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Man schreibt das Jahr 1782, und Charles O’Brien flüchtet vor dem Hunger aus Irland nach London. O’Brien ist nicht nur von außerordentlich großer Gestalt, er ist auch ein Barde, ein Mann der Balladen und Geschichten, der von den alten Mythen erzählt, von Königen und Feen. In London, so verspricht ihm sein Freund und Impresario Joe, wird er eine Sensation sein. Als »der riesige O’Brien« lässt er sich von den sensationslüsternen Massen begaffen. Unter den Schaulustigen ist aber auch ein Mann, dessen scharfer Blick O’Brien Angst einjagt: John Hunter, Anatom und Sezierer, berühmt für seine Experimente und fieberhaft auf der Suche nach dem Geheimnis des Lebens. Als O’Brien eines Tages entdeckt, dass er erneut zu wachsen beginnt, weiß er, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Und wieder erscheint Hunter.

Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Für ›Falken‹, den zweiten Band der Tudor-Trilogie, erhielt Hilary Mantel 2012 erneut den Booker-Preis.

Hilary Mantel

Der riesige O’Brien

Roman

Aus dem Englischen
von Charlotte Breuer

 

Für Lesley Glaister

 

… Doch alle,

Die Stifte führen, stehlen von Schädeln und Knochen.

Leser begehren Körper. Wir sind’s, die auferstehen lassen.

 

George MacBeth,

›The Cleaver Garden‹

1

»Bring die Kühe rein. Zeit, für die Nacht alles zuzumachen.«

Es kamen drei Kühe, atmeten im Halbdunkel: Sie schlugen mit den Schwanzspitzen, das Fell spannte sich über den Knochen. Sie setzten ihre Hufe zwischen die Männer, drängelten. Die Flammen vom Feuer tanzten in ihren Augen. Durch die offene Tür sah man den Mond auf den Berg zusegeln.

»Sonst holt O’Shea sie sich über den Hügel«, sagte Connor. Connor war ihr Gastgeber. »Drei Kühe hat mein Großvater seinem Großvater gestohlen. Keine Nacht vergeht, ohne dass er darauf sinnt, die Schuld zu begleichen.«

»Ein alter Zwist«, sagte Claffey. »Das sind die besten.«

Pybus spuckte aus. »O’Shea, der würde dir sogar Ohrenschmerzen missgönnen. Wenn du einen Furunkel hättest, er würde ihn dir missgönnen. Seine Seele ist so eng wie ein Nadelöhr.«

»Hör zu, Connor«, sagte der Riese. Sein Ton klang interessiert. »Was würdest du tun, wenn du vier Kühe hättest?«

»Davon kann ich nur träumen«, sagte Connor.

»Weil du keinen Platz im Haus hast?«

Connor zuckte die Achseln. »Die müssten auch reinkommen.«

»Und wenn du sechs Kühe hättest?«

»Dann wären die Männer nicht mehr so nah beim Feuer«, sagte Claffey.

»Und wenn du zehn Kühe hättest?«

»Dann würden die Kühe reinkommen, und die Männer müssten draußen hocken bleiben«, sagte Pybus.

Connor nickte. »Stimmt.«

Der Riese lachte. »Du bist ein feiner Gastgeber. Die Männer müssten draußen hocken bleiben!«

»Uns würde da draußen nichts passieren«, sagte Claffey. »O’Shea mag die Schulden samt Zinsen eintreiben wollen, aber er würde niemals eine Horde Männer stehlen.«

»Noch dazu solche Männer wie uns«, sagte Pybus.

Sagte Jankin: »Was sind Zinsen?«

»Ich könnte nie zehn Kühe halten«, sagte Connor. »Du hast recht, Charles O’Brien. Die Wände würden sie nicht fassen.«

»Da siehst du’s«, sagte der Riese. »Das setzt deinem Ehrgeiz die Grenze. Und alles bloß, weil es zur Zeit deines Großvaters böses Blut gegeben hat.«

Die Tür ging zu, und es gab nur noch das Binsenlicht; das Licht ging aus, und dann waren da nur noch das sterbende Feuer und der feuchte Atem der Tiere und das gespenstische Schimmern von Pybus’ rotem Schopf.

»Rückt näher an die Glut«, sagte der Riese. Im rauchigen Dämmerlicht war seine Stimme ein Sirren, wie ein Mottenflügel. Sie rückten mit ihren Hockern vor, und Pybus, der ein Junge war, machte es sich mit dem Hintern auf dem Fußboden aus blankem Stein bequem. »Welche Geschichte soll es sein?«

»Du entscheidest, Mester«, sagte Jankin. »Wir können keine Geschichte aussuchen.«

Claffey sah Jankin von der Seite an, als er den Riesen »Mester« nannte. Der Riese bemerkte den Blick. Claffey hatte seine schlechten Seiten: aber Menschen sind nicht wie Kartoffeln, bei denen eine faule Stelle sich überall ausbreitet, und als Claffey sich ihm wieder zuwandte, sprach sein Gesicht Bände, begierig auf die Geschichte, die er am liebsten verschmähen würde.

