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Über das Buch/Über die Autorin
 
Joan Castleman hat ihrem Mann alles geopfert – sogar ihr Talent. Sie führt ein Leben in zweiter Reihe, ein Leben als Mutter und Muse. Sie ist die Frau des berühmten Schriftstellers Joe Castleman. Einst war er ihr Dozent für Kreatives Schreiben und sie seine begabteste Studentin. Ihm zuliebe hat sie ihre Karriere aufgegeben. Nun, Jahre später, steht Joe vor der Krönung der seinen: Ihm soll der renommierte Helsinki-Preis verliehen werden. Für Joan ist das der Anlass, während des langen Fluges zur Preisverleihung ihre Ehe zu rekapitulieren. Sie nimmt den Leser mit an den Anfang der Beziehung ins Amerika der Fünfzigerjahre – und führt ihn in die literarischen Zirkel der Achtzigerjahre. Vor allem aber hinterfragt sie ihre Rolle als Ehefrau, in der sie Joe hassen gelernt hat – nicht nur seiner zahlreichen Seitensprünge wegen. Die eigentliche Demütigung ist ganz anderer Natur …
Mit hintergründigem Witz entwickelt Meg Wolitzer die Psychologie einer zerrütteten Ehe mit einem meisterhaften Gespür für die Abgründe, die in ganz alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen liegen.

autor

© Nina Subin

MEG WOLITZER, geboren 1959, veröffentlichte 1982 den ersten von bisher elf Romanen, darunter mehrere ›New York Times‹-Bestseller. Zwei ihrer Romane wurden verfilmt. Sie ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in New York City. 2014 erschien bei DuMont der Spiegel-Bestseller ›Die Interessanten‹. Zeitgleich zu ›Die Ehefrau‹ erscheint ›Die Stelllung‹ im Taschenbuch. ›Die Ehefrau‹ liegt hiermit erstmals in deutscher Übersetzung vor.
 
STEPHAN KLEINER, geboren 1975, lebt als freier Lektor und Übersetzer in München. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen T. C. Boyle, Keith Gessen, Chad Harbach, Michel Houellebecq, Marlon James, Tao Lin, Hilary Mantel, Josh Weil und Geoff Dyer.

Meg Wolitzer

DIE EHEFRAU

Roman

Aus dem Englischen
von Stephan Kleiner

Für Ilene Young

Eins

In dem Augenblick, in dem ich beschloss, ihn zu verlassen, in dem Augenblick, in dem ich dachte: Es reicht, befanden wir uns zehntausend Meter über dem Meer; wir rasten vorwärts und erweckten doch äußerlich den Anschein von Ruhe und Gelassenheit. Genau wie unsere Ehe, hätte ich sagen können, aber warum in diesem Moment alles zerstören? Wir sonnten uns im Glanz der ersten Klasse, einen flüchtigen Augenblick lang aller Ängste und Sorgen enthoben; es gab keine Turbulenzen, der Himmel strahlte, und irgendwo zwischen den anderen Fluggästen saß möglicherweise sogar ein Flugsicherheitsbegleiter in dröger Reisendenkostümierung, stocherte vielleicht in einer kleinen Schale voll fettiger Nüsse herum oder war der zombieesken Prosa der Bordmagazine zum Opfer gefallen. Die Getränke waren schon vor dem Start serviert worden, und ehrlich gesagt waren wir beide ziemlich betrunken, saßen da, die Münder halb offen, die Köpfe zurückgelehnt. Frauen in Uniform gingen mit Körben in den Händen die Gänge auf und ab wie eine Flotte sexualisierter Rotkäppchen.

»Ein paar Kekse, Mr Castleman?«, fragte ihn eine Brünette und beugte sich mit einer Gebäckzange zu ihm hinunter, und während ihre Brüste sich nach vorn schoben und wieder zurückzogen, konnte ich sehen, wie sich in ihm der uralte Mechanismus der Erregung surrend in Bewegung setzte wie ein elektrischer Bleistiftspitzer; ein Anblick, der sich mir in all den Jahrzehnten tausendfach geboten hatte. »Mrs Castleman?«, fragte die Frau auch mich, aber ich lehnte ab. Ich wollte ihre Kekse nicht, ich wollte gar nichts von ihr.

Wir waren auf dem Weg zum Ende unserer Ehe, bewegten uns auf den Punkt zu, an dem ich endlich den Stecker ziehen und mich von dem Ehemann trennen dürfte, mit dem ich Jahr für Jahr zusammengelebt hatte. Wir waren auf dem Weg nach Helsinki, Finnland, ein Ort, an den man nie denkt, es sei denn, man hört gerade Sibelius, liegt auf den heißen, feuchten Brettern einer Sauna oder isst eine Portion Rentier. Die Kekse waren verteilt, die Getränke eingeschenkt, und überall um mich herum waren Bildschirme in Position gebracht worden. In diesem Moment verschwendete hier niemand einen Gedanken an den Tod, so wie wir es zuvor getan hatten, als eine ganze Flugzeugladung voll Menschen – Economy, Business und die paar Auserwählten der ersten Klasse – inmitten des traumatischen Grollens und Kerosingestanks und des fernen, kreischenden Geschreis der in den Motoren gefangenen Furien ihre Gedanken zu einem einzigen vereinigt hatte, um die Maschine in die Luft zu zwingen wie das Publikum eines Illusionisten, das per Willenskraft einen Löffel zu biegen versucht.

Und natürlich bog sich der Löffel jedes einzelne Mal, stets neigte sich sein Kopf hinab wie die schwere Blüte einer Tulpe. Und wenn sich auch nicht jedes einzelne Flugzeug in die Luft erhob – unseres tat es an diesem Abend. Mütter verteilten Malbücher und kleine Tütchen mit Knabbereien, in denen sich krümeliger Bodensatz gebildet hatte; Geschäftsmänner klappten Laptops auf und warteten darauf, dass die flackernden Bildschirme zur Ruhe kamen. Der getarnte Flugsicherheitsbegleiter, wenn er denn an Bord war, aß, streckte sich und legte sich seine Pistole unter einem kleinen, rechteckigen Stück statisch aufgeladener Kunstfaserdecke zurecht, und unser Flieger erhob sich in den Himmel, bis er in der gewünschten Höhe hing, und ich fasste endlich den festen Entschluss, meinen Mann zu verlassen. Endgültig. Mit absoluter Sicherheit. Einhundertprozentig. Unsere drei Kinder waren fort, fort, fort, alle aus dem Haus, und es gab nichts, das meine Meinung ändern, mich kneifen lassen würde.

Er sah plötzlich zu mir herüber, betrachtete mein Gesicht und sagte: »Ist irgendwas? Du siehst ein bisschen … ich weiß nicht, wie, aus.«

»Nein, es ist nichts«, erwiderte ich. »Jedenfalls nichts, worüber man jetzt reden müsste.« Das reichte ihm als Antwort; während er sich wieder seinem Teller mit Keksen zuwandte, blähte ein kurzes Aufstoßen seine Wangen wie die eines Frosches. Es war nicht einfach, diesen Mann aus der Ruhe zu bringen; er hatte alles, was er sich nur wünschen konnte.

