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Empire Falls, eine Kleinstadt in Maine: Seit über zwanzig Jahren arbeitet Miles Roby im örtlichen Diner. Hier versammelt sich die ganze Stadt, vom Fitnessstudiobesitzer bis zum Schuldirektor. Miles selbst hat das College abgebrochen, ist geschieden und lebt in einer winzigen Wohnung über dem Restaurant. Und während er sein Bestes gibt, seiner Tochter dabei zu helfen, die Highschool zu überstehen, seinen trinkfreudigen Vater zu bändigen und dem Job im Diner gerecht zu werden, bleibt nicht viel Raum für das, was er sich vom Leben erhofft hat. Seine Verpflichtungen fesseln ihn an die Stadt, und erst als die äußeren Umstände ihn dazu zwingen, gelingt es ihm, Empire Falls zu verlassen. Er flieht mit seiner Tochter an den gemeinsamen Sehnsuchtsort Martha’s Vineyard. Seit Jahren spielt er mit dem Gedanken, sich hier niederzulassen. In ›Diese gottverdammten Träume‹ erzählt Richard Russo mit viel Wärme und Humor die Geschichte eines Mannes, der nicht der geworden ist, der er sein wollte, und zeigt das Leben in der Kleinstadt mit all seinen Absonderlichkeiten: ein Roman mit viel Gefühl für die Tragik, die im Alltäglichen liegt.
 
Richard Russo, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Der Roman wurde u. a. mit Paul Newman und Philip Seymour Hoffman von HBO verfilmt. Bei DuMont erschien 2010 der Roman ›Diese alte Sehnsucht‹. Russo lebt mit seiner Familie in Boston und an der Küste Maines.
 
Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute als Übersetzerin und freie Lektorin tätig. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Mohsin Hamid, Naomi J. Williams, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi und Theresa Révay.

Richard Russo

Diese gottverdammten Träume

Roman

Aus dem Englischen
von Monika Köpfer

Für Robert Benton

Prolog

Im Vergleich zum Anwesen der Whitings in der Stadt nahm sich das Haus, das Charles Beaumont Whiting ein Jahrzehnt nach seiner Rückkehr nach Maine baute, bescheiden aus. Doch gemessen am ortsüblichen Standard von Empire Falls, wo die gewöhnlichen Einfamilienhäuser in der Regel deutlich unter fünfundsiebzigtausend Dollar kosteten, war es mit seinen fünf Schlafzimmern samt eigenen Bädern und einem separaten Künstleratelier recht luxuriös. C. B. Whiting hatte einige prägende Jahre unten in Mexiko verbracht, und das Haus, das er errichtete, war – allem Anschein zum Trotz – eine im Missionsstil gehaltene Hazienda. Er ließ sogar die Backsteine so anstreichen, dass sie von Farbe und Maserung her wie Lehmziegel aussahen. Nur ein hirnrissiger Idiot konnte sich so ein Haus mitten in Maine hinstellen, meinten die Leute, auch wenn sie es ihm nicht ins Gesicht sagten.

Wie alle Whitings war C. B. ein klein gewachsener Mann, der von dieser Tatsache abzulenken versuchte, und die niedrige spanische Bauweise kam seiner Statur entgegen. Das spärliche Mobiliar erinnerte an jenes von Musterhäusern oder Wohnwagen, wo es darauf ankam, den Eindruck von Geräumigkeit zu erwecken; diese optische Täuschung funktionierte ganz gut, es sei denn, es kamen große Menschen zu Besuch, dann wähnte man sich eher in einem geräumigen Puppenhaus.

Die Hazienda – wie C. B. Whiting sein Haus stets nannte – war auf einem Stück Land errichtet, das schon seit Generationen im Besitz der Familie war. Die ersten Whitings, die im Dexter County siedelten, waren Holzhändler gewesen und hatten nach und nach den Großteil des Landes zu beiden Seiten des Knox River aufgekauft, um ein Auge darauf zu haben, was auf dem Fluss auf seinen letzten gut achtzig Kilometern bis zum südöstlich gelegenen Meer so dahintrieb. Als C. B. Whiting geboren wurde, verfügte Maine bereits über ein Stromnetz, und der unterhalb von Empire Falls bei Fairhaven gestaute Fluss hatte seine einstige Bedeutung größtenteils eingebüßt. Die Holzindustrie war weiter nord- und westwärts gezogen, und die Whitings hatten sich auf verwandte Geschäftszweige verlegt, wie die Textil-, Papier- und Bekleidungsindustrie.

Mochte der Fluss auch nicht mehr wegen seiner Wasserkraft gebraucht werden, so hatte C. B. Whiting noch immer das diffuse Gefühl, er müsse ein Auge auf ihn haben; und so wählte er, als er die Zeit für den Bau eines eigenen Hauses gekommen sah, ein Grundstück direkt oberhalb der Wasserfälle und jenseits der Iron Bridge von Empire Falls, das damals eine florierende Gemeinde war, deren Bewohner, Männer wie Frauen, in den verschiedenen Mühlen und Fabriken des Whiting-Firmenimperiums arbeiteten. Wenn das Grundstück erst einmal gerodet und das Haus errichtet sein würde, würde C. B. im Winter – der in Maine einen Gutteil des Jahres ausmachte – durch die Bäume hindurch auf seine Hemden- und Textilfabriken blicken können. Seine Papiermühle befand sich zwar ein paar Kilometer stromaufwärts, doch die riesigen Rauchschwaden, die der hochaufragende Schornstein in die Luft pustete, waren von seiner hinteren Veranda aus zu sehen.

Indem er auf die andere Flussseite hinüberzog, bekräftigte C. B. Whiting, dass er der Erste in der Dynastie war, der einen Vorteil darin sah, auf Distanz zu jenen Menschen zu gehen, die den Familienreichtum begründet hatten. Der Familienwohnsitz in Empire Falls, ein riesiges Herrenhaus im georgianischen Stil aus dem frühen vorigen Jahrhundert, hatte in jedem seiner Schlafzimmer einen Kamin aus unbehauenen Feldsteinen und verfügte über ein förmliches Esszimmer, an dessen Eichentisch bis zu dreißig Gäste Platz fanden und an dessen Decke ein halbes Dutzend funkelnder Kronleuchter hing, die mit der Eisenbahn aus Boston geliefert worden waren. Das Haus war darauf ausgelegt, den irischen, polnischen und italienischen Immigranten, die von Boston aus nach Norden kamen, und den französischen Kanadiern, die auf der Suche nach Arbeit nach Süden wanderten, Ehrfurcht und ein gewisses Gefühl der Loyalität einzuflößen. Das alte Anwesen der Whitings befand sich genau im Zentrum der Kleinstadt, eine Häuserzeile von der Hemdenmanufaktur und zwei Häuserzeilen von der Textilfabrik entfernt, und war, ob man es nun verstand oder nicht, absichtlich dort errichtet worden, und zwar von Arbeitern der Whitings, die vierzehn Stunden am Tag schufteten: Nachdem sie zum Mittagessen nach Hause gegangen waren, arbeiteten sie in der Fabrik oft bis spät in die Nacht weiter.

