cover

MOHSIN HAMID

ES WAR EINMAL IN EINEM ANDEREN LEBEN

ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT

ESSAYS

Aus dem amerikanischen Englisch
von Monika Köpfer

Für Dina und Vali

Einleitung
Meine Auslandskorrespondenz

Eines Tages begegneten sich neben einem kleinen Bach im Hochgebirge ein Mönch und ein Essayist und kamen ins Gespräch. Von Libellen umschwirrt, ließen sie sich am Ufer ins Gras sinken und fingen an zu plaudern. Bald wurde dem Essayisten klar, dass die Lebenssicht des Mönchs einzig und allein auf Glauben beruhte und daher dringend entlarvt gehörte.

Nachdem der Essayist seine Argumentation bis ins letzte Detail dargelegt hatte, endete er mit den Worten: »Da Sie keinerlei Beweise anführen können, komme ich zu dem Schluss, dass Ihr Glauben nichts weiter als eine Erfindung von Ihnen ist.«

»Und, was macht das schon?«, erwiderte der Mönch mit besonnenem, heiterem Lächeln.

»Was das macht? In Ihrem Fall alles, schließlich sind Sie ein Mönch!«

Der Mönch zog den Saum seiner Kutte ein wenig hoch und tauchte die Unterseite seiner muskulösen Wade ins Wasser. »Ich habe mich selbst erfunden«, sagte er. »Bis gestern war ich noch ein olympischer Sprinter.«

Der Essayist sah ihn ungläubig an.

»Etwas zu erfinden«, erklärte der Mönch, »ist ein Segen.«

Die Globalisierung ist ein brutales Phänomen. Sie beschert uns Massenmigration, Kriege, Terrorismus, ungezügelten Finanzkapitalismus, wachsende soziale Ungleichheit, Fremdenfeindlichkeit, Klimawandel. Doch wenn die Globalisierung bei aller Verwüstung, die sie anrichtet, auch nur eine einzige Verheißung einzulösen vermag, dann sollte es diese sein: Wir werden die Freiheit haben, uns selbst zu erfinden. Gleich, wer wir sein wollen und wo wir sein wollen – ob in diesem oder jenem Land, in dieser oder jener Stadt, ob in Lahore oder New York oder London, ob in einer Fabrik oder einem Büro –, gleich, wonach uns der Sinn steht – nach diesen oder jenen Kleidern, dieser Beschäftigung oder einer anderen –, werden wir die Freiheit haben, dies auch zu tun.

Als ich mich an die Komposition dieses Buchs machte – eine Sammlung von Artikeln und Essays, die ich für verschiedene Publikationen geschrieben hatte, und zwar in den fünfzehn Jahren zwischen 2000, dem Jahr, als mein erster Roman Nachtschmetterlinge erschienen war, bis heute, oder besser gesagt, bis zum Jahr 2014 –, empfand ich es als überaus befreiend, einiges dessen, was ich geschrieben hatte, loszulassen. Für mein heutiges Dafürhalten ist die Struktur vieler dieser Artikel ganz einfach zu unausgegoren oder sind die darin vertretenen Ansichten zu verquer, um in diese Sammlung aufgenommen zu werden. Andere wiederum waren zu ähnlich, sodass es nahelag, jeweils nur einen auszuwählen.

Von dem was übrigblieb, dem ungefähr drei Dutzend Artikel, das auf den folgenden Seiten versammelt ist, wollte ich möglichst wenig verändern, um auch wirklich das wiederzugeben, was ich damals beim Schreiben hatte ausdrücken wollen. Wenngleich ich hie und da ein paar behutsame Änderungen vorgenommen habe, im Wesentlichen die Streichung von Absätzen, die mir redundant erschienen, habe ich es vermieden, diese Texte im großen Stil zu redigieren. So steht jeder Artikel für den Ort und die Zeit seines Entstehens.

Wenn ich sie jetzt nach all den Jahren wiederlese, verblüfft es mich, in welchem Maß sich ihr Urheber, also ich, im Laufe der Zeit verändert hat. Natürlich haben sich mein Schreibstil und meine Stilmittel verändert. Dies betrifft jedoch nicht nur formale Aspekte, auch meine Weltsicht hat sich gewandelt, die Art, wie ich mich in Beziehung zur Welt sehe. Vielleicht erinnern mich diese Veränderungen auch daran, dass ich im Begriff bin, ein anderer zu werden, dass ich mich auf meinem Lebensweg neu erfinde, so wie es wohl allen Menschen eigen ist. Der Romancier, der ich heute bin, würde höchstwahrscheinlich die Romane, die ich früher schrieb, nicht mehr verfassen; der Mensch, der ich heute bin, würde sich wohl nicht mehr so verhalten wie der, der ich damals war.

