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Durian Sukegawa

Kirschblüten
und rote Bohnen

Roman

Aus dem Japanischen
von Ursula Gräfe

1

Tag für Tag stand Sentaro an der gusseisernen Platte in seinem Imbiss und backte Dorayaki – kreisrunde, mit An, süßer roter Bohnenpaste, gefüllte Pfannküchlein.

Das Doraharu, so der Name des kleinen Ladens, lag an der Kirschblütenallee, einer Einkaufsstraße, die durch eine Gasse getrennt parallel zur Hauptstraße verlief. Auffälliger als die Kirschbäume waren jedoch die vielen geschlossenen Läden, obwohl an diesem Tag, vielleicht angelockt vom Frühling, mehr Menschen unterwegs waren als sonst.

Als Sentaro kurz von der Teigschüssel aufblickte, in der er rührte, bemerkte er eine ältere Frau am Straßenrand. Wahrscheinlich bewunderte sie den Kirschbaum vor seinem Imbiss. Er stand in voller Blüte und wirkte wie in schaumige Wolken gehüllt.

Als er das nächste Mal aufschaute, stand die alte Dame mit der braunen Mütze noch immer an der gleichen Stelle. Offenbar galt ihr Interesse nicht den Kirschblüten, sondern Sentaro, der nun unwillkürlich in ihre Richtung grüßte. Mit einem sonderbar schiefen Lächeln kam sie langsam auf ihn zu.

Ihm fiel ein, dass sie vor einigen Tagen schon ein Dorayaki bei ihm gekauft hatte.

»Ich komme wegen der Stelle.« Sie deutete mit einem wie ein Haken gekrümmten Finger auf den Zettel, den er an die Glastür geklebt hatte. »Spielt das Alter wirklich keine Rolle?«

Sentaro hörte auf zu rühren. »Wüssten Sie jemanden? Ihren Enkel vielleicht?«

Die Frau antwortete nicht und kniff stattdessen ein Auge zu.

Der Wind frischte auf und rüttelte an den Bäumen. Blüten segelten durch die offene Glastür bis auf die Backplatte.

»Also …« Die Frau beugte sich vor. »Mich würden Sie wohl nicht nehmen?«

»Wie bitte?«, fragte Sentaro.

Sie tippte sich mit dem Finger auf die Brust.

»Ich würde es gern probieren.«

Sentaro lachte verlegen.

»Wie alt sind Sie denn?«

»Sechsundsiebzig.«

Sentaro suchte nach einer Antwort, die sie nicht kränken würde, und schwenkte seinen Kochlöffel.

»Ich kann nicht viel zahlen. Mehr als sechshundert Yen die Stunde sind nicht drin.«

»Wie bitte?«

Die Frau legte eine Hand ans Ohr.

Sentaro beugte sich vor, wie er es tat, wenn er Kindern oder alten Leuten ein Dorayaki reichte.

»Ich sagte: Wir zahlen nicht viel. Ich könnte schon jemanden brauchen, aber ich glaube, in Ihrem Alter …«

»Ah, das Geld, ja.« Sie zeigte wieder mit ihrem krummen Finger auf den Zettel. »Ich würde für die Hälfte arbeiten. Dreihundert Yen.«

»Dreihundert?«

»Ja.« Die Augen unter der Mütze lächelten.

»Äh … nein, das geht nicht. Tut mir leid. Bitte, haben Sie Verständnis.«

»Ich heiße Tokue Yoshii.«

Offenbar war sie schwerhörig. Sentaro kreuzte die Unterarme vor der Brust, um Ablehnung zu signalisieren. »Tut mir leid, nein.«

»Wirklich nicht?«

Tokue Yoshii ließ Sentaro keinen Moment lang aus ihren unterschiedlich geformten Augen.

»Die Arbeit hier im Imbiss ist ziemlich schwer, deshalb glaube ich nicht …«

Tokue Yoshii öffnete den Mund, um Luft zu holen, und deutete unvermittelt hinter sich.

