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Längst haben es die Nachbarn aufgegeben, mit Evelyn und Muriel Axon Kontakt zu pflegen. Das ist Evelyn, die früher gelegentlich als Medium arbeitete und sich von Geistern verfolgt fühlt, nur recht. Zusammen mit ihrer Tochter verbarrikadiert sie sich in ihrem Haus, das mehr und mehr verfällt. Mit den Sozialarbeitern, die ihre geistig behinderte Tochter fördern wollen, wird sie schnell fertig. Aber wie soll sie mit Muriels Schwangerschaft und dem Kind, wenn es denn mal da ist, umgehen?
Isabel Field ist die neueste Sozialarbeiterin, die den Widerstand der Axon-Damen brechen will. Sie ist ähnlich verbissen und starrköpfig wie Evelyn. Und hat ebenso viele Probleme: einen sexuell sehr aktiven Vater, der seine Eroberungen in den Waschsalons der Kleinstadt macht, und einen schwärmerischen, aber angstgetriebenen Liebhaber, Colin Sydney, der Abendklassen besucht, um seiner dominanten Frau zu entkommen. Wäre da noch Muriel. Sie scheint ganz offensichtlich ein eigenes Leben zu haben, von dem weder ihre Mutter noch die Sozialarbeiter etwas ahnen. Und man fragt sich, ob Muriel wirklich so behindert ist, wie alle glauben.
 
 
Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte in Botswana und in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹, dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel 2012 den Booker erneut. Bei DuMont erschienen zuletzt der Roman ›Brüder‹ (2012), der Erzählungsband ›Die Ermordung Margaret Thatchers‹ (2014) und ihre Autobiografie ›Von Geist und Geistern‹ (2015).
 
Werner Löcher-Lawrence, geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u. a. John Boyne, Ethan Canin, Patricia Duncker, Jane Urquhart und Nathan Englander.

Hilary Mantel

JEDER TAG IST
MUTTERTAG

Roman

Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence

 

 

 

Für die Bevington-Levitts

 

 

Zwei Irrtümer: erstens, alles wörtlich zu nehmen;
zweitens, alles geistig zu nehmen
.

Pascal

 

Ehebrechen sollst du nicht;
Selten Vorteil es verspricht.

A. H. Clough

KAPITEL 1

Als Mrs Axon vom Zustand ihrer Tochter erfuhr, war sie eher überrascht, als dass Muriel ihr leidgetan hätte, was nicht hieß, dass es sie nicht sehr betrübte. Muriel ihrerseits schien zufrieden. Sie saß mit gespreizten Beinen da, die Arme um sich geschlungen, als versenkte sie sich ganz in den Moment. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck närrischer Seligkeit.

Es war immer schwer zu sagen, was Muriel gefallen würde. Als der alte Mann im Winter auf der Straße gestürzt war und sich die Hüfte gebrochen hatte, da hatte sie sich vor Lachen kaum zu halten gewusst. In gewisser Weise war sie wirklich eine außerordentliche Person. Es kam nicht oft vor, dass sie lauthals lachte.

Klack, klack, klack, sagten die falschen Krokodile, Mrs Sidneys Schuhe. Ohne einen Fehltritt ging sie die Straße entlang und über die boshaft angehobene Kante der Gehwegplatte, die Mr Tillotson im Winter hatte stolpern und sich die Hüfte brechen lassen, woraufhin sie eine Petition ans Rathaus geschickt hatten. Mrs Sidneys gesunde Beine, die Beine einer Fünfundzwanzigjährigen, bewegten sich wie eine Schere den Gehweg hinunter, doch sie sah blass und müde aus, und ihre scharlachroten Lippen zeugten von geheuchelter Heiterkeit. Sie hatte das Rot über die Umrisse ihrer schmalen Lippen hinaus zu einem kurvenreichen Bogen aufgetragen. In einer Zeitschrift hatte sie gelesen, dass man das tun konnte. Von dem, was zwischen den gesunden Beinen und dem eingefallenen Gesicht lag, sprechen wir besser nicht. Mrs Sidney kümmerte sich nicht weiter um ihren Rumpf, sie hatte ihn aufgegeben. Jetzt blieb sie bei dem Haus mit dem Namen »Die Goldregen« stehen, bei der wuchernden, mit weißem Vogeldreck besprenkelten und durch ein amateurhaftes In-Form-Schneiden verwüsteten Ligusterhecke. Tränen vernebelten ihren Blick. Sie trug ihren schwarzen Mantel mit Nerzbesatz.

Arthur war bei ihr gewesen, als sie den Mantel gekauft hatte. Das gute Stück war ins Budget aufgenommen worden, nachdem sie seine Notwendigkeit sorgfältig überdacht hatten. Es war Arthur peinlich gewesen, zwischen all den Kleiderständern zu stehen. Wie Prinz Philip legte er die Hände auf dem Rücken zusammen, den Blick abgewandt, und bemühte sich, den Eindruck eines tief in Gedanken versunkenen Mannes zu erwecken. Sie zerrte ihn nicht lange durch alle möglichen Läden, sie wusste, was sie wollte. »Ein guter Mantel«, sagte sie, »ein guter Mantel ist jeden Penny wert, den man für ihn ausgibt.«

Zwei probierte sie an, dann den schwarzen. Die Verkäuferin war sechzehn und nicht an ihrem Job interessiert. Einen Arm schlaff über den Kleiderständer gelegt, reckte sie die Hüfte vor und sah zu, wie Mrs Sidney die beladenen Bügel vor- und zurückschob. Das Mädchen hatte keine Ahnung vom Schnitt eines guten Stoffmantels. Mrs Sidney zog die Handschuhe aus und strich genüsslich über den kleinen Nerzkragen. Sie versuchte Arthurs Aufmerksamkeit zu erlangen, aber der sah nicht zu ihr hin, und einen Moment lang wogte Groll in ihr auf. Achtlos warf sie ihren alten Kamelhaarmantel über einen der Ständer. Bis heute Morgen war er noch ihr bestes Stück gewesen, doch jetzt kam er ihr schäbig und unangemessen vor. Vorsichtig öffnete sie die Knöpfe und schob die Arme in das seidige Futter. Als sie sich drehte, um auch den Rücken im Spiegel zu betrachten, lächelte sie die Verkäuferin zaghaft an. »Denken Sie, die Länge …?«

Das Mädchen hob achselzuckend die mageren Schultern.

Arthur lächelte ihm nachsichtig zu, die Hände immer noch auf dem Rücken.

»Ich nehme ihn«, sagte Mrs Sidney und tänzelte auf Arthur zu.

