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Der Kameramann Marc Burth fährt mit seiner Familie in ein italienisches Bergdorf. Schon bald beunruhigen ihn merkwürdige Vorkommnisse. Eines Nachts findet er im Nachbarhaus einen Marokkaner, fast totgeprügelt – nach Aussage des Opfers von Polizisten. Marc ist seine einzige Hoffnung. Er recherchiert und kann nicht fassen, worauf er stößt: ein staatliches Terrornetzwerk, in das auch deutsche Politiker involviert sind. Von der RAF bis zu NATO-Geheimarmeen während des Kalten Krieges, der Staat scheint sich mit Terroristen verbündet zu haben. Und möglicherweise tut er das noch immer – auch dort oben, auf dem Berg, wo Marc und seine Familie plötzlich nicht mehr sicher sind … Martin Maurers hochbrisanter Thriller nimmt uns das Vertrauen darauf, in Sicherheit zu leben; beschützt durch die Polizei, die Institutionen des Staates. Doch was, wenn dieser Staat gegen seine eigenen Werte verstößt? ›Terror‹ beschreibt die grausamen Folgen mit überwältigender Spannung.

Die politischen Fakten zum Buch finden sich auf dem Blog www.prenzlauerberger.wordpress.com

autor

© Oliver Geissler

Martin Maurer wurde 1968 in Konstanz am Bodensee geboren. Er studierte Dramaturgie und Drehbuch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg und arbeitet als Drehbuchautor. Bei DuMont erschien bislang sein Thriller ›Terror‹ (2011). Martin Maurer lebt in Berlin.

Martin Maurer

TERROR

Roman

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Meinen Eltern

PROLOG

Am 7. März 2010 habe ich meinem Freund, dem Berliner Kameramann und Filmemacher Marc Burth, eine Mail geschrieben. Der letzte Satz lautete:

P.S.: Hast du eigentlich Angst? Grüße Martin

Einen Tag später kam seine Antwort:

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Drei Monate später, am 4. Juni 2010, ist Marc in Lenzari, einem Dorf im ligurischen Hinterland, zum letzten Mal gesehen worden. Seither gilt er als vermisst.

Arroscia-Tal, Freitag, 4. Juni 2010, 15:40 Uhr

Brigadiere Fabrizio Altieri biss in seine Focaccia, wischte energisch ein paar Krümel von seinem Uniformhemd und schaltete in den vierten Gang. Er ließ die Hand lässig auf der Gangschaltung liegen und warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Mit Riesenschritten ging es auf den Feierabend zu. Er freute sich auf Michela.

Fabrizio war zweiunddreißig Jahre alt, groß und schlank, und nur wer genau hinsah, bemerkte die leichte Verkrümmung des Rückens unterhalb seiner rechten Schulter. Der Ansatz eines Buckels. Es war diese kaum wahrnehmbare Missbildung, die Fabrizio anders durch die Welt gehen ließ als seine vor Selbstbewusstsein strotzenden Kollegen. Er lebte mit dem Gefühl, dass die ganze Welt eine zerbrechliche Glaskugel sei, nur notdürftig verkleidet mit Bäumen und Wiesen; träte man irgendwo falsch oder zu heftig auf, würde sie mit einem hässlichen Klirren zerspringen.

Der Alfa Romeo glitt in den Tunnel hinter Ortovero. Der Gestank der Abgase drang ins Innere des Wagens. Die Deckenbeleuchtung war zum Teil ausgefallen. Trotz der Dunkelheit nahm Fabrizio die Pilotenbrille mit den grün getönten Gläsern nicht ab.

Seit er vor zwei Jahren nach Pieve versetzt worden war, hatte er hier einen ruhigen Job gehabt. Die meisten Probleme machten die Extracomunitari, die Albaner und Marokkaner, die sich mehr und mehr in den von den Italienern verlassenen Dörfern im ligurischen Hinterland niederließen. Aber alles in allem war es eine ruhige Gegend. Und mit Cesare, dem Leiter der Station, war er von Anfang an gut zurechtgekommen. In letzter Zeit allerdings war es schwierig, ein normales Gespräch mit Cesare zu führen. Fabrizio blickte kurz hinüber zu dem Kollegen auf dem Beifahrersitz. Cesare hatte die Lehne des Sitzes weit nach hinten gestellt, um zu dösen. Die dunkelblaue Uniformmütze der Carabinieri lag auf seinem Schoß. Nun richtete er sich leicht auf und zeigte auf die Reflektoren am Straßenrand, die rot aufglühten, wenn sie vom Scheinwerferlicht angestrahlt wurden.

»Mit Valeria habe ich immer gespielt, dass hier im Tunnel ein Monster lebt. Die Reflektoren waren seine Augen. Vor dem Tunneleingang haben wir laut geschrien: Achtung Monster! Und dann haben wir die Augen des Monsters gezählt.«

Cesare legte sich wieder zurück in den Sitz. Fabrizio vermied es, seinen Kollegen anzusehen.

»Tut mir leid«, murmelte er und hoffte, dass Cesare es dabei belassen würde.

Als der Wagen den Tunnel passiert hatte, begann es zu regnen. Fabrizio schaltete die Scheibenwischer ein und bremste ab. Die Straße wurde enger und wand sich nun in scharfen Kurven das Arroscia-Tal hinauf bis nach Pieve di Teco, wo sie stationiert waren.

Plötzlich raste ein schwarzer Audi mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Er fuhr auf dem Mittelstreifen.

Fabrizio riss das Steuer nach rechts, um auszuweichen. Cesare kam gerade noch rechtzeitig aus seinem Liegesitz hoch, um zu erkennen, dass der A6 mit den getönten Scheiben ein deutsches Nummernschild hatte. Fabrizio fluchte und gab Gas. Er hielt auf die nächste Kreuzung zu. Da, wo die Straße nach Leverone abzweigte, hatte er genug Platz, um zu wenden und die Verfolgung des Audis aufzunehmen. Er bog ein und fuhr mit quietschenden Reifen eine scharfe Kurve. Da sagte Cesare mit müder Stimme:

»Lass. Fahr weiter.«

Fabrizio trat abrupt auf die Bremse und starrte Cesare an.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch.«

»Wir müssen den stoppen! Wir können den doch nicht so weiterrasen lassen!«

Cesare schwieg.

»Dann lass uns zumindest Meldung machen.« Fabrizio griff nach dem Funkgerät, aber Cesare legte ihm die Hand auf den Unterarm.

»Lass«, sagte er. »Ich bete, dass nichts passiert.«

Fabrizio starrte seinen Chef entgeistert an. Kein Grinsen war auf seinem Gesicht zu sehen, kein Zeichen von Ironie. Er hatte die Augen geschlossen und sich wieder in den Sitz zurückgelehnt.

Fabrizio legte den ersten Gang ein und gab behutsam Gas.

Sie fuhren schweigend durch den letzten Tunnel vor Pieve. Es war Freitag, der 4. Juni. Samstag hatte er frei. Er würde sich mit Michela aufs Motorrad setzen und losfahren. Sie wussten noch nicht wohin.

»Bieg ab. Wir fahren noch mal hoch.« Cesare saß jetzt aufrecht neben ihm. Er schien plötzlich hellwach zu sein.