Als Junge hatte C. B. gern im Whiting-Herrenhaus gewohnt. Seine Mutter hatte sich hingegen unablässig beklagt, es sei alt, zugig und unvorteilhaft gelegen, wenn man zum Country Club, zum Sommerhaus am See oder zum Highway gelangen wolle, der in südlicher Richtung nach Boston führte, wohin sie gern zum Einkaufen fuhr. Aber für ein Kind war es mit seinem weitläufigen, schattigen Grundstück und den zahlreichen merkwürdig geschnittenen Räumen genau der richtige Ort, um dort aufzuwachsen. Sein Vater, Honus Whiting, liebte ihn ebenfalls, insbesondere, weil er bislang nur von Whitings bewohnt worden war. Honus’ Vater, Elijah Whiting, damals bereits Ende achtzig, lebte mit seiner übellaunigen Frau im rückwärtigen Kutschenhaus. Die Whiting-Männer hatten vieles gemeinsam, einschließlich des Umstands, dass sie ausnahmslos Frauen geheiratet hatten, die ihnen das Leben schwer machten. C. B.’s Vater war es in dieser Hinsicht ein bisschen besser ergangen als seinen Vorvätern, wenngleich er es seiner Frau übel nahm, dass sie eine so geringe Meinung von ihm hatte, ebenso wie vom Whiting-Herrenhaus, von Empire Falls und überhaupt von der ganzen Rückständigkeit Maines, in die sie sich, aus Boston stammend, auf grausame Weise verbannt sah. Das hübsche schmiedeeiserne Tor und der Zaun, die den weiten Weg von New York herbeigeschafft worden waren, um das Grundstück zu begrenzen, betrachtete sie als die Mauern ihres Gefängnisses, und wann immer sie dies bekundete, erinnerte Honus sie daran, dass er die Schlüssel dazu habe und sie, wenn sie es wünsche, jederzeit hinausließe. Wenn sie so verdammt gern nach Boston zurückwolle, bitte schön, er würde sie nicht aufhalten. Er sagte dies wohl wissend, dass sie es nicht tun würde, standen die Whiting-Männer doch unter dem besonderen Fluch, dass ihre Frauen aus lauter Gehässigkeit an ihrer Seite ausharrten.

Doch als ihr Sohn geboren wurde, begann Honus Whiting seine Frau zu verstehen und ihre Meinung insgeheim sogar zu teilen, zumindest was Empire Falls betraf. Je mehr sich die Kleinstadt in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausgebreitet hatte, desto stärker war das Anwesen der Whitings von den Häusern der Fabrikarbeiter umzingelt worden und desto feindseliger schien die Haltung von deren Bewohnern geworden zu sein. Die Whitings hatten seit jeher versucht, ihre Arbeiter im Sommer bei Laune zu halten, indem sie sie zu diversen festlichen Anlässen auf ihrem Anwesen einluden. Doch Honus Whiting hatte das Gefühl, dass sich nicht wenige der Menschen, die diesen Einladungen überhaupt noch folgten, überaus undankbar angesichts der Speisen und Getränke und der Musik zeigten, ja, dass einige das Herrenhaus gar mit finsteren Blicken bedachten, die den Schluss nahelegten, dass es ihnen nicht das Herz brechen würde, sollte es bis auf die Grundmauern abbrennen.

Vielleicht lag es an dieser unausgesprochenen, aber wachsenden Feindseligkeit, dass man C. B. Whiting weggeschickt hatte, zunächst auf eine Privatschule und später dann aufs College. Anschließend verbrachte er fast ein ganzes Jahrzehnt auf Reisen, zunächst mit seiner Mutter in Europa (was deren Geschmack wesentlich mehr entsprach als Maine) und später dann auf eigene Faust in Mexiko (was seinem Geschmack wesentlich mehr entsprach als Europa, wo es ständig etwas zu lernen und zu bestaunen gab). Im Gegensatz zu den europäischen Männern, die ihn zum Großteil überragten, waren die Mexikaner kleiner; und ganz besonders bewunderte C. B. Whiting an ihnen, dass sie Träumer waren, die keinerlei Drang verspürten, ihre Träume in die Tat umzusetzen. Doch eines Tages beschloss sein Vater, der das Weltenbummeln seines Sohnes bezahlte, dass es für seinen Erben an der Zeit sei, nach Hause zu kommen und seinen Teil zur Mehrung des Familienvermögens beizutragen, anstatt es südlich der Landesgrenze zu verprassen. Charles Beaumont Whiting war mittlerweile Ende zwanzig, und sein Vater musste sich allmählich widerstrebend eingestehen, dass das einzige wirkliche Talent seines Sohnes im Geldausgeben lag, wenngleich der junge Mann behauptete, er male und verfasse auch Gedichte. Wie auch immer, es war höchste Zeit, beidem ein Ende zu setzen, fand jedenfalls der alte Mann. Honus Whiting ging stramm auf die sechzig zu, und auch wenn er dankbar dafür war, in der Lage zu sein, den Müßiggang seines Sohnes all die Jahre über zu finanzieren, wurde ihm jetzt klar, dass er die Zügel schon zu lange hatte schleifen lassen und dass er längst damit hätte beginnen müssen, den Jungen in die Leitung der Familienbetriebe einzuführen, die er eines Tages erben würde. Honus hatte seinerzeit in der Hemdenmanufaktur begonnen, war dann in die Textilfabrik gewechselt, um schließlich, als der alte Elijah eines Tages den Verstand verloren hatte und mit einer Schaufel auf seine Frau losgegangen war, die Leitung der Papiermühle ein Stück weiter oben am Fluss zu übernehmen. Honus wollte, dass sein Sohn vorbereitet wäre, wenn er selbst eines unausweichlichen Tages plemplem würde und Charles’ Mutter mit einer Waffe – welche auch immer er gerade zur Hand hätte – angreifen würde. Europa hatte ihre Meinung über ihn, Empire Falls und auch Maine nicht zum Besseren gewandt, obgleich er dies insgeheim gehofft hatte. Aber seine Erfahrung hatte ihn auch gelehrt, dass Menschen nicht glücklicher wurden, wenn sie erfuhren, was ihnen alles entging, und so hatte Europa die ihr angeborene Vergleichssucht, die sie zusehends bitterer werden ließ, nur noch verstärkt.

