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Kenia, 2007. Odidi Oganda, ein hochtalentierter Student, wird in den Straßen Nairobis erschossen. Seine Schwester Ajany kehrt aus Brasilien zurück, um mit ihrem Vater seinen Leichnam nach Hause zu überführen. Doch die Heimkehr auf die verfallene Farm im Norden des Landes hält keinen Trost für sie bereit. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen, die der Mord heraufbeschworen hat und die die Familie im Griff halten: an die koloniale Gewaltherrschaft und die blutigen Auseinandersetzungen nach der Unabhängigkeit. Ajanys Mutter flieht von Wut und Trauer erfüllt in die Wildnis. Und ihr Vater muss sich einer brutalen Wahrheit stellen. Doch im Moment größter Verzweiflung entsteht auch etwas Neues: Eine Liebe – oder zumindest eine Verbindung – nimmt ihren Anfang.

›Der Ort, an dem die Reise endet‹ ist ein großer Roman über eine versehrte Familie und ein zerrissenes Land. Mit einer Sprache, die einem den Atem raubt, voller Kraft und Intensität, erzählt Yvonne Adhiambo Owuor eine Geschichte von universeller Dringlichkeit – eine Geschichte von Macht und Täuschung, von unerwiderter Liebe und dem unbeirrbaren Willen zum Überleben.

Yvonne Adhiambo Owuor wurde 1968 in Kenia geboren. Ihre Kurzgeschichten erschienen in internationalen Literaturmagazinen (u. a. McSweeney’s). 2003 wurde sie mit dem Caine Prize for African Writing ausgezeichnet. Ihre Kurzgeschichte ›The Knife Grinder’s Tale‹ wurde als preisgekrönter Kurzfilm adaptiert. 2003  2005 war sie Leiterin des internationalen Filmfestivals in Sansibar. Außerdem ist sie als Informatikerin, Unternehmensberaterin, in der Kreativ- und Kulturwirtschaft sowie im Umweltschutz tätig. Yvonne Adhiambo Owuor lebt in Nairobi. ›Der Ort, an dem die Reise endet‹ ist ihr erster Roman.

Simone Jakob übersetzt englische Literatur ins Deutsche, u. a. von Anne Tyler, David Nicholls, Karen Russell, Gregory Sherl und Shreyas Rajagopal.

Yvonne Adhiambo Owuor

DER ORT, AN DEM
DIE REISE ENDET

Roman

Aus dem Englischen
von Simone Jakob

 

Zuallererst widme ich dieses Buch dir,

La Caridad

 

Für den wunderbaren,

geliebten Tom Diju Owuor

(Konntest du nicht

länger bleiben, Daddy?)

19362012

 

Meiner umwerfenden, angebeteten,

Leben, Hoffnung und Schönheit

verströmenden Mama,

Mary Sero Owuor

 

Für euch, meine geliebten Geschwister:

Vivian Awiti, Caroline Alango, Genevieve

Audi, Joanne Achieng, Alison Ojany,

Chris Ganda und Patrick Laja, Joseph

Alaro, François Delaroque, Rob de Vries

und John Primrose

 

Für die Engel der nächsten Generation:

Karla, Angelina, Taya und Nyla

 

Für die, die vorangegangen sind,

und für die, die noch kommen werden.

Danke!

»Dir wird die Stimme meiner

Erinnerungen näher sein

als die Stimme meines Todes,

wenn der Tod denn je

eine Stimme gehabt hat.«

JUAN RULFO, Pedro Páramo

 

Folge meinen Spuren im Sand

in den Raum jenseits der Gedanken.

HAFIS

 

Chon gi lala …

EINLEITUNG VON

LUO-GESCHICHTEN

 

 

 

Kate

PROLOG

Er springt über zwei flammend rote Blüten auf dem nackten, rissigen Gehsteig. Aufgeschreckt entfalten sie sich zu festlich orange-schwarzen Schmetterlingen, die sich in den violetten Schatten eines smogverkrusteten Jacarandabaums flüchten. Ein Summen wird zu einem Trommeln wird zu donnernden Schritten, und plötzlich ist er gefangen in einem Dickicht aus schreienden Menschen und einem Hagel aus grauen, schwarzen und braunen Steinen und flieht weiter in Richtung der noch fernen Nacht. Es heißt, manche Soldaten zielen im Kampf über die Köpfe ihrer Feinde hinweg, um sie nicht töten zu müssen. Einige schießen gar nicht. Moses Ebewesit Odidi Ogandas Finger zittert am Abzug einer alten, glänzenden Kalaschnikow. Dann wirft er sie mit einem Stöhnen von sich, und sie schlittert mit einem metallischen Klappern über die Straße.

Hinter Odidi, ein Schrei: »Odi, Mann! Geh in Deckung!«

Ein Echo aus anderen Stimmen:

Hao! Da sind sie.

Waue! Tötet sie.

Wezi! Diebe.

Odidi rennt.

Drei Wochen zuvor lag das Gewehr noch in den Händen eines ehemaligen unbedeutenden Warlords aus Somalia und jetzigen Händlers für türkische Damen-Designermode der Vorsaison mit Sitz in Eastleigh. Die Waffe war der Lohn für die Kamel-Wasserlieder, die Odidi in seinem Geschäft gesungen hat, als er für Justina, sein Mädchen, irgendeinen spitzenbesetzten Schnickschnack abholte. Odidis Gesang entlockte dem Flüchtling ein wehmütig-zirpendes Schnalzen, ein Lamento um ein verlorenes, idyllisches Gestern.

Der wortkarge Mann sprach Odidi an. »Du singst, als würdest du das Wasser kennen«, sagte er.

»Ich kenne es«, antwortete Odidi.

»Das sind unsere alten Lieder … Wie haben sie dich gefunden?«

»Durch einen Besucher.«

»Hat er einen Namen?«

Odidi zögerte. Der Name kam mit einer Flut verschütteter Geschichte. »Ali Dida Hada«, sagte er knapp.

»Degodia-Clan«, schloss der Warlord.

»Nein, nein.« Stirnrunzelnd starrte Odidi gelbe, pinke, schwarze und rote Unterwäsche an und rang mit sich. Dann sagte er: »Nein! Ein Fremder mit zu vielen Heimatländern.« Und Gesichtern.

Der Händler beugte sich vor. »Kennst du das Lied von Kormamaddo, dem Himmelskamel?«

Odidi zwinkerte und pfiff die Einleitung. Der Mann stürzte sich auf die Verse der Nostalgie und grölte mit. Dann wagten sie sich auch an andere Wasserlieder heran und verstümmelten sie.

»Wüstengeist der Vergangenheit / Durchstreife die Dünen / Und siebe die süße Wahrheit heraus

Eine Stunde später, als Odidi den halben Preis für Justinas Flitterkram bezahlt hatte, murmelte der Ex-Warlord: »Warte.« Er bückte sich, hievte einen in Segeltuch und Zeitungen eingewickelten Gegenstand auf die Theke und legte Odidis Hand darauf. »Für dich, von ganzem Herzen. Pack es erst aus, wenn du allein bist. Gott behüte deine Lieder und deine Frau.« Er tupfte sich Tränen vom Gesicht, die zum Teil Tränen der Erleichterung waren, weil er nun auch ein Problem losgeworden war.

Jetzt.

»Waue!«, heult der nairobische Mob, ihm dicht auf den Fersen.

Odidi rennt.

Spürt den Boden nicht. Fliegt.

Zisch, schwirr, knatter.

Kugeln.

Ein Stöhnen, ein dumpfer Aufprall. Ein Mann fällt.