»Sehr schön, Liebes«, sagte Arthur. »Bist du sicher, dass es das ist, wonach du gesucht hast?«

Sie nickte lächelnd. Er wäre auch bereit gewesen, das wusste sie, zwanzig Pfund mehr auszugeben, nachdem er der Wirtschaftlichkeit eines guten Stoffmantels zugestimmt hatte. Arthur war kein Knauser. Das Mädchen breitete den Mantel neben der Kasse aus, schlug etwas Seidenpapier zwischen die gekreuzten Ärmel und schob ihn, zusammengefaltet, in eine große Tasche. Arthur holte ein noch jungfräuliches Scheckbuch und seinen vergoldeten Füllfederhalter hervor. Akkurat drehte er die Kappe herunter, weich floss die Tinte. Dann schraubte er den Füllfederhalter wieder zu, vorsichtig, und steckte ihn zurück in die Innentasche seines Sportjacketts aus grünem Lovat-Tweed. Mit einem einfachen, sauberen Zug riss er den Scheck aus dem Scheckbuch und reichte ihn dem Mädchen. Höflich, gemessen. Mrs Sidney war stolz darauf, stolz auf die Art, wie die Transaktion durchgeführt wurde und dass sie nicht wie Installateure oder Anstreicher mit Bündeln schmutziger Geldscheine bezahlten. Die Tragetasche mit dem guten Stoffmantel darin war schwer, und Arthur streckte ohne ein Wort die Hand aus und trug sie für sie. Er fragte, ob sie einen Hut dazu brauche, so ängstlich war er darauf bedacht, alles richtig zu machen. Aber sie sagte, die Leute legten heute nicht mehr so großen Wert auf Hüte. Um die Wahrheit zu sagen, schüchterten Hutgeschäfte sie ein. Die Verkäuferinnen dort sahen einen mit solch einer Verachtung an, kaufte doch, wer einen Hut aufprobierte, nur selten tatsächlich einen. Diese Frauen hatten ihr Vertrauen in die menschliche Natur verloren. Mrs Sidney war glücklich. Sie tranken noch eine Tasse Kaffee, aßen ein Stück Sahnekuchen und fuhren nach Hause.

In jener Nacht hatte Arthur seinen ersten Schlaganfall. Als sie morgens aufstand, war die rechte Seite seines Körpers gelähmt und der Mundwinkel nach unten gezogen. Er konnte nicht sprechen. Um acht Uhr lag er in einem hohen, weißen Bett im Allgemeinen Krankenhaus, und sie saß vor der Station und trank den starken Tee, den die Schwester ihr eingeschenkt hatte. Die weiße Tasse war leicht angeschlagen, und das Einzige, woran Mrs Sidney denken konnte, war, dass man diese Tassen zweiter Wahl auf dem Markt bekam. Konnte es sein, dass die sie von dort hatten? Ein Krankenhaus, konnte das sein? Ihr Mann hat unbegrenzte Besuchszeiten, sagte die Schwester, Sie können jederzeit kommen. Als sie zu ihm kam, bewegte er rastlos alles, was er zu bewegen vermochte. Er wusste nicht mehr, welchen Wochentag sie hatten, geschweige denn, dass er etwas über die Welt draußen auf dem Flur oder auf dem Markt hätte sagen können. Seinen zweiten Schlag erlitt er, während sie bei ihm war, und sie schoben fliederfarbene Stellwände um sein Bett und sagten, dass er verstorben sei. Den schwarzen Mantel trug sie auch zu seiner Beerdigung.

Mrs Sidney hob eines ihrer eleganten Knie leicht an, stellte ihre Tasche darauf, griff hinein, holte ein rosa Taschentuch hervor und betupfte sich, neben dem verschmutzten, verschnittenen Liguster stehend, die Augen. Sie sah sich nach einem Papierkorb um, aber es gab hier auf der Straße keinen, und so stopfte sie das Taschentuch zurück in die Tasche und trat weiter vor.

Das Haus der Axons stand an einer Ecke. Zwischen den Rhododrendronbüschen gab es ein kleines Tor. Zwischen den Platten, die bis zur Haustür gelegt waren, spross keinerlei Unkraut, was komisch war. Man hätte Evelyn Axon nicht unbedingt für eine leidenschaftliche Gärtnerin gehalten. Die Tür zum Windfang war farbig verglast, in Blutrot und dem gewittertrüben Blau des Augusthimmels. Mrs Sidney blieb einen Schritt vor der Tür stehen. Sie fürchtete, dass sie der Mut verließ. Wieder fummelte sie in ihrer Tasche herum und fühlte nach dem Portemonnaie, um sich zu versichern, dass es noch da war. Sie wusste nicht, ob Mrs Axon Geld nahm. Trauer und Furcht kratzten in ihrer Kehle, doch jetzt gab sie sich einen Ruck. Mrs Axon hatte sie sicher bereits aus einem der Fenster des Hauses gesehen. Sie legte einen Finger auf den Klingelknopf, als wohnte ihm das Geheimnis des Universums inne. Die Klingel funktionierte nicht.

Dennoch bewegte sich Evelyn Axon irgendwo aus dem dunklen Inneren des Hauses auf die Tür zu und öffnete sie genau in dem Moment, als Mrs Sidney die Hand hob, um zu klopfen. Etwas dümmlich ließ Mrs Sidney die Hand wieder sinken. Evelyn nickte.

»Kommen Sie herein«, sagte sie. »Ich nehme an, Sie wollen mit Ihrem verstorbenen Mann sprechen.«

Es war ein hübsches, einzeln stehendes Haus. Kaum, dass sie hinter Evelyn die Diele betrat, wurde Mrs Sidneys Blick vipernscharf. Sie sah den vernachlässigten Parkettboden, den Schirmständer und den kleinen Tisch mit der verdorrten braunen Topfpflanze.

»Nichts scheint zu überleben«, sagte Evelyn.

Mrs Sidney umfasste ihre Tasche noch etwas fester.

»Gehen wir nach vorne in den Salon«, sagte Evelyn.

Mrs Sidney hielt den Blick auf Evelyns rehbraune Strickjacke und ihre massige, sich schwerfällig voranbewegende Gestalt gerichtet. Der Salon war ein Raum ohne Sonne, selten benutzt. Dieser Tage hielt sich Evelyn meist im hinteren Teil des Hauses auf. Es gab schwere Vorhänge, einen runden Esstisch aus dunklem Holz, acht harte Stühle mit Ledersitzen, einen Porzellanschrank und links und rechts vom leeren Kamin zwei grüne Sessel. »Sie werden es warm haben wollen«, sagte Evelyn, die fraglos eine gute Gastgeberin war. Mrs Sidney setzte sich in einen der Sessel, die Knie geschlossen, die Handtasche auf ihnen. Evelyn schlurfte hinaus und ließ sie allein. Mrs Sidney starrte den ziemlich leeren Porzellanschrank an.

