cover

»›Das halbe Haus‹ ist erzählerisch und stilistisch ein Kunststück.« Charlotte Janz, Badische Zeitung
 
Geschichte geht durch diese Familie, die eigentlich eine halbe ist: Großmutter, Vater, Enkelsohn. Krieg und Vertreibung haben sie zerrüttet. In Zeiten des Kalten Krieges träumt Frank Friedrich von der Freiheit. Seine Mutter Polina übersiedelt für ihn in den Westen. Sein 11-jähriger Sohn Jakob hat andere Pläne: er hofft auf eine Karriere als Sportler. Doch dann passiert das Unglück: Frank verliebt sich in Eva. Sie wird die DDR niemals verlassen können. Im März 1983 wird Frank verhaftet – drei Wochen nach der Hochzeit mit Eva.
 
»Cynybulk gelingt ein profunder Einblick in die Mentalitätsgeschich­te dieser Jahre.« Ulrich Rüdenauer, Süddeutsche Zeitung
 
 
Gunnar Cynybulk wurde 1970 geboren und wuchs in Leipzig auf. Mit vierzehn verließ er die DDR und zog nach Bayern. Er studierte Literatur, Geschichte und Philosophie in Berlin, wo er in einem Buchverlag arbeitet. »Das halbe Haus« ist sein erster Roman, der 2014 mit dem Silberschweinpreis der lit.Cologne ausgezeichnet wurde.

Gunnar Cynybulk

DAS HALBE HAUS

Roman

 

 

 

 

Auf die, die gefahren sind. Auf die, die blieben.

I

DIE AUGEN MÜSSEN SICH ERST
AN DAS DUNKEL GEWÖHNEN

August 1981 – September 1981

 

Dort

War ich

In alter Zeit.

Neues hat nie begonnen.

1. Der Weg

Am letzten Tag der großen Ferien kann man sich noch einmal verkriechen. Man kann in den Tag träumen oder durch die Gärten streunen. Im Birnbaum kann man sitzen und auf alles hinabschauen. Es sei denn, man ist jemand anders. Jemand, der den ganzen Sommer über Schlusssprünge auf der Haustreppe, Steigerungsläufe auf der Halde, Stöße mit dem Stein gemacht hat. Der Junge hat all das gemacht. Er hat keine Einheit des Plans ausgelassen, den der Trainer für ihn erstellt hat. Sieben Wochen lang hat er morgens und abends trainiert: Gymnastik, Lauf-ABC, Klappmesser, Klimmzüge an der Teppichstange. Sein Haar ist hell geworden, Sommersprossen sprenkeln sein Gesicht, er ist gewachsen, die Großmutter hat es am Türstock angezeichnet, und sein Gang ist sehnig. Wenn er die Beine aus dem Bett schwingt, sieht er Muskeln über dem Knie, die sich wie Igel ballen, und dunkle Härchen auf dem Schienbein. Bald wird sich entscheiden, wer auf die Sportschule darf, wo die Olympiasieger von morgen trainiert werden. Vor sechs Wochen fand die Spartakiade statt. In der Hauptstadt traten die besten jungen Sportler der Republik gegeneinander an, die Leichtathleten des Bezirks jedoch enttäuschten. In zwei Jahren will der Junge dabei sein, und in sieben Jahren will er Olympiasieger werden.

Seit dem Morgengrauen ist er wach, aber das Haus schläft noch. Es ist ein halbes Haus, in dem eine halbe Familie lebt. Die eine Hälfte ist da, die andere weg: gestorben, gefallen und vergessen. Der Sockel des Hauses ist geziegelt, die Wände sind rau verputzt, die Fensterläden weinrot und weiß gestrichen, und das Dach ist mit Biberschwänzen gedeckt. Die Dachluke darf nicht verstellt werden, denn der Vater muss freien Zugang zur Antenne haben. Oft ist das Fernsehbild unscharf, und dann sucht der Vater mit der Antenne in der Hand den richtigen Empfang. Er harkt die Luft, während die Großmutter vor dem Fernseher das Ergebnis kontrolliert. Der Junge ist der Bote zwischen Großmutter und Vater, zwischen Erdgeschoss und Dach. Er nimmt zwei Stufen auf einmal, hetzt über die gewundene Treppe nach oben, steckt den Kopf durch die Luke und ruft: Jetzt ist’s schlechter. – Aber vorher war’s doch besser, ruft der Vater zurück und dreht die Antenne gen Westen, weil er sich von dort immer nur das Beste erhofft. Der Junge trägt den Satz des Vaters nach unten, worauf die Großmutter entrüstet sagt: Nu ist’s ganz schlecht. Das teilt der Junge wiederum seinem Vater mit, atemlos, der aus heiterem Himmel herumschreit und meint, die Großmutter könne ja mit ihm tauschen, wenn sie alles besser wisse, sie könne ja selbst aufs Dach klettern, und er würde sie dann herumkommandieren. Der Junge denkt, dass das für ihn nichts ändern würde.

Nebenan wohnen aufmerksame Bürger. Selten sind sie im Garten zu sehen, während der Vater und die Großmutter jeden Abend vor den Beeten stehen und den Wuchs der Stauden, Blumen und Büsche besprechen. Von einer Baustelle hat der Vater Rohrsegmente organisiert, die jetzt als Pflanzkübel dienen und besonders schöne Gewächse beherbergen. Manchmal bleiben Passanten vor dem Zaun stehen und bewundern den Vorgarten, vor allem die rot blühenden Cannas. Der hintere Garten besteht aus einem hufeisenförmigen Rasenschwung, der einen betonierten Kreis einfasst, das Rondell, auf dem eine Hollywoodschaukel steht. Im Handstand läuft der Vater vom einen Ende des Hufeisens zum anderen, vorbei am Birnbaum, am Schuppen, bis zur Stirnseite der Garage. Die Unterschenkel abgeknickt, rammt er Hand um Hand ins Gras. Zwischen seinen Fingern sammeln sich Sträuße von Gänseblümchen, und am Schluss lässt er sich fallen und lacht. Die Großmutter erzählt, dass der Junge durch die Stäbe seines Laufstalls Klee und Gänseblümchen gepflückt und sich zu ihrem Schrecken in den Mund gestopft hat. Im November wird er zwölf.

Kurz hat er geschlafen, und doch ist er nicht müde. Er ist auf eine Art und Weise wach, die es ihm erlaubt, alles ruhig anzuschauen und vielleicht auch zu bedenken. Niemand merkt, dass er sein Bett verlassen hat. Die Großmutter schläft auf dem ausgezogenen Sofa in der Stube, Rauch und Blicke hängen in den Gardinen. Der Vater schläft im ersten Stock, im Bett in der Bücherwand. Die Instrumente sind kalt, und der Ofen hält Sommerschlaf. Einen Stock darüber, unterm Dach, wo jetzt noch die Wärme im Gebälk hockt und im Winter die Kälte und jederzeit der Holzwurm, schläft der Junge, in einem Klappbett mit hölzernem Dach. Leise kleidet er sich an, auf Zehen läuft er über die knarrenden Dielen. Er ist im Begriff, gegen ein Verbot zu verstoßen, aber vom Vater hat er gelernt, dass man sich manchmal über Verbote hinwegsetzen muss. Vom Vater hat er gelernt, dass man Lügner belügen darf und sogar muss. Alles hier, hat sein Vater gesagt, sei eine einzige große Lüge, ein Turm zu Babel, ein Scheißhaufen, der mit Häkeldeckchen aus Worten zugedeckt sei. Er, der Junge, solle sich das merken und es für sich behalten.