»Wer hat eigentlich die Kirschbäume gepflanzt?«

»Bitte?«

Sie drehte sich um. »Die Kirschen da«, wiederholte sie.

Sentaro blickte zu dem blühenden Baum hinaus. »Wer die gepflanzt hat?«

»Ja, jemand muss sie doch gepflanzt haben.«

»Keine Ahnung, ich bin nicht von hier.«

Tokue schien noch etwas sagen zu wollen, aber als sie sah, dass Sentaro wieder anfing zu rühren, gab sie auf.

»Ich komme wieder«, verkündete sie, verließ den Laden und stakste in die dem Bahnhof entgegengesetzte Richtung davon. Ihr Gang wirkte unbeholfen, als wären ihre Gelenke steif. Sentaro widmete sich wieder seinem Teig.

2

Das Doraharu hatte keinen Ruhetag. Jeden Vormittag um elf Uhr zog Sentaro den Rollladen hoch. Mit den Vorbereitungen fing er für gewöhnlich etwa zwei Stunden vorher an, was eigentlich viel zu spät war. Normalerweise hätte diese Zeit nicht gereicht. Aber im Doraharu galten besondere Regeln.

Auch heute band sich Sentaro, nachdem er, um wach zu werden, seine morgendliche Dose Kaffee getrunken hatte, seine Arbeitsschürze um und beförderte mittels Tretens und Schiebens einen Karton in die Küche. Diesem entnahm er einen Plastikkanister mit fertigem An – der süßen Bohnenpaste – und rührte es in die Reste vom Vortag.

Das war natürlich nicht verboten, aber kein Dorayaki-Bäcker, der auf sich hielt, hätte sich zu so etwas herabgelassen. Aber An konnte man einfrieren, und wenn man es nicht allzu lange tat, veränderten sich Geschmack und Konsistenz so gut wie gar nicht.

Dieses System hatte bereits der verstorbene Inhaber des Doraharu eingeführt. Und Sentaro verwendete nach wie vor das gleiche in China hergestellte Fabrikat, das ein freundlicher Händler ihm in Kanistern zu jeweils fünf Kilo lieferte.

Der kleine Imbiss konnte sich halten, florierte aber nicht sonderlich. Nie wurde an einem Tag ein ganzer von diesen Kanistern aufgebraucht. Also fror Sentaro den Rest ein und vermischte ihn am nächsten oder sogar noch am übernächsten Tag mit frischer Bohnenpaste.

Anschließend machte er sich an den Teig für die Pfannkuchen. Auch diesen hätte er fertig liefern lassen können, doch das war ihm zu teuer, also nahm er eine Schüssel und rührte die wenigen Zutaten selbst zusammen. Nun erhitzte er die Backplatte, gab den Teig mit einem kreisrunden Metalllöffel, der an einen Gong – »Dora« – erinnerte, auf die Platte und ließ ihn braun werden. Daher hatten die Dorayaki ihren Namen: »Dora« für Gong und »Yaki« für Gebäck. Die fertigen Pfannkuchen legte er in einen beheizten Behälter aus Glas, um sie warm zu halten. Mittlerweile war es Zeit, den Imbiss zu öffnen, und Sentaro zog seufzend den Rollladen hoch. Dabei trug er wie üblich eine stoische Miene zur Schau, um sich seinen Überdruss nicht anmerken zu lassen.

Es war um die Mittagszeit. Sentaro saß in der Küche und verzehrte ein Bento, ein abgepacktes Menü aus dem Supermarkt, als vor der Glastür die braune Mütze auftauchte.

Ach, die Oma wieder, dachte er.

Die alte Frau strahlte ihn an, und Sentaro erhob sich ergeben.

»Frau Yoshii, nicht wahr?«

»Ja, genau«, tönte es aus dem runzligen Gesicht unter der Mütze.

»Was kann ich für Sie tun?«

Tokue holte einen mit blauer Tinte beschriebenen Zettel aus ihrer Handtasche. Die verschnörkelten Zeichen tanzten geradezu über das Papier.