Charles Beaumont Whiting wiederum, der, als man ihn als Junge weggeschickt hatte, lieber geblieben wäre, hegte nun ebenso wenig den Wunsch, aus Mexiko zurückzukehren, wie seine Mutter den Wunsch gehegt hatte, aus Europa zurückzukehren. Dennoch gehorchte er seufzend, als er nach Hause beordert wurde, so wie er meistens gehorcht hatte. Schließlich hatte er immer gewusst, dass seine Jugendzeit eines Tages zu Ende sein würde, zusammen mit seinen Reisen, dem Malen und dem Schreiben von Gedichten. Es hatte nie außer Frage gestanden, dass die Whiting and Sons Enterprises eines Tages auf ihn übergehen würden, und wenngleich ihm dämmerte, dass seine Rückkehr nach Empire Falls und sein Eintritt in das Familienunternehmen der Unterjochung seiner Künstlernatur gleichkämen, schien kein Weg daran vorbeizuführen. Als er eines Tages spürte, dass die väterliche Order zur Heimkehr unmittelbar bevorstand, versuchte er in Worten auszudrücken, was seines Erachtens seine wahre Natur war und wie falsch es wäre, diese zu missachten. Er wollte diese seine Gedanken mit seinem Vater teilen, doch was er geschrieben hatte, erinnerte an seine Gedichte, klang sogar in seinen eigenen Ohren vage und wenig überzeugend, sodass er den Brief am Ende wegwarf. Zum einen bezweifelte er, dass sein Vater, ein praktisch veranlagter Mensch, jedem Menschen eine wahre Natur zugestand; und falls doch, dachte er wahrscheinlich, dass man sie eben verleugnen oder beugen müsse, ihr zeigen müsse, wer der Boss sei. Seine letzten in Freiheit verlebten Monate in Mexiko verbrachte C. B. vorwiegend am Strand, wo er im Geiste versuchte, den Standpunkt seines Vaters zu widerlegen; wieder und wieder brachte er seine Argumente vor und zog jedes Mal den Kürzeren. Und als schließlich der Aufruf seines Vaters erfolgte, war er zu erschöpft, um dagegen aufzubegehren. Entschlossen, sein Bestes zu geben, aber mit dem Gefühl, sein wahres Selbst und mit ihm alles, worin er ein gewisses Talent hatte, in Mexiko zurückzulassen, trat er die Heimreise an.

Mit der Zeit entdeckte er, dass die Verleugnung seiner wahren Natur bei Weitem nicht so unangenehm war, wie er es sich vorgestellt hatte. In der Tat schienen die Leute es, wenn er sich in Empire Falls so umblickte, tagtäglich zu tun. Und wenn man schon seine Bestimmung verleugnen musste, war es wirklich nicht verkehrt, wenn man zufällig ein männlicher Whiting war. Zu seiner Überraschung entdeckte er auch, dass es durchaus möglich war, gut in etwas zu sein, das einen im Grunde gar nicht interessierte, ebenso wie es möglich gewesen war, schlecht in etwas zu sein, sei es nun Malen oder Gedichteschreiben, das einem sehr am Herzen lag. Zwar übte die Hemdenmanufaktur keinerlei Reiz auf ihn aus, aber er zeigte dennoch ein gewisses Talent darin, sie zu führen, zu verstehen, warum etwas falsch lief, und instinktiv ein Problem zu lösen. Auch mochte er seinen Vater und bewunderte die Energie dieses kleinen Mannes, sein aufbrausendes Temperament, seine Weigerung, vor irgendjemandem zu kuschen, seine Überzeugung, dass er immer recht hatte, seine Fähigkeit, jede seiner Entscheidungen zu rechtfertigen, welche auch immer er letztendlich traf. Dieser Mann war entweder in völliger Harmonie mit seiner wahren Natur oder aber hatte sie vollständig unterworfen. Charles Beaumont Whiting sollte es nie herausfinden, und wahrscheinlich spielte es auch gar keine Rolle – so oder so war es der alte Mann wert, ihm nachzueifern.

Dennoch war sich C. B. Whiting im Klaren darüber, dass sein Vater und Großvater die besten Zeiten von Whiting and Sons Enterprises erlebt hatten. Weder die Hemden- und Textilfabrik noch die Papiermühle weiter oben am Fluss waren noch so profitabel wie einst. In den letzten beiden Jahrzehnten hatte es immer wieder Versuche gegeben, die Belegschaften in sämtlichen Fabriken im Dexter County gewerkschaftlich zu organisieren, und wenngleich sie allesamt gescheitert waren – das hier war Maine und nicht Massachusetts –, musste selbst Honus Whiting einräumen, dass die Bemühungen, sich die Gewerkschaften vom Leib zu halten, mindestens ebenso kostspielig gewesen waren, wie wenn man sie zugelassen hätte. Die Arbeiter, die sich nur widerwillig eine Niederlage eingestanden, erwiesen sich als träge und unproduktiv, wenn sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten.

Natürlich war Honus Whiting davon ausgegangen, dass sein Sohn, sobald er geheiratet hätte und der alte Elijah es für angebracht hielte, das Zeitliche zu segnen, in das Whiting-Herrenhaus einziehen würde, doch ein Jahrzehnt nachdem C. B. Whiting Mexiko den Rücken gekehrt hatte, war noch immer keines dieser Ereignisse eingetreten. C. B. Whiting, in den warmen, sonnigen Tagen seiner Jugend den Frauen durchaus zugeneigt, schien im frostigen Maine seinen Sexualtrieb verloren und sich mittlerweile mit seinem unfreiwilligen Junggesellentum abgefunden zu haben, wenngleich er sich bisweilen ausmalte, wie sein besseres Selbst in Yucatán nach wie vor seine fleischliche Lust auslebte.

Vielleicht hatte er auch ganz einfach Angst vor der Ehe, davor, eine Frau zu heiraten, die er eines Tages am liebsten ermorden würde.