Der Riese zögerte, blickte tief in den Rauch des Feuers. Draußen bildete sich Nebel auf dem Berg. Gestalten formten sich in der Ecke des Raums, Gestalten, die nicht wie Vieh aussahen und von Connor, Jankin und Claffey nicht gesehen wurden; nur Pybus, der durch seine Jugend noch weniger Hautschichten hatte, scharrte mit den Füßen wie ein unruhiges Pferd und hob die Nase, als er den fremden Geruch wahrnahm. »Was ist da?«, fragte er. Aber es war nichts, nichts: nur ein Stoß von Claffeys Ellbogen, mit dem er sich Platz verschaffte, nur das sanfte Wiederkäuen der weißen Kuh.

Der Riese wartete, bis Pybus’ gerunzelte Stirn sich geglättet hatte, bis der Junge seine Arme beruhigt auf den Knien verschränkte und seinen Kopf darauflegte. Dann ließ der Riese seiner Stimme freien Lauf. Sie war leicht, klangvoll, nicht ohne einen gebildeten Ton; und so sprach er.

»Habt ihr je das Unglück erlebt, allein in einem der großen Wälder dieser Welt unterwegs zu sein; euch, wenn die Nacht sich senkt, viele Stunden entfernt von jedem christlichen Haus zu befinden? Seid ihr je, wenn Sturm aufkommt, ohne alle Begleitung gewesen, bis auf euer Lasttier, ohne Trost in dieser sterblichen Welt außer dem Kruzifix unter eurem Hemd?«

»Welche ist es?« Jankins Stimme zitterte.

»Es ist die Wilde Jagd«, sagte Connor. »Er begegnet den Toten auf ihrer nächtlichen Wanderung, geführt von einem Geisterkönig auf einem Geisterpferd.«

»Das wird mir Angst machen«, sagte Jankin.

»Ohne Zweifel«, sagte Claffey.

»Ich habe sie schon mal gehört«, sagte Connor. »Aber sie ist eine von seinen besten.«

Dann debattierten sie nicht mehr über die Geschichte, und der Riese nahm seine Erzählung wieder auf, führte sie durch den tiefen, raunenden, von Löwen durchstreiften Wald an einen Ort, an den sie nie zu kommen erwartet hatten: zum Essbaren Haus. Von seinen Zuhörern kam ein beglückter Seufzer. Sie wussten, was essbar war; sie wussten, was ein Haus war. Kaum jemals hatten sie das Glück gehabt, auf beides in einem zu stoßen.

So mischte er seine Geschichten: Glück und Blut. Das Dach aus Lebkuchen, dann die lautlose Ankunft des naschhaften Wolfs. Die weißhäutige, wohlgerundete Frau, die unter den zärtlichen Händen eines Mannes zum Skelett wird; der See, auf dem Goldstücke schwimmen und in dem jeder ertrinkt, der nach ihnen fischt. Verdienst erntet keinen Lohn, auch nicht erfüllte Pflicht; wer Glück hat, ist erfolgreich, und das könnte jeder von uns sein. Jesu, dachte er. Es gab jetzt Tage, da fühlte er die Schwäche wie Wasser durch seine Beine strömen, die so lang waren wie der ganze Körper eines Mannes. Manchmal zitterten seine Handgelenke unter dem Gewicht seiner eigenen Hände. Ein Mann konnte mit seiner Fantasie am Ende sein. Er konnte alle Geschichten aufgebraucht haben; und jene, die den ganzen Tag nichts zu essen gehabt haben, sind gereizt und sind übellaunige Zuhörer. Erst letzte Woche hatte er gefragt: »Habt ihr je die Geschichte vom Heiligen Kevin und O’Tooles Gans gehört?«, und ein Dutzend Stimmen hatte geschrien: »O nein, nicht schon wieder!«

Eine Kuh, vom Feuer gebannt, wäre beinahe auf seinen Fuß getreten. Um ihr eine Lektion zu erteilen, trat er ihr auf den Fuß. »Lass mein Vieh in Ruhe!«, rief Connor. Der Riese schaute zum Himmel auf, aber das Dach behinderte seine Sicht. Vor vierzig Jahren hatte Connors Vater es gedeckt, und jetzt war es fleckig und schwarz vom Feuer; wenn es regnete und der Regen durch das Dach lief, tröpfelte es rußig braun auf die Köpfe der Männer. Connor hatte keine Frau, und er würde wohl auch keine finden. Pybus und Claffey auch nicht; Jankin, so hoffte er im Stillen, war vielleicht unfruchtbar.

Veränderungen standen bevor; er konnte sie im Feuer sehen, und er konnte sie im pfeifenden Luftzug spüren, der durch alle Wände kam. Sein Appetit war groß, wie es ihm anstand; er konnte eine Kornkammer leer essen, er konnte ein Fass leer trinken. Aber jetzt, wo ganz Irland zugrunde geht, wovon soll ein Riese da leben? Er hatte sich sein Auskommen verdient, indem er umhergezogen war als angenehmer Gast, der als Gastgeschenk nicht nur seine Anwesenheit als Riese zu bieten hatte, sondern auch Geschichten und Lieder. Er hatte sein Brot bei einem Bauern verdient, der einen tief verwurzelten Baum ausgerissen haben wollte, oder bei einem Städter, der sein Haus abgerissen haben wollte, damit er sich ein neues bauen konnte. Kraft hatte viel ausgemacht, Größe noch mehr, und manch ein häuslicher Herd hatte ihn als Wunderling willkommen geheißen, als guten Unterhalter, als Erscheinung aus dem Buch der Natur. Jetzt wird das Buch der Natur kaum noch gelesen, und er dachte dies: Am besten, ich verdiene mein Brot mit dem Naheliegenden. Ich werde mein Brot mit meiner Größe verdienen.