Er war Joseph Castleman, einer jener Männer, denen die Welt gehört. Sie kennen diese Sorte Mann: diese wandelnden Werbebanner für sich selbst, diese schlafwandelnden Riesen, die durch die Welt ziehen und dabei andere Männer, Frauen, Möbelstücke, Dörfer aus dem Weg räumen. Warum sollte sie irgendetwas kümmern? Es gehört alles ihnen, die Meere und die Gebirge, die bebenden Vulkane, die sich anmutig dahinschlängelnden Flüsse. Diese Sorte Mann kommt in unterschiedlichen Darreichungsformen daher: Joe war die Schriftstellerversion, ein klein gewachsener, überdrehter Romancier mit Hängebauch, der so gut wie nie schlief, der Weichkäse, Whiskey und Wein liebte und mit allen dreien die Pillen hinunterbeförderte, die seine Blutlipide daran hinderten zu gerinnen wie über Nacht in der Pfanne gelassene Fettreste, der der unterhaltsamste Mensch war, den ich kannte, der nie gelernt hatte, wie man für sich selbst oder andere sorgt, und der seinen Stil und seine Umgangsformen größtenteils Dylan Thomas entliehen hatte.

Da saß er nun also neben mir auf dem Finnair-Flug 702, und jedes Mal wenn die Brünette mit irgendetwas zu ihm kam, nahm er es an, völlig egal, ob es sich um Kekse, geröstete Erdnüsse, ein Paar schwammartiger Einwegpantoffeln oder einen dampfenden, eng wie eine Thora zusammengerollten Waschlappen handelte. Hätte diese verführerische Keksfrau sich obenrum freigemacht und ihm eine ihrer Brüste angeboten, die Brustwarze mit der Autorität einer Stillberaterin in seinen Mund geschoben, er hätte sie ohne das geringste Zögern angenommen.

Man kann davon ausgehen, dass die Männer, denen die Welt gehört, sexuell hyperaktiv sind – nur nicht unbedingt mit ihren Ehefrauen. Früher, in den Sechzigern, waren Joe und ich ständig in irgendwelche Betten gehüpft, hatten manchmal sogar während der lauen Phase einer Cocktailparty irgendjemandes Schlafzimmertür verbarrikadiert, um einen Berg aus Mänteln zu erklimmen. Draußen wurde gegen die Tür gehämmert, die Leute wollten ihre Mäntel wiederhaben, und wir lachten, ermahnten uns gegenseitig, leise zu sein, und versuchten, unsere Reißverschlüsse zu schließen und alle losen Zipfel unserer Kleidung irgendwie unterzubringen, bevor wir sie hereinließen.

So etwas hatten wir lange nicht mehr getan, aber wenn Sie uns in diesem Flugzeug auf dem Weg nach Finnland gesehen hätten, hätten Sie uns für ein zufriedenes Paar gehalten, hätten geglaubt, dass wir uns nachts noch immer gegenseitig an unseren schwabbeligen Körperteilen berührten.

»Sag mal, willst du noch ein Kissen dazu?«, fragte er mich.

»Nein, ich hasse diese Puppenkissen«, sagte ich. »Ach, und vergiss nicht, deine Beine zu strecken, wie es Dr. Krentz gesagt hat.«

Sie hätten uns gesehen – Joan und Joe Castleman, wohnhaft in Weathermill, New York, momentan Platz 3A und 3B – und ganz genau gewusst, warum wir nach Finnland reisten. Sie hätten uns vielleicht sogar beneidet – ihn um die Kraft, die in seinem massigen, mit leichten Gebrauchsspuren versehenen Körper luftdicht eingeschlossen war, und mich darum, dass ich rund um die Uhr Zugang dazu hatte, so als wäre ein berühmter und brillanter Schriftstellerehemann eine Art Gemischtwarenladen für seine Frau, in dem sie sich jederzeit eine große Dose verblüffenden Intellekt, Schlagfertigkeit und Aufregung holen konnte.

Die Leute hielten uns in aller Regel für ein »gutes« Paar, und das mochte auch irgendwann einmal so gewesen sein, vor langer, langer Zeit, damals, als in Lascaux die ersten Höhlenmalereien an die Wände gekritzelt wurden, als die Welt noch nicht erschlossen und kartografiert und alles noch voller Hoffnung war. Doch schon bald hatten wir die Pracht und die Eigenliebe aller jungen Paare hinter uns gelassen und waren in jenen von Algen durchzogenen Sumpf aufgebrochen, den man taktvoll als die »zweite Lebenshälfte« bezeichnet. Auch wenn ich heute vierundsechzig und für Männer größtenteils so unsichtbar wie ein paar herumwirbelnde Staubflocken bin, war ich doch einmal eine schlanke, vollbusige Blondine, deren Schüchternheit Joe anzog wie ein hypnotisiertes Huhn.

Ich bilde mir nichts darauf ein; Joe wurde immer schon von Frauen angezogen, allen Arten von Frauen, von dem Moment an, als er im Jahr 1930 die Welt durch den Windkanal der Geburtsorgane seiner Mutter betreten hatte. Lorna Castleman, die Schwiegermutter, die ich niemals kennenlernte, war übergewichtig, auf eine sentimentale, dichterische Weise empfindsam und so besitzergreifend, dass sie ihren Sohn mit einer Exklusivität liebte, die sonst den romantisch Liebenden vorbehalten ist. (Andere aus der Gruppe der Männer, denen die Welt gehört, wiederum wurden ihre ganze Kindheit über ignoriert und standen mittags ohne Pausenbrot auf trostlosen Schulhöfen herum.)

Nicht nur Lorna liebte ihn, sondern auch ihre beiden Schwestern, mit denen sie sich die Wohnung in Brooklyn teilte, in der auch noch Joes Großmutter Mims lebte, eine Frau von der Größe einer Fußbank, deren Errungenschaften sich darauf zu beschränken schienen, dass sie eine »sensationelle Rinderbrust« zubereiten konnte. Martin, sein Vater, ein ununterbrochen seufzender, lebensuntauglicher Mann, erlag in seinem Schuhladen einem Herzinfarkt, starb mit einem Paar Sattelschuhe in der Hand, als Joe sieben Jahre alt war, und ließ ihn als Gefangenen in dieser seltsamen weiblichen Zivilisation zurück.

Charakteristisch war die Art und Weise, wie sie ihm mitteilten, dass sein Vater gestorben war. Als Joe von der Schule nach Hause kam, fand er die Wohnungstür geöffnet vor und ging hinein. Es war sonst niemand dort, was ungewöhnlich war für eine Wohnung, in der sich immer irgendeine Frau geschäftig wie ein Heinzelmännchen irgendeiner Tätigkeit annahm. Joe setzte sich an den Küchentisch und aß ein Stück Biskuitkuchen, auf die verträumte, betäubte Art, die Kindern manchmal eigen ist, ein Sternbild aus Krümeln auf Lippen und Kinn.