Elijah Whiting, der mittlerweile auf die hundert zuging, war es weder gelungen, seine Frau mit der Schaufel umzubringen, noch, die daraus resultierende Enttäuschung zu überwinden. Die beiden wohnten noch immer in der Remise, wo sich der alte Elijah an sein Elend klammerte und seine verbitterte Frau sich an ihn. Er schien, wie der Arzt des alten Mannes bemerkte, von innen heraus zu sterben, was vor allem an seinen Blähungen von beinah biblischem Ausmaß festzumachen war. Seit unzähligen Jahren verpesteten seine Winde mittlerweile die Luft, doch alle Tests zeigten, dass das Herz des alten Fossils nach wie vor stark war, und Honus war sich dessen bewusst, dass noch ein paar Jahre ins Land gehen konnten, bis er seinem Sohn Platz machen und selbst in die Remise ziehen könnte. Und sogar wenn der alte Mann morgen sterben würde, überlegte er, würde es mindestens ein Jahr dauern, bis die Räume hinlänglich gelüftet wären. Darüber hinaus hatte Honus’ Gattin klargemacht, dass sie niemals in dieses Kutschenhaus ziehen würde, und der Gedanke, in Maine zu sterben, deprimierte sie in letzter Zeit so sehr, dass er sich gezwungen gesehen hatte, ihr ein kleines Stadthaus im Bostoner Viertel Back Bay zu kaufen, wo sie, wie sie behauptete, aufgewachsen sei, was allerdings nicht stimmte. In Wahrheit hatte Honus sie in South Boston aufgelesen, wo er sie besser gelassen hätte, wäre er bei Verstand gewesen. Wie auch immer, als Charles ihm eines Tages eröffnete, er wolle sich ein eigenes Haus bauen, und zwar jenseits des Flusses, verstand er ihn auf Anhieb und gab ihm sogar seinen Segen. Doch als sich das Haus später als Hazienda entpuppte, fürchtete er, sein Sohn würde womöglich wieder mit dem Gedichteschreiben beginnen.

Diese Sorge war indes unbegründet. Vor nicht allzu langer Zeit hatte jemand auf der Straße C. B. Whiting für seinen Vater gehalten, und als er sich am Abend im Spiegel betrachtete, sah er, warum. Sein Haar wurde allmählich silbrig, und in seinen Augen bemerkte er eine terrierartige Verbissenheit, die ihm völlig neu war. Von dem jungen Mann, der in Mexiko hatte leben und sterben und träumen und malen und Gedichte schreiben wollen, war kaum mehr etwas zu erahnen. Und als sein Vater ihm im vergangenen Frühling vorgeschlagen hatte, ihm neben der Leitung der Hemdenfabrik auch die der Textilfabrik zu übertragen, hatte er sich im Hinblick auf die Unausweichlichkeit seines restlichen Lebens nicht etwa in die Enge getrieben gefühlt, sondern fast eine Art Glücksgefühl verspürt, weil er nun endlich sein Geburtsrecht einlösen konnte. Die Leute hatten begonnen, ihn C. B. zu nennen statt Charles, und er fand, es hörte sich gut an.

Als die Planierraupen den Bauplatz einzuebnen begannen, machte man eine verstörende Entdeckung. Eine erstaunliche Menge an Müll – ganze Berge von Unrat – kam zutage, ein Teil davon verfangen zwischen Baumwurzeln und Zweigen am Flussufer, der Rest über den gesamten Hang verstreut. Allein schon die schiere Menge war bemerkenswert, und zuerst nahm C. B. Whiting an, dass jemand oder besser gesagt sehr viele Jemands die Unverschämtheit besessen hatten, seinen Grund und Boden als illegale Müllhalde zu missbrauchen. Wie viele Jahre dauerte diese abscheuliche Barbarei wohl schon an? Er wurde so wütend, dass er gute Lust gehabt hätte, wahllos jemanden zu erschießen, doch dann sagte einer der Arbeiter, wenn jemand oder viele Jemands das Land der Whitings als Müllkippe benutzt hätten, hätten diese eine Zugangsstraße benötigt, aber die existiere erst, seit C. B. Whiting vor einem Monat eine hatte anlegen lassen. Auch wenn es unwahrscheinlich schien, dass so viel Müll – kaputte Reifenschläuche, Radkappen, Milchkartons, verrostete Konservendosen, Teile von zerbrochenen Möbeln und dergleichen mehr – aufgrund der Strömungen und Strudel an ein und derselben Stelle angeschwemmt worden war, sprachen die Tatsachen doch dafür. Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als den Müll wegzukarren, und das geschah noch in jenem Mai, als auch das Fundament des Hauses gegossen wurde.

Frühlingsregenfälle, der steigende Flusspegel und eine rekordverdächtige Invasion von Kriebelmücken verzögerten den Bau, doch Ende Juni konnte C. B. Whiting, der von seinem Büro im obersten Stockwerk der Hemdenmanufaktur aus den Fortgang der Arbeiten überwachte, den niedrigen, lang gestreckten Rohbau der Hazienda erkennen. Als am vierten Juli ein trockenes, heißes Wetter einsetzte, das den letzten Mücken den Garaus machte, rümpften die Zimmerleute, die mit ihren nackten, sonnenverbrannten Oberkörpern auf den Dachbalken der Hazienda balancierten, die Nase und warfen einander verwunderte Blicke zu. Was zum Teufel war das für ein Gestank?

C. B. Whiting selbst war es, der schließlich den aufgedunsenen Kadaver eines ausgewachsenen Elchs entdeckte, verfangen im seichten Ufer zwischen den Wurzeln einer Baumgruppe, die die Planierraupen verschont hatten, damit sie Schatten und Schutz vor neugierigen Blicken vom gegenüberliegenden Ufer, der Empire-Falls-Seite des Flusses, spenden konnte. Doch noch erstaunlicher als der Kadaver war ein weiterer Haufen Müll, der, wenngleich kleiner als sein inzwischen weggeschaffter Vorgänger, genau an der Stelle des Grundstücks angeschwemmt worden war, wo eine kleine, in den Fluss ragende Landzunge auf ihrer Leeseite einen seichten moskito- und nun auch von dem Elchkadaver verseuchten Teich bildete.

Beim Anblick und Gestank dieses durchnässten, verfaulenden Unrats beschlich C. B. Whiting der leise Verdacht, dass er einen Feind hatte, und während er am Flussufer kniete, ging er im Geiste all die Männer durch, die sein Vater und sein Großvater im Zuge ihrer Geschäftstätigkeiten in den Ruin getrieben hatten. Die Liste der Kandidaten war keineswegs kurz, doch vorausgesetzt, er hatte niemanden vergessen, schien keiner von ihnen für eine solche Tat infrage zu kommen. Die meisten waren kleine, minderbemittelte Männer, die ihn vielleicht erschießen würden, wenn sich ihnen die Gelegenheit böte – wenn er, zum Beispiel, in ihre Stammkneipe hineinspazieren würde und sie sich ordentlich einen hinter die Binde gegossen und zufällig eine Schusswaffe zur Hand hätten. Wie auch immer, jemand war offenbar der Ansicht, dass der ganze Müll, der im Dexter County anfiel, vor C. B. Whitings Haustür abgeladen gehöre, und musste von seiner Sache dermaßen überzeugt sein, dass er es auf sich nahm, den ganzen Unrat einzusammeln (keine angenehme Aufgabe) und ihn hierher zu transportieren.

