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Über das Buch / Über den Autor

Sommer 1920 im nordenglischen Oxgodby: Als auf dem Bahnhof ein Londoner aus dem Zug steigt, weiß gleich das ganze Dorf Bescheid: Er ist der Restaurator, der das mittelalterliche Wandgemälde in der örtlichen Kirche freilegen soll. Doch was steckt hinter der Fassade des stotternden und unter chronischen Gesichtszuckungen leidenden Mannes? Tom Birkin hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, als traumatisierter Veteran wurde er von seiner Frau verlassen. Er hofft, in der Ruhe und Einfachheit Yorkshires zu gesunden. Und tatsächlich: Langsam gelingt es ihm, sich der Welt um sich herum zu öffnen, vielleicht sogar der Liebe …

J. L. Carr erzählt von einem Mann, der überlebt, und von der Rettung, die in uns wie den anderen liegt. Dieser moderne Klassiker der englischen Literatur ist in seiner sprachlichen Leichtigkeit und Eleganz eine echte Wiederentdeckung.
 

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Credit: © Brendan King / National Portrait Gallery, London

J. L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994 an Leukämie. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane. ›Ein Monat auf dem Land‹ ist Carrs bekanntestes Werk und war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erscheint es nun erstmals auf Deutsch.

Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute als Übersetzerin und freie Lektorin tätig. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Mohsin Hamid, Naomi J. Williams, Richard Russo, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi und Theresa Révay.

J. L. Carr

EIN MONAT
AUF DEM LAND

Aus dem Englischen
von Monika Köpfer

Für Kathie
und für Sally … lebt wohl

 

 

 

 

»Eine Novelle – eine kleine Erzählung,
zumeist über die Liebe«
Dr Johnson’s Dictionary

 

 

»Nur Atem holen will ich,
mach auch du kurz Rast –,
reich mir die Hand und sag mir,
was du im Herzen hast.«
A. E. Housman

 

 

Sie kommt nicht, wenn Mittag ist über den Rosen – nicht am helllichten Tag.
Sie kommt erst zur Seele, wenn sie rastet, ausruht von Arbeit und Spiel.
Aber wenn es Nacht ist über den Bergen und vom Meer die großen Stimmen hereinwehen,
Im Sternenlicht und Kerzenlicht und Traumlicht, da kommt sie zu mir.
Herbert Trench

Vorwort

WENN MAN LANGE EIN und derselben Beschäftigung nachgeht, neigt man dazu, seine ursprünglichen Absichten zu vergessen. Ich meine mich jedoch zu erinnern, dass mir, als ich Ein Monat auf dem Land zu schreiben begann, eine nette, unterhaltsame Geschichte vorschwebte, ein ländliches Idyll im Stil von Thomas Hardys Die Liebe der Fancy Day. Um einen ganz eigenen Erzählton zu erzeugen, sollte der Erzähler wehmütig fünfzig Jahre später zurückblicken und sich an eine Zeit erinnern, die unwiederbringlich vorbei ist, und dabei leise Trauer verspüren.

Und ich wollte, dass die Geschichte glaubhaft war. Also beschloss ich, sie in North Riding anzusiedeln, im Vale of Mowbray, das seit vielen Generationen die Heimat meiner Familie ist und wo ich in einem Haus ähnlich dem der Ellerbecks aufwuchs, in einer Zeit, in der man noch mit Pferd und Pflug die Felder bestellte und eine Kerze mitnahm, wenn man zu Bett ging.

Das Verfassen eines Romans kann ein kaltblütiges Unterfangen sein. Man benutzt, was immer gerade im Gedächtnis herumliegt, und biegt es so hin, dass es dem eigenen Zweck dient. Der Besuch bei dem todkranken Mädchen, eine erste Erfahrung als Laienprediger, der Ausflug der Sonntagsschule, ein Tag bei der Ernte und noch vieles mehr hat sich tatsächlich zwischen den Pennine Moors und den Yorkshire Wolds ereignet. Die Kirche inmitten der Felder befindet sich hingegen in Northamptonshire, ihr Friedhof in Norfolk und die Pfarrei in London. All das war Wasser auf meine Mühlen.