Bald wurde die Wohnungstür wieder aufgestoßen, und die Frauen drängten herein. Joe hörte, wie jemand weinte, wie sich jemand emphatisch schnäuzte, und dann erschienen sie in der Küche, scharten sich um den Tisch. Ihre Gesichter waren entflammt, die Augen blutunterlaufen, die sorgfältig errichteten Frisuren zerstört. Etwas Bedeutendes war passiert, das wusste er, und ein Gefühl von Drama durchlief ihn; im ersten Moment fühlte es sich beinahe angenehm an, doch das würde sich bald ändern.

Lorna Castleman kniete sich neben den Stuhl ihres Sohnes, so als wollte sie ihm einen Antrag machen. »Ach, mein tapferer kleiner Junge«, flüsterte sie heiser und stippte ihm mit dem Finger Krümel von den Lippen, »jetzt sind nur noch wir da.«

Und es waren wirklich nur noch sie da, die Frauen und der Junge. Er war inmitten dieser weiblichen Welt ganz und gar auf sich allein gestellt. Tante Lois war eine Hypochonderin, die ihre Tage im Beisein eines medizinischen Nachschlagewerks fristete und sich in den sinnlichen Namen der unterschiedlichen Krankheiten erging. Tante Viv war mannstoll und frivol; wann immer sie sich umdrehte, gab ein geöffneter Reißverschluss den Blick auf einen weißen Rückenstreifen frei. Im Zentrum des Geschehens befand sich stets die winzige, uralte Oma Mims, die das Kommando über die Küche innehatte und ein Fleischthermometer so triumphierend aus einem Braten zu ziehen vermochte, als wäre es das Schwert Excalibur.

Joe konnte nicht viel mehr tun, als die Wohnung zu durchstreifen wie ein Überlebender eines Flugzeug- oder Zugunglücks, an das er sich selbst nicht mehr erinnern konnte, und nach anderen Überlebenden mit Amnesie zu suchen. Aber es gab keine; da war nur er, der geliebte Junge, der irgendwann einmal groß werden und sich in einen dieser Verräter, dieser in Aftershave gebadeten Ratten verwandeln würde. Lorna fühlte sich vom frühen Tod ihres Mannes hintergangen, der sich ohne jede Vorwarnung vollzogen hatte. Tante Lois fühlte sich von ihrer eigenen Gefühllosigkeit hintergangen, von der Tatsache, dass sie niemals etwas für einen Mann empfunden hatte, abgesehen von Clark Gable, den sie aus der Ferne bewunderte, Clark Gable mit seinen breiten Schultern und den abstehenden Ohren, die wie gemacht zu sein schienen, um sich beim Sex daran festzuhalten. Tante Viv fühlte sich von Legionen von Männern hintergangen – schläfrigen, verführerischen, spielerischen Männern, die sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anriefen oder ihr Briefe aus Übersee schickten, wo sie stationiert waren.

Die Frauen um Joe herum wurden nicht müde zu beteuern, dass sie eine Stinkwut auf Männer hätten, aber sie beteuerten ebenso sehr, dass er von dieser Wut ausgenommen sei. Ihn liebten sie. Man konnte ihn ohnehin noch nicht als Mann bezeichnen, diesen aufgeweckten kleinen Jungen, dessen Genitalien an Marzipanfrüchte erinnerten, der so dunkle, mädchenhafte Locken hatte und für sein Alter so gut lesen konnte, aber nicht mehr gut schlafen, seit sein Vater gestorben war. Abends wälzte er sich immer eine Zeit lang im Bett herum und versuchte an etwas Schönes wie Baseball oder die bunten, einladenden Seiten von Comicheften zu denken, doch am Ende stellte er sich immer vor, wie Martin, sein Vater, im Himmel auf einer Wolke stand und traurig eine Hand ausstreckte, ein Paar Sattelschuhe darin, die noch in ihren Karton gebettet waren.

Irgendwann gegen Mitternacht gab Joe dann seiner Schlaflosigkeit nach, stand auf und ging in das finstere Wohnzimmer, um, allein auf dem Flickenteppich sitzend, eine Runde mit seinen Astragalen zu spielen. Tagsüber saß er auf demselben Läufer, zu Füßen der Frauen, die ihre Pumps von den Füßen kickten. Während er ihren sich überlagernden Klageliedern lauschte, wurde ihm bewusst, dass er auf eine unausgesprochene Weise der Herr im Haus war und es immer sein würde.

Als Joe schließlich das Nest verließ, stellte er fest, dass er erstens enorm erleichtert und zweitens mit allem Wissen ausgestattet war, das er brauchte. Er wusste nun einige Dinge über Frauen: Er war mit ihren Seufzern vertraut, mit ihrer Unterwäsche, ihren monatlichen Miseren, ihrer ewigen Suche nach Schokolade, ihren spitzen Bemerkungen und spitzen pinken Lockenwicklern, dem Zeitstrahl ihrer Körper, von denen er jedes kleinste unerfreuliche Detail gesehen hatte. All das würde auf ihn warten, wenn er sich eines Tages in eine Frau verlieben sollte. Er würde mit ansehen müssen, wie sie sich mit der Zeit verändern und in sich zusammenfallen würde; er wäre machtlos dagegen. Sicher, zu Anfang mochte sie begehrenswert sein, aber eines Tages wäre sie nichts weiter als eine Rinderbrustverteilstelle. Also beschloss er zu vergessen, was er wusste, so zu tun, als wäre das Wissen nie in seinen perfekten kleinen Schädel eingedrungen, und er ließ dieses rein weibliche Tanzensemble hinter sich und bestieg den knarrenden Bahnwagen, der Menschen aus ihren unbedeutenderen Stadtteilen heraus- und in das aufregende Chaos des einzigen Stadtteils hineinfegt, der wirklich von Bedeutung ist: Staten Island.

Kleiner Scherz.

Manhattan, 1948. Joe entsteigt dem Dunst der U-Bahn und durchschreitet die Tore der Columbia University, wo er auf weitere intelligente, beseelte Jungen trifft. Er schreibt sich für das Hauptfach Englisch ein, wird Redaktionsmitglied der universitätseigenen Literaturzeitschrift und veröffentlicht unmittelbar darauf eine Kurzgeschichte über eine alte Frau, die auf ihr Leben in einem russischen Dorf zurückblickt (wurmstichige Kartoffeln, abgefrorene Zehen usw. usf.). Die Geschichte ist unfreiwillig komisch und ziemlich schlecht geschrieben, wie die Kritiker später feststellen werden, die sich durch ganze Kisten seiner frühen Schriften wühlen. Einige von ihnen werden jedoch unterstreichen, dass die Überschwänglichkeit von Joe Castlemans Prosa bereits darin angelegt ist. Er ist ganz zittrig vor Aufregung, er liebt sein neues Leben, genießt das fiebrige Vergnügen, das es ihm bereitet, mit seinen College-Freunden ins Ling Palace in Chinatown zu gehen und seine ersten Garnelen in Sojasoße zu essen – seine ersten Garnelen überhaupt zu essen, denn nichts, was in einem Panzer lebt, ist je zwischen Joe Castlemans Lippen gelangt.