Und der Elchkadaver, war das ein Zufall? C. B. wusste nicht, was er davon halten sollte. Das Tier hatte eine Schusswunde am Hals, was unterschiedliche Rückschlüsse zuließ. Vielleicht hatte derjenige, der den Müll hier abgeladen hatte, auch den Elch erschossen und ihn absichtlich hier liegen lassen. Denkbar war jedoch auch, dass der Elch anderswo von einem Wilderer erlegt worden war; ihm fiel ein, dass eine ganze Sippe von Wilderern, die Mintys, in Empire Falls wohnte. Vielleicht hatte das angeschossene Tier versucht, den Fluss zu überqueren, war erschöpft in den Fluten ertrunken und dann unterhalb der Hazienda ans Ufer gespült worden.

Den Rest des Nachmittags brachte C. B. Whiting, auf einem Bein kniend, das andere angewinkelt, nur wenige Meter von dem aufgedunsenen Elch am Ufer zu und versuchte anhand des angeschwemmten Mülls herauszufinden, wer sein Feind war. Kaum hatte er diese Position eingenommen, kam ein Pappbecher angeschwommen und ließ sich häuslich zwischen den Hinterläufen des Elchs nieder. Die nächste Stunde brachte eine Supermarkttüte, eine leere, auf dem Wasser dümpelnde Cola-Flasche, eine verrostete Öldose, das heillose Gewirr einer Angelschnur und, wenn er sich nicht irrte, eine menschliche Plazenta. Alles verhedderte sich an dem stinkenden Elchkadaver. Von der Stelle, wo C. B. Whiting am Boden kniete, konnte er gerade noch einen kleinen Abschnitt der Iron Bridge erkennen, und in der folgenden halben Stunde beobachtete er, wie ein halbes Dutzend Leute beim Überqueren der Brücke, ob aus dem Wagen oder zu Fuß, Sachen in den Fluss warf. Im Geiste zählte er die Brücken, die den Knox weiter oben überspannten (acht), und überschlug die Zahl der Mühlen und Fabriken und zahlreichen kleineren Betriebe, die sich zu beiden Seiten des Flusses angesiedelt hatten (Dutzende). Er wusste aus eigener Erfahrung, wie groß die Versuchung war, nach Sonnenuntergang Abwasser in den Fluss zu leiten. Generationen von Whitings hatten Färbemittel und andere Chemikalien in den Fluss gespült, die das Ufer bis nach Fairhaven hinunter verfärbt hatten, eine Gemeinde, die sich gar nicht beschweren durfte, hatte die örtliche Textilfabrik doch jahrzehntelang ebenso wenig Rücksicht gegenüber ihren Nachbarn weiter unten am Fluss geübt. Beschwerden führten, wie C. B. wusste, unweigerlich zu Anschuldigungen und Anschuldigungen zu öffentlicher Aufmerksamkeit und diese zu Nachforschungen und Nachforschungen zu juristischen Auseinandersetzungen und diese zu Ausgaben und Ausgaben irgendwann ins Armenhaus.

Dennoch konnte er diese besondere Art der Müllentsorgung nicht hinnehmen. Vernünftig, wie er war, gelangte Charles Beaumont Whiting letztendlich zu einem vernünftigen Schluss. Nachdem er zwei Stunden kniend am Flussufer zugebracht hatte, folgerte er, dass er tatsächlich einen Feind hatte, und dieser Feind war niemand Geringeres als Gott höchstpersönlich, der den verdammten Fluss so entworfen hatte – schmal und schnell fließend weiter oben und sich weitend und verlangsamend in Empire Falls –, dass der ganze Dreck der Leute zu Charles Beaumont Whitings Dreck wurde. Schlimmer noch, er begriff, warum Gott diesen Plan ersonnen hatte. Er hatte es vorausschauend getan, um ihn zu gegebener Zeit dafür zu bestrafen, dass er sein wahres Selbst vor all den Jahren in Mexiko zurückgelassen hatte und infolgedessen zu jemandem geworden war, den man leicht mit seinem Vater verwechseln konnte.

Diese Gedanken waren durchaus nicht angenehm. Vielleicht, sinnierte C. B., war es unmöglich, in unmittelbarer Nähe zu einem verwesenden Elch angenehme Gedanken zu hegen. Dennoch verharrte er weiterhin dort kniend; er hatte das Gefühl, das Blubbern des Flusses sei eine für ihn codierte Botschaft und er stehe kurz davor, sie zu entschlüsseln. Tatsächlich wurde er nicht zum ersten Mal von derlei unangenehmen Gedanken heimgesucht. Seit er sich zu dem Bau eines neuen Hauses entschlossen hatte, wurde er von Träumen gepeinigt, die ihn mehrmals in der Nacht hochschrecken ließen, und manchmal ertappte er sich dabei, wie er im Dunkeln am Fenster seines Schlafzimmers stand und auf den Hof des Whiting-Herrenhauses hinausblickte, ohne sich erinnern zu können, dass er aufgewacht war und das Bett verlassen hatte. Dann konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Traum – an den er keine konkrete Erinnerung hatte – ihn noch immer gefangen hielt, wenngleich ihm die Einzelheiten entglitten waren. Hatte er vielleicht eine eindringliche Unterhaltung mit jemandem geführt? Aber mit wem?

Tagsüber, wenn die mit der Leitung zweier Betriebe verbundenen Pflichten eigentlich seine volle Konzentration erforderten, studierte er oft und geistesabwesend die Grundrisse und Ansichtspläne seiner Hazienda, als könnte er ein paar wesentliche Einzelheiten übersehen haben. Im vergangenen Monat hatte dies einen erheblichen Teil seiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, sodass er seinen Vater gebeten hatte, seine Geschäfte in der Papiermühle für einen Tag in der Woche ruhen zu lassen und ihn bei der Leitung der Fabriken zu unterstützen, so lange, bis der Hausbau abgeschlossen wäre. Jetzt, unten am Flussufer, begann er, vielleicht aufgrund der verstörenden Nähe des verwesenden Elchs, daran zu zweifeln, dass der Bau eines neuen Hauses eine gute Idee gewesen war. Gewiss rief die Hazienda mit dem angrenzenden Atelier sein früheres Selbst wieder auf den Plan, jenen Charles Beaumont Whiting – Beau, wie seine Freunde ihn seinerzeit genannt hatten –, den er in Mexiko zurückgelassen hatte. Und nun fiel es ihm auch wie Schuppen von den Augen, dass er genau mit diesem Beau in seinen Träumen gesprochen hatte. Mehr noch, er baute diese Hazienda für sein jüngeres, von ihm verratenes Selbst. Die ganze Zeit über hatte er sich eingeredet, das Atelier sei für seinen Sohn, falls er eines Tages das Glück haben sollte, einen zu bekommen. Wenigstens diesen Akt der Rebellion gestattete er sich: Das Atelier wäre ein Geschenk an den Jungen, verbunden mit dem unausgesprochenen Versprechen, dass sein Sohn niemals gezwungen sein würde, aus Familienloyalität seine Bestimmung zu verleugnen. Aber natürlich war das ein Vorwand, wie ihm jetzt klar wurde. Er wollte das Atelier für sich selbst, oder besser gesagt, für jenen Charles Beaumont Whiting, den er eigentlich tot geglaubt hatte oder nach wie vor unten in Mexiko, wo er sich der Poesie und der Unzucht hingab. Während er hier, in Empire Falls, Maine, sein Leben in aufgezwungener Pflichterfüllung und Keuschheit fristete. Dieser verblüffenden Erkenntnis folgte eine weitere auf dem Fuß. Den ganzen Nachmittag über, während er dort am Ufer kniete, hatte der Fluss ihm seine Botschaft zugewispert, und sie bestand in einem einzigen Wort, einer Einladung: »Komm«, blubberte das Wasser nun klar und deutlich. »Komm … komm … komm …«