Widerwillig setzte Fabrizio den Blinker. Sie hatten erst vor ein paar Tagen mit den Deutschen gesprochen. Der Computer war weg, daran gab es nichts zu rütteln. Der würde auch nicht wieder auftauchen, wenn sie noch einmal Fragen stellten. Die Albaner klapperten die Dörfer mit ihren Mopeds ab, und wenn sich eine Gelegenheit bot, griffen sie zu. Wenn man dann noch die Terrassentür sperrangelweit offen stehen ließ, wie die Deutschen, musste man froh sein, wenn nur der Rechner weg war. Doch Fabrizio kannte seinen Chef gut genug, um zu wissen, wann er am besten einfach tat, was der ihm sagte. Er bog in Richtung Vessalico ab und vor dem Ortseingang gleich noch einmal nach rechts in die schmale, steile Straße, die vom Arroscia-Tal nach oben auf den Berg führte. Regen und Wind wurden immer stärker. Die Wolken hingen sehr tief.

In Serpentinen schraubte sich die Straße zwischen Olivenbäumen steil nach oben. Auf einer Strecke von etwa zehn Kilometern überbrückte sie an die fünfhundert Höhenmeter. Da es nur an wenigen Stellen Ausweichmöglichkeiten gab, hupte Fabrizio vor jeder Kurve. Nach der nächsten Kehre waren sie bereits mitten in den Wolken. Nebelfelder zogen den Berg hinunter. Der Regen trommelte auf das Autodach. Fabrizio nahm die engen Kurven sportlich. Er warf einen schnellen Blick hinüber zu Cesare und spürte, wie er aggressiv wurde. Seit vier Monaten machte er das jetzt mit. Und zwar vorbildlich, wie er fand. Er hatte immer wieder nachgefragt, obwohl er alles, was Cesare zu erzählen hatte, bereits auswendig kannte. Er kannte jede Bewegung, die Valeria gemacht hatte, bevor sie auf den Zebrastreifen getreten war, er wusste, dass, bevor der Lastwagen kam, noch zwei Autos an ihnen vorbeigefahren waren, ein silberfarbener BMW und ein alter weißer Peugeot, beide in so hohem Tempo, dass Cesare seine Enkeltochter instinktiv an der Kapuze ihres Wintermantels gepackt hatte. Er wusste, dass es ein sehr klarer Tag gewesen war. Die verschneiten Berggipfel waren bis nach Genua zu sehen gewesen, und dann hatte Signor Micelli eine Flasche in den grünen Flaschencontainer zwei Meter links des Zebrastreifens geworfen, und Cesare hatte sich zu ihm umgedreht und die Hand von Valerias Kapuze genommen, um Signor Micelli zuzuwinken. Es hatte keinen anderen Grund gegeben, sosehr Cesare auch im Nachhinein über diesen Moment grübelte und sich fragte, warum er Valeria losgelassen hatte, obwohl ihm der Luftballon im Durchgang auf der gegenüberliegenden Straßenseite doch bereits aufgefallen war. Dieser Ballon, eine Raupe mit großen Augen, wurde vom Wind immer weiter in Richtung Straße getrieben, und von rechts kam der Lastwagen auf sie zu, und Valeria hatte gerufen: »Opa, der Ballon!« Ihre Stimme hatte aufgeregt geklungen, aber er hatte aus Höflichkeit ein paar Worte mit Signor Micelli gewechselt und nicht reagiert, und sie hatte noch einmal geschrien: »Der Ballon!« Dann war sie losgerannt, um ihn zu retten. Und Cesares Hand war in dem Moment in der Luft gewesen, am nutzlosesten Ort der Welt, und nicht an der Kapuze seiner Enkelin. Valeria war sechs Jahre alt geworden, und Fabrizio wusste oder glaubte zu wissen, was jetzt in Cesares Kopf vor sich ging.

»Du musst lernen, damit umzugehen, Cesare. Ich halte das nicht länger aus.« Fabrizio war selbst erschrocken, wie aggressiv seine Stimme klang. Er hatte ein paar Meter gerader Strecke vor sich und drückte aufs Gaspedal. Regen prasselte gegen die Scheibe, als wolle er Fabrizios Worte unterstreichen. Der Scheibenwischer schmierte. Und Cesare antwortete ganz ruhig:

»Es ist umgekehrt, Fabi. Du musst lernen, es auszuhalten. Dass an diesem 17. Januar nicht die ganze Küste ins Meer gestürzt ist, dass weiterhin Jahr für Jahr Millionen Autofahrer die Via Aurelia entlangfahren und das Panorama genießen werden, ohne zu ahnen, was dort passiert ist, das ist der Skandal. Damit muss ich leben. Und das auszuhalten, mich auszuhalten, Fabi, das musst du lernen. Ich sehe keinen anderen Weg.« Cesare schloss die Augen. Er wirkte erschöpft. Fabrizio steuerte mit hoher Geschwindigkeit auf die nächste Kurve zu. Er wusste nicht, was er sagen sollte, also schwieg er.

Er dachte an den schwarzen A6, der ihnen eben mit viel zu hoher Geschwindigkeit entgegengekommen war. Warum hatte Cesare ihn weiterfahren lassen? Weil er wollte – unbewusst natürlich – dass andere sein Schicksal teilten? Ein ungeheurer Gedanke. Aber dass sie diesen Wagen nicht gestoppt hatten, war fahrlässig gewesen. Und Cesare war ganz sicher nicht fahrlässig. Was also steckte dahinter?

»Vorsicht!«, schrie Cesare. Fabrizio reagierte sofort und trat auf die Bremse. Das Heck des Alfas schlingerte, der Wagen kam zum Stehen. Direkt vor der Kühlerhaube stand ein etwa fünfjähriges Mädchen. Es hatte blonde Haare und war völlig durchnässt vom Regen. Und es blutete. So viel konnten Fabrizio und Cesare sehen, bevor das Mädchen wieder verschwunden war. Die beiden Carabinieri sahen sich einen Moment lang erschrocken an, dann rissen sie die Autotüren auf und stürmten um den Wagen herum. Das Mädchen lag jetzt vor der Kühlerhaube auf dem Asphalt. Es war Anna, die Tochter der Deutschen.

Sie lag auf dem Rücken, als habe sie sich hier hingelegt, um sich auszuruhen. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Soweit Fabrizio das überblickte, blutete sie aus mehreren Wunden am ganzen Körper. Cesare kniete sich neben das Mädchen. Er wirkte wie unter Schock. »Kannst du mir sagen, was passiert ist?«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Sie versteht dich nicht, Cesare.«

Cesare sah auf, sah Fabrizio an, aber es schien, als blicke er durch ihn hindurch.

»Du kannst doch ein bisschen Deutsch, oder?«, fragte Fabrizio.

»Ich verstehe ein bisschen, aber ich kann nicht …«

»Versuch es. Frag sie, was passiert ist.«

Cesare versuchte es. Fabrizio konnte nicht beurteilen, ob das ein einigermaßen verständlicher deutscher Satz war, den Cesare an Anna richtete. Er sah gespannt in ihr Gesicht.

Anna schaute Cesare an, eine Ewigkeit, so kam es Fabrizio vor, und dann endlich sagte sie etwas auf Deutsch, das er nicht verstand. Cesare wandte sich zu ihm. Sein Gesicht machte ihm Angst. Es sah vollkommen zerstört aus. Vielleicht war der Regen schuld.

»Was hat sie gesagt?« fragte er.

Cesares Stimme drang sehr leise durch den strömenden Regen.

