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AUSGEZEICHNET MIT DEM PRIX RENAUDOT 2015

PLATZ 1 DER FRANZÖSISCHEN BESTSELLERLISTE

Über das Buch / Über die Autorin

Zwei Frauen lernen sich auf einer Party kennen. Die zurückhaltende Delphine, die sich mit fremden Menschen meist sehr schwer tut, ist sofort fasziniert von der klugen und eleganten L., die als Ghostwriter arbeitet. Aus gelegentlichen Treffen werden regelmäßige, man erzählt einander das eigene Leben, spricht über Familie und Freunde, vor allem über Freundinnen. Und natürlich über Bücher und Filme, die man liebt und bewundert. Delphine ist glücklich über die Gemeinsamkeiten und fühlt sich verstanden wie schon lange nicht mehr. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit gibt sie in einem Gespräch über das Schreiben die Idee für ihr nächstes Buch preis. L. reagiert enttäuscht: Wie nur könne Delphine ihre Zeit auf eine erfundene Geschichte verschwenden? Eine Autorin ihres Formats müsse sich der Wahrheit verschreiben. Delphine ist entsetzt. L.s leidenschaftlich vorgetragene Forderung löst eine tiefe Verunsicherung in ihr aus. Bald kann sie weder Papier noch Stift in die Hand nehmen. L. scheint völlig unglücklich über das zu sein, was sie in der Freundin ausgelöst hat. Selbstlos übernimmt sie die Beantwortung von E-Mails, das Absagen von Lesungen und Interviews, das Vertrösten des Verlags, der auf einen neuen Roman wartet. Und all das in Delphines Namen. Keiner weiß davon, keiner kennt L., und so ist Delphine allein, als sie feststellt, dass L. ihr immer ähnlicher wird …

›Nach einer wahren Geschichte‹ ist ein raffiniertes literarisches Spiel mit Fiktion, Wirklichkeit und Identität.
 

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© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, gelang mit ›No & ich‹ (2007) der Durchbruch als Schriftstellerin. Seit dem Roman ›Das Lächeln meiner Mutter‹ (2010), der wochenlang die französische Bestsellerliste anführte, zählt sie zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs. Sie lebt mit ihren Kindern in Paris.

Doris Heinemann, geboren 1957, studierte Romanistik und Germanistik in Köln und Montpellier und übersetzt seit 1997 Literatur, u. a. von Delphine de Vigan, Christian Gailly, Gabriel Chevallier, Yann Queffélec, Jean-Claude Derey und Olivier Rolin.

Delphine de Vigan

Nach einer
wahren Geschichte

Roman

Aus dem Französischen
von Doris Heinemann

 

Einige Monate nach dem Erscheinen meines jüngsten Romans hörte ich auf zu schreiben. Fast drei Jahre lang schrieb ich keine Zeile. Solche Redewendungen sind manchmal wörtlich zu nehmen: Ich schrieb kein einziges Behördenschreiben, keinen Dankesbrief, keine Ansichtskarte, keinen Einkaufszettel. Nichts, was irgendein Formbemühen oder Formulieren verlangt hätte. Keine Zeile, kein Wort. Beim Anblick eines Blocks, eines Hefts oder einer Briefkarte wurde mir übel.

Mit der Zeit wurde die Bewegung an sich selten, zögernd und konnte nicht mehr ohne Beklemmungen ausgeführt werden. Schon das einfache Halten eines Stifts fiel mir immer schwerer.

Später ergriff mich Panik, sobald ich ein Word-Dokument öffnete.

Ich suchte nach der richtigen Haltung, der optimalen Ausrichtung des Bildschirms, ich dehnte meine Beine unter dem Tisch. Und dann saß ich stundenlang da, regungslos, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.

Noch später begannen meine Hände zu zittern, sobald ich sie einer Tastatur näherte.

Ich lehnte ohne Unterschied alle an mich gerichteten Angebote ab: Artikel, Sommererzählungen, Vorworte und sonstige Beteiligungen an Gemeinschaftswerken. Ich brauchte nur das schlichte Wort schreiben in einem Brief oder einer Nachricht zu sehen, und schon verkrampfte sich mein Magen.

Schreiben, das konnte ich nicht mehr.

Schreiben, o nein.

Ich weiß heute, dass in meiner Umgebung verschiedene Gerüchte über mich kursierten, sowohl in den literarischen Zirkeln als auch in den sozialen Netzwerken. Ich weiß, es hieß, ich schriebe nicht mehr, ich sei am Ende von etwas angelangt, solche Stroh- beziehungsweise Papierfeuer würden letztlich immer verlöschen. Der Mann, den ich liebe, bildete sich ein, ich hätte durch den Kontakt mit ihm meinen Schwung oder auch die kreative innere Verwerfung verloren und deshalb würde ich ihn bald verlassen.

Wenn mich Freunde, Verwandte und manchmal sogar Journalisten nach diesem Schweigen zu fragen wagten, nannte ich verschiedene Gründe und Hemmnisse, darunter Müdigkeit, Reisen ins Ausland, den mit dem Erfolg verbundenen Druck oder sogar das Ende eines literarischen Zyklus. Ich schützte Zeitmangel, Verzettelung, zu viel Unruhe vor und zog mich mit einem Lächeln aus der Affäre, das niemanden täuschen konnte.

Heute weiß ich, das alles war nur Vorwand. Das alles war nichts.

Es ist sicher vorgekommen, dass ich Nahestehenden gegenüber die Angst erwähnte. Ich erinnere mich nicht, von Schrecken gesprochen zu haben, dabei ging es um Schrecken. Jetzt kann ich es zugeben: Das Schreiben, das mich seit so langer Zeit beschäftigte, das mein Leben so grundlegend verändert hatte und mir so kostbar war, versetzte mich in Schrecken.

Die Wahrheit ist, dass ich in dem Augenblick, wo ich mit dem Schreiben hätte anfangen müssen, und zwar gemäß einem Zyklus, in dem sich Latenz-, Inkubations- und Phasen des eigentlichen Schreibens abwechseln – einem quasi chronobiologischen Zyklus, in dem ich seit mehr als zehn Jahren lebte –, in dem Augenblick also, wo ich das Buch, für das ich bereits eine gewisse Anzahl Notizen gemacht und eine umfangreiche Dokumentation zusammengestellt hatte, L. begegnete.

Heute weiß ich, dass einzig und allein L. der Grund für meine Schreibunfähigkeit war. Und dass mich die beiden Jahre, in denen wir in Beziehung standen, fast endgültig zum Schweigen gebracht hätten.

I   Verführung

– als wäre er eine Person in einem Buch oder einem Theaterstück, eine Person, deren Erinnerung nicht wie Geschichte wiedergegeben, sondern wie Literatur erfunden wurde.