Er wandte sich an Claffey, den Einzigen unter ihnen, der ein bisschen Verstand besaß. Er sagte: »Ich habe mich entschieden. Für Joe Vance.«

Ein oder zwei Tage später kam Joe Vance den Berg herauf. Er trug einen speckigen Hut auf dem Kopf, und eine Flasche mit starkem Alkohol baumelte an einer Schnur gegen seinen Schenkel. Er war ein kluger Mann, praktisch veranlagt und ein Spaßvogel; er hatte für eine ganze Reihe von denen, die die Gegend über die letzten zehn Jahre verlassen hatten, Agent und Impresario gespielt. Er verstand etwas von der Kunst, Seereisen zu arrangieren, und war hin und wieder selbst zur See gefahren. Er war im Gefängnis gewesen, aber wieder rausgekommen. Er hatte viele Frauen geheiratet, und einige von ihnen waren tot; an diesem und jenem gestorben, wie das bei Frauen so geht. Er hatte einen schwarzen Bart, breite Schultern, an denen die Knochen deutlich zu sehen waren, eine gutmütige, besonnene, männliche Ausstrahlung und ehrliche blaue Augen.

Connors Hütte kam in Sicht. Sie verfügte nicht über den Luxus eines Kamins – seit sechs Monaten gab es auf Meilen hinaus keinen Kamin –, aber sie hatte ein Loch im Dach; der Rauch quoll durch das Loch und überall durch das Dachstroh, sodass es aussah, als würde die ganze Hütte im Regen und im Morgennebel sanft vor sich hin dampfen.

Joe Vance fand die Hütte voller Rauch vor und alle um ein erbärmliches Feuer gekauert. Seine ehrlichen Augen betrachteten ihre Lebenslage. Der Riese blickte auf. Er wirkte lächerlich auf seinem Hocker, die Knie fast an den Ohren. »Du solltest auf einem Thron sitzen«, sagte Vance unvermittelt.

»Daran besteht kein Zweifel«, sagte Claffey.

»Kommst du mit auf die Reise?«, fragte ihn Vance.

»Er muss«, sagte Pybus. »Er spricht ihr Kauderwelsch. Brabbelt auf jeden Fall wie sie. Wir haben ihn gehört.«

»Sprichst du kein Englisch, O’Brien? Ich dachte, du seist ein gebildeter Riese.«

»Ich habe es gelernt und wieder vergessen«, sagte der Riese. »Ich habe es in einer Bleikiste versiegelt, und ich habe sie in den Tiefen des Meeres versenkt.«

»Fisch sie wieder rauf, mein Guter«, sagte Vance. »Wenn einer von euch sie sieht, zerrt sie ans Ufer. Du musst verstehen, ich habe nicht vor, dich als Wilden vorzuführen. Das taugt nichts für diese Art Schaustellerei.«

»Fahren wir bis Derry?«, fragte Jankin. »Ich habe davon gehört, weißt du.«

»Ah, Jankin, du gute, einfältige Seele«, sagte der Riese. »Vance kennt sich aus.«

»Ihr wisst doch«, sagte Vance, »dass ich als Agent für die Brüder Knife tätig war, sehr stattliche Riesen, an die ihr euch erinnern werdet.«

»Ich habe sie als ziemlich gewöhnlich und erbärmlich in Erinnerung«, sagte O’Brien. »Der größere der beiden reichte mir kaum bis an die Schulter. Und was seinen kleinen Bruder betrifft – Pocket habe ich ihn immer genannt –, als ich mit zehn Jahren ins Wirtshaus ging, hielt ich meinen Krug in der Hand und stützte dabei den Ellbogen auf seinem Schädel ab.«

»Die Knifes sind gar nichts«, sagte Jankin. »Das waren praktisch Zwerge.«

Joe Vance schaute mit seinen ehrlichen Augen zur Seite. Er erinnerte sich an die Knifes – vor allem an Pocket – als Jungen, die eine Wand durch bloßes Anschauen niederreißen konnten. Pocket war auch ungewöhnlich erpicht auf seinen Anteil, und einmal, als er sich übervorteilt fühlte, hatte er Joe Vance hoch in die Luft gehoben und mit seinem Gürtel an einen Haken gehängt, wo gerade am Vortag ein halbes Schwein gehangen hatte. Mit einer einzigen Hand hatte er ihn hochgehoben, und das mit der linken; das würde Vance nicht so leicht vergessen. Er blickte auf und musterte O’Brien, versuchte, dessen Neigung zu Gewalttätigkeit abzuschätzen. Wo immer er damit durchkam, war er ein Agent dieser Sorte; er nahm zwanzig Shilling auf eine Guinee.

»Nun zu meinen Bedingungen«, sagte der Riese. »Ich und meine Gefährten – das sind diese hier –, wir verlangen alle Bequemlichkeit und Verpflegung auf der Überfahrt.«

»Ich habe Erfahrung im Buchen von Überfahrten«, sagte Joe Vance mit einer Verbeugung.