Auch wird eine Geschichte während der Monate, in denen man über die Vergangenheit schreibt, gefärbt von dem, was man in der Gegenwart erlebt. Auf diese Weise ändert sich der Erzählton unbewusst – was man ursprünglich im Sinn hatte, zerrinnt einem zwischen den Fingern. Und so ertappte ich mich dabei, wie ich durch ein anderes Fenster auf eine dunklere Landschaft blickte, die weder von der Gegenwart noch von der Vergangenheit bewohnt war.

J. L.Carr

Ein Monat auf dem Land

ALS DER ZUG ZUM STEHEN KAM, stolperte ich die Stufen hinab, während ich meinen Seesack umständlich vor mir herbugsierte. Am unteren Ende des Bahnsteigs rief eine verzweifelte Stimme: »Oxgodby … Oxgodby.« Niemand bot mir Hilfe mit meinem restlichen Gepäck an, also kehrte ich in mein Abteil zurück, taumelte über Knöchel und Füße, um den Bastkorb (aus der Gepäckablage über dem Sitz) und mein faltbares Feldbett (aus dem Stauraum unter dem Sitz) zu holen. Sollte dieses Verhalten charakteristisch für die Nordländer sein, dann befand ich mich in Feindesland und so achtete ich nicht besonders darauf, wo ich meine Füße hinsetzte. Ich hörte, wie ein Kerl vernehmlich die Luft einsog und ein anderer etwas Unverständliches knurrte: Keiner von ihnen sagte etwas.

Dann war ich draußen, der Schaffner blies in seine Trillerpfeife, der Zug fuhr ruckelnd an – und blieb abermals stehen. Dies schien zu genügen, um den alten Mann, der im nächstgelegenen Waggon saß, dazu zu bewegen, das Fenster halb herunterzulassen und mir in breitestem und nahezu unverständlichem Yorkshire-Dialekt zuzurufen: »Pass’n Sie auf, Master, Sie werd’n ja nass bis auf die Knochen!«, und er schob das Fenster direkt vor meiner Nase wieder hoch. Schließlich stieß die Lok eine herrliche Dampfwolke aus, und während der Zug davonzuckelte, zog eine Reihe hölzerner und mich anstarrender Gesichter an mir vorüber. Nunmehr allein auf dem Bahnsteig, ordnete ich meine Gepäckstücke und warf einen letzten Blick auf meine Karte, ehe ich sie wieder in der Tasche meines Mantels verstaute, nur um sie erneut hervorzuzerren, wobei mein Fahrschein dem Stationsvorsteher vor die Füße fiel und ich wünschte, ich hätte die beiden fehlenden Knöpfe angenäht und es würde zu regnen aufhören, bis ich ein Dach über dem Kopf hätte.

Ein junges Mädchen, das Gesicht gegen eine Fensterscheibe des Stationsvorsteherhauses gedrückt, sah mich unverwandt an. Vermutlich hatte mein Mantel sein Interesse geweckt; er stammte noch aus Vorkriegszeiten, schätzungsweise aus dem Jahr 1907, erstklassiges Material, noch die gute alte Qualität, dicker Fischgrät-Tweed. Er reichte mir bis zu den Knöcheln; sein ursprünglicher Besitzer musste ein gut betuchter Riese gewesen sein.

Mir schwante, dass ich tatsächlich bis auf die Knochen nass werden würde; schon drang Wasser durch die Sohlen meiner Schuhe. Der Stationsvorsteher trat in den Lampenraum zurück und sagte etwas zu mir, aber ich konnte seinen Dialekt nicht verstehen. Er schien es zu bemerken. »Ich habe gesagt, Sie können sich meinen Schirm borgen, wenn Sie wollen«, wiederholte er in passablem Englisch.

»Es ist nicht so weit zu meinem Ziel«, sagte ich. »… das heißt, laut meiner Karte.«

Die Leute dort oben sind von unbezwingbarer Neugier. »Und was soll das sein?«, fragte er.

»Die Kirche«, antwortete ich. »Dort werde ich mich gewiss trocknen können.«

»Kommen Sie doch auf ’ne Tasse Tee herein«, erwiderte er.

»Danke, aber ich bin mit dem Pfarrer verabredet.«

»Ach so«, sagte er, »ich selbst bin bei der Freikirche, wissen Sie. Trotzdem, wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen.«

Er schien zu wissen, weswegen ich gekommen war.