Ratatatata … Schreie.

Odidi rennt.

Tränen fließen. Panik-Zorn-Liebe.

Die Gefallenen sind seine Männer.

Schuld. Wut. Trauer.

»Argh!« Der Laut eines strauchelnden Kapitäns, der seine Mannschaft verliert. Doch Odidi greift nicht zu der Pistole, die an seinen Oberkörper geschnallt ist. Odidi rennt. Kraft in den Armen, Beine wie Kolben, sprintet er die Haile Selassie Avenue entlang, springt über liegende und kauernde Anwohner, die ihm leidtun, denn der Kugelhagel, der ihm gilt, regnet auf sie nieder. Er rennt durch den Verwesungsgestank, den Duft der auf Regen hoffenden Erde, die Gewohnheiten und Träume der Menschen Nairobis: Rauch, Zerfall, Handel, Sorgen, Echos von Lachen und zu starker Ketepa-Tee. Odidi rennt.

Eine Beschwörung: Justina! Justina!

Zuflucht der Hoffnung.

»Hawa!«, kreischt der Mob.

Justina! Hoffnung wird zur Sorge wird zur Sehnsucht: Ich muss nach Hause!

»Waue!« Die Antwort.

Die Täuschungen der Erinnerung. Odidi schwebt über der ausgedörrten Landschaft von Wuoth Ogik, jenem Zuhause, das er verlassen hat: seine Familie, die nach ihm greift, blökende Schafe, Ziegen und weit entfernte Berge. Kormamaddo, das mürrische Familienkamel, das von der Weide nach Hause trottet. Der heimatliche Himmel, eine endlose Kuppel. Steigende Flut in seinem Blut. Ich will nach Hause! Er hebt die Füße höher, versucht zu fliegen. Odidi rennt.

Irgendwelche Menschen in dieser obszönen Stadt der flüchtigen Taten wollen seinen Tod. Ua! Etwas in Odidi flattert und fällt wie ein aufgeschreckter, verwundeter Singvogel. Was habe ich ihnen je getan? Er will einfach nur nach Hause.

Justina!

Eine Oase.

Er wird dieses Spinnennetz aus schwarzen Straßen überwinden, nur um sie zu berühren.

Odidi rennt.

Er biegt in die Jogoo Road ein und schaut nach oben, eine Gewohnheit, die in seiner Kindheit geboren wurde, als Galgalu, der Familienhirte, ihm erklärte, Gott sei Akuj – Ewigkeit, die sich als Himmel enthüllt.

Jetzt kreisen Gaukler hoch oben im orangefarbenen Licht der Dämmerung. Prophetische Vögel, wie Marabus. Wasser in seinen Augen. Er blinzelt den vorabendlichen Nieselregen weg. Hinter ihm erzittert die Erde. Das klägliche Brüllen einer Ziege, die sich gegen die Ungerechtigkeit des Schlachtermessers wehrt. Der Tod stinkt nach kalter Leere. Omosh: der letzte seiner Männer. Odidi schluckt Erbrochenes hinunter. Schmeckt Salz. Tränen in seinem Mund, seine Hände sind klebrig und feucht, als hätte er sie in Blut getaucht. War dies das Ziel all ihrer Kriege?

Schatten und Reue.

Er stolpert.

Muss in Bewegung bleiben.

Doch diese Stadt, seine Stadt, hat sich unvermittelt gegen ihn gewandt und ihre Form verändert. Straßen schlittern gegen harte Mauern; Schatten huschen davon, um den hungrigen, menschenfressenden Stadttrollen seinen nächsten Schritt zu enthüllen. Odidi rennt.

Ein Flüstern aus der fernen Vergangenheit, wie ein Pinselstrich auf seinem nackten Rücken. Du kannst nicht die Lieder von Menschen leben, die deinen Namen nicht kennen … Odidi greift sich an die Kehle, erstickt in auflodernder Klarheit. Was habe ich getan? Odidi rennt.

Er erhascht kurze Blicke auf das Spiegelbild seines flüchtigen Schattens in dunklen Fensterscheiben. Was hat er getan? Odidi rennt. Lauter: Du kannst nicht die Lieder von Menschen leben, die deinen Namen nicht kennen. Er versteht jetzt, dass er seine Familie beschützen muss. Odidi rennt. Er muss einen Fremden kontaktieren, ihn daran hindern, einen Flug von Heathrow nach Nairobi zu nehmen. Er muss das Labyrinth der Hintergassen erreichen – seinen Fluchtweg. Donnernde Schritte hinter ihm, eine kühle Abendbrise auf seinem Arm und Gesicht. Ein Stöhnen in seiner Kehle – lasst mich nach Hause gehen. Odidi rennt. Seine feuchten, zu Fäusten geballten Hände treiben ihn an, und der Zwielichtregen benetzt seine Haut, als er ein Geräusch aus seiner Jackentasche hört. Cesária Évoras »Um Pincelada.« Der Klingelton seiner Schwester.

Ein grimmiges Lächeln. Nur Arabel Ajany Oganda würde zu einem solchen Zeitpunkt anrufen. Wenn er abnähme, wären ihre ersten Worte: »Odi … was ist los?« Und er müsste sagen: »Nichts, ich kümmere mich schon darum«, so wie sie es erwartete, so wie er es immer getan hatte. So wie jetzt. Odidi rennt. »Um Pincelada« geht weiter. Wenn er könnte, würde er sagen: Hallo, Dummerchen. Nach mehr als zehn Jahren Funkstille könnte er ihr verkünden: Ich fahre nach Hause. Sie würde lachen und er mit ihr. Die Musik bricht ab. Hallo, Dummerchen.

Odidi und Ajany waren Nachkommen der nordkenianischen Dürregebiete. Ihre Kindheit war begrenzt von der Landschaft und der Natur ausgetrockneter Erde. Frei von der Geschichte und dem Einfluss der Regierung in Nairobi staunten sie über Anam Ka’alakol, den Wüstensee, der drei Flüsse verschlingt – Omo, Turkwel und Kerio. Sie kannten auch die Erinnerungen eines anderen Flusses – des Uaso Nyiro –, die vier launischen Winde, die geheimen Ängste der Eltern, die pulsierenden Schatten der Vergangenheit, und sie trafen allerlei flüchtige Seelen und malten ihr Dasein auf die riesige Leinwand der leuchtenden, steinigen, heißen Erde, auf der alles geschehen konnte und auch geschah. Sie kartografierten ihr Land mithilfe von Wind, Feuer, Himmel, Wasser, Leere und Licht, sie stückelten Geschichten aus Steinen zusammen, zählten in Felsgestein eingeprägte Fußspuren, spähten in Spalten, um das Haus des roten Regens auszuspionieren. Es gab keine Ältesten in ihrem Leben, die von hartnäckigen Erinnerungen heimgesucht wurden: Niemand erklärte den Kindern, wie es früher gewesen war, was es bedeutete, wie man es zu sehen hatte oder was es war. Und so erfanden sie neue Schöpfungsmythen. »Der erste Oganda wurde von Flammen ins Dasein gerufen«, hatte Odidi Ajany einmal erklärt. Seine Schwester glaubte ihm. Sie glaubte ihm jedes seiner Worte. Der Schimmer eines Lächelns.

»Hawa!«

Er hat völlig vergessen, wo er ist.

Odidi rennt.