»Hier, mein Name. So schreibt man ihn.«

»Aha.«

Sentaro warf nur einen kurzen Blick darauf. »Tut mir leid, aber ich kann Sie wirklich nicht einstellen«, sagte er und schob den Zettel zurück. Tokue wollte zuerst mit ihren knotigen Fingern danach greifen, zog jedoch die Hand wieder zurück.

»Wie Sie sehen … bin ich ein wenig eingeschränkt. Deshalb können Sie mir ruhig auch weniger zahlen, als wir letztes Mal besprochen haben. Ich wäre auch mit zweihundert Yen zufrieden.«

»Wie – zweihundert Yen?«

»Stundenlohn.«

»Darum geht es nicht. Ich kann Sie nicht einstellen«, wiederholte Sentaro.

Tokue blickte ihn wortlos an. Er machte einen Schritt nach vorn und nahm ein Dorayaki aus dem Glasbehälter. Vielleicht würde sie gehen, wenn er es ihr mitgab.

Allerdings schien Tokue seine Absicht zu durchschauen. »Machen Sie die selbst, junger Mann?«, fragte sie.

»Äh, ja, das ist Betriebsgeheimnis«, entgegnete Sentaro und schluckte nervös. Er merkte, wie sein Adamsapfel sich bewegte, und drehte sich zur Küche, um es zu verbergen.

Dort stand auf der Arbeitsplatte neben seinem Bento der Kanister mit der fertigen Bohnenpaste. Zu allem Überfluss war der Deckel noch offen, und ein Löffel steckte darin. Sentaro schob sich in Tokues Blickfeld.

»Neulich habe ich ein Dorayaki bei Ihnen gegessen«, sagte sie. »Der Teig ging ja einigermaßen. Aber die Füllung …«

»Was war damit?«

»Sie war lieblos gemacht. Gar nicht mit Gefühl.«

»Nicht mit Gefühl? Sonderbar.«

Obwohl Sentaro genau wusste, was los war, zog er ein Gesicht, als fände er dies äußerst bedauerlich.

»Sie war auch irgendwie matschig.«

»Rote Bohnenpaste gut hinzukriegen ist nicht so einfach. Haben Sie schon mal welche gemacht, Frau Yoshii?«

»Ich mache ständig welche. Seit fünfzig Jahren.«

Sentaro fiel fast das Dorayaki aus der Hand, das er gerade einpacken wollte.

»Fünfzig?«

»Ja, seit einem halben Jahrhundert. Für die Bohnen braucht man ein Gefühl, junger Mann.«

»Aha … ja, Gefühl.« Als er Tokue das Tütchen reichte, fühlte er sich kurzzeitig schwindelig, wie von einem Windstoß umhergewirbelt.

»Trotzdem kann ich Sie nicht einstellen.«

»Nein?«

»Es tut mir wirklich leid.«

Wieder sah Tokue ihn mit ihren unterschiedlich geformten Augen durchdringend an. Dann kramte sie ein Portemonnaie aus der Handtasche.

»Geht aufs Haus«, sagte er.

»Aber warum denn?« Tokue nahm ein paar Münzen heraus. Ihre Finger waren wie Krallen, die Daumen in Richtung der Handflächen verdreht. »Hundertvierzig Yen, stimmt doch?«

Wegen ihrer entstellten Hände dauerte es ein bisschen, bis sie die hundert Yen und die vier Zehn-Yen-Münzen auf die Theke gelegt hatte.

»Nur einen Moment noch, junger Mann.«

»Ja?«

»Probieren Sie doch mal davon.«

Sie holte eine in eine Tüte gewickelte Plastikdose aus ihrer Tasche. Sentaro erkannte etwas Dunkles darin.

Er nahm die Dose, und Tokue wandte sich zum Gehen.

»Was ist das? An?«, rief er ihr nach.

Tokue drehte sich noch einmal halb zu ihm um, nickte und war gleich darauf um die nächste Ecke verschwunden.