Evelyn kam mit einem kleinen elektrischen Heizstrahler mit zwei verstaubten Heizstäben und einem zerfasernden Anschlusskabel zurück. »Wenn ich das sagen darf«, sagte Mrs Sidney, »das ist gefährlich. Nackte Drähte wie die.«

Evelyn rammte den Stecker in die Dose, und als sie sich wieder aufrichtete, sah sie Mrs Sidney mit einem, wie Mrs Sidney es nannte, direkten Blick an, so wie man Leute ansieht, die sich zu Wort melden, obwohl sie nicht an der Reihe sind. »Machen Sie es sich bequem, Mrs Sidney«, sagte sie.

Aufs Neue vermochte Evelyns kultivierter Ton Mrs Sidney zu beeindrucken. Evelyn war, was altmodische Leute eine »Lady« nannten; zumindest war sie es einmal gewesen. Sie und ihr Mann hatten schon in diesem Haus gewohnt, als die wenigen nasskalten, herbstlichen Straßen des Viertels noch die besten Adressen der Stadt gewesen waren. Die Axons waren immer für sich geblieben. Jahrelang hatten sich die Nachbarn über Evelyns Art beklagt, darüber, zu welch seltsamen Zeiten sie die Wäsche aufhängte, oder über ihr Gemurmel in der Schlange auf dem Postamt. Für Mrs Sidney jedoch war Evelyn etwas Besseres. In gewisser Weise war sie eine äußerst tragische Person, und Mrs Sidney hatte dieser Tage eine Nase für das Tragische, war sie doch durch ihr eigenes Schicksal sensibilisiert. »Sie müssen entschuldigen, dass ich Ihnen keinen Tee anbiete«, sagte Evelyn, »aber es passt gerade nicht. Ich gehe heute nicht in die Küche.« Mrs Sidney blinzelte. Nach einer Antwort suchend, glitt ihr Blick zurück zum Porzellanschrank.

»Zerbrochen«, sagte Evelyn. »Alles schon vor Jahren zerbrochen.«

Sie ging hinüber zum Sideboard, dem modernsten Möbelstück im Raum, wie Mrs Sidney bemerkte. Es hatte eines dieser Fächer für Getränke, eine sich nach unten öffnende Klappe, auf der sich die Gläser abstellen ließen. Evelyn zog sie herunter, und Mrs Sidney machte große Augen. Sie konnte die Etiketten auf den Dosen von ihrem Platz aus erkennen. Gebackene Bohnen, Lachs, Ochsenzunge. Evelyn langte hinter die Dosen und zog eine halbvolle Flasche Orangensaft hervor. Aus einem anderen Fach holte sie zwei Gläser und schenkte sparsam ein. Auf dem Tisch stand ein Krug lauwarmes Wasser. Evelyn stellte eines der Gläser ihrem Gast hin und setzte sich in den zweiten Sessel.

»Ich nehme an, Sie möchten erst ein wenig über ihn sprechen«, sagte sie, saß aufrecht und aufmerksam da und musterte ihre Besucherin, deren Gesichtspuder seitlich auf der Nase verkrustet war. Sie sah die offenen, glänzenden Poren der Wangen und dass der Körper kaum zu den schönen, lebendigen Beinen passte. Und plötzlich sank Mrs Sidney in sich zusammen, als hätte man ihr einen Schlag verpasst. Die Tasche rutschte ihr von den Knien, die Schultern sackten weg, und schwere Kummerfurchen zogen an ihrem Mund. Ja, dachte Evelyn, sie wollen nur Erfreuliches hören, und schon nach dem zweiten Treffen erkennen sie dich auf der Straße nicht mehr, um die drohende peinliche Begegnung zu vermeiden. Witwen. Es gab doch mal, überlegte Evelyn, die Sitte der Witwenverbrennung. Ihrem Verhalten nach zu urteilen, schienen viele deren Abschaffung für eine ungesunde Entwicklung zu halten.

Evelyn sah, wie Mrs Sidneys Mund arbeitete und sich der blutrote Streifen Lippenstift auf der Oberlippe unabhängig vom Mund zusammenzog, so als würde ihr Gesicht hinter einer grotesken, lächerlichen Maske verschwinden. Die Frau schwankte nach vorn, ihre Hände tasteten nach der Tasche, sie wischte sich das Gesicht mit rosa Papiertüchern ab und ließ sie durchnässt und zusammengeknüllt auf Teppich und Sessel fallen. Evelyn griff nach ihrem Orangensaft, nahm einen kleinen Schluck und stellte das Glas vorsichtig zurück auf einen Untersetzer mit Rand. »Mr Sidney war Ihnen ein guter Mann«, begann sie.

Mrs Sidney erzählte vom Kauf des Mantels, vom Kuchen, den sie gegessen hatten, den riesigen Korridoren des Krankenhauses, in denen es zog, von den schwingenden Feuertüren, den verschmutzten Wänden, der gestärkten Ungeduld der Arztkittel und der schrecklichen Grimasse seines gelähmten Mundes. Die Erinnerung ließ sie keuchen und würgen, doch am Ende fing sie sich, sie saß aufrecht und zitternd auf dem Rand ihres Sessels, die Beine fest verschränkt, die Augen formlos und rot. Sie war so weit, sie konnten anfangen.

»Mr Sidney arbeitete bei den Verkehrsbetrieben«, sagte sie vorsichtig. Mrs Sidney sprach, als wäre jedes ihrer Worte ein wertvolles Kristall, das sie aus einer Kiste holte. Schon ein kleiner Ausrutscher hätte sie die Fassung verlieren lassen können.

»Sie meinen, bei der Busgesellschaft?«, sagte Evelyn.