Denselben Lippen werden bald auch zum ersten Mal Lippen und Zunge eines weiblichen Wesens dargereicht, und als er kurze Zeit später seiner Jungfräulichkeit enthoben wird, geschieht das mit der Präzision einer zahnärztlichen Extraktion. Die Entfernende ist ein stets etwas mitleidheischendes, aber energisches Mädchen namens Bonnie Lamp, das am Barnard College studiert, wo es, Joe und seinen Freunden zufolge, ein Leistungsstipendium in Nymphomanie erworben hat. Joe ist fasziniert von der rehäugigen Bonnie Lamp, von dem erstaunlichen Geschlechtsakt und damit auch von sich selbst. Und warum sollte er es auch nicht sein, wo es doch alle anderen sind.

Während er mit Bonnie schläft, in sie eindringt und langsam wieder zurückweicht, beeindrucken ihn die rhythmischen kleinen Klickgeräusche, die ihre ineinander verschränkten Körperteile von sich geben, wie die Absätze einer Sekretärin, die in der Ferne über Linoleum geht. Er ist auch fasziniert von den Geräuschen, die Bonnie Lamp in anderen Situationen macht. Ihr Miauen im Schlaf erinnert ihn an eine Katze, und er betrachtet sie mit einer merkwürdigen Mischung aus Zärtlichkeit und Herablassung, während er sich vorstellt, dass sie von einem Wollknäuel oder einer Schale Milch träumt.

Ein Wollknäuel, eine Schale Milch und Du, o Du, denkt er, verliebt in Worte, verliebt in Frauen. Ihre weichen Körper faszinieren ihn – all die Wölbungen und schwungvollen Bögen. Sein eigener Körper fasziniert ihn nicht weniger, und wenn sein Mitbewohner nicht da ist, nimmt Joe den Spiegel von dem Nagel an der Wand und betrachtete sich lange darin: seine Brust mit dem achtlos darübergestreuten dunklen Haar, den Torso, den Penis, überraschend groß für eine so klein gewachsene, drahtige Person.

Er stellt sich seine lang zurückliegende Beschneidung vor, sieht sich in den Armen eines seltsamen, bärtigen Mannes zappeln, sieht, wie ihm ein dicker, in koscheren Wein getunkter kleiner Finger in den Mund gesteckt wird, wie er wild daran saugt, nach weiterer nicht existenter Flüssigkeit sucht, nur eine von Wirbeln überzogene Oberfläche findet, ohne ein verstecktes kleines Loch, aus dem Milch strömen könnte. In seiner Vorstellung ist er benebelt von dem süßen Wein, der sich um seine Kehle legt und die stolz dreinblickenden Gesichter um ihn herum miteinander verschmelzen lässt. Seine acht Tage alten Augen schließen sich, öffnen sich und schließen sich wieder, und achtzehn Jahre später erwacht er als erwachsener Mann.

Die Erde dreht sich weiter für Joe Castleman, und er bleibt zum Graduiertenkolleg an der Columbia University, und während dieser Zeit verändert sich etwas um ihn herum. Es ist nicht nur der Wechsel der Jahreszeiten, es sind auch nicht die immer neu entstehenden Gebäude, die unter den Gitterlinien ihrer Gerüste aufblühen. Und es sind auch nicht die kleinen sozialistischen Versammlungen, an denen Joe teilnimmt, obwohl es ihm widerstrebt, jemand zu sein, der mitmacht, obwohl er es hasst, Teil einer Gruppe zu sein, und sei es zugunsten einer Sache, an die er glaubt, wie er an diese glaubt, während er mit ernstem Gesicht im Schneidersitz auf irgendeinem muffigen Teppich hockt und einfach nur zuhört, nur das Gesagte in sich aufnimmt, ohne selbst etwas dazu beizusteuern. Es ist auch nicht nur der sich beschleunigende Trommelrhythmus, mit dem die Bohème der frühen Fünfziger Joe in enge, spärlich beleuchtete Bongoschuppen lockt, wo eine augenblickliche und lebenslange Liebe zum Grasrauchen in ihm erwacht. Es liegt vielmehr daran, dass die Welt sich ihm öffnet, dass sie ihm wirklich offensteht und er in sie hineingeht, mit den Händen leicht über die glatten Rippen ihrer Höhlenwände streicht und ein trockenes Bad in ihrem silbernen Licht nimmt.

Es hat in unserer Ehe Momente gegeben, in denen Joe sich seiner Macht nicht bewusst zu sein schien, und es waren seine besten Momente. Mit den mittleren Jahren wurde er feist und kleidete sich nachlässig, trottete in einem beigen Fischerpullover durch die Gegend, der seinen Bauch nie kaschierte, ihn nur beim Gehen duldsam wiegte und frei schwingen ließ, wenn er Wohnzimmer, Restaurants oder Hörsäle betrat oder in Schuylers Gemischtwarenladen in unserer Heimatstadt Weathermill, New York, auftauchte, um seinen Vorrat an Hostess Sno-Balls aufzufrischen, jenen pinken, in Kokossplitter getunkten, durch und durch künstlichen Marshmallow-Kuppeln, denen er unerklärlicherweise verfallen war.

Stellen wir uns vor, wie Joe Castleman an einem Samstagnachmittag bei Schuyler eine zellophanierte Packung seiner Lieblingssüßigkeit kauft und gütig den arthritischen Ladenhund tätschelt.

»Tag, Joe«, sagt Schuyler, ein dürrer alter Mann mit einem delftblauen, triefenden Auge. »Was macht die Kunst?«

»Ach, ich gebe alles, Schuyler«, antwortet Joe mit einem tiefen Seufzer. »Und das ist nicht besonders viel.«

Joe konnte immer gut an sich zweifeln. Die gesamten Fünfziger, Sechziger, Siebziger, Achtziger und die erste Hälfte der Neunziger hindurch gab er sich als verletzlicher, leidender Künstler, ganz gleich, ob er gerade betrunken oder nüchtern, gut oder schlecht rezensiert, geschmäht oder geliebt war. Aber was genau war die Quelle seines Leidens? Anders als bei seinem alten Freund, dem angesehenen Romancier Lev Bresner, einem Holocaust-Überlebenden und gewissenhaften Chronisten der eigenen Kindheit als Insasse eines Konzentrationslagers, war für Joes Unglück niemand Bestimmtes verantwortlich. Lev, mit den glänzenden, tiefgründigen Augen, hätte statt des Nobelpreises für Literatur den für Traurigkeit bekommen sollen. (Auch wenn ich immer Bewunderung für Lev Bresner empfunden habe, halte ich seine Romane doch für etwas überschätzt. Aber das laut auszusprechen, zum Beispiel bei einem Abendessen mit Freunden, wäre in etwa so, als würde man aufstehen und verkünden: »Ich lutsche gern an kleinen Jungs.«) Es ist nicht seine literarische Stimme, sondern Levs Thema, das einen zurückzucken und zittern und sich vor der jeweils nächsten Seite fürchten lässt.