3

An diesem Abend genehmigte sich Sentaro einen Krug warmen Sake in einem Soba-Lokal am Bahnhof.

Dazu bestellte er sich ein paar Tempura-Häppchen und schlürfte eine Nudelsuppe. Dann trank er weiter und ließ dabei die Ereignisse des Tages an sich vorüberziehen.

Kaum war Tokue außer Sicht gewesen, hatte er ihre Dose in den Müll geworfen. Nicht, dass ihm das leichtgefallen wäre, aber er verspürte nicht die geringste Lust, sich in irgendetwas hineinziehen zu lassen. Doch sooft er den Deckel des Mülleimers anhob, fiel sein Blick auf den kleinen Plastikbehälter, bis er ihn schließlich wieder herausnahm. Er brauchte ja nur ein bisschen davon zu kosten, dann hätte er seiner Pflicht Genüge getan. Aber bereits der erste Bissen ließ Sentaros Augenbrauen in die Höhe schnellen.

Tokues rote Bohnen schmeckten so völlig anders als die zähe, rote Pampe aus dem Kanister. Dieser Duft und dann die dichte, vollmundige Süße, die sich schmelzend in seinem Mund ausbreitete.

»Fünfzig Jahre …«, murmelte Sentaro, als er sich das außergewöhnliche und unerwartete Aroma ins Gedächtnis rief. »Länger, als ich auf der Welt bin.«

Sentaro betrachtete die Speisekarte an der Wand, die der Nudel-Wirt eigenhändig mit Pinsel und Tusche zu schreiben pflegte. Die schön geschwungenen Zeichen ließen Sentaro an seine Mutter denken. An ihren zierlichen, gebeugten Rücken, wenn sie an ihrem niedrigen Tischlein mit geschicktem Pinsel einen Brief schrieb.

Die Bohnenpasten-Oma ist wahrscheinlich ungefähr im gleichen Jahr geboren wie sie, dachte er.

Wie üblich wollte Sentaro die Erinnerung verdrängen. Nach Möglichkeit vermied er es, an seine längst verstorbene Mutter oder an seinen Vater zu denken, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Doch an diesem Abend wollte es ihm einfach nicht gelingen. Immer wieder stieg das Bild vor ihm auf, wie seine Mutter, als er klein war, Schreiben mit ihm geübt hatte.

»Mannomann …«, stöhnte Sentaro, dem der Alkohol bereits beträchtlich zu Kopf gestiegen war. »Es kommt doch immer anders, als man denkt.«

Eigentlich hatte er Schriftsteller werden wollen, war aber auf die schiefe Bahn geraten. Als er endlich aus dem Gefängnis kam, war seine Mutter schon nicht mehr am Leben. Niemals hätte er geglaubt, dass er – wie nun schon seit Jahren – seine Tage hinter einer Dorayaki-Platte stehend verbringen würde.

Sentaro schenkte sich noch eine Schale Sake ein und kippte sie hinunter, als wolle er sich den bitteren Geschmack von der Zunge waschen.

Seine Mutter.

Auch ihre sanften Worte hatten mitunter ihre inneren Ängste nicht verbergen können. Es kam immer wieder vor, dass sie heftig mit dem Vater oder Verwandten aneinandergeriet, schrie und in Tränen ausbrach. Als Kind hatte Sentaro sich vor ihren Gemütsschwankungen gefürchtet. Seine Mutter liebte Süßes, und sicher hatte er sich nur gefühlt, wenn sie ein Stück Kuchen oder einen mit An gefüllten Hefekloß vor sich hatte und guter Laune war. Damals hatte er sich gewünscht, es würde immer eine süße Köstlichkeit auf dem Tisch stehen. Er liebte es, wenn seine Mutter lächelte und sagte: »Mmm, wie das schmeckt, mein kleiner Sen.«

Tokue Yoshiis rote Bohnen waren einzigartig. Was seine Mutter wohl dazu sagen würde, wenn sie noch am Leben wäre? Tja, wenn …

Sie hätte gejubelt, dachte Sentaro.