 

Stephen King, Sie

 

Ich möchte erzählen, wie und unter welchen Umständen L. in mein Leben trat, ich möchte den Kontext genau beschreiben, der es L. ermöglichte, in meine Privatsphäre einzudringen und sie mit Geduld zu annektieren. Das ist nicht so einfach. Und jetzt, wo ich diesen Satz hinschreibe, wie L. in mein Leben trat, ermesse ich, was diese Formulierung an Pompösem, leicht Übertriebenem an sich hat, wie sie eine Dramaturgie hervorhebt, die noch gar nicht existiert, wie sie eine Wendung oder Überraschung ankündigen zu wollen scheint. Ja, L. trat in mein Leben und löste darin langsam, sicher und heimtückisch eine tiefgreifende Erschütterung aus. L. trat in mein Leben wie mitten in der Vorstellung auf eine Bühne, als hätte ein Regisseur dafür gesorgt, dass sich ringsum alles zurücknimmt, um ihr Platz zu lassen, als wäre L.s Auftritt arrangiert worden, um seine Bedeutung zu unterstreichen, damit in genau diesem Augenblick der Zuschauer und die anderen Personen auf der Bühne (in diesem Fall ich) nur auf sie sehen, damit ringsum alles andere erstarrt und ihre Stimme bis zum Ende des Saals trägt, kurzum, damit sie Eindruck macht.

Aber ich greife vor.

Ich lernte L. Ende März kennen. Im September darauf bewegte sich L. in meinem Leben wie eine langjährige Freundin, wie auf vertrautem Terrain. Im September darauf hatten wir bereits unsere private jokes, eine gemeinsame Sprache aus Anspielungen und Doppelbödigkeiten, wir konnten uns mit Blicken verständigen. Unser Einverständnis wurde von vertraulichen Mitteilungen genährt, aber auch von Ungesagtem und schweigenden Kommentaren. Aus der Distanz und angesichts der Gewalt, die später unsere Beziehung bestimmte, könnte ich versucht sein zu sagen, L. sei in mein Leben eingebrochen, und zwar mit dem einzigen Ziel, mein Territorium zu annektieren, aber das würde nicht stimmen.

L. trat sanft und mit unendlichem Takt in mein Leben, und ich erlebte mit ihr Augenblicke erstaunlicher Verschworenheit.

Am Nachmittag vor unserer ersten Begegnung wurde ich zu einer Signierstunde auf der Pariser Buchmesse erwartet. Dort traf ich mich mit meinem Freund Olivier, der Gast bei einer Direktübertragung vom Radio-France-Stand war. Ich mischte mich unters Publikum, um ihm zuzuhören. Danach setzten wir uns mit Rose, seiner ältesten Tochter, in einer Ecke auf den abgenutzten Teppichboden der Messehalle und teilten uns ein Sandwich. Meine Signierstunde war für 14 Uhr 30 angekündigt, wir hatten also nicht viel Zeit. Olivier sagte mir ziemlich bald, ich sähe erschöpft aus, ja wirklich, besorgt fragte er, wie ich mit alldem zurechtkäme, womit er sowohl die Tatsache meinte, dass ich ein so persönliches, so intimes Buch geschrieben hatte, als auch das enorme Echo, das dieses Buch gefunden hatte, ein Echo, mit dem ich, wie er wusste, keine Sekunde lang gerechnet hatte und auf das ich also auch nicht vorbereitet gewesen war.

Später bot mir Olivier an, mich zu begleiten, und wir machten uns auf den Weg zum Stand meines Verlags. Wir kamen an einer dicht gedrängten Warteschlange vorbei, und ich fragte mich, vor welchem Autor sie wohl endete, ich weiß noch, dass ich den Blick hob und nach dem Plakat suchte, auf dem der Name stehen würde, und dann flüsterte mir Olivier ins Ohr: Ich glaube, die sind deinetwegen hier. Tatsächlich zog sich die Schlange immer länger hin, machte dann einen Knick und endete vor dem Stand, an dem ich erwartet wurde.

Zu anderen Zeiten und noch wenige Monate zuvor hätte mich das mit Freude und wahrscheinlich auch Eitelkeit erfüllt. Ich hatte auf verschiedenen Messen stundenlang brav hinter meinem Stapel Bücher gehockt und vergeblich auf Leser gewartet, ich kannte diese Ratlosigkeit, diese etwas peinliche Einsamkeit. Jetzt überkam mich ein ganz anderes Gefühl, eine Art Betäubung, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass dies zu viel sei, zu viel für einen einzigen Menschen, zu viel für mich. Olivier sagte, er werde mich nun allein lassen.

Mein Buch war Ende August erschienen, und seit einigen Monaten fuhr ich von Stadt zu Stadt, von Begegnungen zu Signierstunden, von Lesungen zu Diskussionen in Buchhandlungen, Bibliotheken und Mediatheken, wo mich von Mal zu Mal mehr Leser erwarteten.

Manchmal überwältigte es mich, dieses Gefühl, ins Schwarze getroffen zu haben, Tausende von Lesern mitgezogen, ins Schlepptau genommen zu haben, dieses wahrscheinlich trügerische Gefühl, verstanden worden zu sein.

Ich hatte ein Buch geschrieben, dessen Tragweite ich mir nicht hatte vorstellen können.

Ich hatte ein Buch geschrieben, dessen Wirkung sich in meiner Familie und in meiner Umgebung in mehreren Wellen ausbreiten würde, ein Buch, dessen Kollateralschäden ich nicht vorhergesehen hatte, das mir schon bald meine echten, aber auch die falschen Freunde zeigen würde und dessen Spätfolgen noch lange anhalten sollten.

Ich hatte mir die Vervielfältigung des Gegenstands und deren Folgen nicht vorgestellt, das hundert-, dann tausendfach reproduzierte Bild meiner Mutter, dieses Foto auf dem Buchumschlag, das beträchtlich zur Verbreitung des Textes beigetragen hatte, dieses Foto, das sich sehr bald von ihr getrennt hatte und auf dem nicht mehr meine Mutter war, sondern die verschwommene, diffuse Romanfigur.

Ich hatte mir die bewegten, tief beeindruckten Leser nicht vorgestellt, auch nicht, dass einige vor meinen Augen weinen würden und wie schwer es mir fallen würde, nicht mit ihnen zu weinen.

Es hatte dieses allererste Mal gegeben, in Lille, wo mir eine zarte und von mehreren Klinikaufenthalten sichtlich geschwächte junge Frau erklärt hatte, der Roman habe in ihr die verrückte, die unsinnige Hoffnung geweckt, ihre Kinder könnten sie, vielleicht, trotz allem, was geschehen und nicht wiedergutzumachen sei, trotz allem, was sie ihnen angetan habe, lieben …

Und ein anderes Mal in Paris, an einem Sonntagmorgen, als ein völlig kaputter Mann von der psychischen Störung sprach, vom Blick der anderen auf ihn, auf sie, die den anderen so viel Angst einjagten, dass sie alle in denselben Sack gesteckt wurden, Bipolare, Schizophrene, Depressive, je nach der aktuellen Tendenz und den Zeitschriftentitelseiten etikettiert wie folienverpackte Hähnchen, und Lucile, meine unberührbare Heldin, habe sie alle rehabilitiert.

Und noch andere, in Straßburg, Nantes oder Montpellier, Menschen, die ich manchmal am liebsten in die Arme geschlossen hätte.