In der Nacht gab es Streit. Der Vater hat gerufen, die Großmutter solle bloß aufhören mit ihrer Feigheit und Hörigkeit, während die Großmutter gesagt hat, dass es nicht rechtens sei, den Jungen da mit hineinzuziehen, der Vater denke nur an sich. Blödsinn, es sei doch nur ein Ausflug, es könne doch gar nichts passieren, hat der Vater gesagt. Und außerdem solle die Großmutter zusehen, dass sie ihre Sache endlich geregelt bekomme, dann müsse er auch nicht so was anstellen. Es sei nicht ihre Sache, hat die Großmutter geantwortet. Seinetwegen, um des Vaters willen, mache sie all das. Sie für ihren Teil könne gut und gerne hier leben, hier und jetzt. Der Junge hat im Versteck gesessen und gelauscht, bis der Kater meinte, dass es nun höchste Zeit zum Schlafen sei.

Nun, am Morgen darauf, liegt der Kater auf dem Bett und sieht einem zukünftigen Olympiasieger dabei zu, wie der ein weißes Trikot mit gelb-blauem Bruststreifen in den Beutel packt. Es sind die Farben der Stadt und der Verkehrsbetriebe, für deren Sportverein der Junge startet. Er packt die blaue Hose ein, den Trainingsanzug und die Rennschuhe mit den Spikes. Die Treppe beantwortet jeden seiner Tritte, das Glas der Küchentür klirrt. Drei Stunden vor dem Wettkampf soll man essen, später nicht. Aus dem brummenden Kühlschrank holt er ein Glas mit Würsten und eine Flasche Milch. Mit dem Daumen drückt er den Aluminiumdeckel ein. Während er trinkt und kaut, rinnt ihm etwas Milch übers Kinn. Er schnappt seine Siebensachen und verlässt das Haus. Die Luft ist kühl und warm zugleich. Er durchquert den Vorgarten, öffnet die Pforte, die leise scheppert, und als er sie schließt, scheppert der Briefkasten, auf dem zwei Namen stehen: der Großmuttername und der Vatername. Sonntags gibt es keine Zeitung, die den Vater aufregt, keine Briefe, die ihn zum Verstummen bringen, keine Vorladungen, sonntags ist es gut. Vor dem Gartenzaun steht eine Birke, deren Kätzchen im Frühjahr auf den Fußweg fallen. Die Großmutter nennt den Fußweg Trottoir oder Bürgersteig, beides muss man fegen.

Manchmal schreibt sich der Junge Worte auf den Handrücken. Merkworte. Manchmal einfach nur seinen Namen. Als er lesen lernte, beschriftete die Großmutter alle Gegenstände im Haus: Stuhl, Spiegel, Fernseher, Anrichte. Sie schrieb Zettel und verteilte sie überall, damit sich der Junge die Worte besser und rascher einprägte. Es gab keinen Raum in dem halben Haus, in dem nicht irgendwo Zettel klebten: Spülkasten, Nähmaschine, Rumtopf. Weiße Vierecke, mit blauem Kugelschreiber beschrieben, in schwer leserlicher Schrift (über jedem U ein Kringel), mit Klebestreifen an die Dinge geheftet. Wenn er in den Keller ging, dann las er Fallrohr, Kohlenkeller, Weckglas, Waschzuber. Alles Worte, die nicht in der Fibel für Erstklässer standen, darin standen Ball, Hund und Sonne, das gab es. In sein erstes Schreibheft sollte er schreiben, was es nicht gab: Der Opa ist Bauer, Der Vater ist Arbeiter, Die Mutter ist Lehrerin. Er wendete das Ausrufezeichen an, zu Hause brauchte er das Fragezeichen. Fix lernte er die Großmutterworte, weil er wollte, dass der Spuk bald ein Ende hatte. Was ihn am meisten wurmte: Die Großmutter kannte all seine Wege, sie konnte seine Gedanken lesen. Es gab einen Zettel, auf dem stand lang, schwierig und beschämend: Jakobs Schokoladenversteck. Dem Vater war das alles zu viel. Er fragte, wann denn der Kater seinen Zettel abbekäme und ob er sich selbst einen mit der Aufschrift Vater an die Stirn heften solle. Die Großmutter sagte, das sei gar keine schlechte Idee, aber bitte spiegelverkehrt, damit er es gelegentlich vor Augen habe, etwa beim Rasieren. Obendrein: Er habe so lesen gelernt, seine Brüder hätten so lesen gelernt, und auch ihr Enkelsohn werde so lesen lernen.

Gegenüber, auf der anderen Seite der Ausfallstraße, befindet sich die Großwiese, eine tiefe Weide, die mit Maulwurfshügeln, getrockneten Kuhfladen, Sauerampfer und struppigem Gras bedeckt ist. Ein Abhang führt hinunter, der sich gut zum Schanzenbau eignet. Alle wollen Skiflieger sein und probieren den Telemark. Leider gibt es kaum Auslauf, wenn man den Hüpfer gestanden hat, ist da auch schon das Flüsschen, das die Weide ungerecht teilt. In der warmen Jahreszeit schwimmen Kaulquappen und Stichlinge mit weißen Bläschen an den Kiemen darin. In der warmen Jahreszeit liegt der Junge im stechenden Gras, kaut Sauerampfer und beobachtet, wie hoch oben am Himmel die Kondensstreifen ausflocken. Er sucht einen Namen für das Blau, das hinter dem Licht liegt. Ab und zu spielt er Sterben. Dann sieht er sich von außen und von innen. Er ist zwei: einer, der beobachtet, und einer, der beobachtet wird. Weit hinten, am Ende der Großwiese, erhebt sich ein Tafelberg, aufgeschüttet aus den Trümmern des Weltkrieges. Ölige Erde, Gestrüpp, Disteln, Moos und Hecken überziehen den Berg. Kaninchen zucken durch das Unterholz, Rebhühner flattern auf, Füchse und halbwilde Katzen ducken sich in die Mulden, und manchmal sitzt auf einem Schlackeberg ein Fasan, grün, mit leuchtend rotem Reif um den Hals und gelbem Schnabel. Leicht kann man straucheln und sackt in eine Kuhle, auf deren Grund glasierte Ofenkacheln liegen, Flaschengrün und Bernstein. Bleirohre und Eisengeflecht ragen aus dem Boden, schimmelndes Holz, rostige Schnallen und Bänder. Der Berg riecht nach Petrol und Fäulnis. Als der Vater selbst noch ein Junge war, hat er dort Stahlhelme, Ehrendolche und sogar eine Pistole gefunden. Heutzutage rollt ab und zu ein Laster über die Panzerplatten und kippt seine Ladung an den Hang. Der Junge und seine Freunde finden dann bunte Glaslinsen, Röntgenfotos von gebrochenen Rippen, Schädeln und Herzen, große Spritzen aus Plaste, Infusionsbeutel mit getrocknetem Blut, verklebte Kanülen, Kanister und Dosen mit Pechnasen.

