens Pedalers Fork, eine Mischung aus Restaurant, Café und Fahrradgeschäft, und schauen auf der Terrasse das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, Deutschland gegen Argentinien. Insgesamt sind wir zu zehnt, einige tragen DFB-Trikots, andere Plastikblumenketten in Schwarz-Rot-Gold. Wir reagieren kaum auf das, was die Kellnerin fragt, bestellen Quinoa-Burger, Wild Mushroom Flatbreads, gerösteten Heilbutt – und ein Glas Wasser nach dem anderen. Es ist Mittag, 40 Grad im Schatten. Die amerikanischen Gäste betrachten uns kopfschüttelnd durch die Fenster der Komfortzone, den klimatisierten Innenraum. Als Mario Götze in der Nachspielzeit das entscheidende Tor schießt, kommen sie heraus und beglückwünschen uns, als hätten sie es von Anfang an gewusst: die Hände in den Hosentaschen, leicht vor- und zurückwippend, ohne jede Begeisterung.

Hinterher fahren wir über den Victory Boulevard, den Freeway 405, den Santa Monica Boulevard, die Fairfax Avenue durch dichten Verkehr und dichten Qualm – es riecht verbrannt – nach Downtown, aufs Dach des Ace Hotels. Gebaut 1927 als Theater der Produktionsgesellschaft United Artists im Stil des Art déco, die unteren Etagen reich verziert, die Spitze wie der Turm einer Kathedrale. Von 1989 bis 2011 war es tatsächlich eine Kathedrale. Anstatt für Filme warben die Werbetafeln in dieser Zeit für den Gottesdienst. Und vom Dach aus flimmerte »Jesus Saves« über die Innenstadt. Ein magischer, heiliger Ort, von dem es heißt, er habe die größte Sammlung von Bibeln in Privatbesitz beherbergt. Der neue Eigentümer ließ das Hochhaus komplett umgestalten. Auf dem Dach errichtete er eine Terrasse mit Pool, darunter 182 Hotelzimmer und im Erdgeschoss, im ehemaligen Kino, eine Konzerthalle, eine neue Rock ’n’ Roll-Kirche für Gitarrengötter: Die erste Band, die dort nach der Wiedereröffnung vor einigen Monaten spielte, war, es hätte nicht passender sein können, Spiritualized.

Im 13. Stock steigen wir aus dem Fahrstuhl, liegen oben in der Abendsonne am Pool, betrachten abwechselnd die betrunkene halbnackte Meute im Wasser und den Rauch am Horizont: In den Hollywood Hills ist eine der größten Verchromungsfabriken des Landes in Brand geraten. Aber das erfahren wir erst später.