Dann machte ich mich mit gemischten Gefühlen auf den Weg, während ich den Bastkorb mit meiner Wechselkleidung notdürftig mit dem Mantel vor dem Regen abschirmte. Die schmale Straße befand sich dort, wo sie laut Karte sein sollte. Und da war ein einzelnes Gebäude; es entpuppte sich als heruntergekommenes Bauernhaus, dessen kleiner Vorgarten hinter einem verrosteten schmiedeeisernen Zaun schmollte. Ein Hund, ein Airedaleterrier, zerrte an seiner Kette, jaulte halbherzig und zog sich dann schnell wieder ins Trockene zurück. Sodann passierte ich eine Reihe Hühnerställe, halb eingefallen inmitten der Brennnesseln des darniederliegenden Obstgartens. Der Regen floss mir in einem Rinnsal vom Filzhut in den Nacken, und einer der Griffe meines Bastkorbs hatte sich gelöst. Schließlich bog ich um eine hohe Hecke herum und befand mich auf offenem Feld. Und da war auch schon die Kirche.

Auf den ersten Blick ein Allerweltsbauwerk: Allem Anschein nach hatte dieser Landstrich im ausgehenden Mittelalter keine Schafwoll-Hochkonjunktur erlebt. Dies war mit Sicherheit ein Hungerleiderland gewesen, jeder Baustein hatte der Erde abgepresst werden müssen. Das Giebeldach des Altarraums war weniger steil als das des Hauptgebäudes und musste gut hundert Jahre später hinzugefügt worden sein (das Giebeldach von letzterem lief über den beiden Seitenschiffen flach aus). Ein gedrungener Glockenturm. Nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen; alles in allem war ich angenehm überrascht von der Kirche, und im Näherkommen sah ich, dass sie über ein gut erhaltenes Mauerwerk verfügte – Kalkstein statt Bruchgestein. Sogar die Steine zwischen den Strebepfeilern waren gut behauen und kamen mit nur einem Hauch Mörtel aus, und obwohl ich schier im Regen ertrank, zollte ich den Steinmetzen Bewunderung. Was den Stein betraf – nur eine leichte Gelbfärbung, Magnesium –, so musste er in der Nähe von Tadcaster abgebaut und über die Flüsse herbeigeschifft worden sein. Sehen Sie mir diese Detailversessenheit nach: Bereits in jener längst vergangenen Zeit bildete ich mir etwas auf meine Gesteinskenntnisse ein.

Auch die Kirchhofmauer war in gutem Zustand, allerdings war die Klinke des schmalen Tors abgebrochen, und es wurde von einer Schnurschlaufe zugehalten. Einige alte Grabsteine aus dem achtzehnten Jahrhundert waren zu sehen, die flechtenbewachsenen Engels-, Stundengläser- und Totenkopfmotive überwuchert von Gras, Brennnesseln und Hundspetersilie. Auch zwei, drei Zacken eines Familiengrabsteins konnte ich zwischen dem Dornengestrüpp ausmachen. Eine graue Katze spähte daraus hervor, funkelte mich feindselig an, und weg war sie. Der Himmel allein wusste, was sonst noch hier lebte: Heutzutage würde man es gewiss zum schützenswerten Biotop erklären.

Die Dachrinnen und Abflussrohre – ich konnte nicht anders und musste nachschauen, ob sie mit den Wassermassen zurechtkamen. Also ging ich schnell um das Gebäude herum. Nirgendwo ein Sturzbach von oben, kein einziger Spritzer an den Mauern! Feuchtigkeit ist der Untergang von Wandgemälden. Wenn es irgendwo eine grüne Mauer gegeben hätte, hätte ich genauso gut auf dem Absatz kehrtmachen und mich wieder zum Bahnhof zurückspülen lassen können.

Doch so ging ich zu der kleinen Veranda zurück, deren steinerne Sitzbänke blank poliert waren von den Hinterteilen unzähliger Trauergäste, die dort in den letzten fünfhundert Jahren Platz genommen hatten, schwindelig von Weihrauch oder Gewissensbissen.