Ob die alte Frau das mit den zweihundert Yen Stundenlohn ernst gemeint hatte?

Wenn sie damit zufrieden war … Vielleicht sollte er doch auf Frau Yoshiis Hilfe zurückgreifen?

Sentaro überlegte hin und her.

Er hatte den Zettel nicht an die Tür geheftet, weil ihm die Arbeit allein zu viel war, sondern weil die Dorayaki keine Antwort gaben, wenn er sie ansprach. Im Grunde wünschte er sich vor allem Gesellschaft. Und wenn die Oma wirklich mit zweihundert Yen zufrieden war …

In Sentaros benebeltem Hirn klackten die Perlen des Abakus aneinander. Der Stundenlohn, den Tokue Yoshii verlangte, war wirklich kaum der Rede wert. Und dann ihre roten Bohnen! Vielleicht konnte er damit sogar seinen Umsatz steigern und so den monatlichen Betrag erhöhen, mit dem er seine Schulden zurückzahlte. Damit würde der Tag seiner Befreiung in greifbarere Nähe rücken.

Aber … Sentaro stutzte, den Sake auf halbem Weg zum Mund. Tokues deformierte Finger kamen ihm in den Sinn. Womöglich würden ihm bei ihrem Anblick die Kunden davonlaufen.

Gleich darauf kam ihm ein Geistesblitz.

Und wenn er sie nur die Paste für die Füllung machen ließe?

Ja, das war’s. Sentaro nickte. Sie sollte nur die roten Bohnen kochen. Dabei konnte er sich vielleicht auch etwas von ihren Fertigkeiten abgucken. Bei ihrem Alter würde sie früher oder später sowieso schlappmachen.

»Sie darf sich auf keinen Fall vor den Kunden blicken lassen«, murmelte Sentaro selbstvergessen und etwas zu laut. Der Wirt, der mit einem Gast an einem anderen Tisch sprach, drehte sich um und sah ihn fragend an.

»Noch so einen, bitte«, sagte Sentaro und hob seinen Krug.

4

Mehrere Tage vergingen.

Und eines schönen Morgens, als Sentaro von seiner Backplatte aufschaute, stand die alte Dame wieder unter dem Kirschbaum und lächelte unter ihrer Mütze zu ihm herüber.

Ein wenig schwankend, wie es ihre Art war, humpelte sie auf ihn zu. »Guten Tag«, sagte sie. »Mittlerweile sind die meisten Blüten schon abgefallen, nicht?«

»Ja, stimmt.« Sentaro warf einen Blick hinauf zum Baum.

»Die beste Zeit, die Blätter zu betrachten.«

»Die Blätter?«

»Ja, um diese Zeit sind sie am schönsten. Da, schauen Sie mal!«

Sentaro folgte Tokues Finger. Die frischen jungen Blätter bewegten sich im Wind.

»Sie winken uns zu.«

So kann man’s auch sehen, dachte Sentaro. Die flirrenden Blätter wirkten wie ausgestreckte Hände. Er brummte zustimmend und wandte sich Tokue zu.

»Frau Yoshii?«

»Ja?«

»Die roten Bohnen, die Sie mir gegeben haben, waren köstlich.«

»Oh, wie schön, Sie haben sie gegessen.«

»Wenn Sie noch wollen, würde ich Sie einstellen.«

»Wie?« Tokue reckte den Hals.

»Könnten Sie rote Bohnen für mich kochen?«

»Ja, sehr gern. Im Ernst? Geht es jetzt doch?« Tokue starrte Sentaro mit halb offenem Mund an.

»Sie sollen aber nur die Bohnen machen. Um die Kundschaft kümmere ich mich selbst.«

»Ach?«

Es entstand eine Pause. Sentaro winkte sie hinter die Theke und ließ sie Platz nehmen. Tokue nahm ihre Mütze ab, und ihr weißes Haar, durch das die Kopfhaut hindurchschimmerte, kam zum Vorschein.