Von ganz oben kann man weit in alle Himmelsrichtungen sehen, auf die Stadt und auf das Land. Das Land ist eine große Senke, durchschnitten von langen Straßen. Es gibt keine echten Erhebungen, nur Halden und Hügel, keine Täler, sondern Gruben, keine Ströme, dafür Bäche und Flüsse, auf deren schwarzen Wassern heller Schaum treibt. Es gibt Rieselfelder, über denen Stromleitungen summen, am Horizont ragen Schlote von Kraftwerken und Brikettfabriken auf. Die Ortschaften ringsum enden auf -witz, -ig, -itz oder -itzsch. An der Kreuzung zweier aus dem Nichts kommender Straßen liegt die Klappse, die Rassel, die Irrenanstalt. Richtung Norden liegen das Stadion, das Kriegerdenkmal, der weitläufige Friedhof, das Messegelände und ein Stadtteil, der auf -itz endet. Im Süden ist das Land aufgebrochen. Leere Dörfer stehen am Abgrund, in den Kratern tragen riesige Schaufelräder die Braunkohle ab. Nachts hört man ihr Ächzen und Kreischen. Es ist das Schlaflied des Jungen.

Er geht die Ausfallstraße entlang, Richtung Haltestelle. Die Straße ist gerade und führt an allem vorbei, was der Junge kennt, weiß und besitzt. Die Straße, die den Namen des Flüsschens trägt, ist die Hauptstraße seines Reiches. Er lässt die Garagenreihen links liegen, geht an der alten Eiche vorbei, die eine schwarze Eule auf gelbem Grund bewacht, geht vorbei am Gartenbauverein mit dem Schlittschuhteich, wenn der zufriert, sind die langen Finger der Trauerweide im Eis gefangen. Genau achtet er darauf, dass er mit jedem Schritt die Rechtecke der Gehwegplatten trifft. Auf keinen Fall darf sein Fuß die Fuge zwischen zwei Platten auch nur berühren, dann wäre alles ruiniert, wirklich alles.

Die Vorstadt dämmert, während die eigentliche Stadt von damals träumt. Es ist eine stolze und alte Stadt mit hohen Kirchen und lichten Passagen und einem imposanten Bahnhof, da kann man besser ankommen als wegfahren. Die Stadt hat große Söhne und Töchter hervorgebracht und bedeutsame Menschen beherbergt, es wird ihm immer wieder gesagt, von den Lehrern, den Übungsleitern, den Verkäufern, den Aufpassern im Museum und im Zoo. Auch die Kunst, ein Buch zu drucken, wird hier gepflegt wie nirgendwo, nicht zu vergessen die Musik und die Malerei. Und Sportstadt will die Stadt auch genannt werden. Im Heimatkundeunterricht hat der Junge gelernt, dass sie am Schnittpunkt zweier alter Handelsrouten liegt. Seit jeher werden hier Geschäfte gemacht, zu Ostern und zu Michaelis. Mit eigenen Augen sieht er zur Messezeit die bunten Werbebanner – Keramik und Miederwaren – und die fremden Autos. Alles Halb- und alles Ganzferne ist dann zum Greifen nah. Von weit her kommen sie, um Folienstreckanlagen auszustellen, und Nippon schickt drei Automatikautos. Stolz präsentiert das Außenhandelsunternehmen des Bruderlandes sozialistische Waren, die neuesten Erzeugnisse finden sich in Halle 3, auch die eckigsten Worte: Technoforestexport. Stolz sind auch die Einheimischen, mit offenen Armen empfangen sie die Handelsleute aus aller Welt. Sie reden so überdeutlich, in den Geschäften, in der Straßenbahn (die jetzt nicht mehr Bimmel heißt), dass man sie noch schlechter versteht. Aus Männern und Frauen werden für die Dauer einiger Tage Damen und Herren. Der Lehrer für Biologie und Englisch – eben ist er an seinem Haus vorbeigegangen – trägt ein Einstecktuch und ein schweres Eau de Toilette, und die Brunnen auf den Plätzen führen wieder Wasser. Am schönsten ist der Pusteblumen-Brunnen.

Der Junge hat die einzige Telefonzelle weit und breit erreicht. Deren Scheiben sind gesprungen, und das Fernsprechbuch mit der Wählscheibe und dem großen schwarzen Hörer darauf ist zerfleddert. Drinnen und draußen stinkt die Zelle nach Pisse. Das liegt daran, dass sich gegenüber die einzige Kneipe weit und breit befindet. Der Junge denkt darüber nach, ob es jemanden gibt, den er anrufen sollte. Er fragt sich, ob er irgendetwas vergessen, nicht bedacht oder eingepackt hat, und dann ist es auch schon passiert: Er ist gestolpert und auf die Grenze getreten. Für einen kurzen Moment ist er unachtsam, und schon latscht er mitten auf die Fuge zwischen zwei Steinplatten. Lang bleibt er stehen, und nichts fällt ihm ein. Erst nach einer Ewigkeit kommt er darauf, dass es einen Trick gibt: Wenn man gestolpert ist, kann man umkehren und noch einmal über die Stelle laufen. Wenn man es richtig macht, ist der Bann gebrochen. Geh noch mal zurück, dann fällt’s dir wieder ein, sagt der Vater zur Großmutter, wenn die mitten in der Bewegung erstarrt und sagt: Was wollt ich jetzt gleich noch mal? Also kehrt er um und geht noch einmal an der Telefonzelle vorbei. Diesmal tritt er über die Grenze und kann weitergehen. Von nun an wird er aufmerksamer gehen.

Der Konsum ist ein Bungalow mit einem langen Schaufenster. Darin stehen zwei hohe Pyramiden: Dosen mit weißen Bohnen, Dosen mit gelben Bohnen, wie auf der Kleinmesse beim Büchsenwurf. Gleich dahinter liegt der Blumenschuppen. Ein Holzverschlag, dessen Türen zur Verkaufszeit aufgeklappt sind. Im Frühjahr gibt es Primeln und Stiefmütterchen, und Ende April stehen die Kübel mit roten Nelken bis auf den Gehweg. Rosen gibt es so gut wie nie. Ab Oktober sind Fichten- oder Kiefernzweige, die die Großmutter Tannengrün nennt, im Angebot, um Gräber abzudecken oder Adventskränze zu flechten. Der Gärtner sagt zur Großmutter gnädige Frau, und wenn er lächelt, ist sein Gesicht entstellt. Man will dem Gärtner nicht zu nah kommen, er war im Lager. Unklar ist, ob bei den Nazis oder bei den Russen, die ja eigentlich Sowjets genannt werden müssen.

Der Junge geht auf das weitläufige Oval hinter der Schule zu, auf dem er und seine Mitschüler die große Pause verbringen. Ein rostiger Zaun schirmt das Areal von der Straße ab. Entlang des Zauns stehen hohe Pappeln, große scheinheilige Schönheiten, die der Vater angepflanzt hat, als er selbst noch Schüler war. Im späten Frühling schneit es, dann ist der Pausenhof von Pappelschnee bedeckt, und manchmal bleibt eine Wolke an so einem hohen Baum hängen. Während der gesamten Pause darf man keinen Fuß auf den Grund setzen, zu keiner Zeit. Man muss auf einem der kniehohen Steinquader stehen, die zwischen den Bäumen liegen, und darf nicht runtersteigen, -fallen oder -gestoßen werden. Es ist ein Jungengesetz, dass man so die zwanzigminütige Pause zu verbringen hat: auf einem der Steine balancierend, die Hände lässig in den Hosentaschen versenkt. Alle Tage soll man so balancieren, ein Stück über dem Boden der Tatsachen, die Hände lässig in den Hosentaschen.