Er springt über schlammverkrustete, zerknüllte Wahlplakate in verrottendem Laub, die das strahlende Gesicht und die reinweißen Zähne eines Präsidentschaftskandidaten zeigen. Zähne verwesen nicht im Grab. Wo hatte er das gelesen? Links von ihm, eine mit Plastik vermüllte Gasse. Er sucht darin Schutz. Ein Lied in seinem Herzen, ein Freuden-Psalm. Das hier ist sein Revier.

Justina!

Sein Blick findet sie in der brodelnden Masse. Er kennt die meisten der Leute – Gangmitglieder. Justina in ihrem gelben Muumuu mit den albernen riesengroßen pinkfarbenen Nelken. Er liebt dieses Kleid an ihr. Er liebt sie. Ihre Augen sind unnatürlich geweitet, leuchtend und leer. Ihr Schrei zerreißt ihm das Herz – Wer hat sie verletzt? Wen muss er umbringen? –, doch dann lodern Flammen aus der Tiefe seines Herzens, verschlingen ihn, und er schreit auf – danach kann er Justina nicht mehr sehen.

Odidi humpelt.

Er greift sich an die zerschmetterte rechte Schulter. Herausragende Knochen. Eine Blutspur, ein Rinnsal aus seinem Mund. Man sagt, dass sterbende Männer im Kampfgetümmel nach ihren Müttern rufen. Akai-ma, stöhnt Odidi. Sie wehrt Ghule und böse Nachtalbe ab, kämpft mit Gott, schickt uralte Teufel vor ihrer Zeit in die Hölle und hält Meereswogen auf, damit ihr Sohn ungehindert passieren kann. Akai-ma. Odidis linke Wade pulsiert. Ein glühender Schmerz frisst sich durch seine Lendenwirbel. Feuchtigkeit auf seiner Brust. Obwohl sein Bein schwerer ist als ein Baumstamm, versucht er, es nach Hause zu schleppen. Er ringt mit einem Gedanken, der ihm zu entgleiten droht. Justina!

Die Ziellinie. Er wird es schaffen, denn er ist Shifta der Stürmer, der Rugby-Torjäger und -schütze. Seine Flügelstürmer und Hintermannschaft haben ihm den Ball zugeworfen, und auch wenn sie selbst nicht mehr im Spiel sind, verlassen sie sich darauf, dass er es zu Ende bringt. Er, der schnellste, der gerissenste, der beste Shifta der Stürmer, tanzt durch die Reihen seiner Gegner. Bevor Jonah Lomu bestimmte, dass Stürmer groß zu sein haben, gab es Shifta, den kenianischen Stürmer, der aggressiv das Spiel beherrschte und Versuch für Versuch für Versuch verwandelte, während die Menge skandierte: Shifta! Klatsch, klatsch! Stürmer! Klatsch! Klatsch! Und später, als er die kenianische Nationalhymne hörte und spürte, wie sie in seinem Geist ihr Echo fand, hatte er Tränen geweint, die an seinen Lippen vorbei auf die Erde tropften.

Shifta! Klatsch!

Stürmer! Klatsch!

Odidi humpelt in die Mitte der Gasse, zieht sein verdrehtes Bein hinter sich her. Eine warme Flüssigkeit rinnt daran herunter, durchweicht seine Hose, hinterlässt einen sichtbaren Fleck. Pisse. Kontrollverlust. Akai-ma! Sie kann alles richten. Holt die Ihren zu sich zurück. Dunkle Schatten, wie die Gaukler, die die Grasebenen absuchen, immer engere Kreise ziehen. Sie treiben ihn in eine Falle.

Ein kurzes Ratata.

Odidis anderes Knie gibt nach.

Er bricht zusammen.

Atmet gurgelnd aus.

Es heißt.

Dass, wenn ein Mensch stirbt, er sein gesamtes Leben in einer raumlosen Zeit, einem zeitlosen Raum an sich vorbeiziehen sieht und alles erneut durchleben kann, was er je gefühlt hat, nur in rasender Geschwindigkeit und in ein sonnengleiches Licht getaucht. Odidi Ogandas Fingerknöchel schrammen über heißen Asphalt. Sein linkes Bein zeigt in die entgegengesetzte Richtung. Eine Geräuschsalve wird zu einer Flamme, die sich quer durch Odidis Mitte frisst, und sein gesamtes Sein schraubt sich durch ein immer kleiner werdendes Loch. Sein Körper zuckt zurück, dann nach vorn. Er seufzt, plötzlich erschöpft, und seine ausgestreckten Finger krümmen sich langsam.

Musik.

Wieder Cesária Évora.

Ajany.

Seine Schwester.

Worte gerinnen zu Gedankenblöcken. Herz spricht. Arme ’Jany. Er muss sie warnen. Arme ’Jany. Musik. Akai-ma wird wahnsinnig wütend werden. Ein kurzes Auflachen. Wahnsinnig ist sie ja schon. Akai-ma. Galgalu wartet bestimmt schon auf ihn. Er hat gesagt, er wird den Himmel nach Zeichen für Odidis Heimkehr absuchen. Später werden sie die Kühe in die salzige Chalbi-Wüste treiben und über das Leben, die Liebe und ihre Abgründe reden.

Musik.

Césaria Évora.

Ajany.

Seine Schwester.

Es war einmal, vor langer, langer Zeit, als er erst vier Jahre alt war. Odidi, der Ajany im Arm trug, schrie seine Mutter an: Sie gehört mir! Denn das tat sie; er hatte einen weiten, weiten Weg zurückgelegt, um sie nach Hause zu bringen, nachdem er und Galgalu, der Hirte, sie dem starren Blick von fünf wartenden Geiern entrissen hatten.

Odidi genießt die Musik.

Sie schmeckt nach Alltag.

Nach Gegenwart.

Er lauscht.

Und lauscht.

Die Musik verstummt.

Nein, denkt er, nein, ’Jany, nicht aufhören.

Das Summen von Millionen Fliegen in seinem Ohr. Was würde er zu seiner Schwester sagen? Er würde sagen: »Eines Morgens, als das Land erwachte, sagte es zu sich: ›Heute will ich Arabel Ajany sein.‹ Und der See sah das Land, das Ajany war, und sagte: ›Heute will ich Odidi Ebewesit sein.‹ Und darum sind wir Wanderer. Weil wir manchmal Orte sind und keine Menschen.« Sie würde ihm glauben. Sie glaubt ihm immer. Er würde sagen …

Anonymes Gemurmel.

Jemand steht über ihm, versetzt einem taub werdenden Teil seines Körpers einen Tritt.

»Ameaga?« Ist er tot?

»Bado.« Noch nicht.

Sie arrangieren Objekte um Odidi, die Ping machen, wenn sie fallen. Er späht durch einen erdrückenden dunkelroten Schleier zu den sich bewegenden, missgestalteten Schemen hinauf.

Schlichtes Bedürfnis: Hilf mir.

Ein Fuß auf seinem gefühllosen Körper.

Kleinere Sehnsüchte: Berühr mich.

Winzige Hoffnung: Bleib bei mir.

Gemurmel.

Bleib. Odidi muss aufstoßen.

Aus Schmerz wird Sehnsucht, jeder zerstreute Atemzug ist der Gegenwart geweiht, ein einzelnes Wort bricht sich Bahn – Baba! Es löst allen Widerstand auf. Baba! Die Qual, die aus Odidis Mund quillt, hat die Farbe von gerinnendem Blut, besudelt seine Jacke und sein T-Shirt. Rote Tränen. Streifen verwandeln sein Gesicht in eine groteske zweifarbige Maske.

Seltsame Erinnerung.

Alte Musik.

Fela Kuti.