In diesem Sinne birgt die fragmentarische Natur dieses Buches, diese Sammlung von Momentaufnahmen, wohl eine andere Art von Aufrichtigkeit als ein Buch, das als Ganzes angelegt und in einem Schwung geschrieben wurde. Sie offenbart Ansichten und Haltungen, die wandelbar sind, und zeigt auf diese Weise die Formbarkeit dessen, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt mit dem Impetus einer felsenfesten Überzeugung dargelegt hat.

Aber auch Beständigkeit offenbart sich in den immer wiederkehrenden Themen in Beiträgen, die zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Publikationen an verschiedenen Orten geschrieben wurden. In diesen vergangenen fünfzehn Jahren habe ich in drei Städten gelebt: in Lahore, New York und London. Alle drei habe ich als mein Zuhause betrachtet und sie auch so genannt. Und doch wird mir beim erneuten Lesen dieser Beiträge klar, dass ich mich immer auch ein bisschen als Außenseiter gefühlt habe. Die hier versammelten Texte unterscheiden sich formal: Bei einigen handelt es sich um ausführliche Essays, bei anderen um zugespitzte Kommentare oder Kolumnen, bei wieder anderen um bloße Fragmente von ein bis zwei Seiten. Aber eines haben sie in meinen Augen gemeinsam: Sie alle sind Berichte eines Auslandskorrespondenten, der sich des Gefühls des Fremdseins nicht erwehren kann, jedenfalls teilweise.

Pakistan entpuppt sich als ein immer wiederkehrendes Thema in meinem Schreiben. In Pakistan habe ich länger gelebt als in jedem anderen Land, auch wenn es in der Summe etwas weniger als die Hälfte meiner Lebenszeit ausmacht. Ich sorge mich um Pakistans Zukunft, so wie die meisten meiner Landsleute, die ich kenne, auch. Denn obgleich Pakistan ein von Problemen gebeuteltes Land ist, vermag es unzählige seiner Töchter und Söhne mit bemerkenswert robusten Wurzeln auszustatten, Wurzeln, die oftmals überdauern, wenn die dazugehörigen Pflanzen entfernt und in eine ganz andere Erde auf der anderen Seite des Ozeans verfrachtet werden.

In meinen im Laufe der Jahre verfassten Artikeln über Pakistan erkenne ich einen fast schon forcierten und bisweilen auch fehlgeleiteten Optimismus. Häufig habe ich ein Potenzial für Veränderungen gesehen, die sich rückblickend nicht vollzogen haben. Dennoch hilft eine optimistische Grundhaltung in meinen Augen weiter. Mit dem Optimismus geht der Wille zum Handeln einher, der Gedanke, dass Pakistan es schaffen kann. Ein Mangel an Handlungswillen ist wiederum eine der Gründe für Pakistans Scheitern, die Neigung, ausländischen Mächten die Schuld zu geben, die zwar keineswegs unbeteiligt sind an der gegenwärtigen Situation, jedoch nur eine Nebenschuld an den fortwährenden Krisen dieses Landes tragen, die Pakistan selbst verursacht hat. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass ausländische Mächte davon Abstand nehmen sollten, in Pakistan zu intervenieren, und dass die Pakistaner selbst ihre gescheiterte Politik und ihre Haltungen korrigieren sollten, anstatt zu behaupten, sie seien alternativlos in Anbetracht der Machenschaften ausländischer Mächte.

Ich denke, das Schicksal Pakistans sollte einem nicht gleichgültig sein, und damit meine ich nicht nur uns Pakistanern, und auch nicht nur, weil es von Terrorismus heimgesucht oder in Besitz von Nuklearwaffen ist, sondern weil Pakistan ein Prüfstand ist für das Gelingen von Pluralismus in einer globalisierten Welt, die dringend Pluralismus braucht. Die auf wackeligen Füßen stehende Demokratie Pakistans und der halbherzige Versuch des Landes, eine Zukunft zu schmieden, in der seine Bürger friedlich zusammenleben können, sind ein Spiegel für das globale Experiment der Menschheit schlechthin, diese Erde gemeinsam zu teilen. Die Welt wird nicht scheitern, wenn Pakistan scheitert, aber die Welt wird gesünder sein, wenn Pakistan gesund ist.