»Können Sie mit dem Topf hantieren? Er ist ziemlich schwer. Um An zu kochen, braucht man Kraft«, sagte er.

»Den Topf müssen Sie heben, junger Mann.«

»Gut, mache ich.«

Sentaro betrachtete Tokues Hände. Sie hatte sie so übereinandergelegt, dass man nicht sah, wie deformiert sie waren.

»Aber einen Kochlöffel können Sie halten, oder?«

»Ja.«

»Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist denn mit Ihren Händen passiert?«

»Ach das …«

Ihre gefalteten Hände versteiften sich. Sentaro konnte es sehen.

»Ich hatte in meiner Jugend eine schwere Krankheit. Das habe ich davon zurückbehalten. Es tut nichts, aber man sieht es eben, nicht wahr?«

»Deshalb bitte ich Sie auch, nur die Bohnen zu kochen.«

»Aber ich kann wirklich alles machen.«

Tokue warf den Kopf zurück und lachte. Dabei verkrampfte sich ihre rechte Wange. Ihre Haut schien Sentaro so starr und fest, als verberge sich ein Brett darunter. Oder lag es an den unterschiedlich geformten Augen, dass Tokues Gesicht seltsam schief wirkte?

»Und wie heißen Sie, junger Mann?«, fragte Tokue.

»Sentaro Tsuji.«

»Schöner Name. Klingt wie ein Schauspieler.«

»Wirklich?«

Tokue bat ihn, den Namen aufzuschreiben.

»Und wie soll ich Sie nennen? Chef oder Herr Tsuji?«

»Wie Sie wollen.«

»Dann nenne ich Sie Chef. Haben Sie diese Bohnen selbst gekocht, Chef?«

»Äh, also …« Sentaro blieben die Worte fast im Hals stecken. »Ehrlich gesagt, nein, ich kriege es einfach nicht hin. Sie sind mir ständig angebrannt.«

»Aha.« Tokue musterte Topf und Herd mit wissender Miene. Sentaro griff nach dem Teekännchen und schenkte ihr ein, um ihr den Blick zu versperren.

»Und Sie?«, ging er zum Gegenangriff über. »Für wen haben Sie denn fünfzig Jahre lang rote Bohnen gekocht? Für ein Süßwarengeschäft?«

»Nein, also, ich …«

»Für Ihre Familie?«

Im Grunde interessierte Sentaro das nicht – nun ja – die Bohne. Es kümmerte ihn nicht einmal, ob die alte Frau nun Yoshii oder von ihm aus auch Yoshida hieß, solange sie nur diese unschlagbare Bohnenpaste für ihn zubereiten würde. Momentan beherrschte ihn nur ein Gedanke: den Verkauf steigern und seine Schulden zurückzahlen.

Das Letzte, was er wollte, war, über sein bisheriges Leben ausgefragt zu werden. Und auch Tokue schien nicht gerade auskunftswillig.

»Ich habe dies und das gemacht … Die Geschichte würde zu lang«, beendete sie das Thema.

»Ganz Ihrer Meinung.«

»Gehört das Doraharu Ihnen, Chef?«

»Nein, ich bin hier bloß angestellt.«

»Und der Besitzer?«

»Mein Boss, also der, der es eröffnet hat, ist gestorben. Es gehört jetzt seiner Witwe.«

»Dann sind Sie gar nicht der Verantwortliche, oder?«

»So kann man das auch wieder nicht sagen.«

»Sollte ich mich der Witwe nicht vorstellen?«

»Sie ist momentan gesundheitlich nicht so auf der Höhe. Aber normalerweise kommt sie einmal in der Woche vorbei. Irgendwann klappt es bestimmt.«

Ein verschmitztes Lächeln glitt über Tokues Gesicht.

»Und der Boss?«

»Der ist doch tot.«

»Ach, stimmt ja, so war’s.«

Sentaro reichte Tokue Notizblock und Stift.