Um wochentags zu dem kleinen Friedhof auf der anderen Straßenseite zu gelangen, muss man warten, bis die Autos eine Lücke lassen. Eine alte Frau kann ihr Fahrrad nicht so rasch über die viel befahrene Straße schieben. An ihrem Lenker baumelt eine Gießkanne aus Gummi oder Zink, Tannengrün oder Primeln liegen hinten im Korb, die kleine Hacke und die schwarzen Steckvasen mit dem dünnen Dorn sind hinterm Grabstein verborgen. Auf den Bänken sitzen andere alte Frauen in Schürzen und schwarzen Röcken, sie fangen ihre Hände im Schoß auf. Eichhörnchen jagen sich über ihren Köpfen. Es gibt Gräber mit hölzernem und Gräber mit Eisernem Kreuz. Als er noch nicht zur Schule ging, fürchtete der Junge, die Toten könnten durch die Stachel der Steckvasen aufgeweckt werden. Dann wäre plötzlich Großmutters letzter Mann wieder am Leben, und da wäre vielleicht was los, Zeter und Mordio, sagt der Vater.

Am Anfang der Ausfallstraße befindet sich die Schule. Ein Ozeandampfer aus Backstein ist das, darin riecht es nach Graupensuppe, Bohnerwachs und Ammoniak. Das schmale Ende des Gebäudes ist verputzt, und auf der Fassade kann ein großes Wandbild bestaunt werden, es trägt den Titel Lebensfreude und zeigt Pioniere, Arbeiter, Mähdrescher, Soldaten. Alle lachen, selbst die Mähdrescher. Der Junge wurde letztes Jahr Thälmannpionier, aber danach ist Schluss, sagt sein Vater. Keine FDJ. Im Winter liegt ein Schatten auf der Sonnenuhr und ein hoher Kohlenberg im Schulhof, wenn der verheizt ist, gibt es kältefrei. Wie Bänder fallen die Schlitterbahnen über den kleinen Hügel vor dem Eingang. Auf dem Platz wird morgen der Fahnenappell stattfinden. Im Geviert werden sich die Schüler aufstellen. Zum Weltfriedenstag werden sie ihre feste Solidarität mit allen friedliebenden Menschen bekräftigen. Den Pionierauftrag werden sie mit fleißigem Lernen und guten Taten zu erfüllen trachten. Mit ihrem Namen werden sie dafür einstehen. Die hübsche Deutschlehrerin wird ein kämpferisches Lied auf ihrer Gitarre begleiten. Sie wird ein Blauhemd tragen und einen kurzen Rock. Ihre Beine sind sehenswert. Insgeheim weiß sie, dass gute Kopfnoten kein gutes Leben garantieren. Der Erdkundelehrer kennt Albanien nicht aus eigener Anschauung, aber aus den Erzählungen seines Sohnes, eines Ingenieurs auf Montage. Er schlussfolgert, dass ein Land, in dem die Frauen einen Einkaufsbeutel mit Guckloch auf dem Kopf tragen, nicht sozialistisch sein kann. Der Lehrer für Biologie ist gut gekämmt. Er unterrichtet auch Englisch, fakultativ und nachmittags. Wenn der Vati mal eine Dienstreise macht, etwa nach London oder Birmingham, soll er doch bitte einen Stadtplan für ihn, den Lehrer, mitbringen. Er selber komme ja da nicht hin. Früher sei er bis nach Griechenland gelangt. Da seien seine Haare und übrigens auch die Augenbrauen weiß geworden in der Sonne. Das UV-Licht habe die Pigmente völlig zerstört, er habe wie ein Albino ausgesehen, und braun sei er gewesen wie nie mehr sonst. Als der Junge fragt, wann denn der Lehrer für Biologie und Englisch in Griechenland gewesen sei, sagt der: Damals, mit der Armee. – Mit welcher Armee? – Mit der deutschen Armee. – Mit der Hitlerarmee? – Pigmente kommen später dran.

Eine griechische Nase hat der Vater des Jungen. Er hat ein texanisches Kinn, römische Locken, germanische Schultern, nordische Augen: ein Bild von einem Mann. Hat’s nicht leicht gehabt. Jetzt geht’s wieder. Ist aber was hängen geblieben. Sagen die Frauen. Manchmal rutscht ihm die Hand aus, dann ist die Hand schuld. Nächtelang liest er dicke Bücher. Er spielt Gitarre, how does it feel, und wenn eine Freundin zu Besuch kommt, zündet er Kerzen an und musiziert. Er musiziert oft. Jedes Wochenende stutzt er seinen Schnurrbart mit der kleinen Krummschere, mit der er dem Jungen danach die Nägel schneidet: schmutzige Halbmonde im Badewasser. Die Schere stammt aus dem Necessaire seiner Frau, der Mutter des Jungen. Necessaire ist eins von den lustigen Worten, die der Junge notiert. Auch seine Großmutter schenkt ihm Worte für seine Sammlung (Arschkratzel, Bibanella). Sie hält das halbe Haus in Ordnung, die Wäsche, das Essen, die Gefühle, sie sagt, was man tun muss, wenn jemand krank ist oder ein Kind Konfirmation feiert, sie schreibt Postkarten und gibt Setzlinge weiter im Frühjahr. Sie erwärmt die Milch auf dem Ofen. Ihre Zärtlichkeit ist ein Löffel Honig darin, ein angenähter Knopf, ein nachgezogener Scheitel. Sie sagt nie: Für heute lass es gut sein, was schlägt dir aufs Gemüt, alles halb so schwer. Das wird ein Junge von ihr nicht zu hören bekommen. Aber sie zieht den Scheitel nach und lässt ihre Hand, trocken und kühl, kurz auf dem Kopf liegen. Wenn der Junge von der Schule heimkehrt, Kreide an den Fingern, Schweiß auf der Stirn und ein Loch im Bauch, wartet ein Topf gekochter Kartoffeln im Daunenbett, warm gehalten von Topflappen und Zeitungspapier. Seit Jahr und Tag markiert sie am Türstock, wie viel er wieder gewachsen ist. Zwei Dutzend Striche ist er gewachsen. Meistens fühlt er sich größer, als es der Strich besagt. Sein Problem: der Größenwahn. Doch vielleicht hat er nur einen höheren Begriff von sich.

Endlich hat er die Haltestelle erreicht. Als Einziger wartet er zu dieser frühen Stunde auf die Straßenbahn. Kurz schaut er auf den Apelstein, der an der Straßenecke steht und an die Napoleonschlacht erinnert: Korps, Bataillone und die Zahl der Kämpfenden. Oben sind die Himmelsrichtungen eingemeißelt, damit man immer weiß, wo Westen ist, nämlich da, wo die Sonne aufgeht. An der Litfaßsäule klebt ein Aufruf zur Wertstoffsammlung, einer zum Solidaritätsbasar, eine Einladung zum Liederabend und die Ankündigung eines Fußballpunktspiels, Chemie gegen Lok. Ein Klingeln ertönt, und um die Kurve biegt die Bimmel. Es ist keine der altmodischen Bahnen, die eierschalenfarben und kastig sind, sondern ein neuer tschechischer Triebwagen. Er ist der einzige Fahrgast. Die Bahn fährt durch die leere Vorstadt, vorbei an Häusern, von deren Fassaden der Putz gefallen ist. Wo der Putz noch hält, alte, geschwungene Worte: Sämereien, Gebr. Schmitzig, Kurzwaren. Und Maschinengewehre hatten hier auch was zu sagen. Zwischen die Häuser, über die schmalen Fußwege und schadhaften Straßen hinweg, sind die Oberleitungen gespannt, von denen die Trapeze der Bahnen den Strom holen. Auf jedem First ein Antennenwald, auf manchen Dächern Sirenenpilze. Wenn der Alarm anhebt, denkt man noch, er kommt aus dem eigenen Kopf, bis man weiß, was der schrille, rotierende Ton zu bedeuten hat, bestenfalls: unterrichtsfrei.