Pakistan befindet sich an vorderster Front des eskalierenden Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten, der zahlreiche Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit erschüttert. Da die meisten Muslime weltweit Sunniten sind und die Schiiten die größte Minderheit darstellen, ist die Akzeptanz der Rechte Letzterer durch die Sunniten ein zwingend notwendiger Schritt auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen religiösen Toleranz gegenüber allen, vor allem auch den verfolgten Minderheiten wie Christen, Hindus, Ahmadi-Muslimen, Säkularisten oder Atheisten.

Ferner zählt Pakistan zu den zahlreichen Staaten oder Staatengemeinschaften, deren Bevölkerung sich patchworkartig aus verschiedenen ethnischen und linguistischen Gruppen zusammensetzt – wie zum Beispiel die Europäische Union, die Ukraine, Nigeria, Südafrika, Indien und Malaysia. Das Erreichen einer friedlichen Koexistenz in Gesellschaften wie Pakistan ist daher eine der großen Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, will man eine Wiederholung der blutigen und wechselseitig zerstörerischen Auseinandersetzungen des zwanzigsten Jahrhunderts verhindern.

Bedauerlicherweise war die Entwicklung in Pakistan in diesen letzten fünfzehn Jahren alles andere als vielversprechend. Religiöse und ethnische Minderheiten sind rechtlicher und politischer Diskriminierung und gezielten Tötungen ausgesetzt, und, in manchen Fällen, einem Maß an Gewalt, das Massenmord gleichkommt. Mindestens ebenso besorgniserregend ist die Tatsache, dass Pakistan mit seinem Widerstand gegenüber einer pluralistischen Gesellschaft ganz und gar nicht allein dasteht.

Während der jüngsten und verheerendsten Periode terroristischer Anschläge und Drohnenangriffe habe ich in Pakistan gelebt, in den Jahren vor, während und nach der Anschlagsserie auf das öffentliche Verkehrssystem in London und in der Ära, die 2001 mit den Anschlägen auf das World Trade Center zu Ende ging, in New York – daher ist es wohl kaum verwunderlich, dass der sogenannte »Krieg gegen den Terror« einen prominenten Platz in diesen Essays einnimmt. In der Tat lässt sich diese Textsammlung lesen wie der Erfahrungsbericht von jemandem, der zwischen die Fronten dieses Konflikts geraten ist.

In meinen Augen handelt es sich beim »Krieg gegen den Terror« nicht um einen Krieg im ursprünglichen Sinn. Sicher, die Kriege in Afghanistan und im Irak sind die unmittelbare Folge davon. Ebenso wie die Gewalt unterschiedlicher Ausprägung und Intensität in unzähligen Ländern: in Pakistan und Großbritannien, Amerika und Russland, Libyen und Jemen, Indien und Indonesien, Spanien und Kenia – die Liste könnte beinahe beliebig fortgesetzt werden. Aber Kriege, Aufstände, grenzüberschreitende Angriffe und Terrorismus kennzeichneten auch schon das zwanzigste Jahrhundert. Was den »Krieg gegen den Terror« davon unterscheidet, ist die Tatsache, dass es ein Feldzug gegen ein Konzept ist und nicht gegen eine Nation. Und dieses angefeindete Konzept scheint mir in der Tat die Idee des Pluralismus zu sein.

Pakistan und andere Staaten mit muslimischer Mehrheit sind nicht die einzigen, die sich schwertun, eine multikulturelle Vielfalt in ihren Gesellschaften zuzulassen. In den Vereinigten Staaten und Europa geht der »Krieg gegen den Terror« mit einem erneuten Schlag gegen die Immigranten einher. An der Südgrenze der USA werden gegenwärtig mächtige Mauern errichtet, über denen Drohnen schweben, und einige Bundesstaaten führen drakonische Anti-Migrationsmaßnahmen ein. In der gesamten EU verzeichnen Anti-Immigrationsparteien starken Zulauf, und Großbritannien erwägt gar, aus der EU auszutreten, nicht zuletzt weil sich in der Bevölkerung zunehmend Unmut gegenüber den Immigranten breitmacht.