Levs Pein ist echt; vor langer Zeit, als Joe und ich noch regelmäßig Gäste empfingen, blieben er und seine Frau Tosha häufig übers Wochenende, und dann legte er sich oft mit einem Eisbeutel auf unser Wohnzimmersofa, und ich sagte den Kindern, sie sollten still sein, und sie zerrten ihr lärmendes Spielzeug aus dem Zimmer, die Puppe mit ihren schnatternden Liebeserklärungen und den kleinen hölzernen Spaniel, der klackernd über den Boden rollte, wenn man ihn an einer Schnur hinter sich her zog.

»Lev braucht Ruhe«, sagte ich zu ihnen. »Geht nach oben, Mädels. Los, du auch, David.« Die Kinder blieben dann noch einen Augenblick lang am Fuß der Treppe stehen, reglos, gebannt. »Wird’s bald?«, trieb ich sie an, und schließlich setzten sie sich widerstrebend in Bewegung.

»Dahnkeh, Joan«, sagte Lev mit schwerer Stimme. »Ich bin erschöpft.«

Er sagte es, und es wurde ihm gestattet. Man hätte Lev Bresner alles gestattet.

Joe dagegen konnte niemals behaupten, erschöpft zu sein. Wovon hätte er erschöpft sein sollen? Im Gegensatz zu Lev hatte ihm das Leben die traumatische Erfahrung des Holocaust erspart; er war ihm mühelos entgangen, indem er einfach nur ein bezaubernder kleiner Junge gewesen war, der in Brooklyn mit seiner Mutter und seinen Tanten Karten spielte, während Hitler im Stechschritt über einen anderen Kontinent hinwegmarschierte. Während des Koreakriegs hatte Joe sich dann bei der Grundausbildung versehentlich mit einem Karabiner in den Knöchel geschossen, woraufhin er im Lazarett zehn Tage lang von Krankenschwestern umsorgt wurde und die Haut von Tapiokapudding kratzte, bevor man ihn wieder nach Hause schickte.

Nein, dem Krieg konnte er nicht die Schuld an seinem Elend geben – also gab er sie seiner Mutter, der Frau, die ich nie getroffen habe, die Joe mir aber im Laufe der Jahre bis ins Detail beschrieben hat.

Eine Sache, die ich über Lorna Castleman weiß, ist, dass sie im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern und ihrer Mutter dick war. Wenn du sehr jung bist, kann dir eine dicke Mutter ein Gefühl von Sicherheit geben, dich womöglich sogar stolz machen. Du entflammst geradezu vor Stolz bei dem Gedanken, dass deine Mutter die größte, umfangreichste ist, die du kennst; auf die Freundinnen deiner Mutter, diese kläglichen Hungerhaken, die kaum einer Umarmung standhalten, schaust du voll Hochmut und Widerwillen hinab.

Später überträgst du dieses Gefühl Joe zufolge auf deinen Vater. Dein Vater sollte nach Möglichkeit groß und unerschütterlich sein, ein breitschultriges Wunder von einem Mann, der dich in sein Büro oder sein Geschäft mitnimmt oder wo auch immer er seine grauen, männlichen Tage verbringt, wo er dich in die Luft hebt und die Frauen, die auch dort arbeiten, um dich herum scharwenzeln und dir fusselige Bonbons zustecken, wahrscheinlich von der Sorte, die keiner mag: Ananas. Dein Vater sollte ein Kraftwerk sein; über den schimmernden, sich rasch vergrößernden Fleck auf seinem Schädel und die grunzenden Geräusche, die er von sich gibt, während er seine tägliche Portion gebratener Leber verzehrt, kannst du hinwegsehen. Er redet vielleicht nicht viel und zieht sich oft zurück, aber er ist noch immer stark wie ein Ackergaul, und wenn sein Urinstrahl das Porzellan trifft, dann lässt er das Wasser darin erzittern, und es klingt wie ein Bach, der sich wundersamerweise durch alle Straßen Brooklyns schlängelt.

Dafür graut es dir inzwischen vor deiner dicken Mutter, dieser Frau, die sich mit Leichtigkeit innerhalb von zehn Minuten durch einen ganzen Schokoladenkuchen futtern kann, wie sie in Ebinger’s Bakery in den grünen Kartons mit den kleinen Sichtfenstern stehen – die dick darauf gespachtelte Glasur, das poröse, pechschwarze Innere –, ohne Gewissensbisse zu haben. Du fühlst dich abgestoßen von der Mutter, mit der du immer durchs Viertel spaziert bist; sie war stets geschminkt und parfümiert, eher stattlich als dick: ein wandelndes Sofa.

Du hast sie geliebt wie verrückt, wolltest sie heiraten, fragtest dich, ob das ginge, ob es theoretisch möglich wäre, dass du eines Tages neben ihr stündest und einen Ring an ihren Finger zu stecken versuchtest, ob du ihrer würdig wärst. Lorna, deine Mutter in ihren kunterbunten Blumenkleidern, die sie in Flatbush in einem Geschäft namens La Beauté House of Discount Fashions kaufte, sie bedeutete dir alles.

Aber jetzt ist das Leben anders. Plötzlich wünschst du, deine Mutter wäre klein und zierlich. Haut und Knochen. Schmal. Kleidergröße XS. Zerbrechlich, aber schön. Wieso kann sie nicht ein bisschen mehr wie Manny Gumperts Mutter aussehen, eine elegante Frau mit einem Körper, so klein und verdichtet wie der eines Kolibris. Wieso kann sie nicht einfach verschwinden?

Aber das tat sie nicht, nicht für lange, lange Zeit. Nachdem der arme Martin Castleman in seinem Schuhladen tot umgefallen war, auf seinem niedrigen Plastikstühlchen zusammengesackt war, das Bein eines Mädchens zwischen die seinen geklemmt, einen Karton mit Sattelschuhen in der Hand, war Joe jahrelang mit seiner Mutter und den anderen Frauen allein. Sie blieb ein Teil seines Lebens, bis Joe vollständig erwachsen war und Carol, seine erste Frau, heiratete; erst dann, erst als sie durch Joes und Carols Hochzeitsfeier kreiselte, verschwand Lorna. Es war ein Herzinfarkt aus heiterem Himmel, genauso wie der ihres Mannes, der Joe zur Waisen machte und im Bewusstsein der defekten Pumpe zurückließ, die er von ihnen beiden geerbt hatte. Der Tod seiner Mutter sei eine sehr verstörende Erfahrung gewesen, sagte Joe, wenn auch weniger traumatisch als der seines Vaters.

Aber an dieser Stelle muss ich gestehen: Als er mir die Geschichte erzählte, war mein erster, schrecklicher Gedanke: Gutes Material.

Ich stellte mir seine korpulente Mutter vor, in bester Laune, vor Aufregung gerötet, die Tanten mit ihren eleganten Kostümen und kleinen Handtäschchen, die Kellner, die mit ihren Tabletts voll Regenbogensorbet in geeisten Silberbechern die Runde machten; ich konnte sogar die an- und abschwellende Klezmer-Musik hören, zu der Joe und Carol, seine Braut, tanzten.