Nach und nach baute ich mir mehr schlecht als recht eine unsichtbare Schutzwand auf, eine Sperrzone, die es mir ermöglichte weiterzumachen, da zu sein, die richtige Distanz zu halten, eine Bewegung des Zwerchfells, mit der ich die Luft auf der Höhe des Brustbeins blockierte, sodass ein winziges Kissen entstand, ein unsichtbarer Airbag, dessen Luft ich, sobald die Gefahr vorüber war, nach und nach durch den Mund ausatmete. So konnte ich zuhören, sprechen und das Netz verstehen, das sich um dieses Buch entspann, dieses Hin und Her zwischen Leser und Text, wobei das Buch den Leser fast immer – und aus einem Grund, den ich nicht erklären kann – auf seine eigene Geschichte zurückverwies. Das Buch war eine Art Spiegel, dessen Tiefenschärfe und Umrisse mir nicht mehr gehörten.

Doch ich wusste, früher oder später würde mich das alles einholen, die Zahl, ja die Zahl der Leser, der Kommentare, der Einladungen, die Zahl der Besuche in Buchhandlungen und der Stunden im TGV, und dann würde etwas unter dem Gewicht meiner Zweifel und meiner Widersprüche nachgeben. Ich wusste, eines Tages würde ich mich nicht mehr entziehen können, dann würde ich das genaue Maß der Dinge erfassen müssen, wenn ich mich schon nicht von ihnen befreien konnte.

An jenem Samstag auf der Buchmesse hatte ich pausenlos signiert. Die Leute waren gekommen, um mit mir zu sprechen, ich suchte mühsam nach Worten, um ihnen zu danken, ihre Fragen zu beantworten, ihren Erwartungen gerecht zu werden. Ich hörte meine Stimme zittern, ich rang nach Luft. Der Airbag funktionierte nicht mehr, ich schaffte es nicht mehr. Ich war porös geworden. Verwundbar.

Gegen 18 Uhr war die Schlange mit Hilfe eines elastischen Bands zwischen zwei Ständern geschlossen worden, damit die Neuankömmlinge sich nicht mehr anstellten, sondern ihrer Wege gingen. Wenige Meter entfernt von mir hörte ich die Stand-Verantwortlichen erklären, dass ich jetzt aufhören würde: Sie muss weg, sie hört auf, es tut uns leid, sie geht jetzt.

Nachdem ich die Bücher derjenigen, die zu den Letzten der Schlange bestimmt worden waren, signiert hatte, blieb ich noch einige Minuten, um mit meiner Lektorin und dem Vertriebsleiter zu sprechen. Ich dachte an den Weg, den ich noch zum Bahnhof hatte, ich fühlte mich erschöpft, ich hätte mich auf dem Teppichboden ausstrecken und da liegen bleiben mögen. Wir unterhielten uns am Stand, ich mit dem Rücken zu dem Tischchen, an dem ich wenige Minuten zuvor gesessen hatte. Eine Frau trat von hinten an uns heran und fragte mich, ob ich ihr Buch signieren könne. Ich hörte mich Nein sagen, einfach so, ohne zu zögern. Ich glaube, ich erklärte ihr, wenn ich ihr Buch signieren würde, würden sich auch andere Leute anstellen, um eine Widmung von mir zu bekommen, und dann würde sich zwangsläufig wieder eine Schlange bilden.

Ich sah an ihrem Blick, dass sie es nicht verstand, nicht verstehen konnte, in unserer Nähe war niemand mehr, die Zuspätgekommenen hatten sich zerstreut, alles wirkte ruhig und friedlich, ich sah in ihren Augen, dass sie dachte, für wen hält sie sich eigentlich, diese blöde Kuh, was macht das schon, ein oder zwei Bücher mehr, denn deshalb sind Sie doch hier, um Ihre Bücher zu verkaufen und zu signieren, da werden Sie sich jetzt doch nicht auch noch beklagen …

Ich konnte ihr nicht sagen: Madame, es tut mir leid, ich schaffe es nicht mehr, ich bin müde, ich bin nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt, ich habe nicht das Format, so ist es eben, ich weiß, andere können stundenlang ohne Essen und Trinken durchhalten, bis alle durch sind, alle bekommen haben, was sie wollen, echte Arbeitstiere, regelrechte Athleten, aber ich, nein, heute nicht, ich kann meinen Namen nicht mehr schreiben, mein Name ist Hochstapelei, ein Schwindel, glauben Sie mir, mein Name in diesem Buch ist nicht mehr wert als ein zufällig auf dem Vorsatzblatt gelandeter Taubenschiss.

Ich konnte ihr nicht sagen: Madame, wenn ich Ihr Buch signiere, dann breche ich entzwei, denn genau das wird passieren, ich warne Sie, treten Sie zurück, halten Sie Abstand, der dünne Faden, der die beiden Hälften meiner Person zusammenhält, wird reißen, und dann fange ich an zu weinen oder vielleicht sogar zu schreien, was für uns alle sehr peinlich wäre.

Ich verließ die Messe und ignorierte zunächst die Reue, die mich zu überfallen begann.

Ich nahm die Metro an der Station Porte de Versailles, der Zug war brechend voll, trotzdem fand ich einen Sitzplatz. Das Gesicht an die Scheibe gepresst, begann ich die Szene durchzuspielen, sie kam ein erstes Mal in mir hoch und dann noch einmal. Ich hatte dieser Frau meine Signatur verweigert, obwohl ich da war und mit den Leuten redete, ich konnte es nicht fassen. Ich fühlte mich schuldig und lächerlich, ich schämte mich.

Ich beschreibe diese Szene heute mit allem, was sie an Müdigkeit und Überforderung enthielt, denn ich bin mir fast sicher: Wenn sie nicht stattgefunden hätte, wäre ich L. nicht begegnet.

L. hätte in mir nicht diesen so instabilen, so lockeren, so mürben Boden vorgefunden.

 

Als Kind weinte ich an meinem Geburtstag. In dem Augenblick, in dem alle Anwesenden das traditionelle Lied anstimmten, dessen Text in allen mir bekannten Familien ziemlich gleich lautet, und in dem der von Kerzen gekrönte Kuchen auf mich zukam, brach ich in Schluchzen aus.

Diese auf mich konzentrierte Aufmerksamkeit, diese glänzenden Augen, die alle mich ansahen, diese allgemeine Rührung waren mir unerträglich.

Es hatte nichts mit dem echten Vergnügen zu tun, das ich ansonsten darüber empfand, dass mir zu Ehren ein Fest gegeben wurde, es beeinträchtigte meine Freude an den Geschenken in keiner Weise, aber in genau diesem Augenblick gab es eine Art Larsen-Effekt, als könnte ich als Antwort auf diesen meinetwegen veranstalteten kollektiven Lärm nicht anders, als einen anderen, grelleren Ton, eine unhörbare und tragische Frequenz zu produzieren. Ich weiß nicht, bis zu welchem Alter sich dieses Szenario wiederholte (Ungeduld, Spannung, Freude und dann ich, die ich plötzlich Rotz und Wasser heulend vor den anderen stand), doch ich habe noch eine genaue Erinnerung an das Gefühl, das mich dann überwältigte, unsere allerbesten Wünsche, mögen dir diese Lichter Glück bringen, und an den Wunsch, auf der Stelle zu verschwinden. Einmal, ich muss wohl acht geworden sein, lief ich weg.