»Es muss ein Schiff sein, das die Briten in Erstaunen versetzt. Mit goldenem Bug und seidenen Segeln.«

»Du selbst wirst die Briten in Erstaunen versetzen«, gurrte Vance.

»Ich verlange sechs Frauen, die singend vor mir her schreiten.«

Vance verlor die Beherrschung; dazu brauchte es nicht viel. »Das ist alles Scheiße! Du, Charlie O’Brien, du hast seit Ostern kein Fleisch mehr gegessen. Du lebst im Dreck!«

»Stimmt«, erwiderte der Riese und schaute zum Dach. »Alle sechs müssen Königinnen sein«, sagte er lächelnd; er fand Vances Benehmen nicht weiter schlimm, und was kann es schaden, wenn man seine Forderungen hoch ansetzt?

»Woher soll ich denn sechs Königinnen nehmen?«, polterte Vance.

»Das ist dein Problem«, sagte der Riese höflich. Er streckte seine Beine aus. Sein großer Zeh stieß Jankin beinahe ins Feuer, aber Jankin pustete auf seine verbrannten Handflächen und leckte sie ab und entschuldigte sich.

Claffey hob den Kopf. Er suchte Vances Blick. Mit einem Nicken deutete er auf O’Brien und sagte: »Der ist gefährlich, in einem Zimmer.« Dabei beließ er es. Im Allgemeinen wusste Claffey, wann er aufhören musste.

Der Riese sagte: »Vance, werde ich Geld in der Tasche haben? Werde ich Gold in meinem Beutel haben?«

Vance streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben. »Von dem, was Joe Vance rechtmäßig einnehmen kann, wirst du deinen Anteil erhalten. Die englische Öffentlichkeit verzehrt sich nach dem Anblick eines Riesen, wie ich mit Sicherheit weiß. Wenn ich’s mir recht überlege, ist es fast eine gute Tat, ihnen einen Riesen zu bringen.«

Er sah Jankin ins Gesicht. »Engländer sind eine Art Affen«, erklärte er.

Er lächelte mit dem halben Gesicht. Der Riese bemerkte dies.

»Stimmt nicht«, sagte er. »Klein von Wuchs, barbarisch im Benehmen, unverständlich in der Sprache: ungebildet, zügellos und ein Witz, wenn sie getrunken haben – aber nicht behaart. Zumindest nicht überall.«

»Ich habe noch nie einen Affen gesehen«, sagte Jankin. »Oder von einem geträumt. Habe ich schon mal einen Engländer gesehen?«

»Das sind die, die auf Pferden reiten«, sagte Claffey.

»Ach so«, sagte Jankin. »Dann habe ich schon mal welche gesehen.«

»Was ist mit Connor?«, fragte Vance. »Kommst du auch mit?«

»Connor ist ein wohlhabender Mann«, sagte Claffey. »Er muss seine Kühe hüten.«

Connors Stirn legte sich in Falten. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Einmal ist O’Shea rübergekommen, mitten in der Nacht, mit einer Schüssel, und hat meinen Kühen Blut abgezapft für seine Sonntagssuppe. Als wäre er ein Kerry-Hirte.«

»Ja«, sagte der Riese. »Eine Kerry-Kuh weiß, wann Samstagabend ist.« Er hob den Kopf. »Nun, diese Hütte ist unser Anker gewesen. Doch jetzt müssen wir Segel setzen.«

Als sie den Hügel hinuntergingen, versanken ihre Füße im Schlamm, und stürmischer Regen blies ihnen ins Gesicht. Es war die Jahreszeit, wo Ratten in ihren Löchern, Hunde in ihren Hütten und Lords in ihren Federbetten bleiben. Der Riese war so zuvorkommend, ihnen ihre Bündel zu tragen, sodass sie die Hände frei hatten, um die Balance zu halten, wenn sie ausrutschten. Nach etwa einer Meile kamen sie zu einer Siedlung, oder was vor Kurzem noch eine gewesen war: Jetzt standen hier nur noch nackte Reste von zerbröckelndem Mauerwerk, von nichts als rankendem Grünzeug bedeckt. Schon wenige Monate, nachdem sie verlassen worden waren, waren die Hütten halb verfallen und versanken im Schlamm; ihre Dächer waren ausgebrannt, und sie waren zum Himmel hin offen.

Etwas Kleines, von der Größe eines Hundes, sprang davon, als sie sich näherten: schlenkernde Hände, gebeugter Rücken. »Ein Hund oder ein Kind?«, fragte Pybus verblüfft.

Der Riese wischte sich den dampfenden Regen aus dem Gesicht. Seine schnelleren Augen hatten erkannt, dass das Geschöpf nicht von dieser Welt war. Es war eins von jenen Halbwesen, die manchmal in Ruinen und auf Schlachtfeldern umherhuschten, scharrten und wehklagten: Ihr menschlicher Teil weinte, während das Tier in ihnen sie nach totem Fleisch wühlen ließ.

»Ich hatte gedacht, wir würden hier eine Unterkunft finden«, sagte Claffey. Seine Fellmütze lag auf seinem Kopf wie ein toter Dachs, und die Borte an seiner besten Jacke war ruiniert. »Keine Hütte hat ein Dach.«

»Ich habe dir geraten, nicht deine besten Sachen anzuziehen«, sagte der Riese.