Die letzten fünfzehn Jahre waren in zahlreichen Ländern eine Zeit der wirtschaftlichen Turbulenzen und wachsender Ungleichheit. Wut und Ressentiments nehmen zu. Und doch sind weit und breit keine ökonomischen Maßnahmen in Sicht, um ebendiese Probleme zu bekämpfen. Statt echte Reformen anzugehen, führt man uns weiter in die Irre. Man sagt uns, wir sollen uns nicht um die Ursachen unserer Unzufriedenheit kümmern, weil etwas sehr viel Wichtigeres auf dem Spiel stehe: das Schicksal unserer Kultur.

Aber was genau sind diese verschiedenen Kulturen, was hat es mit diesen Vorstellungen von einer muslimischen, einer abendländischen, einer amerikanischen Kultur auf sich, die uns erklären wollen, wohin und zu wem wir gehören? In meinen Augen nichts als Illusionen: willkürlich ersonnene Gebilde mit porösen, brüchigen und sich überschneidenden Grenzen. Zu welcher Kultur gehört bitteschön ein syrischer Atheist? Oder ein muslimischer Soldat in der U. S. Army? Ein chinesischer Professor in Deutschland? Eine lesbische Modedesignerin in Nigeria? Nach wie vielen Jahrzehnten der amerikanischen Staatsbürgerschaft gehört ein aus Hondura stammendes Paar mit spanischer Muttersprache, das zwei Generationen amerikanischer Abkömmlinge, sprich Kinder und Enkelkinder, hervorgebracht hat, nicht länger dem lateinamerikanischen Kulturkreis an, sondern hat sich endlich seinen Platz in der amerikanischen Kultur verdient?

Kulturen sind Illusionen, doch es sind um sich greifende, gefährliche und mächtige Illusionen. Und sie tragen zur zunehmenden Brutalität der Globalisierung bei. Indem wir uns auf sie berufen, dürfen wir getrost sagen, wir glauben an die freien globalen Märkte, und im selben Atemzug eine freie globale Migration der Arbeitskräfte in Abrede stellen; oder behaupten, wir glauben an die Demokratie und Gleichheit der Menschen, und gleichzeitig die Schaffung von Institutionen verhindern, die auf dem allgemeinen Wahlrecht und der Gleichheit vor dem Gesetz fußen.

Das Konzept der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur befördert unsere Heuchelei. Und untergräbt auf diese Weise die einzige einleuchtende Verheißung der Globalisierung: dass wir die Freiheit haben werden, uns selbst zu erfinden. Warum genau kann ein Muslim nicht Europäer sein? Warum kann ein unreligiöser Mensch nicht Pakistaner sein? Warum kann ein Mann keine Frau sein? Warum kann ein Schwuler nicht heiraten?

Bastard. Mischehebetreiber. Mischling. Ausgestoßener. Perverser. Andersgläubiger. Oftmals belegen wir Formen von Hybridität mit Schimpfnamen. Aber warum? Hybridität sollte kein Problem sein. Im Gegenteil, sie könnte die Lösung sein. Mischlinge sind mehr als Kreuzungen zwischen zwei verschiedenen Gruppen. Sie entlarven die zwischen diesen Gruppen errichteten Schranken als falsch. Mehr noch, Mischlingsformen sind sogar notwendig, weil aus ihnen Kreativität erwächst, weil sie sich der Leblosigkeit der Reinheit widersetzen. Würde nur noch ein Mensch übrigbleiben, würde unsere Spezies aussterben.

Als ich noch jünger war, dachte ich, dass mich mein Status als Einwanderer und Ausländer zu einem andersartigen Menschen, einem Außenseiter machten. Nun, mit dreiundvierzig, glaube ich, dass diese Erfahrung zunehmend universeller Natur ist.

Auf unserem sich globalisierenden Planeten, wo sich das Tempo der Veränderungen stetig beschleunigt, fühlen sich viele von uns ein bisschen fremd, sind wir doch alle, ob wir nun weit gereist sind oder nicht, eine Art Zeitmigranten. Selbst wenn Sie achtzig sind und Ihren Heimatort nie verlassen haben, ist Ihr Land heute ein gänzlich anderes als das Ihrer Kindheit.