Moses Odidi Oganda war achtzehn Jahre alt, Student der Ingenieurswissenschaften im ersten Jahr an der University of Nairobi, als er, in einem Zimmer voller Bücher und Stille in seinem korallenfarbenen Zuhause in der Wüste, Wuoth Ogik, vertieft in eine Geschichte über Maschinen, zwischen den Seiten eine fremdartige gemalte Vision entdeckte. Er löste sie von der Seite ab, an die die Zeit sie geleimt hatte, und sein Atem war mit einem Mal gepresst, gequält und stolpernd. Doch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, was das Bild zu bedeuten hatte, hörte er die harten Schritte seines Vaters auf dem Steinboden. Er legte das Bild wieder zwischen die stummen Seiten und nahm das Buch an sich.

Später, an der Universität, stieß er auf Fela Kutis Lieder – ihren kompakten Zorn: Aye, aye, aye … I no go agree make my brother hungry, make I no talk …

Er ernannte sich selbst zum Erben Thomas Sankaras und trug eine unnötige Brille, die an Patrice Lumumbas erinnerte.

Drei Semester später fuhr Odidi heim nach Wuoth Ogik. An seinem dritten Abend in der Familie holte Odidi Oganda die Kalaschnikow, die sein Vater ihm fünf Jahre zuvor geschenkt hatte, nahm sie auseinander, warf Nyipir die Teile vor die Füße und sang: Aye, aye, aye … I no go agree make my brother hungry, make I no talk …

Schweigen.

Nyipir beugte sich über die Teile.

Schweigen.

Später, zwischen den Hieben der Nilpferdlederpeitsche, die an Odidis Körper leckte, beschwor ihn Nyipir: »Der einzige … Krieg, den du kämpfst … ist der für das, was dir gehört. Du kannst nicht die Lieder von Menschen leben, die deinen Namen nicht kennen.«

Odidi versuchte, seinen Körper zu schützen, wartete auf eine Gelegenheit, Baba seitlich zu tackeln, und vergaß dabei, dass der ein erfahrener Soldat war. Sie wälzten sich über den Boden. Knack. Odidis linker Arm, sein Wurf-Arm, brach. In Odidis ersticktem Schmerz, der Tod der hochfliegenden Rugby-Träume, die er, wie ihm erst jetzt klar wurde, gehegt hatte. Er erinnert sich, wie Ajany mit den Armen wedelte und in dem vergeblichen Bemühen, »Stopp!« zu schreien, wieder und wieder Sttttttttt stammelte. Akai-ma fluchte auf Turkana und flehte Gott und sämtliche katholische Heilige an, diesen Wahnsinn zu bezeugen. Sie erbot sich, ihnen ihr nacktes Hinterteil zu zeigen. Ein Fluch. Doch dann schlug Galgalu mit dem langen, dicken Hirtenstab zwischen Vater und Sohn. Zack!

Danach war Ruhe.

Viel, viel später.

Ein Vater flehte flüsternd seinen fliehenden Sohn an: Bleib. Bitte, bleib.

Der Sohn ging.

Ohne eine Antwort und ohne einen Blick zurück.

Heute, Jahre später, in einer nach Teer riechenden Hintergasse, blutet Odidis Herz die Antwort: Komme nach Hause. Warte auf mich.

Geruch der Heimkehr.

Akazienharz-Weihrauch. Wüstenessenzen – Dung, Salz, Milch, Rauch, Kräuter, Ghee und die Sehnsucht nach Regen. Akai-ma sagte, Wohlgerüche würden böse Geister vertreiben. Wir treffen unsere Kühe bei Sonnenuntergang, verspricht Odidi. Zuhause war der Rahm der heißen Milch des eigenen Viehs, hastig hinuntergeschlungen, wenn Galgalu der Hirte nicht hinschaute; das Gefühl der mit Speichel und zerkautem Gras überzogenen Zungen der Ziegen auf der Haut, wenn sie das gestohlene Salz aufleckten, mit dem Ajany und er sie fütterten. Klein-Odidi schaut Baba, dessen kantiges Gesicht mit weichem weißem Schaum bedeckt ist, beim Rasieren zu und durchlebt erneut sein Staunen, als Babas Gesicht glatt wieder zum Vorschein kommt. Baba zwinkert ihm zu. Er liegt zurückgelehnt in dem ausladenden Sessel aus rissigem Leder, verströmt einen Hauch von Old Spice, ein schallendes Lachen schüttelt seinen Körper. Gerade als sich Odidi in Nyipirs Arme werfen will, kollidiert er mit einem eisigen Schatten, der seinen Körper durchdringt.

Jetzt.

Der Schatten breitet sich über ihm aus.

Du!, krächzt Odidi.

Die Erscheinung starrt ihn mit leeren Augenhöhlen an, stumm, wie bei ihrer ersten Begegnung. Was willst du? Hohler Hunger. Ewiger Durst. Hier bin ich. Das Ding lächelt. Odidi versteht. Wenn du sie anrührst … Odidi zittert. Lass sie ihn Ruhe. Kalte Tränen. Wenn es nicht so schmerzhaft wäre, würde er mit den Zähnen klappern. Bitte. Der Schemen sieht zu, wie Odidis Schatten in eine gewundene, dunkelrote Höhle fließt – seinen Bau. Es ist nicht ihre Schuld, sagt Odidi flehentlich. Ich bin hier.

Es war Dezember, und Odidi und seine Schwester Ajany hatten Ferien. Odidi, zuständig für Abenteuer, verfügte, dass sie eine verbotene, rot-melierte Felshöhle erkunden sollten, um die Quelle eines Stroms zu finden, den sie hören, aber nicht sehen konnten.

»Nein!«, stammelte Ajany. »Da unten lebt etwas Böses.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Odidi höhnisch.

»Akai-ma sagt …«

»Da unten finden wir Wasser«, unterbrach er sie. Seine Worte wurden auseinandergerissen und hallten wider. Wa… Unttttttttt… Er… Wa… Ssssss…

Und so legte Ajany ihre Hand in seine und folgte ihm in den Höhleneingang, der sich in eine mäandernde Grotte öffnete, die mit »Gottes blendender Dunkelheit« und Sickerwasser angefüllt war. Feuchte Mulden, Lichtpunkte und dichte Schatten, die sich an sie schmiegten. Odidi beugte sich tief hinunter, um sich durch die niedrigen Gänge zu zwängen. Ajany folgte ihm. Sie war winzig für ihr Alter und passte mühelos hindurch. An zwei Stellen konnten sie aufrecht gehen. Meist krochen sie jedoch über den harten, kalten Boden, ihre dunkle Haut verschmolz mit der Finsternis, und sie schoben sich auf Knien und Händen vorwärts. Der Tunnel machte einen abrupten Knick nach links und führte in eine gewundene Kammer, auf deren vorspringenden Wänden ein Dreieck aus Licht blutrote Tierfährten und riesige menschliche Fußspuren enthüllte, die zur Decke führten. Da. Die erste Abbildung eines menschlichen Lachens – ein offener Mund voller Zähne, in einen Felsen geritzt. Piktogramme. Zwischen den Symbolen, feucht schimmerndes Gestein. Sie drehten sich davor im Kreis. »Mhhhhh«, sagte Odidi und verstand, wo Geheimnisse geboren werden. Das Zuviel der Erfahrung, und warum Schweigen die Sprache der letzten Zuflucht ist. Sie lachten und lachten, und ihre Freudenschreie hallten von den Wänden wider. Ajany hüpfte auf und ab, stolperte und fiel auf den Hintern.

Krack! Etwas zerbarst, und Ajany hob es auf.