»Ich bin mir nicht sicher … ich glaube, sie hat gesagt: So viel Blut.«

Ligurische Küste,

Donnerstag, 28. Januar 2010, 21:06 Uhr

Bei der Ausfahrt Albenga fuhren sie von der Autobahn ab. Es war kurz nach 21 Uhr. Anna war eingeschlafen. Je weiter sie sich von der Küste entfernten, desto enger und bedrückender wurde das Arroscia-Tal. Sie fuhren schweigend. Kurz vor Vessalico bogen sie in die Straße ab, die nach Lenzari hinaufführte. Nach etwa hundert Metern hatten sie die letzen Häuser hinter sich gelassen. Es war jetzt stockdunkel. Die Scheinwerfer wischten über die Olivenbäume links und rechts der Straße. Hinter Wolkenfetzen kam ein verwaschener Mond zum Vorschein und Conny sagte: »Ich bin froh, aus diesem Tal raus zu sein.«

»Ich auch.« Marc schaltete in den ersten Gang und fuhr langsam um die nächste Kurve. Immer wieder lagen Steine und Felsbrocken auf der Straße, auch größere Zweige und Äste. Wahrscheinlich hatte es vor Kurzem ein Unwetter gegeben. Marc schaute auf die Temperaturanzeige: sechs Grad. Unten im Tal waren es noch neun Grad gewesen. Die Olivenbäume waren jetzt verschwunden. Sie fuhren durch ein Waldstück. Zweige schlugen gegen die Windschutzscheibe und strichen am Auto entlang. Der Wald streckte seine Finger nach ihnen aus. Ein Schatten huschte über die Straße und verharrte; Edelsteinaugen blitzten sie an.

Ein längeres Stück gerader Strecke. Die Straße führte direkt auf den Berg zu. Dann sahen sie die Lichter von Lenzari. Der Mond hatte sich ganz aus den Wolken gelöst und gab dem Berg seine Konturen zurück: Der knochige Brustkorb, der spitze Rücken, ein langer Hals mit einem zu kleinen Kopf. Der Berg sah aus wie ein schlafender Hund, und Lenzari hatte sich Schutz suchend an seine magere Flanke geschmiegt.

Das Ortsschild tauchte im Scheinwerferlicht auf. Rechts der Straße ein halb verfallenes Haus. Sie fuhren langsam daran vorbei auf einen kleinen Platz, beleuchtet von einer einzigen Laterne. Ein wenig zurückgesetzt die Kirche. Davor eine große Kastanie.

»Hier ist es«, sagte Conny. »Hier sollen wir parken, haben sie gesagt.«

Marc zog die Handbremse an und schaltete den Motor aus. »Puh. Jetzt reicht’s.«

Sie stiegen aus. Die plötzliche Stille traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Das Rauschen von Wasser irgendwo unten im Tal, die Rufe eines Käuzchens, ansonsten nichts. Es war völlig windstill. Marc lehnte sich auf das Geländer, das den Platz umgab. Conny trat zu ihm. Sie legte ihre Hand auf seinen Rücken. Vor ihnen ging es steil nach unten ins Tal. Auf dem gegenüberliegenden Bergrücken lag ein weiteres Dorf; es schien ein bisschen größer zu sein als Lenzari. Wieder schrie das Käuzchen.

Ein paar Meter weiter rechts stand ein Schild. Zwei Meter lang, anderthalb hoch, schätzte Marc. Aus Metall. Es schienen Bekanntmachungen daraufgeklebt zu sein. Alle waren schwarz-weiß und alle irgendwie gleich. Marc ging auf das Schild zu, um es sich genauer anzusehen. Es waren Todesanzeigen.

Conny schloss die Haustür auf und machte Licht in der Diele. Terrakottafliesen auf dem Boden, links an der Wand eine schöne alte Holztruhe, darüber ein großer Spiegel in goldenem Rahmen. Die Wände waren weiß getüncht. Geradeaus eine antike Tür. Wer über 1,80 groß war, würde den Kopf einziehen müssen. Links davon führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock.

Conny ging die Treppe voran nach oben. Marc folgte ihr, die schlafende Anna im Arm. Von der Treppe trat man durch eine verglaste Tür in eine Art Salon, ein Durchgangszimmer, an dessen Ende sich zwei Türen befanden. Links lag ein kleines Zimmer, rechts ein großes mit Bad. Das kleine würde Annas Zimmer werden. Conny ging hinein und klappte in aller Eile das Schlafsofa auf.

»Ich such mal Bettzeug«, flüsterte sie und ging nach draußen. Marc legte Anna auf die Matratze und setzte sich neben sie. Es roch leicht modrig. Und es war eiskalt. Marc saß im Dunkeln. Sie hatten extra kein Licht gemacht, um Anna nicht zu wecken. Aber vom Salon her und durch die Ritzen der Fensterläden drang Licht ins Zimmer. Direkt vor dem Fenster musste eine Straßenlaterne sein.

Nachdem sie Anna ins Bett gebracht hatten, ging Marc wieder hinaus, um das Auto auszuladen. Er hatte das Gefühl, dass es draußen wärmer war als drinnen. Obwohl er müde war, beschloss er, nicht direkt zum Auto zu gehen, sondern eine Runde zu machen. Nach der langen Fahrt hatte er das Bedürfnis, ein paar Schritte zu gehen. Er ging vom Haus aus nach links. Eine einzige Laterne erleuchtete diesen Abschnitt. Sie hing, aufgespannt an ihrer Leitung, wie gekreuzigt mitten über der Straße und schaukelte leicht im Wind. Wieder schrie das Käuzchen. Marc fröstelte und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kragen zu. Plötzlich hörte er eine Stimme. Es war eine Frauenstimme, und was sie sprach, war nicht Italienisch, soviel war sicher. Er blieb stehen, die Hände in den Jackentaschen vergraben, und lauschte. Die Stimme kam aus einem Haus auf der rechten Straßenseite. Marc tippte auf Arabisch. Er ging auf das Haus zu. Es war verrammelt. Kein Licht war zu sehen. Der Putz blätterte an mehreren Stellen ab, manche waren notdürftig ausgebessert. Quer über die Fassade waren Leitungen verlegt. Das Haus hatte zwei Eingangstüren. Eine, die linke, wirkte wie die Tür zu einem Stall, der obere Teil der Tür bestand aus einem engmaschigen Drahtgitter. Darunter war mit verbliche ner weißer Farbe eine große 1 gemalt worden. War das die Hausnummer? Unwahrscheinlich – stand das Haus doch mitten in einer Reihe anderer Häuser. An keiner der beiden Türen war eine Klingel, geschweige denn ein Name zu sehen. Nichts sprach dafür, dass dieses Haus bewohnt war. Und doch: Die arabische Stimme kam ganz eindeutig aus seinem Inneren. Aus einem Fernseher, wie Marc nun klar wurde.

Plötzlich ertönte ein lauter Knall über ihm. Marc fuhr herum. Im zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses war ein Fenster aufgestoßen worden. Marc konnte niemanden sehen, aber umso besser konnte er die Stimme hören. Die Stimme eines Mannes, der außer sich war vor Wut. »Adesso basta!« – Jetzt reicht’s! Das konnte Marc verstehen.