»Es war eine Art Versicherungsarbeit. Wenn es einen, verstehen Sie, wenn es einen Unfall gab, wenn jemand bei einem Unfall im Bus war, hat er herausgefunden, was passiert war und wie viel die Busleute, die Verkehrsbetriebe, dafür zu zahlen hatten. Er hat die Ansprüche ermittelt.«

»Verstehe«, sagte Evelyn, »er hat also in einem Büro gearbeitet. Aber lassen Sie mich Ihnen zunächst sagen, Mrs Sidney, manchmal haben meine Versuche Erfolg, manchmal nicht. Wobei ich persönlich lieber von Ergebnissen spreche. Im Übrigen scheint es, dass die Verstorbenen manchen Leuten erzählen, alles sei sehr schön auf der neunten Ebene und dass es dort Blumen gebe und Orgelmusik, zu mir hat das allerdings noch keiner gesagt, und wenn es einer täte, würde ich denken, dass er es mit der Beerdigung verwechselt habe. Das wäre ein verständlicher Fehler. Weshalb ich eigentlich keine Verbrennungen befürworte.«

»Aber sprechen Sie auch …«, Mrs Sidney zögerte, »sprechen Sie auch mit Ihrem eigenen Mann?«

»Clifford ist 1946 gestorben«, sagte Evelyn. »Er war ein stiller Mensch, und wir haben heute weniger gemeinsam als damals.«

»Woran ist er …? Ist er unerwartet gestorben?«

»Sehr unerwartet. Eine Bauchfellentzündung.«

Sie verstummte. Mrs Sidney tat sich schwer, das Schweigen zu brechen. »Benutzen Sie ein Weinglas?«

Evelyn schnaubte. »Wenn Sie das wollen, gehen Sie besser auf eine Party, wo sie diese Spielchen spielen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Mrs Sidney. Sie stand auf. »Mrs Axon, entschuldigen Sie, ich glaube, ich hätte nicht kommen sollen. Wenn meine Tochter davon wüsste, würde sie mich umbringen.«

»Was Ihre Neugier befriedigen würde«, sagte Evelyn. »Wie alt sind Sie, Mrs Sidney?«

»Wenn Sie so fragen, fünfundsechzig.«

Evelyn seufzte. »Kein tolles Alter, aber Sie sollten wissen, was Sie zu erwarten haben. An Ihrer Stelle würde ich mich wieder setzen, und wir fangen an.«

Mrs Sidney folgte der Aufforderung, wie hypnotisiert von der eigenen Kühnheit, Evelyns wasserblauen Augen und dem trüben Glanz des Nachmittagslichts auf den harten Lederstühlen.

Evelyn beugte sich vor. Sie hielt die Finger verschränkt und die Augen verschlossen, und heiße Tränen tropften unter ihren Lidern hervor. Mrs Sidney sah sie herabfallen, ihr Herz hämmerte. Evelyns Mund klaffte auf, und Mrs Sidney grub sich die Fingernägel in die Hände, da sie damit rechnete, jeden Moment Arthurs Stimme zu hören. Aber dann sank Evelyn zurück in ihren Sessel, die fahlen Augen klappten auf, und ihre Stimme klang vollkommen normal.

»Ich habe Ihnen gesagt, keinen Trost von mir zu erwarten, Mrs Sidney. Gehen Sie zu den Spiritualisten. Ihre Kirche ist in der Ruskin Road, und hinterher gibt es ein kaltes Büfett.« Schwerfällig erhob sie sich. Mrs Sidney stolperte ihr hinterher, vorbei am leeren Geschirrschrank und der toten Topfpflanze in Richtung Tür.

»Mrs Sidney«, sagte Evelyn, »Ihr Mann Arthur brennt in einer entsetzlichen Hölle.«

Sie schloss die Tür hinter ihrer Besucherin. Ich muss damit aufhören, dachte sie. Die Leute kommen, um eine Sightseeing-Tour durch die andere Welt zu machen, ganz so, als läge sie an einem fernen, bereisbaren Ort. Sie benutzen mich wie ein Flugzeug, ein Kreuzfahrtschiff. Evelyn seufzte. Aber sie war hier, diese andere Welt, etwas entrückt, doch ständig präsent. Jeden Tag langte ein Glied des Übernatürlichen aus ihr heraus, um an deinen Kleidern zu zupfen. Ich muss damit aufhören, dachte sie, es macht mich krank. Was, wenn ich eines Tages einen Anfall bekomme und im Bett lande, was ist dann, wer kümmert sich dann um Muriel?

Axon, Muriel Alexandra

Geboren: 4. 4. 40

2 Buckingham Avenue

Miss Axon wurde am 3. 3. 73 von der dieser Abteilung angehörenden Miss Perkins in ihrem Haus aufgesucht, anschließend am 15. 3. 73 von CWD. Die Klientin lebt bei ihrer verwitweten Mutter, Mrs Evelyn Axon. Ihr Vater starb 1946. Sie wohnen in einem komfortablen einzeln stehenden Haus mit den entsprechenden Annehmlichkeiten. Die Klientin besuchte von 1945 bis 1955 die St. David’s School in der Arlington Road, ihre Anwesenheit dort scheint jedoch eher nomineller Natur gewesen zu sein. Ihre Mutter gibt an, dass sie »öfter nicht da« gewesen sei. Mrs Axon gibt zudem an, 1946 oder 1947 informiert worden zu sein, dass Muriel nicht die normalen Befähigungen ihrer Altersgruppe zu besitzen scheine. In zwei aufeinanderfolgenden Jahren wurde Muriel nicht versetzt und hätte an diesem Punkt nach den Bestimmungen des Schulgesetzes von 1944 für unterentwickelt erklärt werden müssen, doch das geschah nicht, was sie, wie es den Anschein hat, in eine grenznormale Situation brachte. Mrs Axon sagt, sie nehme an, dass die Klientin mit sechs Jahren durch den Tod ihres Vaters nachteilig affiziert worden sei und sie von einer besonderen Versorgung »nicht profitiert haben würde«. Während der folgenden Jahre besuchte Mr Hutchinson, der damalige Schulbesuch-Beauftragte, das Haus mehrfach, unglücklicherweise jedoch sind die Aufzeichnungen dazu in den Unterlagen der neu eingerichteten Schulabteilung der Sozialbehörde nicht auffindbar. (Anfrage dazu an die County-Verwaltung?) Laut Mrs Axon wurde die Klientin an den Gresham Trust überwiesen (von Mr Hutchinson), der sich vor Übernahme seiner Aufgaben durch die örtliche Verwaltung um das Wohlergehen der Unterentwickelten in der Gemeinde kümmerte. Die Klientin wurde von einer Sozialarbeiterin des Trusts besucht, einer Miss Blackstone, und Mrs Axon gibt an, die Klientin sei Tests unterzogen worden, habe sich aber geweigert, daran teilzunehmen. Mrs Axon gibt an, dass die Besuche des Trusts nach einem Jahr aufgehört hätten, und es scheint dort keine Unterlagen über die Klientin zu geben, da es nicht zu den Regeln des Trusts gehört, Unterlagen länger als fünf Jahre aufzubewahren.