»Eine Plage soll über alle Agenten kommen«, sagte Claffey. »Über alle Agenten, Büttel und Gutsbesitzer.«

»Du solltest nicht von einer Plage sprechen«, sagte der Riese. »Du musst sagen, welche Plage. Sag: Mögen ihre Zungen Aussatz bekommen und ihre Augen in Eiter schwimmen.«

»Du bist zu wählerisch mit deinen Flüchen«, sagte Claffey. »Ich würde sie mit einer Keule verfluchen und ihnen den Schädel einschlagen.«

»Ich auch«, sagte Pybus.

»Das Fluchen«, erklärte der Riese, »ist eine alte und ehrbare Kunst. Ein richtiger Fluch ist eine Legion von Keulen wert.« Er rückte die Bündel auf seinen Schultern bequemer zurecht. »Nun gut, lasst uns in die Stadt gehen.«

»Die Stadt!«, rief Jankin. Er versuchte zu hüpfen.

Als sie die Stadt erreichten, standen nur ein oder zwei Jünglinge da, um sie willkommen zu heißen; keine ausgelassene Kinderschar kam gelaufen, um die Sensation zu erleben. Sie sahen die Jungen von ferne; die Straße war kahl und glatt wie der Schenkel einer Königin. Der Riese grüßte sie von Weitem mit lautem Hallo; es schallte über die baumlose Landschaft, fing die Jungen ein wie ein Seil mit einer Schlinge.

Der Riese ging langsamer, passte seinen Schritt an, woran er sich immer wieder erinnern musste. Die Jungen begrüßten sie in einer Wildnis aus zersplittertem Holz, den rohen, nassen Innereien von Baumstümpfen, die in den stürmischen, dämmrigen Himmel ragten.

Ein ganzer Wald, für Profit abgeholzt, und heimatlose Vögel, die zum Tagesende kreischten.

»Wir sind nur einen Tag gewandert«, sagte Pybus, »und so weit haben wir es nun geschafft.«

Der Riese schaute ihn von der Seite an. Schon jetzt brachte die Reise edlere Gefühle bei Pybus zum Vorschein, die der Riese nicht bei ihm vermutet hatte.

Die Jungen verbeugten sich, als sie sich näherten. »Willkommen, Mesters. Heutzutage meiden uns sogar die Bettler.«

»Besuchen euch die Blinden?«, fragte der Riese.

»Ja, sie haben die Güte. Sie wenden sich nicht ab, obwohl sie sagen, sie können das Elend riechen. Sie haben zwar eine Fiedel, aber wir haben nicht die Kraft zu tanzen.«

Die Jungen führten sie in die Stadt. »Sie fällen, wie ihr seht«, sagte einer. Der Gestank des frischen Bluts der Bäume lag in der feuchten Luft, die den Riesen in Brusthöhe umfing.

Jankin sperrte den Mund auf. »Wo sollen sie hingehen, das Volk, das in dem Wald wohnt?«

Hastig korrigierte er sich: »Das kleine Volk, das in dem Wald lebt?«

»Das ist uns egal«, sagte einer der Jungen schroff. »Wir haben als Nachbarn gelebt, haben ihnen in besseren Zeiten sogar Milch hinausgestellt, aber jetzt haben wir keine Milch, und wir können uns nur noch selbst helfen. Ich habe gehört, sie sollen denen, die sie mögen, Korn bringen oder ein Stück Speck oder Federvieh, aber das ist nicht unsere Erfahrung. Sie müssen für sich selbst sorgen, wie wir auch.«

»Das sind Geschichten«, sagte der Riese. »Feenvolk in den Wäldern, klein und grün – es sind sowieso nur Geschichten.«

Sie schauten zum Hügel hinüber. Es war ein Gesicht mit zerschlagenen Lippen, mit Zahnstümpfen. Es gab keine Schatten, und kein Licht spielte darin. Es war nur, was es war, und nichts weiter: Zerstörung. Der Riese sagte, um es Jankin erträglicher zu machen: »Es gibt noch mehr Wälder in Irland. Und das Reisen verdrießt das edle Volk nicht, so wie es uns verdrießt. Sie sind so schnell wie die Gedanken.« Dann biss er sich auf die Lippe und grinste, denn er musste daran denken, dass dies in Jankins Fall nicht besonders schnell war.

In der Stadt war es still, und dem Riesen war diese Stille vertraut. Es war die Lautlosigkeit des Hungers, die Ruhe, die einkehrt, wenn die Wut verbraucht, der nagende Schmerz verebbt ist und nichts übrig bleibt als Schwäche, geschwollene Bäuche, leichtes Fieber und der seltsame Haarwuchs. Nur Jankin sang laut: »Wir kommen in die Stadt, in die Stadt.«

»Hör auf mit dem Krach«, sagte Claffey. Sie sahen sich um. Wie ein junger Hund suchte Jankin die Nähe des Riesen.

»Sie haben euch gebrochen, wie ich sehe«, sagte der Riese zu den Jungen.