Die Bahn rumpelt an der Leihbücherei vorbei. Das große Fenster zittert, als würde eine Bö das Wasser eines Sees kräuseln. Alle Indianerbücher hat der Junge ausgeliehen, die von Jules Verne auch (Anwalt soll er, Schiffsjunge will er werden). Die Leihkarten in den Büchern tragen blaue und rote Datumsstempel, manchmal liegen Jahre zwischen den Lesern, manchmal nur Wochen, und einmal lieh der Junge ein altes Buch aus, dessen erster Leser er war. Ein Lexikon muss er nicht ausleihen, das besitzt er, es ist ein Kinderlexikon. Vieles weiß er, Stichwort Die Atmung, Die Butter, Der Frieden (kostbarstes Gut auf Erden) oder Spartacus. Manches interessiert ihn nicht die Bohne, Stichwort Die Ellipse, Die Messe der Meister von morgen, Das Schaltjahr (soso, in zwei Jahren gibt es ein neues). Manches ist ihm neu oder deckt sich nicht mit dem, was er zu Hause hört, Stichwort Bundesrepublik Deutschland. Anderes, was ihn brennend interessiert, kommt gar nicht erst vor in diesem Lexikon: Stichwort Der Geschlechtsverkehr oder Rummenigge, Karl-Heinz.

An der nächsten Station steigt ein Mädchen in schwarzem Rock und weißer Bluse zu, das einen Cellokoffer in die Bahn hievt. Sie geht in seine Klasse und tut so, als sehe sie ihn nicht. Sie zeigt ihm Rücken und Zopf. Im letzten Winter hat sie ihm leidgetan, weil ein Muff ihre Hände verschluckt hatte. Ihr Zopf fiel aus einer Fellmütze. Plötzlich kann er sich nicht mehr erinnern, ob sie schön oder wenigstens hübsch ist und ob sich ihre Brust schon wölbt. Er denkt sie sich schön und gewölbt. Er fragt sich, ob auch sie heute, am letzten Tag der großen Ferien, gegen ein Verbot verstößt.

Als er am E-Werk aussteigt, bildet er sich ein, dass sie ihm nachblickt. Er ist gewachsen, sein Gang ist sehnig, aber er hat noch kein Haar am Sack. Irgendwo werden Kirchenglocken geläutet. Zur Kampfbahn muss er über einen morastigen Weg balancieren, der durch ein Erlenwäldchen führt. Bald muss er rennen, weil Fliegenwolken aufgezogen sind. Kreuzgefährlich ist das, er könnte ausrutschen. Hat er eine schwarze Wolke hinter sich gelassen, mit verschlossenem Mund und zusammengepressten Lidern, gerät er schon in die nächste, und wenn er dann die Augen öffnet und Atem holt, rasseln die winzigen Insekten in seinen Rachen und verkleben seine Wimpern.

Olympiasieger will er werden, und zwar im Zehnkampf, dann wäre er der König der Athleten. Der Trainer denkt, dass er das Zeug zu einem Helden hat, er muss es wissen, schließlich hat er Landesmeister und sogar einen Junioreneuropameister trainiert. Seit der ersten Klasse ist der Junge bei ihm. Dem Vater wurde schriftlich mitgeteilt, dass der Sohn wettkampffähig und -willig sei, der Junge hat ihm den Brief gebracht, es sei zu seinem Besten und zum Wohl der Allgemeinheit, wenn er von jetzt an regelmäßig trainiere. Immer die Allgemeinheit, sagte der Vater. Doch weil der Junge ihn drängte, sagte der Vater ja.

Manchmal, wenn er ein Rennen läuft, ereignen sich seltsame Dinge. Auch wenn ihm sein Vater oder seine Großmutter nicht zuschauen, sieht er sie an der Strecke stehen. Sie sprechen zu ihm, und er hört sie, als wären sie zu dritt in einem Raum. Sie sagen, dass er geduldig sein solle, auch an die Bewegung seiner Arme müsse er denken. Sie sagen, dass er schweben solle. Das tut er dann auch und schwebt ins Ziel, ohne sich an eine Anstrengung zu erinnern. Er stolziert umher, wenn er gewinnt, man kann nicht sagen, dass ihn alle dafür mögen. Der Trainer schon, der Vater auch. Ein- oder zweimal hat er an der Seite seines Vaters den Schatten einer Frau gesehen. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, sie war schlank und groß, hatte lange Haare und schwieg. Er sieht Menschen, die gar nicht da sind.

Noch im Wäldchen hört er das Spektakel. Zuerst das Echo einer Lautsprecherstimme, unverständlich, dann wirklich eine Fanfare. Sein Herz schlägt höher. Obwohl es unnütz ist, trabt er auf die Klänge zu. Als die Lautsprecher Startzeiten bekannt geben, rennt er los, bis er die Waldkampfbahn erreicht, ein aus Stein und Holz gebautes Stadion, das zerfällt. Er fegt durch die Pendeltür in die dunklen Katakomben, läuft durch einen schummrigen Gang, biegt ab ins Licht. In diesem Licht schwimmen Wasserwesen, die langsam Gestalt annehmen: Wettkämpfer, Trainer und Kampfrichter. Auch der Junge taucht ein. Da liegt die rote Aschenbahn, das Rasenfeld, da sind die Sprunggruben und die Sprungmatten. Die sich wiegenden Pappeln hinter der Gegentribüne sind die größten Zuschauer. Im Wind knallen die Fahnen, und die Drahtseile an den Masten klingen. Es ist schön, wie das Licht mit den Blättern der Pappeln spielt. Dass gleich hinter Schön Scheiße lauert, dass sich Scheiße hinter Schön versteckt, das wird der Junge schon noch kapieren.

Männer mit Klemmbrett werden von Kindern aller Altersklassen umringt. Am Hindernisgraben rasten seine Leute. Der Trainer spricht zu seinen Kameraden, die im Halbkreis um ihn sitzen. Sie sehen ihn und machen Zeichen, auch der Trainer winkt ihn eilig herbei. Jetzt ist er ruhig, und dass er ein Verbot bricht, hat er längst vergessen. Speere werden zum gekreideten Wurfsektor getragen und Hürden von einem Wägelchen gehoben. Da legt sich eine Hand auf seine Schulter. Er weiß es sofort und dreht sich nicht mal um.