Odidi sah, dass das, was sie in der Hand hielt, ein bleicher menschlicher Fingerknochen war, der auf ihn zeigte. Ajany warf ihn von sich. Er traf Odidi an der Schläfe, und als er sich wegdrehte, entdeckte er den Rest des Skeletts. Ein fleckiger grinsender Schädel, dem mehrere Zähne fehlten. Eingesunkene Augenhöhlen, die ihn anstarrten, so wie jetzt.

»Wo ist sein Gesicht?«, heulte Ajany, schlug sich die Hände vor die Augen und trat auf die linke Hand des Dings. Odidi beugte sich vor und hob Ajany hoch.

Sie umklammerte seinen Hals und schluchzte. »Es ist Obarogo, Odidi! Obarogo!«

Und obwohl sein Leben jetzt und hier auf dem Asphalt aus ihm herausfließt, gluckst Odidi: He he! Ein Gurgeln in seiner Kehle. Obarogo! Seine Schwester schluckte jede Geschichte, die er ihr auftischte. Obarogo, das blinde Schreckgespenst, geboren aus Odidis Wunsch, seine Schwester schreien zu hören. Obarogo, der das Leben aus dem Gewebe der Finsternis saugte. Obarogo, der Augen brauchte, um im Dunkeln zu sehen, suchte kleine Mädchen heim, deren Augen offen waren, wenn sie eigentlich schlafen sollten. Jungen verschonte Obarogo natürlich.

Sie flohen aus der Höhle, halb trug, halb schob er seine Schwester nach draußen. Noch Tage später lutschte Ajany an zwei Fingern und wich Odidi nicht von der Seite, wenn sie das Vieh hüteten. Sie zupfte an seinen Shorts. »’Didi, ich träume von … von … Obaro… Oba…«

»Sei still!«, zischte Odidi und pfiff nach den Hütehunden. Als er zurückschaute, sah er Ajany mit einem Zweig in der Erde stochern. Er rief: »Bald gehen wir sowieso wieder zur Schule!«

Ajany sah ihn mit großen Augen voller Schulangst an. Der Zweig fiel ihr aus der Hand.

»Wir gehen weit fort«, flüsterte Odidi. Genau wie er ihr versprochen hatte, »wir gehen ins richtige Kenia«, als er von Babas Entscheidung erfahren hatte, sie beide auf ein Internat südlich des Uaso-Nyiro-Flusses zu schicken.

Ihr erster Eindruck der Schule war der eines Ortes, der durch ein riesiges schwarzes Tor und eine dicke, fast völlig von einem dunkelvioletten Kei-Apfelbaum überwucherte Mauer vom Rest des Universums getrennt zu sein schien – eine missgestaltete Welt aus grauen Steingebäuden, ein armseliger Tribut an irgendeine obskure englische Privatschule.

Die Direktorin, Mrs. Karai, Master of Education. Kalebassenförmig. Untersetzt. Streng. Eiskalt. Gelbbraune, dürre Beine, falsche Perlenkette und Hornbrille. Nach ihrer Ansprache an die neuen Schüler bestellte sie Odidi und Ajany am Morgen ihres zweiten Tages zu sich ins Büro.

»Steht auf.«

Sie erhoben sich.

»Keine Schlägereien, kein Stehlen, keine Politik. Wisst ihr, wie man eine Toilette benutzt?«

Keine Antwort.

»Das werte ich als ein Nein. Die Hausmutter wird es euch zeigen. Ich warne euch, ich rieche Ärger schon von Weitem – ihr werdet sehen. Und dann werdet ihr mich kennenlernen. Verstanden?«

Mrs. Karais Worten fehlte jegliches Takt- und Feingefühl. Gehörte der Verstand zu den Sinnen? Odidi nahm all den Zorn zusammen, der von ihm Besitz ergriffen hatte, doch dann hörte er, wie seine Schwester mit den Zähnen knirschte, und ihm wurde klar, dass sie es unbewusst tat. Wenn er explodierte, würde sie womöglich zusammenbrechen. Und so schluckte er seinen Zorn hinunter und berührte Ajany an der Schulter.

»Wegtreten«, knurrte Mrs. Karai.

Hand in Hand verließen sie das Büro, vermieden es, sich anzusehen. Später konzentrierten sie sich auf das Lernen. Ajany lernte zu malen, überdeckte ihre Scham mit leuchtenden Farben. Bücher enthüllten Reiseziele. Huskys in Alaska, Kürbisse, die sich in Lakaien verwandelten, galante Prinzen, Ritter von Tafelrunden und gute Könige, die über die heilige Ordnung wachten. Atlanten wurden zu Lieblingsbüchern; in der Fantasie konnte zwischen den geraden und gekrümmten Linien einer Reise alles Mögliche passieren.

Odidi lernte innerhalb eines Jahres Klavierstücke der Schwierigkeitsstufe drei zu spielen.

»Komm, Ajany. Hör zu. Hör zu

Musik und Malerei heilten Seelenwunden.

Sie vergaßen die Lehrer, die mit höhnisch verzogenen Lippen fragten: »Ati, woher? Ist das überhaupt auf der Landkarte?« Überhörten die Mitschüler: »Ihr da oben habt doch nur Staub zu fressen.« Mit Musik und Malen verdrängten sie die alljährlichen Demütigungen im Februar, wenn in den Nachrichten die Berichte über die Hungersnöte im Norden gezeigt wurden, mit Bildern von ausgezehrten, geschmückten Einheimischen mit nacktem Oberkörper und skelettiertem Nutzvieh. Sie ließen die Welle von »Wohltätigkeits-Schulläufen« und »Spendet-euer-Wechselgeld-rettet-Leben«-Aktionen und »Helft-den-armen-hungernden-Menschen-in-Nordkenia«-Picknicks über sich ergehen. Ajany – spindeldürr, klein, dunkel, mit buschigen Haaren und großen, schräg gestellten Augen – wurde als praktisches Faksimile für derlei Anlässe auf die Schulbühne gezerrt, um sich für großformatige Schülerzeitungsfotos über einen riesigen Scheck aus Pappe zu beugen. Odidi saß mit geschlossenen Augen im Zuschauerraum und träumte vom Ende des Schuljahrs, wenn sie die gesegnete Reise aus diesem Kenia über Nairobi in ihr eigenes Kenia antreten würden. Nairobi war die Oase, wo er und Ajany einen klapprigen Reisebus bestiegen, der sich nach oben hin verjüngte und über marode Straßen zum Handelszentrum bretterte. Manchmal gingen sie von dort zu Fuß; meist ließen sie sich bis in die Nähe von Wuoth Ogik mitnehmen, wo sie die Schule aus ihren Herzen tilgten.

Nach der Sache in der roten Höhle veränderte sich Odidis und Ajanys Leben in der Schule. Odidi nahm an Körpermasse zu, verband sie mit Zorn, trat dem Rugby-Team bei und machte sich daran, die Schulmannschaft völlig umzukrempeln. In der zweiten Saison, als die gegnerische Abwehr ihm den Ball abjagen wollte, schlug er drei Reihen Zähne ein und verwandelte zwölf Versuche. Ihre Schule, der alljährliche Versager, nahm am School-Rugby-Cup teil. In den Liedern, die man für den neuen Helden komponierte – Shifta! Der Stürmer! –, fand Odidi Zugehörigkeit, und sein Ruhm strahlte auch auf Ajany ab, die nun endlich in Ruhe gelassen wurde.

Jahre später würde Odidi von Ajany verlangen: »Entscheide dich.« Und das tat sie. Sie verließ Kenia. Er war geblieben. Um weiter jenes Zugehörigkeitsgefühl zu erleben, an das er sich gewöhnt hatte.