Die Klientin wirkt körperlich gesund. Mrs Axon gibt an, dass sie, sieht man von den üblichen Kinderkrankheiten ab, nie ernsthaft krank und nie im Krankenhaus gewesen sei und während der letzten zehn Jahre oder möglicherweise länger nicht zum Arzt gemusst habe. Mrs Axon ist allgemein sehr ungenau, was Datumsangaben betrifft. Mrs Axon gibt an, dass Muriel in der Lage sei, sich zu waschen und anzukleiden, dass sie aber »wahllos alles anzieht« und Mrs Axon ihr Waschen überwachen müsse, genau wie ihr Essen, da sie sonst ungeeignete Dinge zu sich nehme. Obwohl die Klientin fähig ist, im Haus zu helfen, gibt Mrs Axon an, dass sie sich nicht sehr willig verhalte. Manchmal werde sie von Mrs Axon zum Einkaufen mitgenommen, aber nicht oft. Mrs Axon gibt an, dass die Klientin wegen verschiedener Vorfälle in der Vergangenheit nicht in der Lage sei, das Haus zu verlassen. Dazu wollte sie jedoch keine näheren Angaben machen.

Mrs Axon selbst ist extrem unkommunikativ, was als ein Problem bei der Einstufung anzusehen ist. Laut Mrs Axon versteht die Klientin alles, was ihr gesagt wird, antwortet aber oft nicht, wenn sie angesprochen wird. Sie hat keine Hobbys oder Zeitvertreibe. Die Schwierigkeiten in diesem Fall werden durch die unkooperative und fast schon feindselige Haltung Mrs Axons vergrößert, die offenbar allgemein etwas gegen jedes Eingreifen von Sozialdiensten hat. Die Umgebung der Klientin wirkt nicht stimulierend, und Mrs Axon scheint sich ihrer Tochter zu schämen und nicht zu mögen, dass die Klientin von den Nachbarn gesehen wird. Ihre Haltung der Klientin gegenüber scheint die einer grundsätzlichen Geringschätzung zu sein, und sie scheint ihr keine normalen Gefühle zuzubilligen, so nannte sie die Klientin bei ihrer Anhörung eine »hoffnungslose Idiotin«. Dabei muss gesagt werden, dass die Klientin angemessen genährt und gekleidet wirkt und Mrs Axon, wenn ihre Haushaltungsstandards auch nicht hoch sind, sich doch offenbar um das körperliche Wohl der Klientin kümmert. Allerdings hat sie allem Anschein nach eine negative Einstellung zur geistigen wie emotionalen Entwicklung der Klientin, und es ist unwahrscheinlich, dass es zu signifikanten Verbesserungen kommt, wenn Muriel nicht ermutigt wird, sich stärker anderen Menschen zuzuwenden und sich soziales Selbstvertrauen anzueignen.

Empfehlungen: fachübergreifende Begutachtung, Tagesbetreuung.

CWD                

Abteilung für Sozialdienste

Wilberforce House

15. April 1973

Sehr geehrte Mrs Axon,

Sie werden sich an meinen Besuch vom 15. März erinnern, bei dem wir über Ihre Tochter gesprochen haben und übereinkamen, dass es hilfreich wäre, wenn Muriel in eine Tagesbetreuung ginge, wo sie mit anderen jungen Leuten zusammenkäme und an gemeinsamen Aktivitäten teilnehmen könnte. Ich habe mich nach entsprechenden Möglichkeiten umgesehen, leider gibt es jedoch eine Warteliste für die Tagesbetreuungszentren der Gemeinde, und ich habe für Muriel zunächst nur einen Nachmittag in der Woche bekommen können. Ich denke aber, dass sie davon profitieren wird, und wir rechnen mit der Ausweitung unserer Vorkehrung in naher Zukunft. Sie wird an informellen Aktivitäten wie gemeinschaftlichem Singen teilnehmen und sich an Fertigkeiten wie Töpfern und Korbflechten versuchen können. Unser Tagesbetreuungszentrum liegt an der Calderwell Road. Muriel wird von einem Minibus an der Ecke Buckingham Avenue/Lauderdale Road abgeholt und dorthin auch wieder zurückgebracht. Unsere Tagesbetreuung dauert von 13.30 Uhr bis 16.30 Uhr, und sie sollte sich um 13.15 Uhr am Abholpunkt einfinden. Der Bus ist kostenlos. Für Tee und Kekse wird ein symbolischer Beitrag von 15 Pence erhoben. Muriels erster Termin ist der 25. April.

Bedauerlicherweise habe ich wegen des hohen Drucks auf unsere Einrichtungen noch keinen Termin mit unserem Psychologen vereinbaren können, aber ich versichere Ihnen, dass es bei der nächsten sich bietenden Möglichkeit dazu kommen wird.

Hochachtungsvoll

Catherine W. Dawson

Ein Jahr später. Lärm von oben. Sie arbeiten wieder hart, arbeiten immer. Manchmal, wie heute, in einem Zimmer oben. Sie kreischen vor Lachen und werfen Evelyns Sachen herum. Oder sie folgen ihr von Zimmer zu Zimmer.

Evelyn zog ihre rehbraune Strickjacke fester um sich und ging hinüber zum Kalender. Wollige Lämmchen sprangen auf einer unglaublich grünen Wiese herum, Rosen blühten um die Tür eines strohgedeckten Cottages. Sie suchte den Monat. Alle Donnerstage waren rot umrandet, das war ihre selbst gestellte Aufgabe, seit diese letzte Einmischung in ihr Leben vor über einem Jahr begonnen hatte. Und heute war Donnerstag.

In den Flur. Sie schaltete das Licht an. Er schien leer. Als sie sich auf die Treppe zubewegte, streifte etwas ihren Ärmel, und sie wich zur Seite. Hau ab, dachte sie aufgebracht, ich hab dich nicht eingeladen. Ein blutiger Händeabdruck auf cremiger Emulsion, ein aussätziger, grinsender Schädel hinter Glas, Mr Sidneys verzerrter Mund, an einem anderen Ort. Nie wieder.

Schwerfällig stieg sie die Treppe hinauf. Ihr Rheumatismus war durch das rau feuchte Aprilwetter in diesem Jahr schlimmer geworden. Jeden Tag wehten nasse Blütenblätter von den Bäumen gegen ihre Fenster, Drosseln sangen im vernachlässigten Garten. Ich bin achtundsechzig, dachte sie, und langsam spüre ich mein Alter.