Ich weiß noch, dass meine Mutter in der Zeit, in der man die Geburtstage in der Schule (und im Kindergarten) feierte, der Lehrerin einen Brief schrieb und sie bat, meinen Geburtstag stillschweigend zu übergehen. Bevor sie diesen Brief in den Umschlag steckte, las sie ihn mir vor, damit ich Bescheid wusste, sie nannte mich darin émotive, ich wusste damals noch nicht, dass es »leicht erregbar« oder »sensibel« bedeutete. Ich wagte sie nicht danach zu fragen, mir war bewusst, dass schon ein Brief an die Lehrerin eine Ausnahme war, eine besondere Mühe, zumal man sie darin um etwas nicht weniger Ungewöhnliches bat, nämlich ein Sonderrecht, also eine Vorzugsbehandlung. Ich glaubte ehrlich gesagt, émotive habe etwas mit der Größe des Vokabulars eines Menschen zu tun: Ich, das kleine Mädchen, war é-mot-ive, es fehlte mir also an mots, an Wörtern, was anscheinend erklärte, warum ich nicht imstande war, meinen Geburtstag in der Gruppe zu feiern. Es schien mir also, man müsse sich mit Wörtern wappnen, um in der Gesellschaft leben zu können, man müsse beständig neue sammeln, Abwechslung in sie hineinbringen und ihre feinsten Nuancen erfassen. Das so erarbeitete Vokabular würde dann nach und nach einen dicken, festverwebten Harnisch schaffen, der es einem ermöglichte, sich voller Selbstvertrauen und behände durch die Welt zu bewegen. Aber mir waren noch so viele Wörter unbekannt.

Als wir später am Anfang des Schuljahrs den Fragebogen ausfüllen mussten, schummelte ich weiterhin mit meinem Geburtstag und verlegte ihn vorsichtshalber um mehrere Monate mitten in die Sommerferien.

Es kam auch mehrmals (und bis in ein fortgeschrittenes Alter) vor, dass ich in der Schulmensa oder bei Freunden die Bohne, die ich erschrocken in meinem Stück des Dreikönigskuchens entdeckt hatte, verschluckte oder sonst wie verschwinden ließ. Es war mir schlicht unmöglich, meinen Sieg zu verkünden, mehrere Sekunden oder sogar Minuten lang der Gegenstand einer wie auch immer gearteten allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Ganz zu schweigen von den Tombolalosen, die ich hastig zerknüllte oder zerriss, wenn es an der Zeit war, sich zu melden, um den Gewinn zu bekommen. Als ich in der fünften Klasse war, ging ich sogar so weit, bei der Schuljahrsabschlussfeier auf einen Hundertfranc-Gutschein für die Galeries Lafayette zu verzichten. Ich erinnere mich, dass ich die Entfernung zum Podium abschätzte – man musste, ganz natürlich und locker wirkend, ohne zu stolpern, dorthin gelangen, dann die wenigen Stufen hochsteigen und sich wahrscheinlich auch noch bei der Schuldirektorin bedanken – und zu dem Schluss kam, er sei der Mühe nicht wert.

Im Mittelpunkt stehen, und sei es nur für einen Augenblick, mehrere Blicke zugleich ertragen, war eine unerträgliche Vorstellung.

Ich war als Kind und junges Mädchen sehr schüchtern, aber soweit ich mich erinnere, zeigte sich dieses Handicap vor allem gegenüber einer Gruppe (das heißt, sobald ich es mit mehr als drei oder vier Personen auf einmal zu tun hatte). Insbesondere die Schulklasse war für mich die Verkörperung eines Kollektivs, das nie aufgehört hat, mich in Panik zu versetzen. Bis zum Ende meiner Schulzeit konnte ich in den Nächten, bevor ich etwas vorlesen oder ein Referat vortragen musste, nicht schlafen, und ich decke den Mantel des Schweigens über all die Ausweichstrategien, die ich lange Zeit entwickelte, um nur ja nicht in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen zu müssen.

Hingegen glaube ich, dass ich seit früher Kindheit eine gewisse Gewandtheit in der Gegenüberstellung, im Tête-à-Tête zeigte, und sogar eine echte Fähigkeit, dem anderen zu begegnen und eine Verbindung zu ihm aufzubauen, solange es sich um ein Individuum handelte und nicht um eine Gruppe. Wohin ich auch ging, wo ich mich auch aufhielt, immer fand ich jemanden, mit dem ich spielen, reden, lachen oder träumen konnte, auf all meinen Wegen fand ich Freundinnen und Freunde und knüpfte dauerhafte Beziehungen, als hätte ich schon sehr früh erkannt, dass hier mein affektiver Schutz zu finden war. Bis ich L. begegnete.

 

An jenem Samstag wollte ich, als ich von der Buchmesse kam, zum Bahnhof fahren und dann aufs Land zu dem Mann, den ich liebe, um mit ihm den Abend und den nächsten Tag zu verbringen. François war, wie an fast jedem Wochenende, schon freitagabends nach Courseilles gefahren. Im Laufe der Jahre wurde dieses Haus, das er gerade gekauft hatte, als ich ihn kennenlernte, zu seiner Zuflucht, seinem Stützpunkt, und wenn ich ihn freitagabends mit einem lauten Seufzer des Behagens und der Erleichterung über die Schwelle dieses Hauses treten sehe, dann denke ich immer an die schnurlosen Telefone und an ihren kurzen zufriedenen Triller, wenn man sie zum Nachladen auf die Basisstation stellt. Alle, die uns nahestehen, wissen, von welch fundamentaler Bedeutung dieses Haus für sein Gleichgewicht ist und dass man ihn nur selten von dort fortlockt.

François erwartete mich. Wir hatten vereinbart, dass ich ihn anrufen würde, wenn ich in den Bummelzug stieg, der an jedem Bahnhof hielt und auch irgendwo auf dem platten Land, wenige Kilometer von Courseilles entfernt.

Als die Metro in der Station Montparnasse stoppte, zögerte ich. Wahrscheinlich stand ich auf, aber ich stieg nicht aus. Ich fühlte mich zu belastet, um aufs Land zu fahren. Indisponiert. Der Zwischenfall auf der Messe hatte mit einem Schlag meine Erschöpfung, diesen Zustand der Anspannung, der Anfälligkeit offenbart, der François Sorge bereitete und den ich mir nicht eingestehen wollte. Ich setzte meinen Weg ins elfte Arrondissement fort. Ich schickte ihm eine SMS, um ihm zu sagen, dass ich nach Hause fuhr und ihn später anrufen würde.