Jetzt, auf dem Asphalt, versucht Odidi, die Geräusche zuzuordnen, die er hört: quietschende Reifen, eine zugeschlagene Tür, Wortfetzen, Echos der Schreie von ehemals lebendigen Freunden. Sie sind, wo sie jetzt sind, weil sie jemanden um einen grünen Toyota Prado hatten erleichtern wollen. Kein Diebstahl – es ist Odidis Wagen, er hat ihn gekauft und bar bezahlt. Doch dann war er ihm genommen worden. Er wollte lediglich zurückholen, was ihm gehörte. Früher waren der jetzige Fahrer des Toyotas und er Freunde gewesen. Schulkameraden, Geschäftspartner, Sauf- und Bordellkumpane. Sie hatten den grünen Wagen gemeinsam für Odidi ausgesucht, um einen bahnbrechenden Deal zu feiern, den sie an Land gezogen hatten. Der Freund hatte für einen braunen Jaguar gestimmt. Einige Jahre später hatten sich die Projekte zerschlagen, und er fuhr Odidis Wagen. Es sollte ein simpler Job sein: einen Dieb bestehlen.

Als Odidi Justina erzählte, dass er seinen grünen Toyota zurückholen und ihr schenken wollte, flehte sie ihn an: »Odi-Ebe, bitte – warum kaufen wir nicht einfach einen neuen?«

Er fuhr sie an: »Weil es meiner ist.«

Justina hatte die Hände auf ihren gewölbten Bauch gelegt. »Ich hab Angst.«

Er lachte sie aus, nahm sie in den Arm und hob sie hoch. Sie schaute zu ihm herunter, und er sah sie an, bis sie lächelte, so wie sie es immer tat. »Ein kawaida Job wie der?«, flüsterte er, als er sie wieder herunterließ. »Bin ich Odidi oder was?« Und schließlich kicherte sie.

Danach wollte er Justina heiraten.

Das Schicksal neustarten.

Und er würde den Mut finden, ein Flugzeug zu besteigen, denn es war an der Zeit, seine Schwester in Brasilien zu besuchen. Es gab so viel zu sagen und zu tun. Es hätte so einfach sein sollen. Aber als Odidi und sein Team zuschlugen und er den Wagen wegfahren wollte, hatte ein Erschießungskommando der Polizei auf sie gewartet.

Stimmen.

Mehr Autos.

Das Surren einer Kamera.

Helle Lichter.

Gemurmel.

Dann.

Fünf, vier, drei, zwei, eins, und bitte! Eine Stimme, harsch, aufgeblasen und vertraut: »Unsere tapferen Hm-Männer erwiderten das Feuer. Zwei unserer Hm-Männer sind verletzt. Der Bandenchef verhöhnte uns. Bereidigte uns. Unsere tapferen Hm-Männer verforgten sie. Die Täter früchteten zu Fuß. Wir gaben nicht auf. Unsere tapferen Hm-Männer schossen zurück. Zwei unserer Hm-Männer sind verretzt. Der Bandenchef hat uns verhöhnt. Uns bereidigt. Doch unsere tapferen Hm-Männer gaben nicht auf. Die Kriminerren frohen zu Fuß. Wir brieben ihnen auf den Fersen. Wir verforgten sie zwei Kirometer …«

Odidi lauscht.

»Die Täter schrugen mit der Präzision von Heuschrecken zu. Kreisten ihr Zier ein. Sie stahren, betrogen und räumten Fahrzeuge aus. Begingen Banküberfärre, Porizistenmorde und entkamen mit neunzig Mirrionnen Schirringen

Scheiße!

Odidi begreift.

Eine Falle.

Der Kommandant der Polizeidivision, den sie jeden Monat fürs Wegschauen bezahlen und der der Gang bei drei verschiedenen Gelegenheiten Männer ausgeliehen hat, ist gerade dabei, sie zu opfern.

Leid ist ein Universum.

Schuldgefühl.

Scham darüber, in die Falle getappt zu sein. Furcht, weil es niemanden gibt, der hören will, was er zu sagen hat.

Das ist Einsamkeit.

Tränen.

Elektrischer Schmerz, Zittern.

Odidi schaudert.

Blut.

Was geschieht mit mir?

Dann.

Über ihm atmet jemand.

Wärme. Eine Stimme: »Ich hab dich gesucht, Junge.«

Odidi öffnet den Mund. Baba? Kein Laut.

Die Stimme: »Ich bin da.«

Odidi versucht, sich der Gestalt zuzuwenden.

Will sagen: Hab keinen Bankraub begangen.

Versucht zu grinsen. Wusste, du würdest mich finden.

Doch es ist leichter, sich einfach den schlingernden Empfindungen des Lebens zu überlassen.

Über Odidi, die Nacht. Die verschwommene Vertrautheit der weiß funkelnden Sterne; er sieht Kormamaddo, den Kamelbullen der Wasser.

Was geschieht mit mir?

Die Stimme sagt: »Mach die Augen zu, Junge. Schlaf.«

Odidi hustet drei Mal.

Rote Blasen zerplatzen spritzend.

»Ich bin da«, sagt die Stimme.

Odidi atmet ein.

Atmet nicht wieder aus.

Wird still.

Der ein Meter achtzig große, grauhaarige, professorale Mann mit Brille, ein hochrangiger Zivilpolizist, der einen unscheinbaren, jetzt blutbesudelten schwarzen Anzug und schwarze Schuhe trägt, wird zehn Minuten lang warten, ehe er die Pistole aus Odidis Brusthalfter und das durchlöcherte Handy an sich nimmt und mit einer knappen, grazilen Bewegung einsteckt. Eine zerdrückte scharlachrote Sportsman-Zigarettenschachtel raschelt in seiner Hemdtasche. Er greift danach, überlegt es sich jedoch anders. Er hat den Cocktail aus Gestank – Blut, Scheiße, Pulverdampf und fauliges Wasser aus einem nahe gelegenen offenen Abwasserkanal – schon früher ausgehalten und wird es wieder können. Mit leerem Blick geht er in die Hocke. Den Kopf in die Hand gestützt, denkt er an Nyipir Oganda, den Vater des Jungen. Dann hebt er mit fleckigen Fingern kurz seine Bifokalbrille an, die schief auf seiner großen Nase zu ruhen kommt, und starrt ins Nichts.

1

Da. Das könnte sie malen, mit Pinselstrichen wie Messerstiche. Und da. Landschaften des Verlusts kolorieren. Das könnte sie für ihn malen, dieses Verlangen, seine ganz eigene Stimme zu hören; auf die Echos blutiger Schritte lauschen, sich tote Augen leihen, die ihr helfen, ihn wiederzufinden. Und da. Zerklüftete Abgründe des Schmerzes, ein riesiger Wasserfall der Sehnsucht, der sich von den Klippen unablässig ins Nichts ergießt.

Aggrey Nyipir Oganda, ihr Vater, steht wie eine feingliedrige dunkle Steinstatue vor ihr. Nur sein Blick schweift umher, nimmt alles in sich auf, die Leere. Die Augen sind geschwollen und gerötet, schattige Tränenspuren streifen das Ebenholzgesicht. Seine alte Polizeihaltung ist noch untadelig. Kerzengerade, steif und ruhig steht er da in seiner Alte-Welt-Eleganz, einem leicht schäbigen Mantel aus den 1970ern und einem Fedora aus den 1950ern. Ein Hauch von Altersgrau, heimlich haben sich Falten in seinen Augenwinkeln gesammelt. Seine Manieren sind, wie die vieler kenianischer Männer seines Alters, vornehm und englisch-kolonial, gestrandet in den Paradoxien der Zeit.