An jenem Abend nahm C. B. Whiting seinen Vater und den alten Elijah mit hinaus auf die Baustelle. Bislang hatte er ein ziemliches Geheimnis um das Haus gemacht und selbst nicht so recht gewusst, warum. Jetzt verstand er es. Er und Honus setzten seinen Großvater, der die Remise seit einem Monat nicht mehr verlassen hatte, auf einen Baumstumpf, wo er auf der Stelle in einen tiefen, erholsamen, mit Blähungen einhergehenden Schlaf fiel, dann führte C. B. seinen Vater durch den hölzernen Rohbau mit seinen zahlreichen Rundbögen und über das umliegende Grundstück. Ja, räumte er ein, er habe sich nun mal eine verflixte mexikanische Hazienda in den Kopf gesetzt. Der separate kleinere Gebäudeteil sei als Gästehaus gedacht, und das stimmte tatsächlich, wenngleich er es erst an diesem Nachmittag beschlossen hatte. Die Lockung des Flusses hatte ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nach der Hausführung ging C. B. Whiting mit seinem Vater zum Flussufer hinunter und zeigte ihm den seit dem Morgen bereits wieder angewachsenen Müllberg und den inzwischen noch stärker verwesten Elch. Von der Stelle, wo er stand, konnte C. B. den Elch und den alten Elijah sehen, der immer noch schlief, aber dessen eine Pobacke sich hin und wieder von der schieren Kraft seiner Winde anhob, und auch wenn C. B. rein vernunftmäßig weder für das eine noch für das andere verantwortlich sein konnte, spürte er doch etwas in seiner Kehle aufsteigen, das wie Selbstekel schmeckte. Wie dem auch sei, sagte er sich, ein gelegentlicher Anflug von Selbstvorwürfen war immer noch besser, als das Lebenswerk seines Vaters und Großvaters wegzuwerfen, und eine Anwandlung zärtlicher Zuneigung gegenüber beiden Männern überkam ihn, insbesondere gegenüber seinem Vater, den er immer schon geliebt hatte, und er vertraute darauf, dass dessen solide, praktische, selbstsichere Präsenz ihn von seiner Trübsal erlösen würde.

»So, so, du meinst also, es ist Gott«, sagte Honus, nachdem C. B. ihm seine Theorie bezüglich seines mutmaßlichen Feindes dargelegt hatte. Eine Weile sahen sie gemeinsam zu, wie allerlei Unrat in der Strömung heranschwappte und sich dann im Elch verfing. Der ältere Whiting war ein religiöser Mann, er sah Gott als nützlich an, wenn es um Probleme ging, für die es anderweitig keine Lösungen gab. »Dann solltest du dir auch überlegen, was du seinetwegen unternehmen willst.«

Honus schlug seinem Sohn vor, er solle ein paar Geologen und Ingenieure anheuern, um sich des Problems anzunehmen, und sich Lösungsvorschläge unterbreiten lassen. Dies entpuppte sich als ein äußerst nützlicher Rat, und die Ingenieure, die vorgewarnt worden waren, mit wem sie es womöglich zu tun bekämen, gingen mit höchster Sorgfalt ans Werk. Nicht nur, dass sie mehrmals eine Vor-Ort-Inspektion vornahmen, sie studierten auch die geologischen Karten der gesamten Region und flogen den gesamten Flusslauf entlang, von der kanadischen Grenze bis zu dessen Mündung im Golf von Maine. Es gab solche und solche Flüsse, und wie sich herausstellte, war der Knox von der Sorte, bei der Gott sich nicht allzu sehr ins Zeug gelegt hatte: Er war weit und träge dort, wo er schmal und geschwind hätte sein sollen, und die Ingenieure pflichteten dem Mann bei, der ihnen den Auftrag zu der Studie erteilt hatte, ein großer Planungsfehler Gottes sei verantwortlich dafür, dass jeder Pappbecher, der zwischen der kanadischen Grenze und Empire Falls in den Fluss geschmissen werde, mit großer Wahrscheinlichkeit auf C. B.s zukünftigem Rasen angeschwemmt werden würde. Das sei die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht sei, dass es nicht so bleiben müsse. Seit fast zwei Jahrhunderten nähmen sich Männer mit Visionen der Fehler und Schwächen von Gottes Bauplänen an, und es gebe keinen Grund, warum man diesen speziellen nicht ebenfalls beheben sollte. Wenn das Bauwesen-Hauptkommando der US-Army es fertigbringe, den verdammten Mississippi dorthin fließen zu lassen, wo man ihn haben wolle, dann könne man wohl auch den Lauf eines läppischen Flusses, wie der Knox einer war, nach Belieben ändern. In Nullkommanichts waren sie mit einem Plan bei der Hand. Ein paar Meilen nördlich und östlich von Empire Falls machte der Fluss aus unerfindlichen Gründen eine scharfe Wendung, ehe er über mehrere träge, gewundene Meilen hinweg in die Richtung zurückmäanderte, aus der er gekommen war, während er einen Großteil seines Volumens in das sumpfige Tiefland nördlich und westlich des Städtchens ergoss, wo in jedem Frühling Legionen von Kriebelmücken brüteten und im Sommer eine ebenso große Anzahl an Moskitos. Erst aus der Luft betrachtet, würde einem die Absurdität des Ganzen klar. Eigentlich strebe Wasser auf dem kürzestmöglichen Weg abwärts, erklärten die Ingenieure. Schlingen bildeten sich nur dort, wo etwas diesem Plan entgegenstehe. Was den Knox daran hindere, sich einen geradlinigen Weg zu suchen, sei ein schmaler Landstreifen – oder besser gesagt ein Felsstreifen –, den die Einheimischen Robideaux Blight nannten, eine hügelige Landzunge aus Felsgeröll, ein Stück Land, das man durchaus pittoresk hätte nennen können – hätte man an seinem Steilufer ein Sommerhaus erbaut, statt es als Farmland zu nutzen, wie dessen Besitzer es seit Generationen stur taten. Doch am Ende bekämen Flüsse bekanntlich ihren Willen und so würde sich der Knox – vielleicht in ein paar Tausend Jahren – einen direkten Weg quer durch die Flussschlinge gekerbt haben.