2. Einen Ausflug machen

Stundenlang fahren sie westwärts, ihr Kompass zeigt immer in eine Richtung. Der Vater sitzt am Steuer, der Junge ist sein Beifahrer. Wenige Kilometer vor ihrem Ziel biegt eine Kolonne Lastwagen in die Landstraße. Auf den Pritschen hocken Rekruten in Zweierreihen, junge Kerle mit geschorenen Köpfen. Sie lachen und haben Lutscher im Mund, deren Stiele zucken. Manchmal dreht so ein junger Kerl durch. Das steht dann nicht in der Zeitung, aber die Leute reden darüber. Es sei wieder einer abgehauen, besoffen rase der mit zwei Kalaschnikows und zig Magazinen durch die Gegend, sagen die Leute. Die Kinder müssen zu Hause bleiben, bis jemand Entwarnung gibt: Es habe einen Schusswechsel in der Nacht gegeben, der Durchgedrehte sei gefasst. Immer werden alle gefasst.

Einer der Soldaten winkt dem Jungen zu und holt einen Lutscher hervor. Der Junge winkt zurück und nickt. Der Soldat wirft die Süßigkeit in den Graben, der Vater bremst nicht. Plötzlich sind die Soldaten verschwunden, kein Mensch und kein Wagen sind mehr da. Weithin sichtbar liegt das Land vor ihnen. Der Vater hält, kurbelt das Fenster herunter und zündet sich eine Zigarette an, die letzte für eine Weile: Club. In solchen Gegenden werden mit Vorliebe Uhren gefertigt und Stoffe gewebt. Gern wird hier Kinderspielzeug gedrechselt. Irgendwo hat mit Sicherheit ein Bauernkrieg gewütet. Es gibt Dörfer mit Schieferdächern, Kirchtürmen, Fachwerk. Es gibt dunkle Wälder, springende Bäche, Berg und Tal. Die Männer arbeiten seit je als Förster, Köhler, Jäger. Die Frauen klöppeln, häkeln oder nähen. Umlaute, wohin das Auge blickt. Die Küche ist gut in solchen Gegenden, Klöße aller Art und Wild mit sämiger Soße. Die Küche ist legendär, und der Sagenschatz ist es auch. Hexen, Zwerge, schlagmichtot.

Viel interessanter sind allerdings die Sagen aus neuester Zeit. Im Gasthaus geht zu später Stunde die Rede von einem, der einen Geheimweg kennt. Der ist verliebt in die Dorfschönheit. Der Bruder der Schönen glaubt ihm die Sache mit dem Weg und dem Mut nicht. Der Ortskundige sagt: »Gib mir deine Schwester, und ich mach rüber und wieder nüber.« Die Wette gilt, und abends drauf hockt der tatsächlich im Herrgottswinkel des Gasthauses, vor sich ein Bier und eine Westzeitung desselben Tages. Leider hat die Schöne einen eigenen Kopf und ein loses Mundwerk, und leider wimmelt es in solchen Gegenden von Spitzeln. Nun sitzt der Grenzverletzer ein und wüsste gern einen Geheimweg. Zu dumm, dass man ihn nicht mehr befragen kann.

Daraus folgt, dass Gastwirtschaften und Einheimische zu meiden sind. Ein Alibi wäre gut, zwei sind besser. Der Vater hat ein Pilzbuch, Beutel und Taschenmesser eingepackt, es ist wirklich Pilzzeit. Kann es etwas Schöneres geben, als bergauf und bergab durch endlose Wälder auf Pilzpirsch zu gehen? Und sei das Ergebnis auch manchmal mager, der Hauptwert liegt sowieso in dem Erlebnis der Pilzsuche selbst, in dem Dienst, den wir unserer physischen und psychischen Gesundheit leisten.

Das zweite Alibi ist der Junge. Wer ein Kind in seiner Obhut hat, stellt keine Dummheiten an. Man muss sich natürlich auf das Kind verlassen können, es darf nichts Falsches sagen, sich nicht verplappern. Der Vater glaubt, dass er sich im Großen und Ganzen auf seinen Sohn verlassen kann. Auch wenn der auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort mit ihm gesprochen hat in seiner Bockigkeit, und auch wenn er sich mit Volksarmisten einlassen würde.

Man braucht also Alibis, aber was man am meisten braucht, ist Glück. Zum Beispiel darf man nicht von einer Polizeistreife im Hinterland angehalten werden. Nur so gelangt man in das Dorf, das direkt vor der Sperrzone liegt. Mit etwas Glück kennt man da jemanden, der es einem gestattet, das Auto in seiner Scheune zu verstecken, und der einem den Weg weist. Dessen Namen vergisst man am besten gleich wieder. Dann nimmt man die Alibisachen, verstaut zusätzlich die Kamera, das Fernglas, den Kompass und die Karte im Rucksack und geht mit dem Alibikind los. Schnurstracks geht man in den Wald, den deutschen Wald. Es sind fünf Kilometer bis zur Grenze. Ein Kinderspiel. Du, bist du wahnsinnig? Der Junge hat eine gute Kondition. Hätte er den Wettkampf heute Morgen bestritten, wäre er mit Sicherheit schnell erschöpft. So aber kommen die beiden gut voran: Frank und Jakob Friedrich. Das sind die Namen.

Zuerst gehen sie durch einen Fichtenhochwald. Die nadellosen Äste laufen den Stamm hinauf wie Leitersprossen. Dann wird der Wald dichter, Buchen und Birken mischen sich unter die Fichten, die jetzt auch nicht mehr so groß sind. Auf dem Kamm der ersten Anhöhe stehen Tannen, deren Schwingen ihre Arme zerkratzen. In den Abhang, der folgt, stemmen sich junge Eichen, Buchen und Ulmen. Auf dem Laub vom Vorjahr rutschen Vater und Sohn hinab. Im Tal liegen bemooste Stämme, über die sie klettern müssen. In einer Senke haben sich Wildschweine gesuhlt, Frank Friedrich zeigt seinem Sohn die Abdrücke der gespaltenen Hufe. Als spazierten sie durch einen Wildpark. Keine Stiefelspuren.

Das Klopfen eines Spechtes ist zu hören, während sie die nächste Steigung nehmen. Abgesehen vom Rasseln ihres Atems und ihrer Schritte ist es das einzige Geräusch. Kein Wind. Die Anhöhe geht in ein Plateau über. Ein Sturm hat Teile des Waldes zerdrückt, als habe sich ein großes Tier darauf niedergelassen. Geduckt schleichen sie durch das Bruchholz, bis sie eine Schonung erreichen. Sie sind Mattotaupa und Harka, der Kriegshäuptling und sein mutiger Sohn. Fährten lesend, streifen sie durch die Black Hills, erkunden die heiligen Berge ihrer Vorväter, auf der Hut vor den weißen Eindringlingen, den Goldsuchern. Ungesehen bleiben und dennoch alles sehen, darum geht es.

Sie arbeiten sich durch eine Anpflanzung halbwüchsiger Tannen. Während sich Frank Friedrich darüber wundert, dass hier oben im Niemandsland aufgeforstet wird, stoßen sie auf einen Schotterweg, über dem Staub wirbelt. Sie halten den Atem an. Frank Friedrich blickt in alle Richtungen, lauscht. Er hört ein Donnern, es ist sein Herz: eine Seele und tausend. Über ihnen kreisen zwei Bussarde, ruhig und gleichmäßig. Auf sein Kommando rennen sie über den Weg und springen in ein neues Waldstück.