»Weißt du nicht, dass wir Donnerstag haben?«, sagte Evelyn scharf. Muriel hob den Kopf. Sie nickte. Evelyn musterte sie, das strähnige schwarze Haar, das an der Stirn zu einem geraden Pony geschnitten war, die grobe, schuppende Haut, die plumpen Beine und die großen, roten Hände. Was immer sie sagen, dachte sie, es ist kein Fortschritt zu erkennen. Was immer sie sagen, ist Unsinn. »Also los, wir müssen dir was zum Anziehen heraussuchen.«

Ein Anflug von Angeregtheit strich über Muriels Gesicht. Sie stand auf, ging zu ihrer Kommode und hielt Evelyn ihre flauschige rosa Wolljacke hin. Evelyn nickte uninteressiert. »Wenn du magst.«

Etwas fiel ihr ins Auge. Sie steckte die Hand in die Schublade, suchte nach dem metallischen Glitzern und hielt es in der Hand, als wäre es verseucht. Eine Dose Möbelpolitur, halbleer, der wachsweiche Lappen steckte noch drin.

»Hast du die da hineingelegt?«

Muriels blassgraue Augen sahen sie an. Sie zeigte weder Schuld noch Furcht und schien auch nicht überrascht. Evelyn glaubte ihr. Muriel tat nichts aus eigenem Antrieb, und sie log auch nie.

»Sie waren also hier?« Sie fasste Muriels Arm über dem Ellbogen. Evelyn war eine starke Frau, ihre Finger gruben sich ins Fleisch ihrer Tochter. Muriel blinzelte. »Hast du sie gesehen?« Evelyn schüttelte sie. »Sag mir, was sie getan haben.«

Evelyns Puls raste. Bis heute waren sie nie in dieses Zimmer gekommen, doch das war jetzt der Beweis, die Dose, die vor Wochen weggekommen war. Es war immer das Gleiche, verschütteter Zucker, kleine Diebstähle, das Porzellan, das sie Stück für Stück zerschlagen hatten. Evelyn ließ Muriels Arm los, der schlaff an deren Körper herunterfiel.

»Ich könnte dich hier herausholen. Aber wohin mit dir? Sie kommen auch in mein Zimmer.«

Muriel sagte, dass es doch noch ein drittes Schlafzimmer gebe. Evelyn starrte sie an. Wieder konnte sie ihr Herz in der Kehle hämmern und stoßen fühlen. Diese Frau hatte sie völlig schockiert angesehen, als sie Muriel eine »Idiotin« genannt hatte. Sie, Evelyn, bekam die Idiotie täglich neu zu spüren. Nur eine hoffnungslose Idiotin konnte vorschlagen, in ein Zimmer zu ziehen, das bereits vergeben war, und an was für Leute. »Wasch dich«, befahl sie ihr und ging nach unten.

Um zehn nach eins rief sie nach ihrer Tochter. Muriel kam herunter. Sie trug die flauschige rosa Jacke, dazu einen roten Rock und zeigte nichts von der Vorsicht, mit der Evelyn sich durchs Haus bewegte. Muriel setzte sich auf die unterste Stufe und streckte die Füße aus, damit ihre Mutter ihr die Schuhe schnürte, die Beine steif wie die eines Kindes auf einem Zahnarztstuhl. Es lag fast schon etwas Durchtriebenes in Muriels Gesicht, doch Evelyn machte sich nicht die Mühe, den Gesichtsausdruck ihrer Tochter zu interpretieren. Sie konnte etwas sagen, wenn sie wollte, sie wusste sich verständlich zu machen.

»Wenn du Körbe flechten kannst, warum kannst du dir dann nicht die Schuhe zubinden?«, sagte Evelyn grob. Wahrscheinlich, dachte sie, kann sie gar keine Körbe flechten. Wenn das Beispiel letzte Woche etwas zu sagen hat. Sie brachte Muriel zur Tür. Ihre Tochter musste nur fünfzig Meter gehen, an den Büschen entlang und um die Ecke zur Lauderdale Road. Lassen Sie Muriel das Stück alleine gehen, hatte die Frau vom Sozialamt sie angebettelt, das gibt ihr ein Gefühl von Unabhängigkeit. Evelyn hatte sie daraufhin nur verächtlich angesehen. Zunächst war sie denen gegenüber ziemlich hochfahrend gewesen und hatte ihre Beharrlichkeit unterschätzt. Immer wieder waren sie zurückgekommen, und mittlerweile war sie bereit zu tun, was sie sagten, und Muriel zu opfern, wenn es diese Leute nur davon abhielt, zu ihr ins Haus zu kommen und sich nach den Vorkehrungen zu erkundigen, den Kniffen und Tricks, mit denen sie ihre Tochter und sich von einem Tag zum anderen gewaschen, versorgt und warm hielt. Sie hörten nicht auf herumzuschnüffeln und taten so, als ob sich das Leben verbessern ließe.

Evelyn hielt die Tür auf, um zu sehen, wie Muriel durchs Tor ging. In dem Moment kam Florence Sidney vorbei, eine stämmige, gut situierte Frau, jetzt, wo ihre Mutter in ein Heim gekommen war. Es muss Florence Sidney gewesen sein, dachte Evelyn, die uns beim Sozialamt angeschwärzt hat. Als ob Leute unserer Klasse das Sozialamt bräuchten. Miss Sidney drehte neugierig den Kopf mit dem randlosen Hut, und Evelyn wich zurück und schlug die Tür zu. Sie war jetzt allein im Haus. So oft hatte sie sich in den 1940ern gewünscht, allein zu sein, und jetzt schlug der Wunsch auf sie zurück, um sich über sie lustig zu machen, zu brabbeln, auf Zehenspitzen umherzuschleichen.

Sie hatten nicht zu Mittag gegessen. Das war Muriels Strafe dafür gewesen, nichts gesagt zu haben, als Evelyn nach den Besuchern in ihrem Zimmer gefragt hatte. Ob sie das, was sie gesehen hatte, vor Schreck hatte verstummen lassen …? Evelyn fragte sich, ob sie ungerecht gewesen war. Aber es war zu spät, etwas daran zu ändern. Und sie bekam ja ihren Tee und ihre Kekse.