Ajany verzieht die vollen Lippen. Da. Der Beweis. Sie sind Nachfahren einer Ahnenreihe lebender Toter. Sie atmet ein und dreht sich so, dass sie den beigefarbenen Sarg sehen kann, Heimat des jüngsten ruhelosen Toten, an einem Tag, an dem gefälschte Wahlergebnisse ein idyllisches Land in Flammen aufgehen lassen werden. Die Außenwelt ist überflutet von menschlichen Geräuschen, Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, Wahlmanipulation und dem mathematischen Wunder von Stimmen, die sich von selbst teilen und vervielfachen. Doch hier, in ihrer in sich geschlossenen Welt, wo auf einer einsamen, verkrüppelten Silbereiche ein blauvioletter Vogel zwitschert und um halb vier der Tod umgeht, beugt Ajany sich vor und lauscht, um den Geschichten ihres Bruders Odidi zu lauschen, dessen Worte Schiffe erschufen, die sie immer in sichere Gefilde trugen.

Stunden zuvor: In einem Leichenschauhaus voll vergessener Toter, unvorbereiteter Toter und glücklicher Toter, hatte die Kälte ihrer aller Hände ebenso blassgelb gefärbt wie Moses Odidi Ogandas lange, dicke Finger. Sie suchten unter den achtlos abgelegten Toten nach ihrem eigenen, um ihn mitzunehmen.

Nachdem die Autopsie abgeschlossen war und ein Mitarbeiter der Leichenhalle Odidi mit nikotinfleckigen Fingern wieder zugenäht hatte, putzten Vater und Schwester ihn heraus: olivgrüner Khaki-Anzug, schwarze Socken und braune Lederschuhe, erworben in einem nahe gelegenen, teilweise geschlossenen, bewachten Einkaufszentrum, dessen Manager die Furcht vor dem unweigerlichen Höllenausbruch gegen die Gier aufwogen, den letzten Geldfluss der panischen Bürger zu melken. Gegen halb vier, als alle Dokumente unterschrieben, alle Protokolle angepasst und somit eingehalten worden waren, war Moses Ebewesit Odidi Oganda offiziell tot.

Arabel Ajany Oganda steht unter einem grauen Himmel, über den Schatten huschen. Zwei Gaukler, prophetische Vögel, suchen den Boden nach erkaltenden Körpern ab. Savannenvögel umkreisen eine Stadt, die auf einen Abgrund zurast, während vier Männer auf einen weißen Leichenwagen zugehen, an dessen Frontscheibe zerfetzte, rote Bänder flattern.

Ajany pustet in ihre Hände, sie fröstelt. Blasen und Blutergüsse bilden sich an verborgenen Stellen in ihrem Inneren, während sie äußerlich den Blick auf Babas glänzend braune Schuhe geheftet hat, die seine wirkungsvolle Deplatziertheit noch betonen. Galle brennt in ihrem Hals und erstickt ihre Schreie. Ich hasse … Was? Sie schluckt, konzentriert sich auf Nyipir, der den Sarg fixiert und ein kehliges Schlaflied haucht. Oombe, Oombe/Nyathi maywak ondiek chame … Sie horcht nach Odidi. Nach Worten, die das Leben in den reglosen Körper zurückkehren lassen, den sie gesehen und berührt hat. Odi, wach auf, fleht sie im Rhythmus ihres Atems.

Nyipir Oganda hebt die Hand. Sechs andere Augen haben auf dieses Zeichen gewartet. Drei Männer: Ein Angestellter des Bestattungsunternehmens, sehnig und lahm; einer seiner Schneidezähne ist zu lang und ragt aus seinem Mund wie aus einer anderen Dimension; aus seinen Augen trieften eine braune Flüssigkeit und Wahnsinn. Dr. Mda, der Rechtsmediziner der Polizei, ein kleiner Mann mit spiegelnder Glatze, einem cherubinischen, pockennarbigen Gesicht und einem überdimensionierten Schnurrbart, der durch die großen Ohren und den unsteten Blick noch betont wird; seine beigefarbene Hose ist eine Nummer zu klein. Ali Dida Hada, wie Ajany ihn noch nie gesehen hat – in einer Polizeiuniform, mit den Insignien eines stellvertretenden Leiters der obersten Polizeibehörde und einem schwarzen Schlagstock unter dem Arm. Sein Lächeln ist eine dünne Linie, die seinen schmalen Schnurrbart spiegelt. Als sie acht Jahre alt war und der damals neu angekommene Ali Dida Hada vorgab, ein umherziehender Hirte zu sein, beobachtete sie, wie er die Kamele der Familie mit seinem Falsettgesang hypnotisierte. »Er hat goldene Spiegel in den Augen«, sagte sie danach zu Odidi.

Nyipir gibt ein Zeichen. Die Männer heben den Sarg an.

Es ist nur ein kurzer Weg zu dem weißen Leichenwagen.

Sie setzen den Sarg auf die Gleitschienen und schieben ihn hinein.

Blaue Flecken in den Gesichtern strafen die oberflächliche Harmonie Lügen.

Zuvor hatte es ein Gerangel im silbernen Sektionsraum gegeben.

Nyipir sagte: »Ich nehme meinen Sohn jetzt mit nach Hause.«

Und Dr. Mda kreischte im Brustton moralischen Heldenmuts: »Das hier ist ein Fall für die Hm-Polizei. Der Kandaver gehört dem Staat.«

Daraufhin packte Nyipir den rundlichen Mann am Hals und würgte ihn wie ein langer Python, während der stellvertretende Leiter der obersten Polizeibehörde, Ali Dida Hada, seelenruhig und mit schräg gelegtem Kopf zusah.

»Heufen Sie mir«, röchelte Mda.

Ali Dida Hada blieb ungerührt. »Ich sage, es gibt keinen Fall.«

»Sie haben mich doch herbestellt«, sagte Dr. Mda weinerlich.

»Eh! Um mit wissenschaftlichen Methoden zu belegen, dass dies kein Fall für die Polizei sein kann

»Oh!«, krächzte Mda.

Nyipir ließ seinen Hals los.

Weil Dr. Mda ein praktisch veranlagter Mann war, suchte er in der Mechanik des Todes nach einer Ursache, die seine nur teilweise befleckte Seele nicht kompromittieren würde: Exsanguination, verursacht durch Pneumothorax und Herzinsuffizienz, eine Fußnote auf einem Totenschein, damit Moses Odidi Oganda nach Hause gebracht werden konnte.

Sirenen in der Ferne.

Draußen auf dem Hof, bei der Silbereiche und dem fröhlichen Vogel, gerinnt das Leben zum Quietschen der Leichenwagentür, dem Anblick des Sargs durch das Heckfenster, den eindringlichen Blicken anderer Fremder und schlurfenden Schritten. Keine Blumen, kein Trauerzug – der Abschied eines Bruders von einer säuerlichen Leichenhalle, wo andere Tote auf ihre Lebenden warten. Sie erinnert sich, dass der Leichenwagenfahrer Leonard heißt. Sein feinknochiges Gesicht wirft fragile Schatten. Er hat sich ein weißes Taschentuch um den Mantelärmel gebunden und eine Trauermiene aufgesetzt, die ihm gut zu Gesicht steht. Vorher hat Leonard Ajany und Nyipir in einem grellgelben Taxi vom Flughafen abgeholt, doch das ist jetzt nirgends zu sehen.