Die Stadt war nichts mehr; zwei von Hütten gesäumte Straßen, vor den Türen dampfende Misthaufen, die Wände rissig und windschief, die Dächer eingesunken. Es war eine Stadt, in der kein Stolz mehr übrig war, keine Muskelkraft, um alles instand zu halten, kein Funken im Herzen, der einen anfeuert, etwas wieder aufzubauen. Der Regen hatte aufgehört, und die Wolken teilten sich. Die von Spurrillen durchzogene Straße war voller Pfützen, in denen sich eine weiße, dunstige Sonne spiegelte. Die Kinder starrten sie an, als sie vorübergingen, kratzten sich ihre geblähten Bäuche. Sie bestaunten den Riesen, aber sie jubelten nicht. Sie waren zu müde für Wunder. Das Wunder einer Schüssel mit Kartoffeln und Buttermilch, das hätte sie zum Jauchzen gebracht; aber für Kartoffeln war es zu früh im Jahr. Wäre O’Brien der Teufel gewesen, der gekommen war, um sie zu holen, sie wären ihm mit ihren entzündeten Augen gefolgt, in der Hoffnung, in der Hölle etwas zu essen zu bekommen.

»Wo ist Mulroney’s?«, fragte Claffey. »Wo ist Mulroney’s Taverne?«

»Wo ist irgendwas?«, fragte einer der Jungen. »Mulroney ist gestorben, als ihr oben auf dem Berg wart. Hat ein Fieber gekriegt. Sein Haus ist eingestürzt.« Er hob einen Arm. »Da ist es.«

Was – das? Diese Ruine in dem Graben? Mulroney’s Taverne, wo sie den Dichterwettstreit abzuhalten pflegten, nachdem das große Haus zerstört war? Mulroney’s, wo es kein Gefidel und keinen Gesang und kein vulgäres Harfenspiel gab, sondern die alten Geschichten im alten Metrum korrekt rezitiert wurden? Es war ein Kreis runzliger Männer mit von Spinnweben überzogenen Gesichtern und milchigen Augen, die ihre Becher mit zitternden Händen hielten. Strenge Winter hatten einen nach dem anderen dahingerafft, Wasser füllte die Lungen, mit deren Luft einst die Taten von Königen besungen wurden.

»Das kann doch nicht Mulroney’s sein!«, stieß Pybus hervor. »Was sollen wir jetzt tun? Der Riese braucht einen starken Trunk! Das hat er nötig.«

»Es ist die Soße zu einer guten Geschichte«, sagte Jankin, der diese Redensart oft gehört hatte.

»Joe Vance wird bald hier sein«, sagte der Riese. »Bis dahin werden wir uns bescheiden.«

Eine Frau erschien in der Tür einer der Hütten. Sie kam auf sie zu, den Pfützen vorsichtig ausweichend, obwohl ihre bloßen Beine und Füße bereits schlammverkrustet waren. Sie trat näher. Der Riese sah ihre großen grauen Augen, mild und still wie ein See im August: den feinen Schnitt ihrer Lippen, den Bogen ihres Spanns, ihre lockeren Gelenke. Ihre Arme waren weiße, geschälte Zweige, die kräftigen Muskeln ausgezehrt; ein Kind war zu sehen, das in ihrem Bauch nistete wie eine geballte Faust.

»Guten Tag, meine Königin.«

Sie grüßte ihn nicht. »Kannst du heilen? Ich habe gehört, dass Riesen heilen können.«

»Wer braucht Heilung?«

»Mein Sohn.«

»Wie alt?«

»Drei.« Ihr Haar war so fein wie Federn und aschfarben. »Seit drei Jahren habe ich mich nicht mehr satt gegessen, und er auch nicht.« Blaue Venen, dünn wie Federstriche, zogen sich über ihre Lider und marmorierten die Innenseite ihrer Arme.

Dies, sagte der Riese sich im Stillen, sind die Söhne und Töchter von Göttern und Königen. Sie sind die Erben des Silberbaums, in dessen Ästen alle Melodien der Welt verborgen liegen. Und jetzt haben sie nicht mal mehr einen Topf zum Pissen.

Ihre Hand griff nach seinem Arm. Sie zog ihn mit sich. »Das ist meine Hütte.«

Daneben war Connors Hütte ein Palast. Das Dach war voller Löcher, und schlammiges Wasser lief ungehindert hindurch. Das Kind lag in der am wenigsten feuchten Ecke, in ein oder zwei Lumpen gewickelt. Im Fieber riss es sich die Fetzen immer wieder vom Leib; mit geübten Fingern deckte seine Mutter es wieder zu. Seine Stirn wölbte sich über eingesunkene, flatternde Augenlider. »Er träumt«, sagte der Riese.

Die Frau hockte auf dem Boden und betrachtete sein Gesicht. »Wovon träumt er?«

»Er träumt die Träume eines Jungen, der ein Held sein wird. Andere Kinder träumen von Milch; er träumt von Feuer. Er träumt von einer Burg und einer Schar bewaffneter Männer, darunter er selbst, im Alter von acht Jahren so kräftig wie ein ausgewachsener Mann, einen Edelstein auf der Stirn und das Schwert der Gerechtigkeit in der Hand.«

Sie neigte den Kopf und lächelte. Ihre Mundwinkel waren gerissen und blutig, und ihr Zahnfleisch war weiß. »Du bist von altmodischer Art, nicht wahr? Ein Mann von gestern. Wenn er einen Edelstein auf der Stirn hätte, hätte ich ihn verkauft. Wenn es ein Schwert der Gerechtigkeit gäbe, hätte ich auch das verkauft. Sag, welche Hoffnung gibt es noch für die Zukunft, wenn selbst das Schwert der Gerechtigkeit verkauft wird? Aber es ist wohl bekannt, fast ein Sprichwort, dass eine hungrige Frau bereit ist, Gerechtigkeit für ein Stück Brot einzutauschen. Du siehst, wir haben keine Helden in dieser Stadt, jetzt nicht mehr. Keine Helden und keine Tugend.«