»Ich will schlafen!« Dann eine Reihe wüster Beschimpfungen, denen Marc nur teilweise folgen konnte, und am Schluss eine handfeste Drohung: »Wenn du keine Ruhe gibst, bringe ich dich um.« Das Fenster wurde geschlossen, das Licht gelöscht. Wenige Augenblicke später erstarb die Fernsehstimme. Das verrammelte Haus lag nun in völliger Stille da. Marc fiel es schwer zu glauben, dass hinter dieser Fassade wirklich jemand lebte. Er wandte sich ab und ging weiter. Nach kurzer Zeit ging die Straße in einen Feldweg über, der zunächst in den Olivenhain und dann in den Wald zu führen schien. Also drehte er um.

Kurz nach elf war das Auto ausgeladen. Conny hatte in der Zwischenzeit festgestellt, dass es ins Haus hineingeregnet hatte. Die Matratze des Bettes im großen Zimmer war klitschnass. An der Wand über dem Bett waren die Spuren des Wassers noch deutlich zu sehen. Ein regelrechter Sturzbach musste hier niedergegangen sein. Conny hatte deshalb im obersten Stockwerk, das aus einem einzigen Zimmer und einer riesigen Dachterrasse bestand, ein provisorisches Lager gebaut. Sie hatte zwei Elektroradiatoren aufgetrieben; einer stand unten neben Annas Bett und einer bei ihnen oben.

»Jetzt bin ich froh um das Babyfon. Ich weiß nicht, ob wir Anna hier oben hören würden.« Conny stöpselte das Babyfon in die Steckdose neben der Matratze, die sie auf den Boden des Zimmers gelegt hatte. »Meinst du, du kannst hier schlafen?«

»Im Moment hab ich das Gefühl, ich könnte überall schlafen.«

»Nicht bequem?«

»Doch. Perfekt. Ich bin einfach total fertig. Hast du den Boiler angemacht?«

»Jap.« Conny kuschelte sich neben Marc in die Bettdecke.

»Schlaf mal gut.«

Das Käuzchen schrie. Wenig später schlug die Kirchenglocke halb zwölf. Conny kicherte. »Mann, ist das ein Krach hier.« Marc überlegte kurz, ob er ihr von dem Nachbarschaftsstreit erzählen sollte, entschied sich dann aber, es morgen zu tun. Er war einfach zu müde. Er legte seinen Arm um Connys Schulter. Mit geschlossenen Augen murmelte er: »Käuzchen und Kirchenglocken. Wir haben den friedlichsten Ort der Welt erwischt.«

Lenzari, Freitag, 29. Januar 2010, 7:05 Uhr

Am nächsten Morgen wachte Marc früh auf, es dämmerte gerade erst, aber er konnte nicht mehr einschlafen. Er hörte Connys ruhigen Atem, spürte die Wärme ihres Körpers. Marc setzte sich auf und sah sich im Raum um. Die zweite Etage des Hauses bestand einzig aus diesem Zimmer. Es wirkte wie ein lustiges Hütchen, das sich das Haus in einem frivolen Moment aufgesetzt hatte. Durch die von oben bis unten verglaste Flügeltür auf der anderen Seite des Raumes, gegenüber dem Matratzenlager, kam man auf die Dachterrasse. Über die Balustrade hinweg konnte er die Berge auf der anderen Talseite sehen. Sie waren bis zu den Gipfeln bewaldet, ihre Formen gleichmäßig, wie von antiken Baumeistern entworfene Pyramiden. Sie hatten etwas Beruhigendes. Marc stand auf und ging zur Tür. Er drehte den Griff und versuchte die Tür zu öffnen, aber sie klemmte. Der Holzrahmen war verzogen. Noch einmal zog er mit aller Kraft am Türgriff, und endlich ließ sie sich öffnen. Die kalte Morgenluft schlug ihm entgegen. Sie roch nach Weihnachten, nach Holzfeuer – natürlich: Hier wurde überall mit Holz geheizt. Trotz der Kälte trat er mit bloßen Füßen auf die Dachterrasse hinaus. Es war vollkommen still. Der Himmel im Osten färbte sich über den zum Meer hin flacher werdenden Hügeln orange. Es würde ein schöner Tag werden.

Da hörte er Annas Stimme. Sie kam aus dem Babyfon. Anna war aufgewacht und rief nach Conny. Marc ging zurück ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Conny saß auf der Matratze und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war noch ganz verschlafen. »Guten Morgen«, sagte Marc und küsste sie.

Während Conny nach Anna sah, ging er hinunter in die Wohnküche und heizte den Ofen ein. Eine halbe Stunde später war es gemütlich warm.

Nachdem sie ausgiebig gefrühstückt hatten, machte Conny eine Liste für den Großeinkauf, den sie heute noch hinter sich bringen mussten, und Marc und Anna erkundeten das Dorf. Sie waren noch keine fünf Meter weit gekommen, als Anna einen Kaninchenstall entdeckte. Er stand in einem halb verfallenen Gebäude aus groben Feldsteinen, das aussah, als habe ein Riese mit einem Faustkeil darauf eingeschlagen: Nur die Grundmauern des Erdgeschosses und Teile der Decke waren noch vorhanden. Marc zog den Kopf ein und folgte Anna unter dem Torbogen hindurch in das Gebäude. Der Boden war mit Gras und Unkraut bewachsen. In der Mitte klaffte eine Lücke von etwa zwei Metern Breite, durch die der strahlend blaue Himmel über Lenzari zu sehen war.

»Guck mal, zwei sind braun und zwei schwarz-weiß!« Anna war aufgeregt. Die Kaninchen zickzackten verängstigt durch ihren Holzverschlag. Anna versuchte ihnen klar zu machen, dass sie keine Angst haben müssten, und überlegte sich Namen für jedes von ihnen. Plötzlich hörte Marc ein Geräusch hinter sich. Er drehte sich um. Hinter ihm unter dem Torbogen standen ein Mann und eine Frau und sahen sie neugierig an. Die Frau mochte um die siebzig Jahre alt sein, sie hatte eine Arbeitsschürze um und trug eine Brille, die Marc viel zu groß erschien für ihren zierlichen Kopf. Ihre Füße steckten in lehmverschmierten Gummistiefeln, aber sie wirkte nicht wie eine Bäuerin, eher wie eine Dame, die gerade im Garten nach den Rosen gesehen hatte. Wie alt der Mann neben ihr sein mochte, war unmöglich einzuschätzen, irgendwas zwischen fünfzig und fünfundachtzig. Der Mann hatte einen unglaublich faltigen Hals und ein zerfurchtes Gesicht. Er trug eine grüne Wollmütze, und Marc bemerkte, dass sein Kopf leicht zitterte. Beginnender Parkinson vielleicht? Marc musste an die riesige Echse denken, die er und Anna bei ihrem letzten Besuch im Zoo beobachtet hatten. Ein Urtier, das aussah, als habe es Zeiten erlebt, von denen die Menschheit noch nicht einmal etwas ahnte.

Anna war zu ihm getreten.

»Was wollen die?«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang ängstlich. Marc legte seine Hand auf ihre Schulter.

»Buon giorno«, sagte die Frau und lächelte, »willkommen in Lenzari.«

Die Frau, sie hieß Elisa Noè, erkundigte sich nach Annas Namen und Alter. Marc übersetzte für Anna. Frau Noè wohnte in dem großen Haus neben der Kirche und lud Anna ein, vorbeizukommen. Sie habe von ihrer Enkelin noch viele Spielsachen, die Anna gerne benutzen könne.