»Eins verstehe ich nicht«, sagte ich einmal zu ihm, irgendwann zu Beginn unserer eigenen Ehe. »Wieso hast du Carol überhaupt geheiratet?«

»Das hat man damals eben so gemacht«, gab er zur Antwort.

Das Problem war nur – oder zumindest beschloss Joe später, dass dies das Problem gewesen war –, dass Carol verrückt war. Richtig irrenhausmäßig verrückt, eine Bekloppte wie aus dem Bilderbuch. Über die erste Frau eines Mannes können Sie das getrost sagen, und alle Männer im Raum werden eifrig dazu nicken; sie wissen ganz genau, was gemeint ist. Erste Frauen sind immer Verrückte – die Art Verrückte, die ausrastet und wild mit den Augen rollt. Sie krümmen sich, sie stöhnen, sie explodieren von einem Moment auf den anderen, fallen in sich zusammen, lösen sich vor deinen Augen auf. Wahrscheinlich, sagte Joe, sei Carol bereits irre gewesen zu dem Zeitpunkt, als er ihr morgens um zwei in einem gottverlassenen Nachtcafé das erste Mal über den Weg gelaufen sei, einem dieser hopperesken Orte, an denen jeder, der über dem frisch gewienerten Tresen hängt, so aussieht, als würde er dir seine ganze tragische Lebensgeschichte erzählen, wenn du den Fehler begehst, ihm zuzuhören.

Doch Joe hatte es Carol nicht gleich angemerkt. Er hatte die Grundausbildung und die Verletzung, die er sich versehentlich selbst beigebracht hatte, gerade hinter sich gelassen, war allein und offen, und als er sie in jener Nacht zum ersten Mal sah, erlag er der seltsamen Anziehungskraft dieser kindlich wirkenden Frau mit dem braunen, zu einem sauberen Pony geschnittenen Haar und den Beinen, die nicht einmal bis zum Boden reichten. In ihren kleinen Puppenhänden hielt sie ein dickes Buch: Simone Weils gesammelte Schriften. Genauer gesagt, waren es die Écrits von Simone Weil, in der französischen Originalfassung. Er war augenblicklich beeindruckt und beschwor das einzige bisschen obskures Wissen herauf, das er über Simone Weil besaß – vielleicht war es nicht mehr als eine anekdotische Legende, aber der Kommilitone, der es ihm erzählt hatte, hatte geschworen, dass es stimme.

»Wussten Sie«, sagte er zu dem Mädchen namens Carol Welchak, das zufällig auf dem Barhocker neben ihm saß, »dass Simone Weil sich vor Obst fürchtete?«

Sie sah ihn skeptisch an. »Vor Obst. Natürlich.«

»Doch, doch, ist wirklich wahr«, beharrte Joe. »Ich schwöre es bei Gott. Simone Weil hatte Angst vor Obst. Man könnte sie als fructophob bezeichnen.«

Sie fingen beide an zu lachen, und das Mädchen nahm einen Orangenschnitz in die Hand, der unbeachtet neben den Pfannkuchen auf seinem Teller gelegen hatte. »Komm, Simone, ma chérie«, sagte sie mit französischem Akzent. »Komm und probier die leckere Orange!«

Joe war bezaubert. Was für ein Fundstück! Offenbar war die Welt voll von Mädchen wie ihr, die alle in kleinen Töpfchen vor sich hin schmorten und nur darauf warteten, von Männern entdeckt zu werden, die vorbeikamen, den Deckel hoben und tief einatmeten.

»Also, was machen Sie hier ganz allein, mitten in der Nacht?«, fragte er sie. Zu seiner anderen Seite kratzte sich ein Hafenarbeiter den mit Ausschlag überzogenen Hals; Joe schreckte zurück und versuchte, näher an das Mädchen heranzurutschen, was aber natürlich nicht ging, weil sein Hocker am Linoleumboden festgeschraubt war.

»Ich flüchte vor meiner Mitbewohnerin«, sagte Carol. »Sie spielt Harfe und übt die ganze Nacht lang. Manchmal wache ich auf, bevor es hell wird, und dann denke ich eine Minute lang, dass ich gestorben bin und die Engel am Fußende von meinem Bett herumschwirren und musizieren.«

»Das muss eine große Befriedigung sein«, sagte Joe. »Zu glauben, dass es wirklich einen Himmel gibt und dass man hereingelassen wurde.«

»Ach, glauben Sie mir«, sagte Carol, »die Befriedigung, ins Sarah Lawrence hineinzukommen, war bedeutend größer.«

»Ah, ein Sarah-Lawrence-Mädchen«, sagte er erfreut und entschied im selben Moment, dass sie als Kunsthochschulstudentin eine sehr kreative Person sein musste, deren Hände ständig mit Acrylfarbe aus dem Kunstseminar und Ambrosia von irgendeinem mitternächtlichen Wintersonnenwendritual befleckt waren. Er stellte sie sich außerdem als eine jener mongolischen Sexualakrobatinnen vor, von denen er gelesen hatte – Saltos schlagend, die sie wundersamerweise genau auf seinem Penis landen lassen würden: ka-tsching!

»Na ja, ich war eins«, sagte sie. »Ich bin mit dem Studium fertig. Also, sagen Sie mir, wer Sie auch sein mögen«, fuhr sie fort, »was machen Sie hier, mitten in der Nacht?«

Es war klar ersichtlich, dass sie es nicht begriff, noch nicht wusste, dass Männer wie Joe – dreiste Männer, die in den freien Vers ihrer eigenen Stimme und den verschmierten Glanz ihres eigenen Spiegelbildes auf ihren Schuhen verliebt waren – mitten in der Nacht gottverlassene Nachtcafés aufsuchten, ganz einfach, weil sie es konnten. Und New York war zu diesem Zeitpunkt, 1953, ein spektakulärer Ort, um als junger Mann nachts darin umherzustreifen. Die Stadt bestand aus Leuchtschrift und Brückenlichtern und Dämpfen, die in Schachbrettmustern durch die Lüftungsgitter aus der U-Bahn auf die Straße drangen. An jeder Straßenlaterne schienen sich hingebungsvoll küssende Paare strategisch platziert worden zu sein.