»Komm mit uns«, sagte der Riese. »Wir fahren nach England. Ich gehe in die große Stadt London – es heißt, ein Mann kann sich dort wegen seiner Größe zur Schau stellen, und sie geben ihm Geld dafür.«

»Mitkommen?«, wiederholte sie. »Aber ihr fahrt schon morgen, nicht wahr? Soll ich meinen Sohn unbegraben zurücklassen? Ich weiß, er wird heute Nacht sterben.«

»Hast du keinen Mann?«

»Fort.«

»Keine Mutter und keinen Vater?«

»Tot.«

»Keine Geschwister?«

»Keine lebenden.«

»Musst du den Boden abmessen, auf dem sie gefallen sind? Willst du Tag für Tag darauf auf und ab gehen?« Er deutete auf das Kind. »Willst du diese Lumpen waschen, um das Kind darin einzuwickeln, das du trägst? Komm mit, Lady. Hier hält dich nichts mehr. Und wir brauchen eine irische Frau, die neben mir auf dem Thron sitzt.«

»Wer verhilft dir zu einem Thron?«

»Joe Vance. Er hat schon andere Riesen zur Schau gestellt. Er hat Erfahrung.«

»Ah, du armer Mann«, sagte sie. Sie schloss die Augen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal zu einem Riesen sagen würde.«

»Fürchte dich nicht. Es erfordert eine Seereise, aber Vance hat die Überfahrt schon mehrmals gemacht.«

Der Junge warf den Kopf herum; er riss die Augen auf. Er hob den Kopf. Eine dünne grüne Flüssigkeit lief ihm aus dem Mundwinkel. Seine Mutter hielt ihm die Hand stützend unter den Kopf. Er hustete schwach, grunzte, als er das Erbrochene schluckte; dann begann er, das Grün in winzigen Schwällen auszuspucken, wie eine Katze, die niest.

»Was hat er gegessen?«, fragte O’Brien.

»Das weiß der liebe Herrgott. Wir leben hier von Grünzeug, genau wie zu Zeiten meines Großvaters, als die Leute Gras und Sauerampfer gegessen haben. Die Kinder haben etwas Giftiges gefunden, und es sind immer die Jüngsten, die zu klein sind, um es beschreiben zu können – man kann sie fragen, wo sie es gepflückt haben, aber bis man merkt, dass sie sich vergiftet haben, sind sie zu schwach, um einen irgendwohin zu führen. Oder vielleicht – habe ich mir gedacht – ist es etwas, das wir ihnen geben – irgendein harmloses Kraut –, das wir vertragen, aber das sie mordet.«

»Das ist ein schlimmer Gedanke.«

»Sehr schlimm«, sagte sie.

Der Riese und sein Gefolge aßen Brennnesselsuppe, und bevor ihr quälender Durst zu groß wurde, traf Vance mit einem guten Tropfen ein. Auf dem Boden in der Hütte der Frau hockend, erzählte der Riese diese Geschichten: von der Hochzeitsnacht des Earl of Desmond, und wie der Heilige Declan einen Piraten verschluckte. Alle aus der Stadt waren gekommen, einige hatten eine Kerze mitgebracht, andere Torf für das Feuer; sie lauschten den Geschichten, und dazwischen beteten sie. Als der Todeskampf begann, nahm der Riese das Kind auf seine Knie, sodass das Rasseln in der Kehle des Jungen unterbrochen und manchmal übertönt wurde von seiner leichten, honigsüßen Stimme, von der hohen Stimme, die die Zuhörer überraschte, kam sie doch aus dem Mund eines so ungeheuer großen Mannes. Er versuchte, den Rhythmus seiner Erzählung dem Leiden des Kindes anzupassen, aber da er ein fehlbarer Mensch war, musste er hin und wieder innehalten, um nachzudenken; dann breitete sich jedes Mal qualvolle Stille in der Hütte aus, das rasselnde Atmen, bis der heisere Aufschrei des Kindes es für eine weitere Minute und dann noch eine Minute ins Leben zurückriss. Mit seinem mit Haaren bedeckten Körper und den Knochen, so dünn wie Draht, sah es unter O’Briens Hand aus wie eine Maus.

Als der Tod eintrat, stieß das Kind einen kurzen Schrei aus, diesen leisen, erstickten Schrei, den Heldenkinder ausstoßen, wenn sie noch im Schoß ihrer Mutter sind. Es war der Aufschrei der Vision und der Sehnsucht, wenn einer die Zukunft deutlich vor sich sieht. Als O’Brien ihn vernahm, hob er den kleinen Körper mit einer Hand auf und legte ihn in den Schoß seiner Mutter, wo das Kind innerhalb eines Augenblicks zu einer Leiche wurde. Nach einem weiteren Augenblick quoll grüner Schleim aus seiner Nase, floss zwischen den Beinen hervor, tropfte sogar, wie grüner Meeresschaum, aus dem kleinen Glied, das wie eine Muschel in seinem Strand aus Hautfalten nistete.