»Sie ist jetzt fünfzehn und kommt nicht mehr oft hier hoch.«

Marc hörte das Bedauern in ihrer Stimme. Er begann die unaufdringliche Freundlichkeit dieser Frau zu mögen.

»Es ist schön, dass mal wieder eine junge Familie in Lenzari ist. Das tut wirklich gut. Wir sind hier alle alt und sterben sicher auch bald.« Frau Noè lachte. Der Mann neben ihr nickte. Er hatte die ganze Zeit kaum etwas gesagt. Marc hatte mitbekommen, dass er Antonio hieß – seinen Nachnamen hatte er nicht verstanden – und ihr direkter Nachbar war. Ihm gehörten die Kaninchen.

»Schau mal!«, rief Anna plötzlich und beugte sich über etwas, das vor ihr auf dem Boden lag. Marc schaute ihr über die Schulter: Es war eine junge Ratte. Sie hatte noch kein Fell und musste gerade aus ihrem Nest gefallen sein. Sie fiepte jämmerlich und wand sich auf dem Steinfußboden. Ihre Füßchen ruderten hilflos in der Luft herum.

»Scusa«, sagte Antonio, schob Anna ein wenig zur Seite und trat mit dem Absatz seines lehmverschmierten Bergschuhs kräftig auf die Ratte. Ein weiteres jämmerliches Fiepen, ein knirschendes Geräusch. Marc sah nicht hin, als Antonio den Fleischklumpen mit der Hand vom Boden aufhob und durch das Loch im Dach hinter die Mauer warf.

»Es gibt zu viele Ratten hier«, sagte Antonio und lächelte freundlich. Anna hatte sich an Marcs Beine geklammert. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihren Nacken. Sie hatte eine Gänsehaut.

Marc verabschiedete sich schnell, versprach Frau Noè, bald auf einen Kaffee vorbeizukommen, und schob Anna, die sich immer noch an ihn klammerte, behutsam aus dem verfallenen Gebäude. Als sie allein waren, begann Anna zu schluchzen. Sie hatte Tränen in den Augen und war völlig verstört.

»Warum hat er das gemacht? Das war doch ein Baby!«

»Für ihn sind das nur lästige Tiere, die Krankheiten übertragen, weißt du …«

»Ist er böse?«

»Nein, er ist sogar sehr nett …«

Anna schluchzte. Marc fiel nichts ein, was er ihr zum Trost sagen konnte. Er kniete sich vor sie, umarmte sie und streichelte ihren Rücken. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und weinte bitterlich.

Vier Stunden später saßen sie im »Arlecchino« an der Strandpromenade von Alassio und hielten ihre fahlen Gesichter in die Wintersonne, die hier so viel Kraft hatte, dass die Restaurantbesitzer ihre Tische nach draußen gestellt hatten.

»Boah! Und jetzt noch ein kleines Tiramisu?«

»Dann platze ich.«

Conny hatte ein Fritto misto und Marc zusammen mit Anna eine Platte Penne allo scoglio verdrückt. Anna kniete neben ihnen im Sand und buddelte. Dahinter glitzerte das Meer so hell, dass Marc die Augen zusammenkneifen musste. Er ließ seinen Blick über die Bucht und die steil ansteigende Küste schweifen. Der Himmel über Alassio war tiefblau.

»Wie bescheuert, im Winter in Berlin zu sitzen.«

»Hmh«, brummte Conny und legte ihre Hand auf Marcs Knie. In diesem Moment war Marc ihren Berliner Freunden Dirk und Maike unendlich dankbar dafür, dass sie ihnen ihr Haus in Lenzari zur Verfügung gestellt hatten. Noch vor ein paar Wochen waren er und Conny am Ende ihrer Kräfte gewesen, nach einem Höllenwinter in Berlin, der noch mindestens zwei Monate andauern würde. Seit November war Anna immer wieder krank gewesen und einfach nicht mehr auf die Beine gekommen. Irgendwann nach Weihnachten war ihnen klar geworden, dass sie eine Auszeit brauchten. Und jetzt, da ihm die Sonne so wohltuend ins Gesicht schien, wusste Marc, dass es richtig gewesen war, das Angebot der Freunde anzunehmen.

Der Kellner räumte ab und fragte, ob sie Dessert oder Kaffee oder beides wollten. Conny, die eben noch gemeint hatte, gleich platzen zu müssen, bestellte ein kleines Tiramisu zu ihrem Kaffee.

»Natürlich für Anna«, sagte sie und grinste. Marc fand, dass sie toll aussah, vor dem glitzernden Meer.

»Anna! Tiramisu kommt gleich!«

Aber Anna reagierte nicht. Eine Folge der vielen Mittelohrentzündungen. Was ziemlich anstrengend war, weil sie immer erst schreien mussten, bis Anna sie verstand.

»Aber ein bisschen besser hört sie, oder nicht?«

»Ich habe nicht den Eindruck, ehrlich gesagt.« Sie betrachteten Anna, die eben eine große Feder im Sand entdeckt hatte. Der Vogel, dem die Feder gehört hatte, musste schwer krank sein.

»BÄH! WIRF DAS DING WEG, ANNA!«

Anna drehte sich zu ihnen um. »Was?«

»KOMM MAL HÄNDE WASCHEN, GIBT GLEICH TIRAMISU!«

»Juhuuu!« Anna kam angerannt, legte die Feder des kranken Vogels neben Marc auf den Tisch und ging mit Conny ins Restaurant hinein, Hände waschen. Marc sah ihnen nach. Anna hüpfte an Connys Hand. Die Trauer über das Rattenbaby war verflogen.

Er betrachtete die Feder des kranken Vogels, die neben seiner Kaffeetasse lag. Der Flaum unten am Kiel zitterte, obwohl es völlig windstill war. Große Kerben waren in die Feder hineingeschlagen, die Spitze war abgebrochen, sodass sie ihre Form verloren hatte. Ein schmutzig grauer, verklebter Rumpf war übrig geblieben, ekelhaft. Er gab dem Drang nach, sie anzufassen.

Sie kamen spät nach Hause, der Einkauf bei Coop in Albenga hatte lange gedauert. Es war bereits dunkel, und sie trauten sich nicht mehr, Massimo und Sandra um diese Zeit noch zu besuchen. Sie würden das auf morgen verschieben, obwohl Dirk und Maike sie gebeten hatten, die beiden bald nach ihrer Ankunft aufzusuchen. Massimo und Sandra kümmerten sich um das Haus, wenn Dirk und Maike nicht in Lenzari waren. Sie fühlten sich verantwortlich, deshalb war es wichtig, dass sie so bald wie möglich dort Guten Tag sagten. Aber heute nicht mehr. Die frische Luft hatte sie müde gemacht. Kurz nach 22 Uhr schliefen sie alle.

Es war 1:40 Uhr, als das Babyfon knarzte. Ein kurzes Rauschen, Marc fuhr hoch, versuchte sich zu orientieren. Etwas glühte in der Dunkelheit, ein oranges Licht – der Schalter des Radiators. Italien, Lenzari, jetzt wusste er, wo er war. Es war warm im Zimmer. Viel zu warm. Marc hatte einen trockenen Mund. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er wollte gerade den Radiator ausschalten, als die Schreie einsetzten. Sehr laut. Unter die Schreie waren Worte gemischt, die aber kaum zu verstehen waren. Dumpfe Schläge. Ein Winseln, das kaum mehr menschlich klang. »No!« Dann noch mal, deutlicher, »No!«. Die Stimme überschlug sich. Das Babyfon, aus dem die Schreie kamen, knarzte wieder und setzte mit einem schrillen Pfeifen aus.