Als ich in meinem Viertel ankam, ging ich noch kurz zum Einkaufen in den Super U. Meine Kinder verbrachten das Wochenende bei ihrem Vater, François auf dem Land, und während der Fahrt hatte sich bei mir der Plan eines ruhigen Abends klar abzuzeichnen begonnen, eines stillen, einsamen Abends, ja, genau den brauchte ich jetzt.

Ich schlenderte, einen roten Plastikkorb am Arm, durch die Gänge des Supermarkts, da hörte ich jemanden meinen Namen rufen. Hinter mir stand Nathalie, erfreut, aber nicht sonderlich überrascht. Mehrmals im Jahr treffen wir uns im Super U unseres Viertels. Dadurch sind diese Zufallsbegegnungen zu einer Art running gag geworden, bei dem jede nur noch ihre jeweilige Rolle zu spielen hat, wir umarmen uns lachend, das ist doch verrückt, so ein Zufall, um diese Zeit komme ich nie hierher, ich auch nicht.

Wir plauderten einige Minuten vor dem Joghurt-Kühlregal, auch Nathalie hatte nachmittags auf der Messe eine Signierstunde absolviert und außerdem ein Interview über ihren neuesten Roman, Nous étions des êtres vivants. Sie habe mich am Stand meines Verlags besuchen wollen, aber dann sei die Zeit knapp geworden und sie sei lieber früh nach Hause gefahren, denn abends sei sie noch zu einer Party eingeladen, übrigens sei sie hier, um eine Flasche Champagner zu kaufen. Wie ich keine drei Sekunden später einwilligen konnte, sie zu dieser Party zu begleiten, obwohl ich mich doch gerade noch auf einen einsamen Abend gefreut hatte, weiß ich nicht.

Bevor ich vor einigen Jahren François kennenlernte, verbrachte ich eine Reihe von Abenden mit Nathalie und einer anderen Freundin, Judith. Wir waren alle drei mehr oder weniger alleinlebend und wollten Spaß haben. Wir nannten diese Abende die JDN (Judith, Delphine, Nathalie). Die JDN bestanden darin, dass sich jeweils eine von uns mit den beiden anderen zu den unterschiedlichsten Festen (Geburtstag, Wohnungseinweihung, Silvester) einlud, das heißt uns an die absonderlichsten Orte einschleuste, ohne dass auch nur eine von uns eingeladen gewesen wäre. So konnten wir uns in die Einweihung von Vereinslokalen, auf Tanzabende, Abschiedsumtrünke in Unternehmen und sogar eine Hochzeit schleichen, auf der keine von uns das Brautpaar kannte.

Obwohl ich Partys mag, weiche ich fast immer den Veranstaltungen aus, die man dîners en ville nennt (ich meine damit nicht Abendessen unter Freunden, sondern Abendessen, deren offizieller Charakter mehr oder weniger feststeht). Diese Abneigung hängt damit zusammen, dass ich unfähig bin, mich an die entsprechenden Codes anzupassen. Alles ist dann, als käme meine Schüchternheit mit einem Schlag wieder hoch, ich bin wieder das errötende Kind oder junge Mädchen von früher, das sich nicht ungezwungen und souverän an der Unterhaltung beteiligen kann und das schreckliche Gefühl hat, nicht auf demselben Niveau zu sein, nicht am rechten Platz – meistens verliere ich bei mehr als vier Tischgenossen ohnehin die Sprache.

Im Laufe der Zeit begriff ich schließlich – oder es ist das Alibi, das es für mich akzeptabel macht –, dass mich die Beziehung zum anderen erst ab einem gewissen Grad der Intimität interessiert.

Die JDN wurden seltener und hörten dann ganz auf, ich weiß nicht mehr warum. Vielleicht einfach, weil unser jeweiliges Leben sich veränderte. An jenem Abend im Super U sagte ich Nathalie zu und dachte dabei, dass eine Party mir die so selten gewordene Gelegenheit geben würde zu tanzen. (Denn wenn ich auch bei dem Gedanken, während eines Abendessens eine gute Figur machen zu müssen, vor Angst erstarre, so bringe ich es doch fertig, auf einer Abendeinladung, bei der ich niemanden kenne, ganz allein mitten im Wohnzimmer zu tanzen.)

Mir ist durchaus bewusst, dass diese genauen Angaben den Eindruck vermitteln könnten, ich würde zu anderen Geschichten abschweifen oder mich unter dem Vorwand, den Kontext oder die Kulisse zu beschreiben, verzetteln. Doch nein. Der Ablauf der Ereignisse erscheint mir wichtig, um zu verstehen, wie ich L. kennenlernte, und wahrscheinlich werde ich bei dem Versuch, die wahre Bedeutung dieser Begegnung zu erfassen, im Laufe dieser Erzählung erneut zurückgreifen müssen, noch weiter zurück.

Angesichts der Unordnung, die diese Begegnung in meinem Leben angerichtet hat, möchte ich unbedingt verstehen, was diese Macht möglich machte, die L. über mich und ich vermutlich über L. erlangte.

Übrigens tanzte ich, als ich L. zum ersten Mal sah, und in meiner Erinnerung streiften sich unsere Hände.

 

Wir saßen auf dem Sofa, L. und ich. Ich hatte die Tanzfläche als Erste verlassen, als ein Stück gespielt wurde, das mir nicht gefiel.

L., die länger als eine Stunde neben mir getanzt hatte, folgte mir bald. Mit einem Lächeln eroberte sie sich den schmalen Platz zwischen mir und meinem Nachbarn, der näher an die Armlehne rückte, sodass sie sich bequem hinsetzen konnte. Danach warf sie mir mit triumphierendem Gesichtsausdruck einen verschwörerischen Blick zu.

»Sie sind sehr schön, wenn Sie tanzen«, erklärte sie, kaum dass sie saß. »Sie sind schön, weil Sie tanzen, als fühlten Sie sich völlig unbeobachtet. Ich bin übrigens sicher, dass sie es tun, dass Sie auch sonst so tanzen, allein in Ihrem Schlafzimmer oder im Wohnzimmer.«

(Als meine Tochter noch Jugendliche war, sagte sie mir einmal, dass sie als Erwachsene diese Erinnerung an mich behalten würde, eine Mutter, die mitten im Wohnzimmer tanzt, um ihre Freude auszudrücken.)

Ich dankte L. für das Kompliment, wusste aber nicht recht darauf zu antworten, sie schien übrigens auch nichts zu erwarten, sondern beobachtete lächelnd weiter die Tanzfläche. Ich betrachtete sie unauffällig. L. trug eine fließende schwarze Hose und eine cremefarbene Bluse, deren Kragen mit einem schmalen dunklen Satin- oder Lederband verziert war, genau konnte ich das Material nicht erkennen. L. war vollkommen. Ich dachte an die Reklamen für die Marke Gérard Darel, ich erinnere mich noch gut daran, denn sie stellte genau das dar, diese einfache, moderne Eleganz, die geschickte Kombination von klassischen, hochwertigen Stoffen mit gewagten Details.

»Ich weiß, wer Sie sind, und freue mich sehr über unsere Begegnung«, fügte sie nach einer Weile hinzu.