»Bitte schreiben Sie mir hier Ihren vollen Namen auf und wo ich sie erreichen kann.«

Tokue starrte auf das Papier. »Meine Finger, wissen Sie …«, sagte sie zögernd.

Sentaro hätte ein Auge zugedrückt und die Sache auf sich beruhen lassen, aber Tokue nahm nun doch den Stift und schrieb Strich für Strich sorgfältig alles auf. Die Zeichen hatten eine eigenwillige Form, genau wie die in blauer Tinte, die sie ihm kürzlich gezeigt hatte. Sie brauchte eine ganze Weile.

»Und Ihre Telefonnummer? Haben Sie kein Handy?«

»Nein. Mir genügt die Post.«

»Aber das gibt es doch nicht …«

»Keine Sorge, ich komme nie zu spät. Ich stehe mit den Hühnern auf.«

»Nein, nicht deshalb, aber … Ach, was soll’s.«

Die Adresse am Stadtrand kam Sentaro bekannt vor. Woher, fiel ihm nicht ein. Tokues Zeichen hatten sich durch mehrere Seiten des Notizblocks hindurchgedrückt.

5

Langsam rückte der Sekundenzeiger vorwärts.

Beide Arme auf den Futon gelegt, starrte Sentaro an die dunkle Decke. Er konnte nicht einschlafen, obwohl er vor dem Zubettgehen einen Whisky getrunken hatte.

Er drehte den Kopf und tastete nach dem Wecker am Kopfende, um sich zu vergewissern, dass er eingeschaltet war.

Am nächsten Morgen sollte Tokue Yoshii anfangen und künftig jeden zweiten Tag die Füllung für seine Dorayaki zubereiten. Er durfte sich nicht verspäten und war deshalb viel früher als gewöhnlich zu Bett gegangen.

Was es wohl mit der alten Frau auf sich hatte?

Auch wenn es eine gute Lösung war, sie nur die roten Bohnen kochen zu lassen, war Sentaro unsicher. Mitunter sagte Tokue – vermutlich, weil sie schwerhörig war – so seltsame Sachen. Andererseits hatte er mit ihr als Person ja nichts zu tun. Aber von diesem Licht in ihren Augen, wenn sie lächelte, fühlte er sich manchmal regelrecht durchleuchtet.

Nachdem Sentaro sich ihre Adresse hatte geben lassen, hatte er sie in die Gepflogenheiten im Doraharu eingeweiht und erklärt, dass die Bohnen ausschließlich für Geschäftszwecke zu verwenden seien, stets zwei Stunden vor Öffnung des Ladens bereitzustehen hätten und so fort.

»Warum?«, hatte Tokue sofort mit lauter, forscher Stimme gefragt. »Das An ist doch nicht frisch, wenn es schon so früh fertig ist.«

»Aber ich bestelle es doch. Telefonisch.«

»Was sagen Sie da, Chef? Sie lassen die Füllung fertig liefern?«

»Ja … Deshalb will ich doch, dass Sie kommen, Frau Yoshii.«

»Wenn Sie Kunde wären, Chef, würden Sie sich hier anstellen, um Dorayaki zu essen?«

»Äh, nein … Eher nicht.«

Tokue hatte lebhaft auf Sentaro eingeredet. Unentwegt. Und obwohl angeblich er der »Chef« war, hatte er kaum eine Erwiderung zustande gebracht.

Am Ende hatte er beschlossen, Tokues Anweisungen zu folgen. Sentaro sollte um sechs Uhr morgens mit den Vorbereitungen beginnen. Tokue würde kurz darauf mit dem ersten Bus eintreffen.

Was für ein Aufwand. Sentaro blickte zur Decke und stieß einen langen Seufzer aus. Es war das vierte Jahr, in dem er gezwungen war, im Doraharu zu arbeiten. Aber so früh am Morgen hatte er noch nie angefangen.

Warum hatte er dieses Mütterchen nur eingestellt? Hoffentlich war das keine Fehlentscheidung gewesen.