»Was ich hier mache?«, antwortete Joe. »Ich leide unter Schlaflosigkeit. Weil ich nachts nicht schlafen kann, stehe ich auf und gehe spazieren. Was ich mache, ist so zu tun, als wäre die ganze Stadt meine Wohnung. Da drüben ist das Badezimmer« – er zeigte aus dem Fenster – »und dort hinten steht der Kleiderschrank, in dem meine Jacketts hängen.«

»Dann muss das hier wohl die Küche sein«, sagte Carol. »Und Sie sind gerade hereingekommen, um sich eine Tasse Kaffee zu holen.«

»Ganz genau«, sagte er und lächelte sie an. »Schauen wir doch mal, ob ich noch etwas im Kühlschrank habe.«

Sie schaukelten auf ihren Hockern rastlos hin und her, ein kleiner Paarungstanz. Dann ließen sie die Rechnung kommen, bezahlten und nahmen sich beide eine Handvoll der mit Puderzucker bestäubten kissenförmigen Pfefferminzbonbons, wie sie aus irgendeinem Grund in einem geflochtenen Strohkörbchen neben jeder Kasse in jedem Nachtcafé der Welt liegen, so als hätten sich alle Nachtcafébesitzer versammelt und gemeinsam einen Beschluss gefasst. Und dann hielt er ihr die Tür auf, und sie gingen gemeinsam in die Nacht hinaus. Mit Joe an ihrer Seite, der ebenso wie sie ein Mintkissen lutschte, um seinen Mund für den Kuss frischzumachen, der früher oder später kommen würde, vermochte Carol die spätnächtliche Wildheit der Stadt auf eine Weise zu genießen, wie es ihr allein nie gelungen war. Welch eine beglückende Erfahrung, sich entspannen zu können, sich nicht sorgen zu müssen, Teil von etwas so Riesigem, Lebendigem zu sein. Die Nacht war kalt, und die Spitzen der Gebäude sahen aus wie frisch angespitzt. Er hielt ihre kleine weiße Hand und führte sie durch die verlassenen Straßen wie durch sein Zuhause, denn er war einer jener Männer, und es gehörte alles ihm.

»Wir landen jetzt bald«, sagte die brünette Stewardess in beinahe entschuldigendem Ton, während sie den Mittelgang unseres Flugzeugs entlangschlenderte. Nach mittlerweile neun Stunden Flug hatte sich das saubere, mit Erwartungen aufgeladene Vergnügen, das es zu Beginn gewesen war, in die unleidliche, unruhige Schmuddeligkeit verwandelt, die sich einstellte, wenn man sich zu lange auf zu kleinem Raum aufhielt. Die ehemals so aseptische Luft beherbergte jetzt eine Million Fürze, Mais-Chips und feuchte Waschlappen. Die Kleider waren zerknittert, die Sitze oder zusammengeknüllten Jacken, auf denen die Leute geschlafen hatten, hatten Falten auf ihren Wangen hinterlassen. Und selbst die brünette Stewardess, die eingangs so verführerisch auf Joe gewirkt hatte, sah inzwischen wie eine müde Hure aus, die auf den Feierabend wartet. Sie hatte keine Kekse mehr anzubieten; ihr Korb war leer. Stattdessen kehrte sie auf ihren Platz im hinteren Bereich des Fliegers zurück, und ich sah zu, wie sie sich anschnallte und Atemspray in ihren Mund sprühte.

Wir waren wieder allein. Viele Reihen hinter uns saß, durch einen Vorhang von uns getrennt, Joes Lektorin, Sylvie Blacker, zusammen mit zwei jungen Pressedamen und Joes Agent, Irwin Clay. Joe hatte zu keinem der vier eine besondere Beziehung. Sie waren alle noch frisch; Hal, sein langjähriger Lektor, war gestorben, und sein früherer Agent hatte sich zur Ruhe gesetzt, und Joe war zu anderen Leuten weitergereicht worden, die den Verlag teilweise ebenfalls schon verlassen hatten, und diese Leute hier waren nicht etwa vor Ort, weil sie Joe in irgendeiner Weise nahestanden, sondern weil es sich für sie so gehörte und um durch ihre Anwesenheit einen Teil des Ruhms für sich in Anspruch zu nehmen. Joes Freunde und die restliche Familie waren zu Hause geblieben; er hatte ihnen gesagt, sie müssten nicht mit nach Finnland kommen, es gebe schlicht keinen Grund dafür, er sei bald zurück und werde ihnen dann alles erzählen, und natürlich mussten sie auf ihn hören. Das Flugzeug begann sich durch eine geflochtene Wolkendecke zu senken und brachte Joe, mich und alle anderen in seinem Inneren dem ausklingenden Herbst in einer kleinen, hübschen, unbekannten skandinavischen Stadt näher.

»Alles gut?«, fragte ich Joe, der während der stillen Antiklimax eines Sinkflugs immer etwas ängstlich wurde, wenn es so schien, als setzten die Motoren aus, und das Flugzeug dahintrudelte wie der Balsaholzflieger eines Kindes.

Er nickte und sagte: »Ja, danke, Joan, es geht mir gut.«

Ich hatte ihm die Frage nicht aus echter Sorge gestellt; es war eher eine Art ehelicher Reflex gewesen. Überall auf der Welt fragten Männer und Frauen einander routinemäßig und einigermaßen sinnlos: Alles gut? Es ist Teil der Abmachung; man macht das eben so, denn es impliziert, dass man sich um den anderen sorgt, dass man aufmerksam ist, auch wenn man in Wahrheit von einer tiefen, unerbittlichen Langeweile ergriffen ist. Joe wirkte in der Tat ruhig, wie ich feststellte, wofür allerdings der mangelnde Schlaf wohl zumindest teilweise verantwortlich war. Ich hätte nicht mehr sagen können, wann er zuletzt eine Nacht durchgeschlafen hatte. Er litt an Schlaflosigkeit, seit ich ihn kannte, aber dieser Zustand erreichte jedes Jahr einen krisenhaften Höhepunkt, kurz bevor in Helsinki der neue Preisträger verkündet wurde.

Jedes Jahr aufs Neue hört man die Geschichten von den Preisträgern, die den Telefonanruf für einen Scherz halten. Es gibt legendäre Erzählungen über Schriftsteller, die vom Läuten des Telefons geweckt werden und den Mann mit dem Akzent am anderen Ende beschimpfen, zu ihm sagen: »Wissen Sie, wie spät es ist?« Dann erst, nachdem sie an die Oberfläche des Bewusstseins gestiegen sind, dämmert ihnen, worum es bei dem Anruf geht, dass es kein Scherz ist und dass ihr Leben nie mehr dasselbe sein wird.

Natürlich ging es hier nicht um den Nobelpreis; diese Sache war ein paar Klassen niedriger, ein trotziges Stiefkind, das seinen Ruf im Laufe der Zeit durch die schiere Höhe seiner Preisgelder (das diesjährige entsprach 525 000 Dollar) stetig verbessert hatte. Es war nicht der Nobel, und Finnland war nicht Schweden. Aber es war trotzdem eine außerordentliche Ehre und ein schöner Nervenkitzel. Es hob einen empor – vielleicht nicht in Stockholmer Höhen, aber doch ein Stück weit.

Romanciers, Verfasser von Kurzgeschichten, Dichter – alle hofften sie verzweifelt darauf zu gewinnen. Sobald ein Preis ins Leben gerufen wird, gibt es irgendwo auf der Welt auch einen, der ihn unbedingt haben will. Erwachsene Männer gehen in ihren Häusern auf und ab und zerbrechen sich den Kopf darüber, wie sie etwas gewinnen können, und kleine Kinder hyperventilieren beim Gedanken, mit vergoldeten Pokalen ausgezeichnet zu werden, weil sie so schön schreiben oder schwimmen können – oder einfach, weil sie so gute Stimmung verbreiten. Vielleicht vergeben auch andere Gattungen Auszeichnungen: bester teilnehmender Plattwurm; hilfreichste Krähe.