Vielleicht sollten wir die aus dieser geteilten Erfahrung erwachsende Empathie ergründen, wenn wir nach Prinzipien suchen, die unsere unterschiedlichen und doch eng miteinander verknüpften Welten einander näherbringen. Wenn wir uns als temporäre Lebewesen betrachten, als Individuen, in denen die vergangenen Tage, Jahre und Jahrzehnte verschmelzen – zum Beispiel in einer Frau, die eine Mutter in den Nullerjahren und zugleich ein Kind der Siebziger ist –, könnte es sein, dass wir ein Gespür für die uns allen gemeinsame Hybridität entwickeln. Ein Mensch zu sein und ein Mischling zu sein ist ein und dasselbe.

Mein Schreiben ist der Versuch, für die Verwischung der Grenzen zu plädieren: nicht nur zwischen den Kulturen oder Angehörigen verschiedener »Gruppen«, sondern auch zwischen dem Autor und dem Leser. Mitgestaltung ist ein wesentliches Element meines Erzählens, die Idee, dass ein Roman gemeinsam von Autor und Leser erschaffen wird. Auch in meinen politischen Überzeugungen ist das Prinzip der Mitgestaltung von zentraler Bedeutung. Ich bin der Überzeugung, dass wir die sich überlappenden Gesellschaften, denen wir angehören, mitgestalten, ob im Großen oder im Kleinen, und dass es uns freistehen sollte, neue Lebensformen und Möglichkeiten des Interagierens auszuprobieren.

Zu einem gewissen Grad erwächst mein persönliches Bedürfnis zu schreiben aus meiner Unfähigkeit, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist. Wenn ich einen Roman schreibe, tauche ich in eine andere Welt ein, eine von mir selbst geschaffene Welt. Doch ich will dort nicht allein sein, isoliert und für alle Zeiten verharren. Stattdessen möchte ich die von mir ersonnene in unsere wirkliche Welt hineinbringen, um sie mit anderen zu teilen, dem Leser zu ermöglichen, sie zu betreten, sie zu formen, und so einen Raum zum Experimentieren und Imaginieren erschaffen, wo die Grenzen des eigenen Selbst, von Zeit und Wirklichkeit verwischen. Meines Erachtens befruchtet die Hoffnung, etwas Neues zu erfinden, die Kunst. Und dieselbe Hoffnung hege ich, wenn ich mir vorstelle, wie sich Menschen zusammentun, um eine Welt zu erfinden, die nicht mehr in Kategorien der verschiedenen Zivilisationen oder Kulturen denkt und daher unendlich zivilisierter ist.

Dieses Buch ist in drei große Themenbereiche unterteilt: Leben, Kunst und Politik. Nicht dass ich diese Kategorien als voneinander unabhängig betrachten würde. Ganz im Gegenteil denke ich, dass das Persönliche politisch ist und das Politische persönlich, und mein Schreiben speist sich aus beidem gleichermaßen. Die von mir gewählte Struktur soll eher zu einer Art Reise einladen.

Die Texte des ersten Teils, »Leben«, sind in Unterbereiche zusammengefasst, die sich an der chronologischen Struktur einer Autobiografie orientieren. Der zweite Teil, »Kunst«, unterteilt sich hingegen nach thematischen Gesichtspunkten. Und der letzte Teil, »Politik«, setzt sich aus Abschnitten zusammen, die im Großen und Ganzen chronologisch die Entstehungszeit der Texte widerspiegeln, sodass sie die Entwicklung meines Blickwinkels, vom Jahr 2000 bis in die Gegenwart, nachzeichnen.

Mein Wunsch dahinter war, dass die Lektüre dieses Buchs ein wenig wie das allmähliche Entstehen einer Beziehung sei. Der erste Teil erlaubt Ihnen, dem Leser, mich ein bisschen kennenzulernen; im zweiten Teil erfahren Sie, wie ich den Akt des Schreibens begreife; und im dritten lernen Sie einige meiner Ansichten über die Welt kennen, in der wir gemeinsam leben.