Dann drehte ich den Eisenring und schob die Tür auf. Sie ächzte – ein Warnsignal, für das ich während der nächsten Wochen noch dankbar sein sollte. Und hier war ich also. Im Großen und Ganzen war es so, wie ich es erwartet hatte – ein Steinplattenboden, drei gedrungene Säulen zu beiden Seiten des Mittelschiffs, zwei niedrige Seitenschiffe und vorn der Altarraum (jedenfalls das, was ich davon sehen konnte), penibel umgestaltet von einem Amtsinhaber der reformerischen Oxford-Bewegung. Ein dichtes, robustes Dach; es hätte ebenso gut ein auf dem Kopf stehender Schiffsboden sein können. Und soweit ich es erkennen konnte, schien es ein paar interessante Scheitelsteine zu geben. Aber natürlich war es der Geruch des Ortes, der sich zuerst einprägte – und dieser Geruch war der von feuchten Kniekissen.

Das Baugerüst war, so wie es mir brieflich zugesichert worden war, errichtet und füllte den Chorbogen aus. Sogar eine mit einem Seil befestigte Leiter stand bereit, und ich stieg augenblicklich hinauf. Man kann ja viel gegen den Reverend Keach sagen. Leider. Aber wenn er eines Tages vor den Richterstuhl Christi tritt, muss dies zu seiner Verteidigung vorgebracht werden: In geschäftlichen Dingen war bei Gott auf ihn Verlass. Und das ist bei Engländern eine rare Tugend. In Frankreich hätten wir ein paar Majore von seinem Schlag gut brauchen können. Er hatte gesagt, das Gerüst werde bereitstehen, und es stand bereit. Er hatte gesagt, wenn ich mit dem Zug um Viertel nach sieben ankäme, werde er mich um halb acht in der Kirche erwarten. Und das tat er.

Und so sah ich ihn zum ersten Mal – er schien mir der fleischgewordene Ausdruck seiner geschäftsmäßigen Briefe zu sein, wie er da schräg unter mir im Eingang stand und an den nassen Fußabdrücken ablas, dass ich bereits da war. Mit der Unnachgiebigkeit eines Spürhunds folgte er ihnen mit den Blicken bis zum Fuß der Leiter und an ihr empor.

»Guten Abend, Mr Birkin«, sagte er, und ich kletterte hinunter. Er war vier oder fünf Jahre älter als ich, so um die dreißig, ein großer, aber nicht gerade kräftiger Mann, wohlgeraten, mit hellen Augen und mit kaltem, verschlossenem Ausdruck, und selbst als er sich längst an das Zucken in meinem Gesicht hätte gewöhnt haben müssen, schien er, wenn er mit mir sprach, seine Worte an jemanden hinter meiner linken Schulter zu richten.

Er kam sogleich zur Sache. »Also, zu Ihrem Wunsch, in der Glockenturmkammer zu wohnen. Ich bin nicht gerade begeistert von dieser Idee. Gewiss habe ich in unserer Korrespondenz erwähnt, dass Mossop jeden Sonntag die Glocke läuten muss und dass das Seil durch ein Loch im Boden verläuft. Ich hatte gehofft, Sie würden sich eine andere Unterkunft suchen – ein möbliertes Privatzimmer vielleicht oder dass Sie sich im Shepherds’ Arms einquartierten.«

Ich murmelte etwas von unnötigen Ausgaben.

»Der Ofen«, sagte ich dann. »Was ist mit dem Ofen? Sie hatten mir meine diesbezügliche Frage noch nicht beantwortet. Kann ich ihn benutzen? Der Regen … so wie heute …« Mein Stottern verwirrte ihn einen Moment lang.

»Im Vertrag steht davon nichts«, sagte er ausweichend und schaffte es irgendwie, durchblicken zu lassen, dass das Gleiche auch für mein Gestotter und Gesichtszucken galt. »Anfangs war von dem Ofen nicht die Rede. Wir müssen an unsere Ausgaben denken, wissen Sie. Sie schrieben, Sie würden einen Spirituskocher mitbringen. In Ihrem ersten Brief. In diesem.« Er holte ihn aus seiner Jackentasche und drückte ihn mir in die Hand. »Auf der zweiten Seite, ungefähr in der Mitte.«

»Nun, ich will verhindern, dass ich etwas in Brand setze«, gab ich zurück und war ziemlich zufrieden mit mir; die Leute sind sich nicht im Klaren darüber, dass ein Stotterer mehr Zeit hat, auf unangenehme Angriffe zu reagieren, und so setzte ich noch eins drauf: »Und vergessen Sie die Versicherung nicht. Die nennen so etwas ›widernatürlichen Gebrauch eines Gebäudes‹. Brennspiritus und Paraffin … uraltes Holz … zundertrocken … todsichere Faktoren, die die Prämie ansteigen lassen. Ein Onkel von mir war Versicherungsvertreter …«

Die Formulierung »widernatürlicher Gebrauch« erzielte offenbar ihre Wirkung. »Widernatürlicher Gebrauch« klang für Londoner schon schlimm, aber wer weiß, was sie auf dem Land – insbesondere hier im Norden – darunter verstanden! Und bekanntlich bläht sich eine Sünde zur doppelten Größe auf, wenn sie gegenüber einem Kirchenmann geäußert wird.