Auf dem Boden in der Diele lag ein zerknülltes Stück Papier. Evelyn wurde schlecht. Niedere, stinkende Existenzen, sagte sie sich. Früher hatte Evelyn sie riechen können, doch ihre Sinne nutzten sich mit dem Alter ab. Immer öfter wählten sie diese Art der Mitteilung, diese … diese Tricks, das kurze Klopfen in verschiedenen Räumen des Hauses … Sie schreckten sie ab mit ihrem Lärm und lockten sie an mit ihrem Schweigen. Evelyn hielt inne, sie verzog das Gesicht. Sie versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, wenn sie Schmerzen hatte. Es war eine Qual für sie, sich bis hinunter auf den Boden zu bücken, das mussten sie wissen. Evelyn sah sich um, nahm ihren Schirm aus dem Ständer, fischte damit nach dem Papier und holte es in Reichweite, wie der intelligente Affe im Experiment. Sie schob es sich auf den Fuß und dann auf die erste Stufe, von da aus auf die zweite, nahm es auf und strich es glatt. Die schwankenden großen Buchstaben waren ihr mittlerweile vertraut, fliegenspurdünn: GEH HEUT NICH IN DIE KÜCHE.

Evelyn wurde das Herz schwer. Das war die Existenz, die sie ihr gewährten. Sie konnten sie jederzeit holen, sie töten (mit gebrochenem Genick würde sie am Fuß der Treppe liegen) oder zu einer bloßen Hülle ohne alle Fähigkeiten machen, doch sie sahen sie lieber in Angst, ihre erbärmlichen Kniffe, ihre aufflammenden Hoffnungen, die sie gleich wieder zerstörten. Das war die einzige Erklärung. Niedergeschlagen ging sie in den Salon, und dort lag, exakt in der Mitte des runden Tisches, ein Dosenöffner.

Sofort dachte sie: Wie vorausschauend. Sie sorgte kaum für solche Dinge. Evelyn berührte den Öffner nicht, sondern studierte ihn nur. Er gehörte nicht in dieses Haus, sie hatte ihn noch nie gesehen. Vorsichtig nahm sie ihn in die Hand. Er war neu, ganz neu. Es war das erste Mal, dass sie ihr etwas schenkten.

Sie öffnete die Klappe des Sideboards und holte eine Dose gebackene Bohnen heraus. Ich muss besser vorsorgen, dachte sie. Immer öfter verboten sie ihr, in die Küche zu gehen, trieben sie mehr und mehr in den Salon mit seinen harten Stühlen, wo sie die Toten sah. Vielleicht ein Petroleumkocher, dachte sie, öffnete die Dose und sah sich um. Griffbereit stand der schwere Glasaschenbecher da, der seit Cliffords Tod nicht mehr benutzt worden war. Sie leerte die kalten Bohnen in ihn hinein, setzte sich und aß mit den Fingern. Als sie fertig war, stellte sie den Aschenbecher zur Seite und ruhte sich einen Moment lang aus. Wohin sollte sie gehen, bis Muriel zurückkam? Das blaue Licht lag auf dem polierten Holz, die Luft war stumm und ruhig. Evelyn atmete tief durch. Der Einfallsreichtum ihrer Peiniger schien vorläufig befriedigt. Sie wanderte im Zimmer umher und durchsuchte die Ecken, dabei fiel ihr Blick auf den Korb, den Muriel vor zwei Wochen aus dem Behindertenunterricht mit nach Hause gebracht hatte. Es war schlecht geflochten und hatte eine völlig verunglückte Form. Evelyn wollte nichts einfallen, wozu sie ihn verwenden konnte; weil sie jedoch sehr auf Muriels Gefühle achtete, hatte sie ihn nicht weggeworfen. Jetzt nahm sie ihn, stakste damit in die Diele und stellte ihn auf den kleinen Tisch, wo ihn jeder sah. Dann, aus einem spontanen Gedanken heraus, griff sie nach der toten Pflanze in ihrem Plastiktopf und stellte sie in den Korb.

Axon, Muriel Alexandra

III/73/0059

Die Klientin besucht seit drei Monaten einmal wöchentlich das Tagesbetreuungszentrum in der Calderwell Road. Während eine umfassende Bewertung noch aussteht, muss betont werden, dass die fortlaufende Beobachtung durch die Mitarbeiter des Tagesbetreuungszentrums eine große Rolle bei der Analyse der Schwierigkeiten der Klientin spielt, zum Beispiel, dass es bei der Durchführung multifokaler Tests unerlässlich ist, den Grad ihrer emotionalen Zurückgebliebenheit in Betracht zu ziehen, die wahrscheinlich teilweise ihrem häuslichen Umfeld zuzuschreiben ist.

Vorläufige Schätzungen gehen von einem IQ in Höhe von etwa 85 auf der Stanford-Binet-Skala aus, womit ihr Potenzial und ihre Fähigkeiten etwas größer wären, als nach der Historie III/73/0059 anzunehmen war. Mag auch der Bedarf nach speziellen Einrichtungen früher schon angedeutet worden sein, wird doch angenommen, dass die Klientin im Kontakt mit den Ausbildungsfachkräften eine Zurückgebliebenheit zeigte, die nicht leicht von borderline-normal zu unterscheiden war, warum sie nicht dem Sozialamt gemeldet wurde. Allerdings hat sich ihr emotionaler Zustand aufgrund ihres dürftigen Umfeldes verschlechtert, und sie befindet sich im Moment in einem Grenzstadium sozialer Zulänglichkeit.

Die Klientin hat eine elementare Lese- und Schreibfähigkeit erreicht, aufgrund fehlender Konzentration und Motivation wird dennoch zukünftig nicht mit einer beruflichen Eignung gerechnet. Beim Ausführen einfacher mechanischer, völlig in ihrem Fähigkeitsbereich liegender Aufgaben wird ihr Mangel an kontinuierlicher Zielgerichtetheit erkennbar. Eine ausgeprägte Verflachung ihrer Gemütsbewegungen könnte den Verdacht auf einen schizoiden oder subschizoiden Zustand wecken. Besonderer Wert muss auf die soziale Anpassung, auf interpersonelle Verbindungen sowie die Ausbildung eines Minimums an Zielgerichtetheit gelegt werden, zudem muss der Klientin dabei geholfen werden, ein befriedigendes Maß an sozialer Unabhängigkeit zu erreichen. Eine unterdurchschnittliche intellektuelle Leistung könnte in diesem Fall durch die sequenzielle Entwicklung von Selbsthilfefähigkeiten kompensiert werden.

M. S. Byrne MA

Leiter Tagesbetreuung

Liebe Jacki,

tut mir leid, dich damit zu belämmern, aber wegen meiner plötzlichen Versetzung hat Norman vorgeschlagen, dass ich dir das zuschiebe und du diese Woche einen Hausbesuch machst. Wobei ich dich warnen sollte: Meiner Meinung nach ist die alte Frau komplett durchgeknallt, und ich weiß nicht, was wir da machen können.