C. B. Whiting, der nicht so lange warten wollte, fühlte sich ermutigt durch die Ingenieure, die ihm versicherten, dass, wenn es gelinge, das nötige Geld aufzutreiben, um einen Kanal in die Schmalstelle des Robideaux Blight zu sprengen, der Fluss noch in diesem Jahr geradlinig fließen könnte, sodass seine Geschwindigkeit weiter unten an der Whiting’schen Flussbiegung hoch genug wäre, um den Großteil des Unrats (einschließlich des Elchs) weiter flussabwärts abzuladen, und zwar am Damm in Fairhaven, wo er auch hingehöre. In eilig anberaumten Beratungen hinter verschlossenen Türen brachten die von C. B. Whiting angeheuerten Experten ihr Anliegen vor den Vertretern der bundesstaatlichen Behörden vor; sie argumentierten, dass der Knox ein weitaus besserer Fluss sein würde – flinker, hübscher, sauberer –, und zwar für alle Gemeinden entlang seiner Ufer. Mehr noch, wenn weitaus geringere Mengen seines Wassers in die Sumpfgebiete sickerten, würde der Bundesstaat ebenfalls profitieren durch den Zugewinn von Tausenden Morgen Land, das für bessere Zwecke genutzt werden könne, als um Mücken zu züchten. Da es noch etliche Jahrzehnte dauern sollte, bis im Bundesstaat Maine irgendwelche Umweltorganisationen auf den Plan traten, gab es keine nennenswerte Opposition gegen das Vorhaben, wenngleich die Experten einräumten – jetzt mit vertraulich gesenkten Stimmen –, dass ein muntererer Fluss hin und wieder allzu munter werden könne. Der Knox neigte, wie die meisten Flüsse in Maine, bereits jetzt zu Überschwemmungen, besonders im Frühling, wenn warme Regengüsse die Schneedecke im Norden zu schnell schmelzen ließen.

C. B. Whiting sah sich indessen noch einem faktischeren Hindernis gegenüber: Als frühere Generationen von Whitings das gesamte Land zu beiden Seiten des Flusses gekauft hatten, mussten sie irgendwie den Robideaux Blight übersehen haben. Diese Parzelle gehörte einer Familie namens Robideaux, deren Eigentumsrechte ins vorige Jahrhundert zurückreichten. Aber auch in dieser Hinsicht war C. B. Whiting das Schicksal wohlgesinnt, denn die Robideauxs entpuppten sich als geldgierig und ignorant – unter den gegebenen Umständen die ideale Kombination. Weltgewandtere Menschen hätten den wahren Wert ihres Besitzes wohl besser einschätzen können, wenn die Anwälte eines reichen Mannes auf sie zugekommen wären, nicht jedoch die Robideauxs. Ihre größte Angst schien zu sein, dass C. B. Whiting das Land womöglich zuvor persönlich inspizieren wolle, um dann festzustellen, wie wertlos es in landwirtschaftlicher Hinsicht war – die einzige Verwendungsart, die sie sich vorstellen konnten –, und von dem Geschäft Abstand nehmen würde.

Da C. B. nicht diese Absicht hegte, erwarb er ihr Ackerland zu einem in ihren Augen außerordentlich hohen Preis, und sie glaubten noch Jahre danach, einen der reichsten und mächtigsten Männer von ganz Maine über den Tisch gezogen zu haben, der durch den Kauf des Robideaux Blight bewiesen habe, was sie schon immer gewusst hätten – dass reiche Leute nicht so verdammt clever seien, wie man meine. C. B. Whiting, der, nachdem er seine Phase der Schwermut überwunden hatte, wieder er selbst war, kam zu einem nicht minder irrigen Schluss: dass er nicht nur die Robideauxs übertrumpft habe, sondern auch Gott, dessen Fluss er nun optimieren würde.

Die Sprengungen des Robideaux Blight ungefähr elf Kilometer flussaufwärts waren bis nach Empire Falls zu hören, und an dem Augusttag, an dem die Arbeiten abgeschlossen waren, kniete C. B. Whiting abermals am Flussufer vor seinem kürzlich fertiggestellten Haus und beobachtete stolz, wie die nunmehr vor Kraft strotzende Strömung die verbliebenen Elchreste mit sich führte, zusammen mit dem längst wieder angewachsenen Berg von Milchkartons, Plastikflaschen und verrosteten Suppenkonservendosen, lauter Unrat, der nun fröhlich südwärts wippte, in Richtung des ahnungslosen Fairhaven. Das Wispern des Flusses klang nun nicht mehr nach dumpfer Verzweiflung wie noch im Sommer. Mit neuer Energie erfüllt, gluckste er schier vor Vergnügen angesichts der gelungenen Unternehmung. Zufrieden mit dem Ausgang, zündete sich C. B. Whiting eine Zigarre an, sog tief die süße Sommerluft ein und betrachtete wohlgefällig die schlanke Frau an seiner Seite, deren Name – keineswegs zufällig – Francine Robideaux war.

Francine war eine junge, intelligente Frau und hatte erst kürzlich ihren Abschluss am Colby College gemacht. Sie war zehn Jahre jünger als C. B. Whiting und hatte ihn bis zu dem Tag, an dem ihre Familie mit ihrem zukünftigen Gatten den Verkaufsvertrag über den Robideaux Blight unterzeichnet hatte, noch nie gesehen, wohl aber schon von ihm gehört. C. B. hatte selbst am Colby studiert, genau wie sein Vater und Großvater vor ihm, während Francine die erste Robideaux war, die über die Highschool hinausgekommen war. Als sie, dank eines Stipendiums, erfolgreich vom Colby abging, deutete nichts an ihr mehr darauf hin, dass sie eine Robideaux war, weder ihr Auftreten noch ihre Ausdrucksweise noch ihre Aussprache, und das verwirrte ihre Angehörigen und machte sie wütend, und sie hätten ihr niemals erlaubt, das College zu besuchen, hätten sie gewusst, wie sehr sie nach ihrer Rückkehr auf sie herabblicken würde. Als armes Mädchen unter lauter Reichen hatte Francine Robideaux diese aufmerksam beobachtet und sich ihre Tischmanieren, ihren Modegeschmack, ihre eigentümliche Sprechweise und ihre penible Körperhygiene abgeschaut. Und das Flirten hatte sie ebenfalls am Colby gelernt.