»Na gut«, sagte er gereizt. »Von mir aus können Sie ihn benutzen, wenn Sie nicht ohne ihn auszukommen meinen.« Dann begann er, wie alle Menschen, die schnell nachgeben, ein paar Einschränkungen hinterherzuschicken, um das Gesicht zu wahren. »Aber sorgen Sie dafür, dass er an den Sonntagen in einem ordentlichen Zustand ist, und Sie denken doch natürlich immer daran, dass Sie sich an einem geweihten Ort befinden? Sie sind doch ein Kirchgänger?«

O ja, sagte ich, er könne sich auf mich verlassen. Ich bemerkte, dass er nach einer möglichen Zweideutigkeit in meiner Bemerkung fahndete, sich fragte, in Bezug auf was genau er sich auf mich verlassen könne. Seiner Miene nach in Bezug auf gar nichts. Ich sah nicht wie ein Kirchgänger aus. In der Tat sah ich eher wie eine zwielichtige Person aus, die Dinge widernatürlich gebraucht und die, entgegen seinem Rat, unnötigerweise angeheuert worden war, ein Wandgemälde freizulegen, das er gar nicht sehen wollte, und je früher ich mit meiner Arbeit fertig wäre und wieder im Sündenpfuhl London verschwinden würde, umso besser.

»Er ist sehr ungewöhnlich«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Dieser Ofen«, sagte ich. »Wirklich sehr ungewöhnlich.«

»Hoffnungslos veraltet«, erwiderte er. »Vor dem nächsten Winter werde ich ihn entfernen lassen. Ich habe eine neu patentierte Vorrichtung mit doppeltem Heizkessel in einem Katalog gesehen. Jeder Kessel ist in einen Wassermantel eingebettet, sodass ständig für zuverlässige Hitzezufuhr gesorgt ist. Und der Ofen ist garantiert geräuschlos.«

Mit einem Mal klang er wie ein anderer Mensch, während er sich so fachmännisch über diesen neuartigen Ofen ausließ, den Oxgodby vermutlich nie zu Gesicht bekommen würde.

»Dieser hier ist entweder zu heiß, nicht selten sogar glühend heiß, oder er hält nur sich selbst und niemanden sonst warm.« Verärgert gab er ihm einen kleinen Tritt. Er und der Ofen starrten einander finster an wie zwei Erzfeinde.

Gut möglich, dass er noch etwas sagte, aber ich hörte ihm schon nicht mehr zu, da ich mich darangemacht hatte, den Ofen mit großem Interesse zu untersuchen. Gewisse mechanische Dinge faszinieren mich. Bis zu diesem Tag waren es vor allem Uhren gewesen und alles, was von einem Uhrwerk betrieben wurde. Über die technischen Raffinessen eines Kohleofens hatte ich mir indes noch nie Gedanken gemacht. Es gab mehrere Griffe und Knöpfe, für die ich keinen Verwendungszweck erkennen konnte: Dieses Monstrum würde mir gewiss etliche vergnügliche Stunden bescheren, in denen ich seine Marotten kennenlernen würde, und ich hoffte, dem Pfarrer möge es nicht gelingen, es entfernen zu lassen, solange ich noch hier war. Ich streichelte besänftigend die Stelle, die der Pfarrer zuvor so schnöde gestoßen hatte. Wenn man dem Ofen gut zuredete, konnte man ihn unter der verständigen Mithilfe von Mossop (wer immer das war) womöglich dazu bringen, seine ganze zerstörerische Wirkkraft zu entfalten, um eine Predigt über die Flammen der Hölle perfekt zu machen.