Schlussendlich haben auch Sie in diesen letzten fünfzehn Jahren Ihren ganz eigenen Weg der Selbsterfindung beschritten. Auch Sie sind auf Ihre ganz eigene Art ein Auslandskorrespondent. Daher sei es selbstverständlich Ihnen überlassen, wie (und ob überhaupt), Sie mit der Lektüre fortfahren. Denn genau das ist ja der Clou bei der Mitgestaltung. Damit sie möglich ist, bedarf es mehr als nur eines Standpunktes.

1

Es war einmal in einem anderen Leben

Kunst und die anderen Pakistaner

Als Updike mich vor Toni Morrison (und mir selbst) rettete

Im Konzert, ohne Berührung

Es war einmal in einem anderen Leben

Im Dezember 1980 kehrte ich im Alter von neun Jahren zum ersten Mal wieder nach Pakistan zurück.

Wir landeten in Lahore, in jenen noch nicht so auf Sicherheit bedachten Zeiten, als die Familien noch aufs Rollfeld strömten, um ihre Lieben zu begrüßen. Kurz zuvor hatte Ronald Reagan Jimmy Carter bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl geschlagen, in Kürze sollte sich zum ersten Mal der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan jähren, in der pakistanischen Hauptstad Islamabad hatte sich der waschbärenäugige General Zia-ul-Haq als Diktator eingenistet, und ich hatte mein Urdu verlernt.

Es ist schon eine komische Sache, wenn man seine Muttersprache verlernt. Ich hatte früh zu sprechen begonnen – lange vor meinem zweiten Geburtstag zwitscherte ich ganze Sätze und Absätze, wovon noch immer eine Narbe zeugt. Im Sommer 1973 befand sich Zulfikar Ali Bhutto mitten im Wahlkampf, und ich hatte mir angewöhnt, auf den Esstisch zu klettern und ihn bei seinen Wahlkampfreden, die ich im Fernsehen verfolgte, nachzuahmen: »Wenn ich Premierminister bin, werde ich …«

Eines Tages wollte mich jemand vom Tisch herunterheben. Doch beim Versuch, den sich nach mir streckenden Händen zu entwischen, trat ich über die Tischkante und purzelte zu Boden. Das Ende vom Lied war eine heftig blutende Platzwunde über der Augenbraue, die genäht werden musste. (Zulfikar Ali Bhutto sollte traurigerweise ein ähnliches Schicksal widerfahren.)

Im Jahr darauf kehrte ich Lahore den Rücken, flog zusammen mit meinen Eltern via Hong-Kong und über den Pazifik nach San Francisco. In Kalifornien bezogen wir eines dieser identischen Doktoranden-Townhouses auf dem Campus der Stanford University. Draußen tummelten sich unbeaufsichtigt Horden von Kindern, jagten hinter Schmetterlingen her und liefen barfuß durch die Wasserbögen der rotierenden und zischenden Rasensprenger. Bei nächstbester Gelegenheit schlüpfte ich zu ihnen hinaus.

Als meine Mutter ein Weinen hörte und nach draußen lief, fand sie mich in Tränen aufgelöst eine Tür weiter, wo ich, umringt von einer johlenden Kinderschar, hilfesuchend zu dem verdatterten Nachbarn aufsah. Meine Mutter nahm mich bei der Hand, um mich nach Hause zu bringen.

»Ist er ein bisschen zurückgeblieben?«, fragte einer meiner neuen Spielkameraden.

»Nein«, antwortete sie.

»Aber warum kann er dann nicht richtig sprechen?«

»Er kann sprechen. Aber eben kein Englisch.«

Daraufhin sprach ich einen Monat lang kein Wort. Meine Eltern machten sich zwar Sorgen, beschlossen jedoch, dass ich wahrscheinlich einfach nur Zeit bräuchte. Sie erlaubten mir, vor dem laufenden Fernseher zu sitzen, während ich malte oder mit meinen Holzbauklötzen bedrohlich hohe Türme errichtete. Und als ich endlich wieder den Mund aufmachte, sprach ich zu ihrer großen Überraschung Englisch, und zwar in ganzen Sätzen und mit amerikanischem Akzent.