Im sanften Licht des von Büchern gesäumten Büros seiner Anwälte dachte C. B. Whiting, der seit seiner Rückkehr nach Maine keine Frau mehr ernsthaft in Betracht gezogen hatte, dass ihm Francine Robideauxs äußere Erscheinung gefiel. Auch schätzte er an ihr, dass sie eine Colby-Absolventin war, und registrierte voller Bewunderung, dass sie die Prellerei ihrer Eltern durch ihn offenbar durchschaute, ohne sich bemüßigt zu fühlen, einzuschreiten. Mit jedem weiteren Mal, da er sie verstohlen ansah, mit jedem weiteren Mal, da sie das Wort ergriff, war er beeindruckter von ihr, verstand es dieses Mädchen doch, ihm unzweifelhaft zu bedeuten, dass sie ihn ebenfalls aufmerksam beobachtete, wenngleich ihr übriges Verhalten darauf schließen ließ, dass er für sie gar nicht im Raum sei. Vielleicht war er für sie anwesend, vielleicht auch nicht, er vermochte es nicht zu sagen. Um diese Frage, ob er anwesend war oder nicht, zu klären, beschloss er, sie zu heiraten, vorausgesetzt sie wollte ihn.

Nun, wie sich herausstellte, wollte sie. Sie heirateten im September, und von diesem Tag an sollte C. B. Whiting sich fragen, was ihn an Francine Robideauxs Erscheinung im sanften Licht des Anwaltsbüros so gereizt hatte. Im natürlichen Licht sah sie eher verkniffen aus, und wie es oft bei Frauen französisch-kanadischer Herkunft zu beobachten war, hatte sie ein fliehendes Kinn, als hätte jemand sie tatsächlich dort gekniffen. Auch sollte er feststellen, dass die Heirat mit Francine Robideaux keineswegs seine Frage beantwortete, ob er für sie im Raum war oder nicht. Als C. B. Whiting an jenem späten Augustnachmittag zur Feier des Tages eine Zigarre anzündete, musterte er seine zukünftige Gattin eindringlich. Die Whiting-Männer mit ihrem ausgeprägten Geschäftssinn schienen sich ausnahmslos wie die Motten vom Licht zu der jeweils einzigen Frau auf der Welt hingezogen zu fühlen, die es als ihre Lebensaufgabe betrachtete, ihnen das Leben zur Hölle zu machen, eine Frau, die mit der gleichen grimmigen Inbrunst an sie gebunden bliebe wie eine Nonne an den leidenden Christus. Sich dieser Familiengeschichte absolut bewusst, war C. B. bislang verständlicherweise auf der Hut vor einer Ehe gewesen. Wenn sein Vater ihn von Zeit zu Zeit daran erinnert hatte, dass er einen Erben brauche, hatte C. B. ihn und seinen Großvater angesehen und war sich diesbezüglich keineswegs sicher gewesen. Warum sollte er diesem Teufelskreis nicht ein Ende bereiten? Was hatte es für einen Sinn, noch mehr männliche Whitings in die Welt zu setzen, wenn sie ganz offensichtlich zum ehelichen Martyrium verdammt waren?

Während C. B. Whiting jetzt Francine Robideaux aufmerksam betrachtete, versuchte er sich vorzustellen, wann für ihn der Tag käme, da er den dringenden Wunsch verspüren würde, sie mit einer Schaufel ins Jenseits zu befördern. Glücklicherweise fehlte ihm die Fantasie, sich eine solche Szene bildhaft vor Augen zu führen. Allenfalls vermochte er die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es unklug gewesen sein könnte, einen Krieg mit Gott anzuzetteln. Wenn er einem einen toten Elch schicken konnte, was sollte ihn dann daran hindern, einem etwas noch viel Schlimmeres zu schicken? Zum Beispiel eine unliebsame Ehefrau. Hätte C. B. diese Frau nicht gewollt, hätte dies ein beunruhigender Gedanke sein können. Aber er wollte sie. Er war sich dessen beinahe sicher.

Seine zukünftige Ehefrau hegte indes andere Gedanken. »Dort wäre ein ausgezeichneter Platz für einen Pavillon, Charlie«, sagte sie und deutete mit ihrem dünnen Zeigefinger zu einer Stelle auf halbem Weg zwischen Haus und Flussufer. Als Charles Beaumont Whiting nicht sofort antwortete, wiederholte Francine Robideaux ihre Bemerkung, und diesmal meinte ihr zukünftiger Gatte eine leichte Schärfe in ihrer Stimme wahrzunehmen. »Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe, Charlie?«

Ja, hatte er. Doch wenngleich er im Allgemeinen nichts gegen Pavillons einzuwenden hatte, vermochte ihn der Gedanke, der Hazienda ein solch spezielles architektonisches Element beizugesellen, nicht so recht zu überzeugen. Dieser ästhetische Vorbehalt war jedoch nicht der Grund für sein Zögern. Nein, der Grund war, dass niemand ihn je Charlie genannt hatte. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hieß er immer nur Charles, und vor allem seine Mutter hatte darauf beharrt, dass der vornehme Name, den sie ihm gegeben hatte, nicht durch einen gewöhnlichen Spitznamen wie Charlie oder, noch schlimmer, Chuck, verunglimpft wurde. Eine kurze Zeit lang hatten seine Freunde auf dem College ihn Beaumont gerufen, und für seine Freunde und Bekannten in Mexiko war er Beau gewesen. In jüngerer Zeit waren seine Geschäftspartner dazu übergegangen, ihn einfach nur C. B. zu nennen, doch taten sie das eher bewundernd und es wäre ihnen nicht im Traum eingefallen, ihn mit Charlie anzusprechen.

Gewiss wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt gewesen, die Sache ein für alle Mal richtigzustellen, doch noch während er überlegte, wie er es am besten ausdrücken sollte, dass er Charles gegenüber Charlie den Vorzug gab, wurde ihm klar, dass aus diesem »jetzt« bereits ein »dann« geworden war. Komisch. Hätte ihn jemand anders Charlie genannt, wäre er dieser Person über den Mund gefahren, noch ehe sie das Wort zu Ende hätte sprechen können. Aber bei dieser Frau, die er auf Knien gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, hatte er aus irgendeinem Grund diesen Moment verstreichen lassen. Eine geraume Weile verging, bis Charles Beaumont Whiting bewusst wurde, dass ein ganz neues, ungekanntes Gefühl ihn hatte verstummen lassen. Zunächst spürte er nur eine unangenehme Empfindung, doch dann konnte er es identifizieren. Dieses Gefühl war Angst.

»Ich sagte …«, begann seine zukünftige Frau zum dritten Mal.

»Ja, meine Liebe. Eine ausgezeichnete Idee«, erwiderte Charles Beaumont Whiting und wurde in diesem schicksalhaften Moment zu Charlie Whiting. Später pflegte er bedauernd zu sagen, dass er bei jeder Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau das letzte Wort habe, und das sei