Der Ofen besaß ein großes Wappenschild, umkränzt von schmiedeeisernen Rosen, dem zu entnehmen war, dass die Bankdam-Crowther-Gesellschaft in Green Lane, Walsall, ihn unter der Patent-Nr. 7564B gefertigt hatte. Wenn das nicht ein Stammbaum war, der Wunder versprach! Ja, es war mehr als nur ein Stammbaum – eine ganze Dynastie … Bankdam-Crowther, die Habsburger in der Welt der Öfen! Weiß der Himmel, was aus Bankdam geworden war, aber ich erinnerte mich, in der Daily Mail gelesen zu haben, dass sich Crowther die Kehle durchgeschnitten hatte, ehe er sich vom Pier in Bridlington stürzte, um auch wirklich auf Nummer sicher zu gehen. Aber das hatte natürlich absolut nichts mit seinen Öfen zu tun: Frauen und Pferde waren es gewesen, die er nicht verstanden hatte. Diese Geräte wurden also nicht mehr hergestellt. Ein entsetzlicher Verlust für all jene Regionen der Erde, die eines wärmenden Kohlefeuers bedurften. In der Tat hatte ich den letzten seiner Art in Ypern gesehen. Nach einer Granatexplosion war die Kirche, in der er sich befand, zusammengestürzt. Nicht jedoch der gute alte Bankdam-Crowther! Was für eine großartige Errungenschaft der britischen Handwerkskunst!

Der Regen trommelte aufs Dach. »Was haben Sie genau gegen ihn?«, fragte ich.

»Er rumpelt«, erwiderte der Pfarrer ungeduldig, »und stört die Gebete und Gesänge: Die hohlköpfigen Kinder scheinen das lustig zu finden. Und dann kommt es immer mal wieder zu einem Rückstoß, und wenn er … nun, eben zurückstößt, entlädt er – Rauch, Funken, Asche … ja, Asche, er sprüht Asche auf die Kirchengemeinde. Es gab schon mehrere Beschwerden. Während des Gesangs in der Abendandacht am 15. Januar dieses Jahres wurde sogar der Chor mit Asche eingestäubt. Und nicht nur ein paar Flocken! Eine ganze Aschewolke! Ich habe eigens einen Spezialisten aus York kommen lassen, um ihn sich anzuschauen. Er hat uns eine Guinee dafür berechnet und gesagt, der Ofen werde uns von nun an keine Probleme mehr bereiten. Aber kaum einen Monat später hat er es wieder getan. Erst in letzter Zeit scheint er ein bisschen zur Ruhe gekommen zu sein; ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, dass Sie nichts tun werden, was an diesem Zustand etwas ändert.«

In Wahrheit dachte er, dass er sich keineswegs auf mich verlassen konnte. Ich sah durch und durch unzuverlässig aus; mein Mantel verriet mich. Mein Gesicht, die linke Hälfte, ebenfalls. Wie dieser Bankdam-Crowther neigte sie zu krampfartigen Zuckungen. Menschen wie Reverend Keach riefen es geradezu hervor. Es begann bei meiner linken Augenbraue und setzte sich bis zum Mund fort. Ich hatte es mir in Passchendaele eingehandelt und war damit nicht der Einzige. Die Ärzte meinten, es würde sich mit der Zeit wieder legen. Dass Vinny davongelaufen war, hatte es auch nicht gerade besser gemacht.

Ja, antwortete ich, er könne sich auf mich verlassen, und setzte eine, so hoffte ich, vertrauenswürdige Miene auf. Während meine eine Gesichtshälfte in eine andere, unzuverlässige Richtung zuckte, musste ich wohl einen erschreckenden Anblick abgegeben haben, denn er versetzte dem Ofen einen weiteren Stoß – diesmal aus Verlegenheit.

»Nun …«, sagte er, »da wäre noch eine etwas delikate Angelegenheit.« Sie musste anscheinend äußerst delikat sein, denn er senkte die Stimme. »Sollten Sie … wenn Sie ein gewisses Bedürfnis verspüren, können Sie die Hütte in der nordöstlichen Ecke des Friedhofs benutzen. Dort sind Sie ganz für sich – sie ist hinter ein paar Fliederbüschen verborgen. Als ich zuletzt dort nach dem Rechten gesehen habe, gab es nur ein paar von Mossops Werkzeugen, aber dort ist Platz genug. Wenn Sie so nett wären, einmal pro Woche ein bisschen Keating’s Insektenpulver und eine Schaufel Erde hineinzugeben – um die Fliegen in Schach zu halten, Sie wissen schon.«

Diese Information loszuwerden musste ihn eine große Anstrengung gekostet haben, und er legte eine Pause ein, um die Kraft für ein weiteres Geständnis zu sammeln.