Die Augen müssen sich erst an das Dunkel gewöhnen. Der neue Wald ist so dicht, dass er jeden Laut verschluckt. Am Boden Schachtelhalme und Farne, wie vor Millionen Jahren. Der einsilbige Wald ist in ihrem Kopf. Schlag. Baum. Blatt. Schuss. Bach. Lauf. Eine Ewigkeit tappen sie durch diesen schalltoten Raum, bis sie wie durch ein Wunder auf eine Lichtung treten.

Schmetterlinge taumeln über weiße und gelbe Blüten, in der Mitte steht ein wimmelnder Ameisenhaufen. Ein Dutzend riesiger Insekten hievt einen schillernden Käfer zum Fuß der Pyramide. Am Rand der Lichtung, vor einer Birke, prahlt ein Steinpilz mit seiner Makellosigkeit. Frank und Jakob Friedrich gehen daran vorbei und kehren um. Ganz unten am weißen Stamm schneiden sie den prächtigen Pilz ab, wie es sich für ordentliche Pilzsucher gehört. Dabei sieht Frank Friedrich ein faustgroßes Papierknäuel, das im Dickicht hängt. Sein Sohn bringt ihm das Knäuel, eine zerknüllte Zeitungsseite. Mit spitzen Fingern entfaltet er das gilbe Papier. Es ist ein Neues Deutschland vom 27. Juli 1981. Die Schlagzeile auf der losen Seite, es ist die Seite 5, lautet: »Gegen Wettrüsten und Kriegsgefahr«. Verfasser: der Marschall der Sowjetunion Dmitri Ustinow, Minister für Verteidigung der UDSSR. Darunter sieben Kolonnen Blei aus der Prawda. Darüber zieht sich ein breiter schwarzbrauner Pinselstrich. Frank Friedrich muss lachen. Er lässt die Zeitung sinken und muss lachen, dass sich die Wipfel biegen. Sorgenvoll sieht sein Sohn ihn an. Tränen laufen über Vaters Gesicht, er schlägt sich auf die Schenkel, lässt das Blatt sinken und schüttelt den Kopf. Es dauert lange, bis er sich beruhigt hat. Schmierblatt eben. Grenzschützerscheiße auf dem Zentralorgan.

Sie gehen weiter. Auf der Rückseite, der Seite 6, wird berichtet, dass die Sowjetunion den Tag der Seekriegsflotte beging. Einheiten aus der DDR und Polen waren in Leningrad zu Gast. Angesichts der komplizierten internationalen Lage erhöhen die sowjetischen Marinesoldaten beharrlich ihre Wachsamkeit und die Kampfbereitschaft der Truppenteile. Sagt ein gewisser Marschall der Sowjetunion. Was sonst noch geschah: Unwetter über Pakistan. Erdrutsch in der Schweiz. Waldbrände auf Teneriffa. In Westberlin bleibt jeder Zweite ohne Lehrstelle. Tankerunglück im Hamburger Hafen. Neonazis schänden Grabstätten in Köln.

Nach zwei Stunden Fußmarsch sind sie am Ziel. Ohne Vorwarnung öffnet sich der Wald vor ihnen. Gebannt bleiben sie stehen. Eine breite saftiggrüne Schneise gräbt sich durch das Land. Diesseits wird sie gesäumt durch einen silbergrauen Faden, jenseits durch einen schwarzen. Südlich stürzt sie wie ein Wasserfall über eine Hügelkuppe, zum Norden hin verengt sie sich, mal ist nur der silbergraue Faden, mal bloß der schwarze zu sehen. Oben, am Fuß eines Turms, kippt die Schneise hinter den Horizont. Die Grenze ist tatsächlich schön. So was darf man doch nicht denken.

Sie treten ein paar Schritte zurück, suchen den Schutz eines entwurzelten Baums, knien nieder, und Frank Friedrich holt das Fernglas aus dem Rucksack, es handelt sich um ein Opernglas mit Zeiss-Optik aus dem Erbe seiner Schwiegermutter. Der silbergraue Faden muss der Signalzaun sein, eigentlich ein metallenes Band, so anderthalb Manneslängen hoch. Weiter südlich, über eine Strecke von ein paar hundert Metern, ist er doppelt gefasst. In dem schmalen Korridor schnüren Hunde, zwei. Parallel zum Signalzaun verläuft ein zweispuriger Kolonnenweg, der den Zaun auf niedliche Weise begleitet. Daneben ein lehmfarbener Streifen, zehn Meter gepflügte und geharkte Erde, dahinter beginnt das Minenfeld. Eine spätsommerliche Wiese, auf der Büsche, Beerenhecken und ein einzelner Apfelbaum stehen, der rote Früchte trägt. Wer hat ihn gesät? Ein Soldat, der einen Apfel aß und den Butzen wegwarf, nachdem er die Minen im Boden vergraben hat? Auf dem zweiten Zaun, dem schwarzen Metallgitter am Ende des Feldes, sind Abweiser aus Stacheldraht angebracht. Sie zeigen nach Osten. Dann sind es noch ein paar Meter bis zum gegenüberliegenden Waldrand. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die weißen Stecken mit den roten Kappen, die im Abstand von Steinwürfen die eigentliche Grenze markieren, Zündhölzer der Freiheit. Davor steht auf einem Hügelchen ein einsamer Hoheitspfahl, diagonales Schwarzrotgold. Sorge dich nicht, Junge, es sieht nur aus wie ein Marterpfahl und ist das Gegenteil.

Wenn man das Fernglas scharf stellt, kann man sehen, dass feine Drähte vor die Metallgitter des silbergrauen Zauns gespannt sind, die über Isolatoren laufen. Ohm, der Widerstand, wie viel fließt da durch? Der geringste Kontakt löst in der nächstgelegenen Grenzkompanie Alarm aus. Dann spucken sie die Lutscher aus und kommen: Grenzdurchbruchsversuch DDR-BRD im Sicherungsabschnitt Sowieso, Grenzregiment Sowieso, Meldeabschnitt Sowieso vom Soundsovielten, sichernde Einheit Sowieso. Grenzverletzer. Sperrelement. Angriff auf die Staatsgrenze. Freundwärts, feindwärts. Oben im Wachturm würde es sich regen. Sie würden ihre Schmuddelheftchen, ihre Karten, ihre Kreuzworträtsel wegschmeißen, mit deren Hilfe sie unerlaubt ihre Zeit totschlagen, und ihre Fassonköpfe aus den Fensterchen stecken, die rings um das Häuschen laufen, das auf der Betonsäule sitzt, selbst ihre Wachtürme sehen aus wie Datschen. Bei Nachtalarm würde einer auf das Dächlein klettern, gesichert von einer fipsigen Reling, und den Suchscheinwerfer anwerfen. Die Hunde würden anschlagen, das Krad würde aufheulen. So in etwa.

Was ist drüben? Da, wo die Wege und die Tektonik in der Wanderkarte abbrechen und eine Grünfläche beginnt? Vor allem ist da Wald. Es folgen Weizenfelder, Äcker, eine Straße mit Leitplanken. Ein paar Meter tiefer im Westwald, man muss ganz genau hinsehen, hat jemand drei Holzkreuze aufgestellt, ein größeres und zwei kleinere. Sind das Blumenkränze? Hier wie da sagen die Leute grüß Gott. Das hat die Grenze nicht zerschnitten. Das meiste hat sie zerschnitten. Es gibt deutsch-deutsche Bäume, Zweiländereichen. Es gibt Doppeldörfer, oder besser gesagt halbierte Dörfer. Den einen wurde die Kirche genommen, den anderen der Friedhof. Das ist das, was die Grenze den Leuten hier gebracht hat, die Halbierung. Was hat sie dir gebracht? Es ist zu hören, dass es sehr schön dort sei. Der Himmel sei blauer und weiter. Hier ist es auch schön. Aber hier ist es nicht gut. So einfach ist das.