Wahrscheinlich hätte ich sie fragen müssen, wie sie hieß, wer sie eingeladen hatte und sogar, was sie beruflich machte, aber ich fühlte mich von dieser Frau und ihrer ruhigen Sicherheit eingeschüchtert.

L. war genau die Sorte Frau, die mich fasziniert.

L. war wie aus dem Ei gepellt, das Haar glatt, die Nägel perfekt gefeilt und in einem Zinnoberrot lackiert, das in der Dunkelheit zu leuchten schien.

Ich habe Frauen, die Nagellack tragen, immer bewundert. Lackierte Nägel verkörpern für mich eine bestimmte Vorstellung von weiblicher Eleganz, die mir, wie ich schließlich einsehen musste, zumindest in dieser Hinsicht für immer verwehrt bleiben wird. Ich habe zu breite, zu große und in gewisser Weise zu starke Hände, und wenn ich mir versuchsweise die Nägel lackiere, wirken sie noch größer, als würde dieser vergebliche Verkleidungsversuch ihre Männlichkeit nur betonen (der Vorgang ist mir ohnehin immer mühsam erschienen, die Bewegung an sich verlangt eine Genauigkeit und Geduld, die ich nicht besitze).

Wie lange braucht man, um zu so einer Frau zu werden?, fragte ich mich, während ich L. beobachtete, wie ich schon Dutzende Frauen beobachtet hatte, in der Metro, in den Warteschlangen vor den Kinos, an den Restauranttischen. Frisiert, geschminkt, gebügelt. Ohne das geringste Fältchen. Wie lange braucht man morgens, um diesen perfekten Zustand herzustellen, und wie lange abends für die Retuschen vor dem Ausgehen? Welche Art Leben muss man führen, um die Muße zu haben, sich die Haare zu fönen, jeden Tag anderen Schmuck zu tragen, seine Kleider abwechslungsreich zu kombinieren und nichts dem Zufall zu überlassen?

Heute weiß ich, dass es nicht nur eine Frage der Zeit ist, sondern eher der Art, welche Art Frau man zu sein beschließt, soweit man da überhaupt die Entscheidungsfreiheit hat.

Ich weiß noch, als ich meiner Lektorin zum ersten Mal begegnete, in ihrem kleinen Büro in der Rue Jacob, war ich zunächst fasziniert von ihrer Eleganz, die Nägel natürlich, aber auch alles andere, einfach und von tadellosem Geschmack. Sie strahlte eine etwas klassische, aber perfekt dosierte beherrschte Weiblichkeit aus, die mich beeindruckte. Als ich François kennenlernte, war ich davon überzeugt, er müsse eine andere Art Frau lieben als mich, eine zurechtgemachtere, elegantere, beherrschtere, ich sehe mich noch mit einer Freundin im Café sitzen und ihr die Gründe für das vorhersehbare Scheitern schildern, es sei einfach nicht möglich, doch, ja, genau deshalb. François liebe Frauen mit gefügigem, glattem Haar (ich machte eine entsprechende Geste), ich dagegen sei struppig. Schon allein dieser Unterschied enthielt in meinen Augen alle weiteren tiefergehenden, ja grundlegenden Unterschiede, ganz allgemein könne unsere Begegnung nur einer falsch gestellten Weiche zu verdanken sein, und ich habe lange gebraucht, um einzusehen, dass es nicht so war.

Nach einer Weile stand L. auf und tanzte weiter, inmitten von etwa zehn anderen, unter die sie sich so geschickt gemischt hatte, dass sie mit dem Gesicht zu mir tanzte. Heute und im Licht des Geschehenen bezweifle ich nicht, dass diese Szene als Balzverhalten interpretiert werden kann, was ich übrigens auch tat, doch in der damaligen Situation war es eher eine Art Spiel zwischen ihr und mir, ein stillschweigendes Einverständnis. Irgendetwas machte mich neugierig, amüsierte mich. Manchmal schloss L. die Augen, die Bewegungen ihres Körpers waren von diskreter Sinnlichkeit, sie hatten nichts Auftrumpfendes, L. war schön, die Männer schauten sie an, und ich versuchte den Blick der Männer auf sie einzufangen, den Moment zu erhaschen, in dem sich dieser Blick trübte. Ich bin für die Schönheit von Frauen empfänglich, ich war es immer. Ich beobachte sie gern und versuche mir vorzustellen, welche Rundung, welche Höhlung, welches Grübchen, welcher kleine Aussprachefehler, welche Unvollkommenheit an ihnen das Begehren auslöst.

L. tanzte inzwischen fast reglos, ihr Körper wiegte sich leicht und rhythmisch, schmiegte sich in jeden Ton, jede Nuance, ihre Füße blieben jetzt fest am Boden und bewegten sich nicht mehr. L. war ein Blumenstängel, eine Liane im Wind des Takts, und es war sehr schön anzusehen.

Später, und ich kann heute keine Verbindung mehr zwischen diesen beiden Momenten herstellen, fanden wir uns wieder, L. und ich, wir saßen am Küchentisch, zwischen uns eine Flasche Wodka. Inzwischen glaube ich mich zu erinnern, dass Leute, die ich nicht kannte, mich ins Gespräch gezogen hatten und ich eine Zeitlang mit ihnen verbrachte, bis L. mir die Hand hinstreckte, damit ich weitertanzte. Nathalie hatte ich aus den Augen verloren, vielleicht war sie schon nach Hause gegangen. Es waren viele Leute da, die Stimmung war gut.

Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, L. von der Frau auf der Buchmesse zu erzählen, von dieser Reue, diesem bitteren Nachgeschmack, den ich nicht loswurde. Ich dachte pausenlos an diesen Augenblick zurück, an meine Reaktion, dieser Zwischenfall enthielt etwas, das mich abstieß, das nicht ich war, und ich hatte keine Möglichkeit, diese Frau wiederzufinden, mich bei ihr zu entschuldigen und ihr Buch zu signieren. Es war geschehen, hatte sich abgespielt, und es gab keine Möglichkeit, die Zeit zurückzuspulen.

»Was Ihnen im Grunde zusetzt, ist nicht nur, dass diese Frau gekränkt war, dass sie vielleicht viele Kilometer zurückgelegt hat, um Sie zu sehen, die Kinder bei der Schwester gelassen hat, und dass sie Streit mit ihrem Mann hatte, weil der eigentlich mit ihr einkaufen gehen wollte und nicht verstand, warum sie Sie unbedingt sehen wollte. Nein, das, was Sie verfolgt, ist, dass diese Frau Sie jetzt vielleicht nicht mehr mag.«

Ihre Stimme war sanft und ohne Ironie.

»Vielleicht«, gab ich zu.

»Ich kann mir vorstellen, dass diese Zeit jetzt für Sie nicht so einfach ist. Die Kommentare, die Reaktionen, plötzlich im Rampenlicht zu stehen. Ich kann mir vorstellen, dass immer die Gefahr eines Zusammenbruchs besteht.«

Ich versuchte abzuwiegeln, man dürfe auch nicht übertreiben.