»Die Sense«, sagte er.

»Die Sense?«

»Mossops Sense hängt dort an einem Nagel. Er ist rostig. Der Nagel.«

»Ah ja.«

»Vielleicht sollten Sie sicherstellen, dass sie fest dort hängt, bevor …«

Ich dankte ihm und fragte mich insgeheim, ob er sich um mein Leben sorgte oder nur um meine Männlichkeit.

»Ich habe Moon gesagt, er kann es ebenfalls benutzen. Um welche Epoche handelt es sich, würden Sie schätzen?«

Das Plumpsklo konnte er wohl nicht meinen, beschloss ich, also nahm ich an, er beziehe sich auf den Ofen, und sagte: »Oh, 1890 … 1900 herum … ungefähr in diesem Zeitraum«, und fragte mich, wer Moon, mein geheimer Mitbenutzer, wohl sein mochte.

»Nein, nein«, rief er irritiert aus. »Das Gemälde … das Wandbild …«

Ich erklärte ihm, dass ich das nicht sagen könne, bevor ich nicht wenigstens einen Teil freigelegt hätte. Anhand der Kleidung der Porträtierten würde ich es auf zehn bis zwanzig Jahre genau datieren können; die Mode ändere sich auch bei den Wohlhabenden nicht so schnell, und bei den Armen so gut wie gar nicht, und ich hoffte, dass ein, zwei reiche Damen abgebildet sein würden. Das Schlupfkleid, die Cotte, zum Beispiel sei um 1340 außer Mode gekommen, während gleichzeitig Haarnetze aufgekommen seien. Aber wenn er eine grobe Schätzung von mir haben wolle – und mehr als das sei nicht möglich –, dann würde ich auf das vierzehnte Jahrhundert tippen, die Zeit nach dem Schwarzen Tod, als sich die überlebenden Adeligen zu skandalös niedrigen Preisen die Güter ihrer verstorbenen Nachbarn angeeignet und, weil sie selbst auch um ihr Leben fürchteten, einen Teil des Profits geopfert hatten.

Seine Erwiderung war ziemlich belanglos, und vielleicht war das mit ein Grund, warum es mir schwerfiel, ihm zuzuhören. Aber auch seine Stimme wirkte sich irgendwie lähmend auf mein Denken aus, sodass ich einen Großteil dessen, was er sagte, gar nicht mitbekam (vielleicht brütete ich über den geheimnisvollen Moon und Mossops Damokles-Sense).

»Wann werden Sie beginnen?«

Das schnappte ich allerdings auf. Hier war ich – und ich hatte schon begonnen. Diese Antwort war wirklich einfach. Dann hörte ich ihn sagen: »Zusätzliche Kosten werden wir nicht übernehmen.«

»Es wird keine geben.«

»Es darf keine geben. Sie haben einem Honorar von fünfundzwanzig Guineen zugestimmt – zwölf Pfund, zehn Shilling ungefähr nach der Hälfte und dreizehn Pfund, fünfzehn Shilling nach Fertigstellung und Annahme durch die Testamentsvollstrecker. Hier habe ich Ihren diesbezüglichen Brief.«

»Warum nur durch die Testamentsvollstrecker?«, fragte ich. »Warum nicht auch durch Sie?« Ein raffinierter Zug von mir, wie ich fand.

»Ein Versäumnis von Miss Hebron in ihrem Vermächtnis«, log er, und seine Stimme klang verbittert. »Ein Versehen, natürlich.«

Gewiss, dachte ich. Natürlich!

Aber er holte zum Gegenschlag aus. »Wie auch immer, in allen praktischen Angelegenheiten vertrete ich die Testamentsvollstrecker. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie es ausbessern … verblichene Stellen … oder gar verschwundene Teile … ergänzen Sie sie ruhig. Solange es angemessen ist und mit dem Rest harmoniert. Aber ich überlasse das Ihnen«, fügte er skeptisch hinzu.

Unglaublich!, dachte ich. Warum bloß waren so viele Pfarrer so? Musste man ihr mangelndes Feingefühl damit entschuldigen, dass sie ganz und gar von Gott in Anspruch genommen waren? Und was war mit ihren Ehefrauen? Ob sie zu Hause, ihnen gegenüber, genau so waren?