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Zwischen Vessalico und Lenzari,

Freitag, 4. Juni 2010, 16 Uhr

Die Wolken, die Olivenbäume, die verbeulte Leitplanke – sie alle hatten ihre Konturen verloren, flossen mit dem schmierigen Grau der Straße zusammen und an der Windschutzscheibe des Alfas herunter. Fabrizio drehte den Zündschlüssel im Schloss. Die Scheibenwischer brachen aus ihrem Graben hervor und gaben der Welt draußen mit einer lässigen Bewegung ihre Umrisse zurück. Er atmete tief durch. Dann löste er die Handbremse und ließ den Wagen einen halben Meter rückwärts rollen, sodass er Cesare und das Mädchen sehen konnte. Die Scheibenwischer zerschnitten die Szene mit einem regelmäßigen Quietschen. Cesare kniete vor Anna auf der Straße. Er hatte seine Uniformjacke zusammengerollt und sie Anna wie ein Kissen unter den Kopf geschoben. Jetzt spannte er einen Regenschirm auf, den er aus dem Kofferraum des Alfas geholt hatte. »Pizzeria Dal Maniscalco« war auf den Schirm aufgedruckt und ein Hufeisen, das Logo der Pizzeria. Cesare legte den aufgespannten Schirm auf die Straße und richtete ihn so aus, dass er Annas Gesicht vor dem Regen schützte. Sie hatte die Augen geschlossen. Wieder – das zweite Mal innerhalb von vier Monaten – kniete Cesare vor einem kleinen Mädchen. Aber dieses Mädchen hieß Anna, nicht Valeria. Und dieses Mädchen lebte. Es atmete. Es hatte die Augen geschlossen, aber es atmete; Fabrizio konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb auf- und abbewegte. Sie hatten versucht, Anna hochzuheben, um sie ins Auto zu setzen, aber sie hatte sich gewehrt. Sie schien Angst vor ihnen zu haben und wollte sich nicht berühren lassen. Deshalb lag sie noch immer da vorne im Regen. Er griff zum Funkgerät.

»Wagen drei an Zentrale.«

»Zentrale hört.«

»Wir brauchen einen Krankenwagen auf der Straße von Vessalico nach Lenzari.« Fabrizio überlegte kurz, ob er Verstärkung anfordern sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie wussten ja nicht einmal, was passiert war. Cesare war sich nicht sicher gewesen, ob er das Mädchen richtig verstanden hatte. Sein Deutsch war einfach zu schlecht. »So viel Blut« – mehr hatte sie nicht gesagt. Was sollte das? Nein, es war besser, erst einmal hochzufahren und sich umzusehen. Fabrizio starrte nach draußen in den Regen. Sollten sie noch einmal versuchen, Anna dazu zu bringen, sich ins Auto zu setzen? Cesare war völlig durchnässt. Er müsste ihn zumindest fragen, ob er ihn ablösen sollte. Aber Cesare würde bei Anna bleiben wollen, das wusste Fabrizio. Ein Windstoß fuhr in die Olivenbäume am Berghang über der Straße. Ihre Blätter glitzerten silbern, und plötzlich hob der Regenschirm vom Boden ab, schwebte über Anna hinweg, kam einen Meter weiter wieder auf der Straße auf und kletterte dann – wie in Zeitlupe – über die Leitplanke hinweg. Er trudelte zwischen den Olivenbäumen hindurch und verschwand hinter der Böschung. Anna lag mit geschlossenen Augen auf der Straße. Sie schien nicht zu bemerken, dass kein Regenschirm mehr da war, dass ihr der Regen ins Gesicht prasselte.

Fabrizio nahm das Funkgerät wieder auf.

»Wagen drei an Zentrale.«

»Zentrale hört.«

»Die Verletzte zwischen Vessalico und Lenzari …«

»Krankenwagen ist unterwegs.«

»Die Verletzte ist ein fünfjähriges Mädchen. Sie spricht nur Deutsch. Wir müssen wissen, was mit ihr passiert ist. Schickt bitte einen Dolmetscher ins Krankenhaus.«

»Verstanden. Welches Krankenhaus?«

»Vermutlich Pieve. Ich geb’s euch durch, sobald der Krankenwagen da ist. Aber organisiert schon mal den Übersetzer. Das Mädchen ist aus Lenzari. Wir fahren hoch. Ende.«

»Verstanden. Ende.«

Um 16:12 Uhr kam der Krankenwagen. Er hielt direkt hinter dem Alfa Romeo der Carabinieri und versperrte die Straße. Ein entgegenkommender Wagen würde nicht vorbeikommen, die Straße war zu schmal. Aber seit Anna vor ihrer Kühlerhaube aufgetaucht war, war ihnen kein Wagen mehr entgegengekommen. Genau genommen war ihnen auf der ganzen Strecke niemand entgegengekommen. Fabrizio sah im Rückspiegel das missmutige Gesicht des Sanitäters, der eben aus dem Wagen stieg, die Fahrertür zuknallte und sich die Kapuze seines Regencapes über den Kopf zog. Es war Davide. Sie hatten schon ein paar Einsätze zusammen gemacht. Den Beifahrer, der jetzt hinter Davide auftauchte, kannte Fabrizio nicht. Er warf einen letzten Blick in den Rückspiegel, bevor er die Tür öffnete und in den strömenden Regen trat.

»Ciao Davide.«

»Ist das eine Scheiße, wo soll ich denn hier wenden?«

»Ich würde zurücksetzen und …«

»Das ist wie ein Sechser im Lotto, hier vor ein Auto zu laufen. Hier ist doch normalerweise keine Sau unterwegs … Scheiße …« hörte Fabrizio ihn noch fluchen, der Rest ging im prasselnden Regen unter. Davide und sein Kollege gingen mit der Trage zu Anna. Cesare sah auf, als die Sanitäter zu ihm traten und nickte ihnen zu. Er versuchte aufzustehen, was ihm sichtlich Mühe bereitete. Davide beugte sich zu Anna hinunter.

»Wieso lasst ihr die Kleine hier im Regen liegen?«

»Sie hatte Angst und hat sich gewehrt«, sagte Cesare, »geht bitte behutsam mit ihr um.«

Davide brummte irgendetwas Unverständliches, aber er lächelte Anna freundlich an. Zum Erstaunen der Carabinieri ließ sich Anna widerstandslos von Davide untersuchen.

»Was fehlt ihr?«, fragte Fabrizio.

»Ein paar Kratzer hat die, sonst nichts«, knurrte Davide. Er gab seinem Kollegen mit dem Kopf ein Zeichen. Sie hoben Anna auf die Trage. Voller Angst sah sie vom einen zum anderen und schloss die Augen wieder. Ohne etwas zu sagen. Aber sie ließ es geschehen.

»Sie hat mehr abbekommen als ein paar Kratzer«, sagte Cesare mit leiser Stimme, aber so voller Überzeugung, dass Davide ihm nicht zu widersprechen wagte.

»Auf jeden Fall hättet ihr sie ins Auto setzen müssen«, murmelte er. Sie hoben die Trage an.