Sie redete weiter.

»Trotzdem dürften Sie sich manchmal sehr allein fühlen, als wären Sie splitternackt mitten auf einer Straße, im Scheinwerferlicht eines Autos gefangen.«

Verblüfft starrte ich L. an. Genau so fühlte ich mich, splitternackt mitten auf einer Straße, und mit genau diesen Worten hatte ich es gesagt. Zu wem? Zu meiner Lektorin? Zu einem Journalisten? Wie konnte L. genau die Worte verwenden, die ich selbst verwendet hatte? Aber hatte ich es überhaupt zu jemandem gesagt?

Noch heute weiß ich nicht, ob L. an jenem Abend etwas wiederholte, was sie gelesen hatte oder was ihr erzählt worden war, oder ob sie es wirklich erraten hatte. Mir fiel ziemlich schnell auf, dass L. ein unerhörtes Gespür für den anderen hatte, die Gabe, die richtigen Worte zu finden, jedem zu sagen, was er brauchte. Es dauerte nie lange, bis L. die richtige Frage stellte oder die Bemerkung machte, an der ihr Gesprächspartner merkte, dass nur sie imstande war, ihn zu verstehen und zu trösten. L. wusste nicht nur auf den ersten Blick den Grund der Verstörung herauszufinden, vor allem fand sie den Riss, der, so tief er auch vergraben sein mag, in jedem von uns steckt.

Ich erinnere mich, L. meinen Begriff von Erfolg erklärt zu haben, völlig unverstellt und im Vertrauen darauf, dass sie meine Worte richtig interpretieren würde. Für mich war der Erfolg eines Buchs ein Unfall. Im eigentlichen Sinne des Wortes. Ein vom zufälligen Zusammentreffen verschiedener nicht reproduzierbarer Faktoren verursachtes unerwartetes und heftiges Ereignis. Sie dürfe da keine falsche Bescheidenheit meinerseits hineininterpretieren, das Buch selbst habe natürlich auch etwas damit zu tun, aber es sei nur einer der Faktoren. Andere Bücher hätten womöglich vergleichbaren Erfolg haben können, sogar größeren, doch für sie sei die Konstellation nicht so günstig gewesen, der eine oder andere Faktor habe gefehlt.

L. behielt ihren Blick fest auf mich gerichtet.

»Aber ein Unfall«, sie betonte das Wort, um klarzustellen, dass es nicht ihr Wort war, »verursacht Schäden, manchmal sogar irreparable Schäden, nicht wahr?«

Ich trank das Glas Wodka aus, das vor mir stand und das sie mehrmals nachgefüllt hatte, ich war nicht betrunken, ich hatte ganz im Gegenteil den Eindruck, einen seltenen Grad von Bewusstheit erreicht zu haben. Es war sehr spät, die Zahl der Gäste schien mit einem Schlag geschrumpft, wir waren in der Küche, in der es noch wenige Minuten zuvor von Menschen gewimmelt hatte, allein. Ich lächelte, bevor ich antwortete.

»Das stimmt. Der Erfolg eines Buchs ist ein Unfall, aus dem man nicht unversehrt hervorgeht, aber es wäre unverschämt, darüber zu klagen. Dessen bin ich sicher.«

Wir nahmen zusammen ein Taxi, L. hatte darauf bestanden, sie könne mich ganz einfach absetzen, meine Wohnung liege auf ihrem Weg, es sei nicht einmal ein Umweg.

Im Wagen schwiegen wir. Ich spürte, wie die Müdigkeit in meine Glieder kroch, auf meinem Nacken lastete, mich langsam benommen machte.

Der Fahrer hielt vor meiner Tür.

L. streichelte mir die Wange.

Ich habe oft an diese Geste zurückgedacht, an das, was sie an Sanftheit, Zärtlichkeit und vielleicht Begehren enthielt. Oder vielleicht enthielt sie auch nichts dergleichen. Denn im Grunde weiß ich nichts über L. und habe nie etwas über sie gewusst.

Ich stieg aus dem Taxi, ging die Treppe hinauf und ließ mich in voller Kleidung aufs Bett fallen.

 

Ich habe keine genaue Erinnerung mehr an die folgenden Tage, ich musste vermutlich noch einige Termine absolvieren: Lesungen in Buchhandlungen, Mediatheken, Vorträge in Schulen. Ich hatte versucht, meine Reisen in die Provinz auf einen Tag in der Woche zu beschränken, um bei meinen Kindern sein zu können, und wollte ohnehin Ende Mai mit alldem aufhören. Irgendwann kommt der Moment, in dem man wieder für Stille rings um sich sorgen, sich wieder an die Arbeit machen und seinen Weg wiederfinden muss. Ich sehnte diesen Moment ebenso herbei, wie ich ihn fürchtete, aber ich hatte dafür gesorgt, dass er kam, und alle Einladungen nach diesem Termin abgelehnt.

Eines Freitagabends, als ich nach zwei Tagen Abwesenheit nach Hause kam (ich war in Genf bei einem Leseverein zu Gast gewesen), fand ich unter einigen Rechnungen einen Brief in meinem Briefkasten. Mein Name und meine Adresse waren auf ein Etikett gedruckt worden, das auf dem unteren Teil des Umschlags klebte. Ich hielt ihn daher für einen Werbebrief, fast hätte ich ihn weggeworfen, ohne den Inhalt zu überprüfen. Ein Detail jedoch weckte meine Aufmerksamkeit. Auf dem Etikett stand fett gedruckt meine Wohnungsnummer, eine Nummer, die auf keiner administrativen Post auftaucht. Übrigens wusste ich lange Zeit gar nichts von ihr. Sie steht nämlich auf einem kleinen Bronzeschild, das draußen im Gang etwa einen Meter links von der Wohnungstür neben den alten PTT-Schildern an die Fußleiste genagelt ist. Ich habe es erst nach ein paar Jahren bemerkt. Meine Wohnung hat die Nummer 8, die meiner Nachbarn die Nummer 5, ein solcher Mangel an Logik machte diese Nummern in meinen Augen noch geheimnisvoller.

Neugierig öffnete ich den Umschlag und entfaltete den auf ein DIN-A4-Blatt getippten Brief. Wer besitzt denn heutzutage noch eine Schreibmaschine, das dachte ich, bevor ich ihn zu lesen begann.

Ich gebe den Text, dessen Syntax und Vokabular anscheinend so gewählt wurden, dass ich das Geschlecht des Absenders nicht bestimmen konnte, hier vollständig wieder.

Delphine,

du glaubst sicher, du seist quitt mit allen. Du glaubst, du könntest dich so aus der Affäre ziehen, weil dein Buch angeblich ein Roman ist und weil du ein paar Vornamen geändert hast. Du glaubst, du könntest dein erbärmliches kleines Leben einfach so weiterführen. Dafür ist es zu spät. Du hast Hass gesät und wirst das Verdiente ernten. Die Schleimer in deiner Umgebung haben so getan, als hätten sie dir verziehen, aber, glaub mir, dem ist nicht so, sie sind wütend und warten auf ihre Stunde, und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du ihnen nicht entgehen. Ich habe allen Grund, dies zu wissen. Du hast eine Bombe gelegt, du wirst auch die Trümmer zählen müssen. Das wird kein anderer für dich tun.