Während der nächsten sechs Jahre kam kein einziges Wort Urdu über meine Lippen. Ich gewann neue Freunde, übernachtete bei ihnen, brachte Kaulquappen und Frösche in Einweckgläsern nach Hause, sauste wie der Blitz durch die Gegend, spielte Fußball, wurde von meinen Eltern zu Doktorandenpartys mitgeschleppt, wo ich in fremden Betten schlief, zeltete in Nationalparks, fragte, was für ein komischer Geruch das sei, der mir während eines grasgeschwängerten Open-Air-Konzerts von Bob Marley in die Nase stieg, schwamm im eiskalten Pazifik, trug Mokassins und mit bunten Glasperlen besetzte Westen und schrieb meine ersten Storys, intergalaktische Space Operas, zu denen mich die ungezählten Science-Fiction-Filme und Fernsehserien der damaligen Zeit inspiriert hatten: Star Wars, Star Trek, Battlestar Galactica, Buck Rogers, Space Ghost, Star Blazers, Krieg der Sterne.

Unterdessen erwarb mein Vater seinen PhD, arbeitete meine Mutter in der Buchhaltung einer dieser ersten Hi-Tech-Firmen des Silicon Valley, wurde meine kleine Schwester geboren und schnurrte unser alter, verbeulter Datsun unermüdlich zehntausende Meilen herunter.

Da ich Urdu fließend und so ausgiebig gesprochen hatte, bemerkten meine Eltern gar nicht, wie gründlich ich meine Muttersprache wieder vergaß. Erst bei unserer Rückkehr nach Pakistan wurde es ihnen klar.

Unversehens wurde ich in eine merkwürdige neue (alte) Welt hineinkatapultiert, bestehend aus einer Großfamilie mit etlichen Tanten und Onkel, zwei Dutzend Cousins und Cousinen, aus Kricket, komisch schmeckendem Brot, noch komischer schmeckender Milch und einem Fernsehen mit nur einem Kanal – und selbst der sendete nur zu bestimmten Tageszeiten –, eine Welt, die sich überdies durch die beinahe völlige Abwesenheit der mir vertrauten Produktmarken auszeichnete. Hier in Lahore gab es weder Frosted Flakes, Twinkies, Nestlé Quik, Trapper Keepers, NERF-Bälle, Bactine noch »No More Tears«-Shampoo.

An meinem ersten Tag in Pakistan fragte ich meinen Cousin: »Sind diese Leute da Sklaven?«

»Nein«, erklärte er. »Hausangestellte.«

Die ganze Zeit hatte ich vor, meinen kalifornischen Freunden zu schreiben, konnte mich jedoch nie dazu aufraffen. Was genau sollte ich ihnen erzählen? Die Monate gingen ins Land, bis ich meinte, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben. Als ich eines Nachts in den Sternenhimmel blickte, kamen mir beim Gedanken, dass die Menschen auf der anderen Seite des Ozeans dieselben Sterne sehen konnten, die Tränen. Es war der einzige Anflug von Heimweh. Ein hübscher melodramatischer Moment. Der wieder vorüberging.

Vielleicht nicht sofort, aber er verflüchtigte sich mit der Zeit. Im Übrigen hatte ich bald neue Freunde, probierte neue Sportarten aus, erkundete die Stadt per Fahrrad, entdeckte einen Laden, wo es Modellflugzeug-Baukästen gab, und einen, der Aquarien und tropische Fische verkaufte, und begriff – nachdem ich mir die ersten blauen Flecken eingehandelt hatte –, dass meine Cousins und Cousinen im Grunde wie Geschwister waren, ein schulklassengroßer Clan, von dem immer jemand zur Stelle war, um mit mir zu spielen oder mir unaufgefordert zu Hilfe zu eilen, wenn es darum ging, mich gegen die Welt da draußen zu verteidigen.

Mein neues Leben gefiel mir, aber mein altes hatte ich auch gemocht, und so malte ich mir Orte aus, an denen beide Welten zusammenkommen konnten. Da ich ein Landkartenfreak war, schenkten mir meine Eltern zum zehnten Geburtstag einen prächtigen Atlas. Sogleich machte ich mich daran, mit dem Bleistift neue Länder zu erschaffen: nichtexistente Pazifikinseln mit schneebedeckten und von Höhenlinien schraffierten Vulkanen – das französische Département Alpes-Maritimes als unabhängige Republik (dessen topografische Form hatte es mir angetan), Kathiawar, aber nicht als Halbinsel, sondern durch einen breiten Kanal gänzlich vom Festland getrennt – eine über verschiedene Kontinente verteilte Konföderation mittelgroßer Stadtstaaten.