Entgegen seinem ersten Eindruck war sie keineswegs auf den Mund gefallen. »Das gibt’s doch nicht. Was ist das denn?«, ging es in einem fort. Sie hatte so viel zu bemängeln, dass Sentaro schon, bevor es richtig losging, die Nase voll hatte.

Und noch einen Grund zur Sorge hatte er. Wie sollte er diese Neuerung der Witwe beibringen?

Diese wurde seit dem Tod ihres Gatten immer hinfälliger und war, sooft sie in den Laden kam, um die Bücher zu prüfen und nach dem Rechten zu sehen, miesester Laune. Die Dorayaki waren ihr mittlerweile ein Graus, und sie rührte keins mehr an, weil sie zu viel Zucker enthielten. An allem hatte sie etwas zu meckern. Geradezu besessen war sie jedoch vom hygienischen Zustand des Doraharu. Ständig lag sie Sentaro in den Ohren, dass er nicht genügend putze.

Irgendwann hatte er einen Studenten als Aushilfe eingestellt. Weil er aber die Witwe nicht zurate gezogen hatte, musste er später ihr endloses Gezeter erdulden. Zu allem Überfluss hatte jemand beobachtet, wie er hinter dem Imbiss rauchte. Prompt war ein erboster Anruf der Witwe gefolgt. In schneidend ironischem Ton hatte sie gefragt, was er zu tun beabsichtige, wenn der Gestank in den Laden zöge. »Und wenn Sie eine Aushilfe einstellen, will ich gefälligst dabei sein«, hatte sie geschimpft.

Sich schlaflos im Bett wälzend, beschloss Sentaro, ihr Tokue vorläufig zu verschweigen. Ohnehin war nicht abzusehen, ob diese mit ihren krummen Händen der Arbeit gewachsen wäre.

Er starrte wieder zur Decke, und der Gedanke an die Schulmädchen, die ständig im Doraharu herumhingen, stieg in ihm auf. Sentaro schnalzte ärgerlich mit der Zunge.

Im Pulk drängten sie sich an der Theke, an der eigentlich nur für fünf Leute Platz war, und machten dort sogar ihre Hausaufgaben. Dabei verzehrten sie kaum etwas, hatten aber jede Menge Sonderwünsche.

Kürzlich hatte sich eine beschwert, im Dorayaki-Teig seien Kirschblüten. Die meisten Kunden kauften Gebäck zum Mitnehmen, sodass die Glastür ständig aufging und während der Kirschblüte natürlich Blüten in den Laden geweht wurden. Da konnte es schon mal passieren, dass welche im Teig landeten.

Sentaro hatte sich entschuldigt und dem Mädchen ein neues Dorayaki geschenkt. Leider hatte es diesen Glücksfall nicht für sich behalten, und seine Freundinnen hatten sich einen Spaß daraus gemacht, sich ebenfalls über Kirschblüten in ihren Dorayaki zu beschweren. Eine verbreitete die gute Nachricht auch gleich über ihr Smartphone: »Kommt alle her, hier gibt’s Dorayaki umsonst.«

Wie würden die Mädchen reagieren, wenn sie die Hände der alten Frau sahen? Oder besser gefragt: Wie würde Tokue mit ihren Frechheiten fertig werden? Diese dämlichen Gören, wegen ein paar Kirschblüten im Teig … was war schon dabei?

Vor lauter Grübeln fand Sentaro keinen Schlaf.

Er stieß die dicke Decke von sich und streckte abermals die Hand nach dem Wecker aus.

6

Trotz allem kam Sentaro am nächsten Morgen zu spät. Tokue stand bereits unter dem Kirschbaum und wartete. Als er sich entschuldigte, deutete sie auf einen Ast über ihrem Kopf.

»Da ist eine kleine Kirsche rausgekommen.«

»Geht denn um diese Zeit überhaupt schon ein Bus?«

»Ja, ja, keine Sorge.«