Ajany reibt sich das Gesicht und betrachtet die beiden Seiten der Welt. Vor-Jetzt ist vier Stunden und 43 Minuten her. Der Geruch nassgeregneter Erde, der sich mit dem von Rauch, Alter, Staub, Sonne und Kühen aus dem Mantel ihres Vaters mischte, in dessen Falten sie bei der Begrüßung am Flughafen kurz ihr Gesicht geborgen hat. Der Geruch des Nach-Hause-Kommens nach all der Zeit des Weit-fort-Seins. Aber-jetzt ist eine eisige Unendlichkeit, zäh, voller Grauen über die Stimmlosigkeit ihres großen Bruders. Aber-jetzt besteht aus dem bekümmerten Gemurmel anderer Fremder – ein zerlumptes Quartett, das Altkleidergeruch verströmt. Feuchte Augen, vom Leben verhärtete Züge, so schlicht wie der hastig zusammengezimmerte leere Sarg auf dem Zement. Glatt geklopfte Gesichter. Die Augen der Frau sind blutende Wunden. Ehefrau? Schwester? Tochter? Ajany wendet den Blick ab von den anderen Bewohnern des Meeres der Abwesenheit.

Eine lethargische, weißgestreifte Eidechse verharrt kurz zwischen winzigen gelben Blumen, ehe sie über Ajanys blau lackierte Zehennägel huscht, die aus den absurden, dunkelblauen, brasilianischen High Heels lugen. Ein Heulen: Wo bist du? Das Echo der Furcht, die mit donnernden Hufen durch ihre Seele galoppiert. Wiehernder Wahnsinn. Sie presst die langen, lackierten Fingernägel in ihre Handflächen, bis sie brechen. Tastende Dunkelheit hinter ihren Augen. Langsam ausatmen, um die Stille nicht zu zerreißen, doch es ist bereits zu spät. Vergessene Geister kehren zurück, um Anfänge einzufordern. Sie könnte sie malen, doch im Moment kann sie nichts dagegen tun, und wieder einmal nagt ein grässliches Babygeschrei an ihr, das nur sie hören kann. Ajany ruft nach ihm, ihrem Geschichtenerfinder. Odidi. Seine Wasserlieder trösteten sie. Er wusste immer, was zu tun war.

Geräusche der Außenwelt:

Eine Etüde aus quietschenden Reifen.

Vogelzwitschern.

Eine Maschinenpistolen-Ouvertüre.

Ein Schrei.

Liedfragmente aus der Wohnung eines Unbekannten.

Franklin Boukakas schwermütiger Ausruf – Aye Africa … kokata koni pasi, soki na kati koteka pasi – und eine ganze Minute lang übertönt es das Crescendo der Schreie nach Haki yetu: »Unsere Rechte.«

Es hat begonnen.

Ein Schluchzen steigt in Ajanys Herz auf. Ganz in der Nähe eilt ein kurz vor der Pubertät stehendes Mädchen in einem Top, mit roten Turnschuhen und einem Bauchnabelpiercing die Straße entlang und presst eine weiß-blaue Plastiktüte an sich. Eine große Hand legt sich auf Ajanys Schulter. Sie zuckt zusammen.

Ihr Vater krächzt: »Wadhi.« Gehen wir.

Nyipir und Ajany Oganda nähern sich dem Leichenwagen, bleiben kurz davor stehen. Die Adern an Nyipirs Hals pulsieren, Schweißperlen krönen sein Haupt.

In Ajany, ein Gefühl, als wäre ihr Name plötzlich zu etwas Fassbarem geworden; sie greift danach und erhascht einen Blick auf Teile ihres Bruders, wie Schnüre, die aus einer anderen Dimension in dieses Leben geworfen werden. Sie zieht daran, schlingt sie um ihr Handgelenk. »Komm, Odi.« Ein Murmeln.

Nyipir reibt sich die Augen, dann bückt er sich, um einzusteigen.

Ajany tut es ihm gleich.

Sie lassen sich tief in die beigefarbenen Sitze sinken, die von Neuwagenduft durchdrungen sind. Leonard fährt los. Niemand beachtet den pulsierenden Geist neben ihnen, der, wie die anderen auch, aus eingeschlossenem Schweigen besteht.

Ali Dida Hada, der Leichenhallenmitarbeiter und Dr. Mda sehen dem weißen Wagen nach. Sie hören die plötzlichen explosiven Rhythmen eines Landes, das sein eigenes Volk erschießt, sich das eigene Herz herausreißt. Der Leichenhallenmitarbeiter rümpft die Nase. »Aieee! So viel Arbeit … und das kurz vor Neujahr. Und wann sehe ich meine Ma wieder?«

Von der Ostküste wehen gewaltige dunkelblaue Wolken heran, die sich, vom warmen Wind in Nairobi hinterrücks attackiert, zerstreuen – besiegte Guerillakrieger. Am Wilson Airport; ein achtsitziges Flugzeug mit einer Ladung Kath schlängelt sich zur Startbahn. Es ist das letzte kleine Flugzeug, das Nairobi in dieser Woche ohne Genehmigung von höchster Ebene verlassen wird. Die über dem Flughafenlärm kreisenden Reiher und Ibisse schreien nganganganga. Vater, Tochter und Sohn fliegen nach Hause.

Die Abenddämmerung ist Odidis Zeit. Aus den schemenhaften Bildern vergangener Tage fischt Ajany eins heraus: Sie sitzt mit Odidi auf einem grauschwarzen Felsen und späht in die untergehende Sonne. Lehnt sich an seine Schulter, versucht, die Welt zu lesen wie er, stottert: »Wo geht sie hin?« Er antwortet: »In die Hölle«, und lacht hämisch. Sie hatte erst vor Kurzem das Apostolische Glaubensbekenntnis gelernt.

Das Flugzeug hebt ab.

Der Sarg und seine Hüter nisten inmitten von Ballen grüner Kräuter. Streng, mit geradem Rücken und neu geordnetem Schweigen wird Nyipir wieder zur steinernen Statue: ein archetypischer Nilote. Doch in seine Stirn haben sich tiefe Falten eingegraben. Noch etwas, das sie malen kann. Wegweiser der Abwesenheit. Früher hat Ajany gedacht, Baba wäre allmächtig wie Gott, weil er einen schwarzen Leoparden heraufbeschworen hatte, um die bösen, rotäugigen Bewohner ihrer Albträume zu verjagen.

Sie zittert.

»Kalt?«, fragt Nyipir.

Babas Baritonstimme, Odidis Echo. Gut aussehend, mit Grübchen im Kinn. Alle Oganda-Männer hatten weiche, grollende Stimmen.

Ajany dreht sich um. Ihr schmales Gesicht, das nur aus knochigen Ecken und Kanten zu bestehen scheint, reflektiert das Licht des Himmels. Frische Blutflecken auf ihren Ärmeln. Die Rüschen ihres orangefarbenen Rocks sind verdreckt. Sie ist noch winziger, als Nyipir sie in Erinnerung hatte. Aber sie ist schon immer so ein kleines, stotterndes Ding gewesen, mit buschigem Haar und großen Augen. Mehr Schatten als Mensch, den Kopf schräg gelegt, als warte sie auf die Lösung uralter Rätsel. Nyipir räuspert sich. Aus der Finsternis seiner Seele knurrt er: »Mama … äh … sie wollte … ähm … dich begrüßen kommen.«

Ajany hört die Lüge. Schluckt sie wie Gift, zeichnet unsichtbare Kreise an die Scheibe. Starrt hinunter ins Grün der Kaffee- und Ananasplantagen.