Als Nächstes verfasste ich lexikalische Einträge für diese Orte – über ihre historischen und natürlichen Ressourcen, das Klima, ihre militärische Stärke, Flora und Fauna. Und, ganz wichtig, die demografischen Verhältnisse: Stets handelte es sich um eine gemischte Bevölkerung ohne eine dominierende Gruppe, jedoch immer mit einem starken Anteil von Immigranten aus Lahore und San Francisco.

Soviel zu den Anfängen meines kreativen Schreibens, zu dem mich diese ersten Eindrücke nach meiner Rückkehr nach Pakistan inspiriert hatten. (Ein wenig Poesie war auch darunter, Verse, die sich an Tolkien und Bulfinch’s Mythology orientierten. »Weißt du überhaupt, was eine Jungfrau ist?«, fragte mein Vater, als er eines meiner Gedichte las. »Na ja, eine Magd oder sowas in der Art?«, sagte ich vage.)

Der Großteil meiner Familie und meiner Schulkameraden in Lahore sprach Englisch, sodass ich diesmal nicht verstummen musste. Nebenbei begann ich auch wieder Urdu aufzuschnappen. Mit der Zeit war ich in der Lage, einen Witz oder ein Lied zum Besten zu geben, zu flirten, zu streiten, eine Geschichte zu lesen und eine Prüfung abzulegen. Irgendwann beherrschte ich es ohne ausländischen Akzent. Dennoch sollte meine Muttersprache meine erste Fremdsprache für mich bleiben.

Auch mein Englisch erfuhr einen Bruch, mit klar unterschiedenen kalifornischen und pakistanischen Variationen. (Später, als ich erwachsen war, wurde der Mix noch ergänzt durch mittelatlantisches und britisches Englisch.)

Hin und wieder berührten mich, den zweifach immigrierten Neunjährigen, einzelne Wörter, wie ein halbvergessener sonniger Nachmittag, der einen emotional beeindruckt, jedoch keine konkrete Erinnerung hinterlassen hat, die man mit anderen teilen könnte.

Manchmal frage ich mich, ob ich auch Schriftsteller geworden bin, um genau das zu versuchen.

(2011)

Kunst und die anderen Pakistaner

(Jene, die keine Schlagzeilen machen)

Im Rückblick wird mir klar, dass das Pakistan meiner Teenagerzeit ein Eldorado für Künstler und Möchtegernkünstler war. Einer meiner Cousins, ein übergewichtiger Junge, versuchte sich nachmittags nach der Schule (ziemlich dilettantisch) mit Tusche und Wasserfarben. Eine meiner Tanten wiederum wurde nicht müde, die Geschichte ihrer zufälligen Begegnung mit dem berühmten Künstler Syed Sadequain zu erzählen, die darin mündete, wie dieser sie in wenigen hingeworfenen Strichen porträtierte – vermutlich seine Art, ein Autogramm zu geben: als eine an Nofretete erinnernde Göttin mit Blume über einer kalligrafierten Widmung. Mehr als einmal lächelten mich die Damen mit den übergroßen Mandelaugen des legendären Malers Amin Chughtai von Wohnzimmerwänden herab an, deren kaum verhohlene sexuelle Anspielungen jungen Männern wie mir die Röte ins Gesicht trieben. Und die Kulisse meiner Jugend bildeten das Lahore Museum, die prächtige Altstadt sowie die kühne, sexuell aufgeladene Ikonografie der Lastwagenwerbung und Kinoplakattafeln.

Doch damals schien mir die Kunst entweder als der Vergangenheit oder anderen Orten zugehörig, denn das Pakistan meiner Teenagerzeit in den Achtzigerjahren hatte das Pech, von einem Diktator mit dichtem Schnurrbart und ausgeprägten Augenringen regiert zu werden, der damit liebäugelte, die Gesellschaft auf dystopische Weise umzuformen. General Zia-ul-Haq behauptete, im Namen des Islams zu handeln, und obwohl der Islam in unserem Teil der Erde auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblickte, wurde uns gesagt, dass unser Islam nicht islamisch genug sei, ja, mehr noch, wir Muslime nicht muslimisch genug seien, und dass er aus Pakistan eben jenes »Land der Reinen« machen wolle, wie es der Name auf Urdu besagt – nicht jedoch, dass er uns mit seinem Experiment alle in den Ruin treiben würde.