Mehrere seiner Freunde hatten Joe seit Monaten wegen des Helsinki-Preises in den Ohren gelegen. »Dieses Jahr kriegst du ihn«, sagte sein Freund Harry Jacklin. »Du wirst alt, Joe. Wahrscheinlich fängst du bald an, Hochwasserhosen zu tragen. Sie können es sich nicht leisten, dich zu übergehen. Sie würden ganz schön dumm dastehen.«

»Du meinst wohl, ich würde dumm dastehen«, sagte Joe.

»Nein, sie«, insistierte Harry, dessen Gebiet die Lyrik war, was mit ziemlicher Sicherheit bedeutete, dass er sein Lebtag unbekannt und abgebrannt sein würde, was ihn jedoch nicht daran hinderte, mit allem und jedem um die Wette zu eifern; er war ein übler Spötter, so wie alle Dichter, die Joe kannte. So war es immer: Je kleiner der Kuchen, desto stärker der Drang, ein größeres Stück davon abzubekommen.

»Ich werde ihn nicht bekommen«, sagte Joe zu Harry. »Du erzählst mir seit drei Jahren, dass ich ihn bekomme. Du bist wie der Junge, der so lange ›Feuer!‹ ruft, bis ihm keiner mehr glaubt.«

»Es hat ein bisschen gedauert«, sagte Harry, »aber jetzt habe ich ihre Strategie durchschaut. Weißt du, die haben da in Helsinki gesessen, rohen Fisch gefuttert und einfach abgewartet. Ihr Plan war, dass sie ihn dir geben, wenn du dieses Jahr noch am Leben bist. Du bist politisch korrekt, und darauf kommt es heutzutage an, jedenfalls, wenn es nach denen in Helsinki geht. Du hast diesen besonderen Faktor, dieses besondere Gespür für Frauen. Du weigerst dich, das andere Geschlecht zum Objekt zu degradieren, so heißt es doch immer über dich, oder? Du entwirfst eine weibliche Figur und steckst sie in eine Ehe hinein, in eine Familie, in ein Doppelbett in der Vorstadtsiedlung und hast trotzdem nicht das Bedürfnis, ihre … ich weiß auch nicht, ihre Schamhaare in poetischen Worten zu beschreiben: ›ein Heiligenschein aus gebrannter Siena‹ oder so, wie es der Rest deiner Bande machen würde.«

»Ich habe keine ›Bande‹«, sagte Joe.

»Du weißt, was ich meine«, fuhr Harry fort. »Du mischst so eine Art Feminismus in deine Sachen, wenn man es so nennen kann – obwohl das Wort mich immer an mit Kettensägen bewaffnete Kampflesben denken lässt. Du bist ein Original, Joe! Ein großer Schriftsteller, der nicht nur aus einem Schwanz besteht. Du bist zur Hälfte Schwanz und zur Hälfte Muschi.«

»Ha!«, sagte Joe. »Das ist aber nett von dir. Und so poetisch ausgedrückt.« Mehrere seiner Freunde schlossen sich der Argumentation des Dichters an; sie erklärten, dass es in jenem Jahr weltweit nur wenige offensichtliche Kandidaten für den Helsinki-Preis gebe. In Amerika war es ein Jahr des literarischen Sterbens gewesen, einer nach dem anderen waren sie dahingeschieden, Männer, die Joe gekannt hatte, seit sie sich in den Fünfzigern bei sozialistischen Zusammenkünften begegnet waren. Ein Jahrzehnt später hatten sie sich zu nächtelangen Marathonlesungen getroffen, mit dem Ziel, gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren und alles Leben aus dem Publikum zu saugen. Und dann hatten sie sich in den Achtzigern wiedergesehen, nachdem sie sich alle naiverweise bereit erklärt hatten, für Werbeanzeigen einer furchterregend teuren Armbanduhr zu posieren, die von einer traditionsreichen, eleganten deutschen Firma mit einer unappetitlichen nationalsozialistischen Vergangenheit gefertigt wurde. Und schließlich hatten sie begonnen, zu den Beerdigungen ihrer Gruppenmitglieder zusammenzukommen. Beim Begräbnis des Dramatikers Don Lofting hatte Joe festgestellt, dass jeder einzelne der Schriftsteller noch sein Exemplar der deutschen Armbanduhren trug, das sie hatten behalten dürfen.

Harry Jacklin hatte recht damit, dass nur noch wenige von Joes Altersgenossen am Leben waren, die den Preis verdient hätten, nur wenige Schriftsteller, deren Gesamtwerk so massiv und kraftvoll war wie das seine. Lev Bresners Helsinki-Moment war schon vor sieben Jahren gekommen; es war absolut keine Überraschung gewesen, man hatte seit Langem damit gerechnet, und dennoch hatte Joe sich, als er davon erfuhr, für mehrere Tage in ein Bett in einem abgedunkelten Zimmer zurückgezogen, wo er sich hauptsächlich von Barbituraten und Scotch ernährt hatte. Drei Jahre später hatte Lev dann völlig überraschend auch noch den Nobelpreis gewonnen, und bis zum heutigen Tage fiel es Joe schwer, darüber zu sprechen.

Der Nobelpreis war weit außerhalb von Joes Reichweite, das wussten wir beide, und irgendwie war es uns beiden gelungen, es zu akzeptieren. Auch wenn er in Europa populär war, war sein Werk doch nicht in der Weise um die Welt gegangen, wie es für den Gewinn des Preises notwendig gewesen wäre. Er war amerikanisch und introspektiv und neigte dazu, um seinen eigenen Nabel zu kreisen. Wie Harry bemerkt hatte, war er politisch korrekt, ohne dabei in irgendeiner Weise politisch zu sein. Für den Helsinki-Preis hatte es gerade so gereicht, denn die Kritiker hatten stets Joes Vision der zeitgenössischen amerikanischen Ehe bewundert, in der er die weibliche Gefühlswelt nicht weniger als die männliche auszuloten schien, aber erstaunlicherweise ohne Gift zu verspritzen und ohne Schuldzuweisungen. Und seine Bücher hatten bereits in einem frühen Stadium seiner Karriere den Sprung nach Europa geschafft, wo er als noch wichtiger erachtet wurde als in den Vereinigten Staaten. Joes schriftstellerisches Werk ließ sich der alten Nachkriegsschule zuordnen, die sich vorrangig mit der Ehe auseinandersetzte – mit Ehemännern und -frauen, die in winzigen Apartments oder kistenartigen, zugigen Kolonialgebäuden in Vorortstraßen mit Namen wie Bethany Court oder Yellow Swallow Drive wohnten. Die Männer waren tiefsinnig, aber verbittert, die Frauen traurig und lieblich, die Kinder unzufrieden und bockig. Die Familien, durch und durch amerikanisch, zerbröckelten in unterschiedliche Interessengruppen. Joe bediente sich bei seinem eigenen Leben, verwendete zunächst Details aus Kindheit und frühem Erwachsenenalter und dann aus seinen beiden Ehen.

Seine Romane waren in Dutzende von Sprachen übersetzt worden, die Lizenzausgaben drängten sich im Bücherregal seines Arbeitszimmers aneinander. Da war sein erster Roman, Die Walnuss,