»Kann jemand von euch Deutsch?«, fragte Fabrizio. Aber die beiden Sanitäter schüttelten die Köpfe.

»Wo bringt ihr sie hin?«

»Nach Pieve.« Davide nickt ihnen zu. Fabrizio und Cesare sahen den Sanitätern nach, wie sie Anna zum Krankenwagen brachten. Der Wind wurde stärker. Der Regen schlug ihnen von der Seite ins Gesicht. Auf Fabrizios Sonnenbrille hatte sich ein schmieriger Film gebildet. Er konnte fast nichts mehr sehen. Es war Zeit, die Brille abzunehmen.

Albenga, Freitag, 4. Juni 2010, 16:40 Uhr

Die Viale Martiri della Libertà lag bereits im Schatten, als der Jeep der Carabinieri vor der besten Eisdiele Albengas vorfuhr. Carla Vazzoler sah ihn durch die Scheibe, drückte Luca einen Kuss auf die Wange, legte sich das Palästinensertuch um den Hals und zog ihre Jacke an.

»Du rufst rechtzeitig an, ja?« sagte Luca.

Eigentlich hatten sie heute ins Kino gehen wollen.

»Mach ich!« Aber wenn sie ehrlich war, glaubte sie nicht daran, dass sie es rechtzeitig zum Beginn des Films schaffen würde.

Luca warf einen skeptischen Blick auf den Jeep, der am Straßenrand wartete. Eben wurde die Beifahrertür geöffnet. Ein Carabiniere stieg aus, lehnte sich lässig an den Kotflügel und zündete sich eine Zigarette an. Luca deutete auf Carlas Palästinensertuch.

»Willst du das nicht hierlassen?« fragte er.

»So weit kommt’s noch«, knurrte Carla. Aber sie war unsicher. Sie warf Luca eine Kusshand zu und ging nach draußen.

»Signorina Vazzoler, buona sera.« Der Carabiniere warf die Zigarette in den Rinnstein, hielt ihr die Tür auf und ließ sie einsteigen. Carla nahm im Fond des Jeeps Platz. Der Carabiniere setzte sich neben den Fahrer und wandte sich zu Carla um:

»Ich bin Maresciallo Solina.« Er machte eine Kopfbewegung zum Fahrer. »Sein Name ist unwichtig, aber ich nenne ihn trotzdem: Brigadiere Baiardo.« Das sollte ein Witz sein, deshalb lächelte Carla höflich. Baiardo nickte Carla über den Rückspiegel zu und gab Gas. Sie fuhren schweigend. Carla stellte plötzlich fest, dass sie ihre Hände unter die Oberschenkel geklemmt hatte. Unbewusst. Schnell zog sie sie hervor. Ihre Handflächen waren schweißnass. Sie merkte, dass sich ein Gefühl der Panik in ihr ausbreitete, und versuchte, sich auf den Rhythmus ihres Atems zu konzentrieren. Die Uniformen, die Stiefel, der Rauch, der durch die Straßen zieht. Sie wollte sich nicht den Bildern überlassen, die sie immer wieder heimsuchten. Sie atmete tief durch und lehnte sich nach vorne.

»Können Sie mir sagen, worum es geht? Der Beamte am Telefon hat mir nur gesagt, dass ich mit einem deutschen Mädchen sprechen soll, das wahrscheinlich traumatisiert ist.«

Der Fahrer fixierte sie im Rückspiegel. »Mehr wissen wir auch nicht.« Damit war das Gespräch beendet.

Als sie hinter den beiden Carabinieri durch den Haupteingang des Krankenhauses von Pieve stürmte, war es 17:15 Uhr, und Carla hoffte, ihre Angst kontrollieren zu können. Der Fahrer hielt ihr die Tür auf. »Pronto Soccorso« stand auf der Tür. Notaufnahme. Sie gingen geradeaus den Flur hinunter. Die schweren Stiefel der Carabinieri knallten auf dem Steinfußboden. Wie Schüsse. Die Beamten hatten Carla in die Mitte genommen, aus Höflichkeit wahrscheinlich. Carla versuchte, sich auf das Muster des Steinbodens unter ihren Füßen zu konzentrieren. Das ist kein Gefängnisflur, das ist nur der Flur eines Krankenhauses, das ist nur der Flur eines … Du bist ihnen ausgeliefert. Wenn sie wollen, können sie alles mit dir tun, und keiner wird dir helfen.

»Guten Abend, Signorina«, eine Hand streckte sich ihr entgegen. Sie sah auf, sah den weißen Arztkittel, das Namensschild auf der Brust: Dott. Bonifazio; markante Nase, modische Brille, alles drum herum schlaff und müde.

»Sie sind die Psychologin?« Dottor Bonifazio sah Carla prüfend an.

»Nein«, schaltete sich Maresciallo Solina ein, »in der Eile konnten wir keine Psychologin auftreiben, die Deutsch spricht. Signorina Vazzoler ist Übersetzerin.«

In der Eile habt ihr überhaupt niemand anderen auftreiben können, dachte Carla. Sie wusste genau, dass sie den Job nur bekommen hatte, weil sie zufällig gerade in der Nähe und sofort einsatzbereit war.

Carla war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ihre Dolmetscher-Ausbildung beendet und beschlossen, dieses Land zu verlassen. Dafür brauchte sie Geld. Deshalb nahm sie im Moment jeden Job an. Bis vor zwei Jahren hatte sie noch die Hoffung gehabt, dass wenigstens einige der Verantwortlichen für den Horror, den sie erlebt hatte, zur Rechenschaft gezogen würden. Doch im Sommer 2008 war klar, dass von den fünfzehn Verurteilten – Ärzte, Carabinieri, Polizisten – keiner ins Gefängnis kommen würde. Das hatte Berlusconi durch seine Gesetzgebung verhindert. Und jetzt war er wieder an der Macht. Sie würde nach Berlin gehen. Und sie hoffte, dass sie die Erinnerung an die schlimmsten Stunden ihres Lebens in Italien zurücklassen konnte.

Dottor Bonifazio machte eine Kopfbewegung, die ein fehlgeleitetes Schulterzucken war. Er drehte sich um und ging weiter den Flur hinunter, ohne sich darum zu kümmern, ob Carla und die Carabinieri ihm folgten. Carla beeilte sich, zu ihm aufzuschließen.

»Anna Wiese« – Dottore Bonifazio betonte es »Visse« – »ist fünf Jahre alt. Sie hat mit ihren Eltern seit drei Monaten in Lenzari gelebt, auf dem Berg oben.«

»Wo sind ihre Eltern?«

»Das weiß ich nicht. Das müssen Sie die Carabinieri fragen.«

»Wir wissen nichts über den Fall. Wir haben nur den Befehl bekommen, Signorina Vazzoler hierherzubringen«, sagte Maresciallo Solina.

Dottor Bonifazio stoppte vor einer Tür. »Hier liegt sie. Zwei Kollegen dieser beiden Herren haben Anna vor etwa«, er sah auf seine Armbanduhr, »vor etwa einer Stunde auf der Straße zwischen Vessalico und Lenzari gefunden. Sie hat am ganzen Körper kleinere Wunden, nichts Wildes, kleine Risse, die aber heftig bluteten, wie von Dornen oder so. Ansonsten keine äußerlichen Verletzungen. Aber«, der Arzt sah Carla eindringlich an, »derart deutliche Symptome einer akuten Belastungsreaktion habe ich das letzte Mal vor etwa zehn Jahren gesehen. Bei einem muslimischen Mädchen, das aus seinem brennenden Dorf in Bosnien gerettet worden war. Sie hatte mit angesehen, wie ihre ganze Familie umgebracht worden ist.« Zwei Pfleger schoben ein leeres Krankenbett an ihnen vorbei. Die Räder quietschten leise. Carlas Hals fühlte sich an wie zugeschnürt.