Aber täusch dich nicht über meine Absichten. Ich will dir nichts Böses. Ich wünsche dir sogar das Beste. Ich wünsche dir einen glänzenden Erfolg, den du mit 75 % versteuerst, denn ich nehme an, du stehst links, wie all die bürgerlichen Bohemiens deiner Art, und wirst François Hollande wählen.

Du hast deine Mutter verkauft, und das hat dir viel eingebracht. Du verdienst mächtig Kohle, oder? Zahlt sich die Familiengeschichte aus, mit maximaler Rendite?

Dann schick ihn doch bitte, den Scheck.

Damals bekam ich über den Verlag sehr viel Post, Dutzende von Briefen meiner Leser, jede Woche kam ein brauner Umschlag mit einem Päckchen gebündelter Briefe. Auch Mails, die von der Website an meine Mailadresse weitergeleitet wurden.

Aber nun bekam ich zum ersten Mal einen anonymen Brief an meine private Adresse. Und zum ersten Mal einen so aggressiven Brief zu einem Buch von mir.

Ich hatte ihn kaum zu Ende gelesen, da klingelte mein Handy. Ich kannte die Nummer auf dem Display nicht und zögerte, bevor ich den Anruf annahm. Einen Moment lang glaubte ich, der Schreiber des Briefs und der Anrufer seien derselbe, auch wenn das unsinnig war. Ich war so aufgewühlt (und erleichtert), dass es mir nicht seltsam erschien, die tiefe und leicht samtige Stimme L.s zu hören, obwohl ich ihr meine Nummer nicht gegeben hatte.

Sie habe seit unserer Begegnung viel an mich gedacht, sagte L. und schlug vor, an einem der nächsten Tage, wann immer es mir passe, einen Tee, einen Kaffee, ein Glas Wein oder sonst ein Getränk meiner Wahl zu trinken, sie sei sich durchaus bewusst, dass mir ihr Verhalten absonderlich und ein bisschen kühn erscheinen könne, sie lachte und fügte dann hinzu:

»Aber die Zukunft gehört den Sentimentalen.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, plötzlich stand mir Le Loup sentimental vor Augen, ein Bilderbuch, das ich meinen Kindern, als sie klein gewesen waren, Dutzende Male vorgelesen hatte. Der Held, Lucas, ein temperamentvoller junger Wolf, verlässt seine Familie, um sein eigenes Leben zu leben. Im Augenblick des Abschieds zählt ihm der Vater gerührt die Lebensmittel auf, die er zu sich nehmen darf: Rotkäppchen, drei kleine Ferkel, Ziege und Zicklein usw. In Bermudashorts und Rollkragenpullover (ich erwähne diese Details, weil sie zum unbestreitbaren Charme dieser Figur beitragen) geht Lucas aufgeregt und zuversichtlich auf Abenteuersuche. Doch jedes Mal, wenn er einem der Nahrungsmittel von der Liste begegnet, lässt er sich erweichen und verschlingt seine Beute nicht, sondern geht seines Wegs. Nachdem er einige der vierbeinigen Festmähler – mit denen er bei der Gelegenheit auch noch Freundschaft schließt – ausgelassen hat, trifft er völlig ausgehungert auf den schrecklichen Menschenfresser (soweit ich mich erinnere, ist es der aus dem Kleinen Däumling) und verschlingt ihn mehr oder weniger in einem Bissen, wodurch er alle schwachen Geschöpfe seiner Gegend von dieser Gefahr erlöst.

Doch abgesehen von dieser Geschichte kam mir eigentlich kein Beispiel für das glückliche Geschick der Sentimentalen in den Sinn. Mir schien ganz im Gegenteil, dass sie meistens die bevorzugte Beute von Despoten und sonstigen Fieslingen waren.

Wie dem auch sei, ich hörte mich Ja sagen, warum nicht, gern, irgendetwas in der Art. Wir verabredeten uns für den folgenden Freitag in einer Bar, die L. kannte. Während des Gesprächs fragte sie mich mehrmals, ob alles in Ordnung sei, als könnte sie meine Bestürzung aus der Ferne wahrnehmen.

Als ich später wissen wollte, wie sie an meine Telefonnummer gekommen war, antwortete L., sie habe genug Beziehungen, um jede Handynummer, von wem auch immer, herauszubekommen.

 

Ich habe die Spur dieses ersten Treffens in meinem Kalender gefunden. Neben L.s Namen hatte ich ihre Telefonnummer und die Adresse der Bar notiert. Damals und auch für einige Zeit danach konnte ich noch einen Stift in der Hand halten, und mein Leben war in den schwarzen, seit fünfzehn Jahren immer gleichen Quo-Vadis-Kalendern enthalten, die ich in jedem Herbst nachkaufte. Mit Hilfe dieser Seiten versuche ich zu rekonstruieren, in welchem Kontext und in welcher Geistesverfassung ich L. wiedersah. Im Laufe derselben Woche nahm ich anscheinend an einer Veranstaltung in einer Pariser Buchhandlung teil, traf mich im Lutetia mit einer Wissenschaftlerin des staatlichen Zentrums für wissenschaftliche Forschung CNRS, die an einer Studie über die Rolle der Autoren in den Medien arbeitete, begab mich in die Rue Edouard-Lockroy Nr. 12 (die Adresse ist, ohne weitere Angaben, mit einem grünen Stabilo unterstrichen), plauderte im Pachyderme mit Serge, mit dem ich mich ein, zwei Mal im Jahr treffe, damit wir uns über unser Werk und unser Leben austauschen können. (An jenem Tag ging es um den idealen Stuhl, Serge unterhielt mich mit einer witzigen Beschreibung seiner kurzlebigen Leidenschaften für dieses oder jenes Sitzmöbel und der vielen verstoßenen Stühle, die sich auf seinem Dachboden stapelten.) Hinzu kommen etwa zehn Termine, an die ich mich nur noch vage erinnere. Ich schließe daraus, dass ich zu jener Zeit sehr beschäftigt und wahrscheinlich etwas angespannt war, wie immer, wenn mir das Leben davonläuft und schneller galoppiert als ich. Außerdem sehe ich, dass ich den Englischunterricht bei Simon angefangen hatte. Ich kam übrigens gerade aus dem Unterricht, als ich mich mit L. in der Express Bar traf.

Ich wusste nicht viel über sie, weil wir am Abend unserer ersten Begegnung vor allem über mich gesprochen hatten. Was mir, als es mir später zu Hause auffiel, ziemlich unangenehm war, deshalb stellte ich ihr, kaum dass ich saß, mehrere Fragen, damit sie keine Zeit hatte, den Gesprächsverlauf nach ihren Wünschen zu bestimmen. Es war mir nicht entgangen, dass sie es gewöhnt war, in diesen Dingen die Führung zu übernehmen.

L. lächelte, sie war keine Spielverderberin.

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