Er erinnert sich an einen Tag im Frühling, er war wenig älter als Jakob. Bis zu diesem Tag war er ein Junge wie alle anderen. Er hatte zwei Brüder, einer war krank, einer grob, eine strenge Mutter, die distelschön war, er hatte zweckmäßige Kleidung und ein zweckmäßiges Leben, Kartoffeln und Quark. An jenem Frühjahrsmorgen stieg er auf sein Fahrrad, ein altes, schweres Damenrad mit glockenförmiger Lampe und einem breiten Sattel, dessen Sprungfedern quietschten, und er fuhr hinaus in die Welt. Er fuhr zu den letzten Häusern, über die Felder, zu dem kleinen Friedhof. Mit langem Bein trat er in die Pedale, die Kette rasselte durch das Kettenblech. Ziellos radelte er über die Feldwege und kreuzte seine eigene Spur, die auf der Erde ausgelegt war. Er hinterließ vier Schnüre, die er hätte aufnehmen können, um ein Seil daraus zu drehen. Er griff nach dem Fell der Weidenkätzchen, und in einem Wäldchen legte er sich in den betörenden Geruch des Bärlauchs. Er fuhr weiter und stieg erst wieder ab, als er die Feldsteinkirche in der Mitte des kleinen Dorfs erreicht hatte. Auf dem Vorplatz dösten die Autos, darunter (weiße Reifen, schimmerndes Chrom und Heckflossen wie Pflugscharen) die Westautos, ein halbes Dutzend. Er lehnte sein Fahrrad an die Feldsteinmauer. In der Kirche wurde gesungen. Dann spielte eine Orgel. Sie spielte für ihn. Die Pforte war geschmückt mit Osterglocken, Forsythienzweigen und blauen Bändern. Als er nach langem Zögern eintreten wollte, brach die Sonne die Wolken auf, und er sah seinen Schatten im Bogen des hellen Holzes. Als sich die Flügel der Pforte öffneten, zersprang sein Schatten, und die Orgelmusik traf ihn. Triumphal und klagend, in tiefen, trauernden Bassstößen und mit hellem Jubelklang. Es war Windmusik, die im Orgelbalg Atem schöpfte, der als Raunen durch das große Prinzipal ging und als Flötenspiel den kleinen Pfeifen entwich. Die Musik war ein Wesen mit einer und mit tausend Seelen. Er erkannte sie und verstand, wovon sie kündete. Sie war leicht und schwer zugleich, sie wusste vom grässlichsten Sterben und vom ewigen Leben, sie war Angst und Hoffnung. Sie war das Leben, und es war das Gegenteil dessen, was ihm bisher als das Leben verkauft worden war, Kartoffeln und Quark.

Im Licht der Töne postierten sich zwei Mädchen links und rechts des Ausgangs, die Kollektebeutel mit weißen Armen haltend. Sie sahen ihn an, die eine dunkelhaarig, die andere blond, beide groß und schlank und in so feinen Kleidern, dass ihm schlagartig bewusst wurde, in kurzen Hosen und langen Strümpfen vor ihnen zu stehen. Er wich den herausströmenden Menschen aus, die mit frommen Gesichtern und aufwendigen Gesten Münzen und Scheine in die Beutel gaben. »Friede sei mit dir«, sagten die Mädchen zu einem jeden. Ein großer, nach Rasierwasser riechender Mann drehte sich zur einen und zur anderen, während er einen Ring vom Finger schraubte. Er fragte, welche von ihnen die Schönste sei. Als beide schwiegen, schraubte er den Ring zurück an seinen Finger. »Friede sei mit dir«, sagte die Ältere und wandte sich einer eleganten Frau zu, die ihr gut sichtbar einen druckfrischen Geldschein hinhielt, auf dem das Holstentor abgebildet war. Das aber stand in Lübeck, und Lübeck war drüben, westwärts, seit Kurzem abgetrennt durch eine Mauer und undenkbar fern.

»Ich bin, weiß Gott, nicht ohne Glauben«, sagte seine Mutter am Abend, als die Rede auf die Kirchgänger kam. Allerdings seien häufige Kirchbesuche schlecht, widernatürlich. Frank schwieg. Es ging doch nicht um den Gottesdienst. Etwas anderes war geschehen, er konnte nur nicht genau sagen, was. Er verstand nicht, wie alles zusammenhing. Die Orgel mit den Westautos, die Osterglocken mit dem Ring, das blonde Haar mit dem braunen, der Friede mit dem Geld. Vielleicht hing es auch gar nicht zusammen oder nur, weil er es war, der alles erlebt und gesehen hatte. Er wusste nur, dass er am Beginn einer Reise stand.

»Papa, ich habe Hunger«, sagt sein Sohn. »Und außerdem ist da ein Reh.«

Frank Friedrich setzt das Fernglas an. Er bedenkt alles, und dann vergisst er das Naheliegende. »Ich habe nichts dabei. Es tut mir leid.«

»Dann was zu trinken?«

»Leider nein.«

Nach einer Weile fragt sein Sohn: »Wann kehren wir um?«

Frank Friedrich stützt die Ellenbogen auf den Baumstamm und presst das Fernglas in seine Augenhöhlen. »Das ist unglaublich«, sagt er. Er schwenkt das Glas und fährt den Signalzaun ab, erst in südliche, dann in nördliche Richtung. »Das Reh und das Kitz sind drinnen«, sagt er, mehr zu sich als zu seinem Sohn. »Die müssen irgendwo durch den Zaun geschlüpft sein. Vielleicht gibt es ein Loch, einen Durchlass für das Wild.«

»Wir kehren doch um?«, sagt der Junge.

»Gib mir mal die Karte«, sagt Frank Friedrich.

Sie tauschen Fernglas gegen Plan. Er nimmt den Kugelschreiber mit den drei Farben zur Hand und zeichnet eine rote Markierung in die Wanderkarte. Dann greift er die Kamera und schießt eine Bilderserie.

Im Schulatlas des Jungen, VEB Hermann Haack, Geographisch-Kartographische Anstalt Gotha/Leipzig 1980, ist die Grenze tatsächlich durchlässig, eine Strichpunktlinie, als könne man zwischen Punkten und Strichen hindurchschlüpfen. Allerdings gilt das nur für die geologischen Karten. In den politischen ist die Grenze ein solider blassroter Strich. Auf den Schlussseiten des Atlas ist die ganze Erde im Maßstab eins zu achtzig Millionen abgebildet, es gibt nur das Braun der Gebirge, das Gelb der Wüsten, das Grün der Ebenen, das Weiß der Pole und das Blau der Ozeane. Moskau ist ein Punkt und Paris auch. Es gibt Oster- und Sandwichinseln, keine Grenzen. Wie würde er die Fotos erklären, wenn man ihn fasste, wie die Karte mit den Markierungen? Welche Ausrede, welches Alibi hielte er dafür parat? Es ist erschöpfend, für das ganze Leben eine Legende zu brauchen.