»Die Carabinieri, die sie gefunden haben, was haben die erzählt?« »Sie ist ihnen vors Auto gelaufen«, schaltete sich Maresciallo Solina ein. »Sie waren auf dem Weg nach oben ins Dorf.«

»Und sonst? Ich muss so viel wissen wie möglich. Hat sie irgendetwas gesagt?«, fragte Carla.

»Anna hat bis jetzt nur ein einziges Mal etwas gesagt, direkt nachdem sie sie gefunden haben, auf Deutsch natürlich. Der Kollege war nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hat. Er meint, sie habe etwas von ›viel Blut‹ gesagt.«

Für einen Moment herrschte Schweigen auf dem Flur. Dann wandte sich Carla an die beiden Carabinieri.

»Wo sind Ihre Kollegen jetzt? Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Die sind hoch ins Dorf gefahren«, sagte Solina. »Aber ich werde sofort versuchen, per Funk Kontakt mit ihnen aufzunehmen.« Er wandte sich um. Seine Stiefel knallten über den Flur. Als sie leiser wurden, bemerkte Carla das Sirren über ihrem Kopf. Sie sah nach oben. Eine Neonröhre. Zwei Falter warfen sich immer und immer wieder gegen sie. Carla wandte sich an den Arzt und Brigadiere Baiardo.

»Dürfte ich alleine zu ihr?«

»Warum?«, fragte der Carabiniere.

Weil ich Angst habe, mit dir und dem Arzt in einem Zimmer zu sein, Arschloch, weil ich vor acht Jahren auch mit einem Carabiniere und einem Arzt in einem Zimmer war, und weil ich das nie mehr erleben will, dachte Carla, aber sie sagte: »Weil wir nicht wissen, was mit dem Mädchen passiert ist. Ich möchte nicht, dass wir sie verängstigen.«

»Von mir aus.« Der Arzt sah den Carabiniere fragend an. Dieser nickte ihr zu.

»Bitte sehr.« Dottor Bonifazio drückte die Türklinke und hielt Carla die Tür auf. Sie betrat das Krankenzimmer.

Etwa zur gleichen Zeit trat Maresciallo Solina aus dem Krankenhaus und kramte die Zigaretten aus seiner Uniformjacke. Im Gehen steckte er sich eine Zigarette an. Er ging die paar Schritte hinüber zum Wagen, setzte sich auf den Fahrersitz und nahm das Funkgerät aus der Halterung. Er schaltete es ein. »Wagen drei bitte kommen«, sagte er und blies Rauch aus. Der Rauch stieg wie eine Säule genau in der Mitte der Windschutzscheibe hoch. Solina beobachtete die Rauchsäule: Sie veränderte ihre Form nicht, verflüchtigte sich nicht, schien dort bleiben zu wollen.

»Wagen drei bitte kommen.«

Aber Wagen drei meldete sich nicht.

Lenzari, Samstag, 30. Januar 2010, 1:40 Uhr

Die Schreie schienen im Zimmer nachzuhallen. Das Babyfon stand neben ihnen auf dem Boden. Auch Conny saß jetzt aufrecht im Bett.

»Oh Gott«, flüsterte sie. Marc konnte ihre weit aufgerissenen Augen sehen: die Pupillen, das Weiße drum herum – zwei Löcher, hineingehackt in einen zugefrorenen See. Ein Knacken. Dann Schluchzen und wieder die Stimme aus dem Babyfon, die einzelnen Worte waren kaum zu verstehen: »Non mi fate male«, oder so etwas, ein Stimmbrei, die dumpfen Schläge. Marc stürzte als Erster aus dem Bett und rannte zur Tür. Hinter ihm rappelte sich Conny auf. Marc schlug mit der flachen Hand auf den Lichtschalter, erwischte den falschen, die Beleuchtung der Dachterrasse ging an. Er fluchte, drückte die danebenliegenden Schalter. Endlich flammte das Licht über der Treppe auf. Er verharrte einen Moment, versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bringen und lauschte. »Was ist?«, flüsterte Conny hinter ihm. Aber da unten war nichts. Völlige Ruhe. Er schüttelte nur den Kopf und eilte die steile Treppe hinunter, spürte den kalten unebenen Stein unter seinen bloßen Füßen, wäre fast gestolpert, unten, wo die Treppenstufen eine scharfe Kurve zum Salon hin machten und immer schmaler wurden. Fliesen – Teppich – Fliesen – Teppich, dann hatte er die Tür zu Annas Zimmer erreicht. Plötzlich tat es einen Knall. Conny hatte die Stehlampe neben dem Kamin umgestoßen. Egal. Er riss die Tür auf, konnte Anna nicht gleich erkennen und spürte, wie sein Herz aussetzte. Er sah Umrisse, hoffte, dass diese Umrisse Anna waren, riss die Decke zurück. Seine Tochter lag friedlich in ihrem Bett, das Gesicht zur Wand gedreht, und hielt ihren Bären im Arm. Elektrische Ladung schoss durch seinen Körper. Er spürte, wie es kribbelte. So fühlt sich Erleichterung an, dachte er. Gleichzeitig war sein Kopf völlig leer. Seine Gedanken donnerten gegen eine mächtige Stahltür und wurden immer wieder zurückgeworfen. Sie drangen nicht durch. Das Babyfon? Anna? Die Schreie? Wie ging das zusammen? Er spürte Connys Atem in seinem Nacken. Sie sagte nichts, aber er konnte ihre Erleichterung spüren. Er deckte seine Tochter wieder zu, dann drehte er sich um und schob Conny behutsam aus dem Zimmer. Die Tür zog er hinter sich zu. Sie standen voreinander im Halbdunkel des Salons, beide schwer atmend. Das Licht der Straßenlaterne vor dem Haus war hell genug, dass er Connys Gesicht sehen konnte. Pure Angst. Ihre Stimme überschlug sich:

»Was war das? Was machen wir?«

Da hörten sie draußen Schritte. Sie kamen von links. Es waren zwei oder mehrere Personen. Sie rannten am Haus vorbei in Richtung Kirche.

»Ich geh nachsehen«, sagte Marc. Er eilte ins große Zimmer, tastete nach dem Lichtschalter, hielt dann inne. Nein, er wollte nicht, dass diejenigen, die da eben am Haus vorbeigerannt waren, auf sie aufmerksam würden. Vom Kirchplatz aus hätte man das Licht im großen Zimmer sehen können, auch durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden hindurch. Er öffnete den Koffer, erwischte eine Jeans und einen Pulli und schlüpfte hinein.

»Bleib hier. Lass uns die Polizei rufen.« Conny stand im Türrahmen, ein Schattenriss ohne Gesicht.

»Und was sollen wir denen sagen?«

»Ich will nicht, dass du da rausgehst …«

»Bin gleich wieder da.« Er küsste sie auf die Wange.

Conny sagte nichts mehr, als er an ihr vorbei zur Treppe und nach unten stürmte.