Cheers,

Cath Dawson

III/73/0059

Hausbesuch, 23. 9. 73

Erklärte Mrs Axon, dass Miss Dawson versetzt worden ist. Der Klientin scheint es gut zu gehen. Mrs Axon gab an, dass sie mit dem Fortschritt der Klientin nicht zufrieden sei, aber auch nicht erwartet habe, dass sie Fortschritte mache. Erklärte Mrs Axon die verschiedenen Aktivitäten, in welche die Klientin im Tagesbetreuungszentrum eingebunden wird. Fragte, warum sie Miss Dawson nicht gesagt habe, dass die Klientin lesen und schreiben könne. Mrs Axon gab an, »weil es eine Lüge gewesen wäre«. Erklärte ihr, dass sich die Leistungen der Klientin auf einer elementaren Ebene bewegten, es sich aber dennoch um eine sehr lobenswerte Entwicklung handele und die Klientin in jeder Weise ermutigt werden solle, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Fragte die Klientin, ob sie ihrer Mutter zeigen wolle, dass sie schreiben kann. Die Klientin willigte ein, aber als ich ein Stück Papier brachte, kritzelte sie nur darauf herum. Mrs Axon erklärte: »Es ist klar, dass Sie alle Narren sind, Narren, die sich um Narren kümmern.«

Kam auf das Thema der langfristigen Versorgung der Klientin zu sprechen. Mrs Axon gab der Vorstellung Ausdruck, dass die Klientin im Haus allein gelassen werden könne (wobei sie wohl meinte: nach ihrem eigenen Tod). Mrs Axon schien nicht in der Lage, die Vorstellung ihres eigenen Todes zu verbalisieren. Erklärte ihr, dass Muriel auf der Warteliste für eine Fünf-Tage-Versorgung im Zentrum stehe und im Falle ihres, Mrs Axons, Todes ein Platz für sie in einer Wohnanlage oder einem Heim gefunden werde. Mrs Axon sagte: »Meinen Sie Holloway?«, und auf Rückfrage: »Sie hat mörderische Neigungen.« Sie erläuterte diese Aussage nicht weiter. Fragte Mrs Axon nach ihrer eigenen körperlichen Gesundheit und ob sie sich in der Lage fühle, auch weiter für Muriel zu sorgen. Mrs Axon gab an, ihr körperlicher Zustand sei ausgezeichnet. Deutete an, die Klientin sei womöglich in der Lage, selbstständiger zu werden, wenn sie dazu ermutigt werde. Überraschenderweise (angesichts ihrer früheren Aussagen) erklärte Mrs Axon daraufhin, die Klientin sei immer ein gutes, gehorsames Mädchen gewesen und habe von Geburt an nie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Wies Mrs Axon darauf hin, dass Muriel nicht länger in dieser Position, will sagen, nicht länger ein Mädchen sei. Mrs Axon gab an, sollte Muriel »Schwierigkeiten machen«, werde sie die Sozialarbeiter dafür zur Rechenschaft ziehen. Mrs Axons Verhalten während des Besuchs war höchst unfreundlich.

J. S. S.

Liebe Schwester Janet,

würden Sie, wenn Sie Dienst haben, versuchen, Muriel davon abzuhalten, ihre Hand in die Teekasse zu stecken? M. S. Byrne MA sagt, sie verspüre das Bedürfnis danach, da sie in ihrem derzeitigen Zustand wegen ihrer Identität oder Autonomie, eins von beidem, Dinge nehmen müsse, die ihr nicht gegeben werden. Sie klaut nicht zum ersten Mal. Wenn Sie die Kasse also um halb vier mitbringen, würde ich das Ding an Ihrer Stelle im Medizinschrank einschließen, bis Muriel weg ist. Dann kann sie ihre Autonomie während Mpoes Schicht nächste Woche bekommen.

Alles Liebe,

Norah

Muriel geht die Lauderdale Road hinunter. Muriel beobachtet Muriel, wie sie die Lauderdale Road hinuntergeht. Aus dem Bus steigt. Wie Holzpuppen nicken die Leute im Bus mit den Köpfen und recken die Arme nach ihr. Sie begreift, dass sie sich verabschieden. Steif hebt sie den Arm, als grüßte sie einen Diktator, und macht es ihnen damit nach. Diese äußeren Formen sind für sie die besten, die sichersten. Die Leute im Bus scheinen völlig zufrieden damit. Sie lächelt.

Aus dem Bus an der Ecke Buckingham Avenue und Lauderdale Road. In diese Richtung hat das Haus keine Fenster. Die Lauderdale Road hinunter bis ans Ende, über die Straße, da umdrehen und auf der anderen Seite wieder zurück. Den Bürgersteig entlang und durchs Tor. Der Umweg folgt keinem Zweck, nur vielleicht, dass Evelyn nie davon erfahren wird. Aber warte:

Da badet ein Hund im schwachen Sonnenschein, ein als reinrassiger Drahthaar-Foxterrier bekannter Hund. Zwischen seinen Tatzen liegt ein sauber geleckter großer Knochen. Muriel bückt sich, ihre Finger bewegen sich auf den Knochen zu, doch der Hund wacht auf, springt auf die Füße und trägt ein Knurren in der Kehle. Muriel hebt eines ihrer steifen Beine mit geschnürtem Schuh und tritt dem Hund mit aller Kraft in die Rippen. Der als reinrassiger Drahthaar-Foxterrier bekannte Hund ergreift jaulend die Flucht. Muriel: Um die Ecke. Durchs Tor.

Evelyn öffnet die Tür ohne ein Wort und schlurft nach hinten ins Haus. Damit ist der Salon sicher, denkt Muriel giftig. Muriel starrt auf den langweiligen Boden, auf den Tisch. Ich könnte dieser Boden sein, denkt sie, dieser Boden, über den man geht. Auf den man Dinge legt. Ich könnte das sein, was darauf gelegt wird. Die vertraute Panik steigt in ihr auf, aber als sich ihre Finger um den Knochen in ihrer Tasche schließen, beruhigt sich ihr Herzschlag wieder.

Heute Morgen hat Evelyn sie angeschrien, Dinge wissen wollen. Evelyn hatte den Arm des als Muriel Alexandra Axon bekannten Mädchens gepackt und geschüttelt. Wann immer das passiert, schleicht sich Muriel davon, huscht unbemerkt aus sich hinaus und sieht von der anderen Seite des Zimmers zu. Evelyn denkt, sie weiß, mit wem sie redet, aber sie schüttelt einen Tisch oder einen Boden, einen toten Planeten, einen Kiesel am Strand. Das ist höchst befriedigend. Es zeigt, wie wenig Evelyn vom wahren Zustand der Dinge versteht.