Sogleich begann Pybus zu singen, seine hohe Jungenstimme stieg zum Himmel auf. Die Wolken hatten keine Verwendung dafür; sie schickten seinen Gesang zurück zur Erde, wo er erstickte und zwischen den verrottenden Lehmwänden erstarb.

»Wenigstens habt ihr keinen Mangel an Wasser«, sagte Claffey und hob den Blick in der Gewissheit, dass es morgen regnen würde.

Im Morgengrauen kamen die Jungen und geleiteten sie aus der Stadt. »Könnt ihr nicht mit uns kommen?«, fragte der Riese. »Ihr seid mutige Jungen, und hier gibt es nichts mehr für euch.«

Joe Vances Blicke waren wie Dolche.

»Vielen Dank, Sir«, sagte der erste Junge. »Wir sind entschlossen, hierzubleiben. Vielleicht kommen bessere Zeiten. Seid Ihr übrigens ein Dichter?«

»Auf bescheidene Weise«, sagte der Riese. »Ich kann mir ein Lied ausdenken. Aber wer kann das nicht? Was die alten Formen angeht, die strengen Regeln, ich habe sie nie erlernt, und, um ehrlich zu sein, es kommt mehr auf die Übung an als auf Veranlagung. Ich glaube, es gibt niemanden in meiner Generation, der die alten Regeln beherrscht. Seht ihr, deswegen sind wir immer zu Mulroney gekommen. Hier konnten wir die alten Männer treffen und ein wenig von ihnen lernen.«

»Lasst uns aufbrechen«, sagte Joe Vance. Er trat von einem Fuß auf den anderen.

»Es gab Zeiten, da wanderten Mönche über die Straßen, verkleidet als gewöhnliche Tagelöhner: Mönche aus Salamanca, aus Rom, aus Löwen. Sie haben mir neben einem handfesten, brauchbaren Latein und Kenntnissen der heiligen Schrift auf Griechisch die Rudimente ihrer verschiedenen Sprachen hinterlassen. Lauter Reisende: Sie blieben niemals länger als eine Nacht unter demselben Dach, aber sie hatten immer genug Zeit, einem jungen Riesen etwas beizubringen.«

Joe Vance hob eine Hand und zupfte ihn am Ärmel.

»Ein Floh zwickt mich«, sagte der Riese. Er tat so, als sähe er sich suchend um. »Oder vielleicht eine Hornisse?«

Joe zog seine Hand zurück, bevor der Riese daraufschlagen konnte. »Eine Honigbiene«, sagte er.

In jener Nacht im Schlaf saß der Riese unter den Toten und hörte die Stimmen der alten Männer aus Mulroney’s Taverne: ein heiseres Flüstern, wie Herbstblätter, die in einem Beutel zerrieben werden.

2

Schottland, tagsüber. Der Junge ist allein auf dem Feld, schwarze Furchen erheben sich ringsum: flach auf dem Bauch auf dem feuchten Grund, darüber ein weiter, windiger Himmel. Sein Kinn liegt auf dem Boden, sein Körper ist stellenweise, wo ihm die Kleider verrutscht sind, blau angelaufen. Es ist seine eigene Aufgabe, sich anzuziehen, sich anständig zu kleiden, und wenn er friert, ist es seine eigene Schuld. Er ist losgeschickt worden, um die Krähen zu verscheuchen. In anderen Gegenden stellen sie zu diesem Zweck Puppen auf, Puppen aus Stöcken und alten Kleidern. Er hat davon gehört: Englischer Luxus. Hier werden alte Kleider nicht fortgeworfen.

Um eine Krähe zu erschrecken, musst du aufspringen, mit den Armen wedeln. Verscheuch sie. Jag sie fort.

Ein Krabbeltier klettert an einem Grashalm hoch. Kleine schwarze Füße auf einem süßen, essbaren Blatt. Der Junge beobachtet es mit gerunzelter Stirn; es könnte ihm über die Augen krabbeln. Er streckt einen Finger aus. Das Krabbeltier klettert darauf, doch er spürt nichts; ist es zu leicht, oder ist sein Finger zu kalt? Sein Finger schmeckt nach Salz, Erde und Scheiße.

Er schließt die Hand. Dann öffnet er sie wieder und quält das Krabbeltier mit einem Finger, reißt ihm ein Bein aus. Vor einiger Zeit, als er das zum ersten Mal tat, spürte er eine heiße Nässe tief in seinem Körper, als wäre dort, oberhalb seines Nabels, Wasser ausgetreten; aber wenn er es jetzt tut, spürt er überhaupt nichts. Er reißt das zweite Bein aus. Er kann zählen; sie behaupten, er könnte es nicht, aber er kann es. Ein Bein, zwei Beine, drei Beine, vier. Zählen, ja; und lesen übrigens auch. Der Käfer krabbelt auf seiner Handfläche herum. Warum ist er nicht weggeflogen? Er hatte die Chance. Als ihm ein Bein fehlte, hätte er davonfliegen können. Jetzt strampelt er mit denen, die ihm geblieben sind. Wahrscheinlich ist er geblieben, weil er ihn mag, weil er sein Freund sein wollte, trotz allem, was er ihm angetan hatte. Der Junge meinte es nicht böse; er wollte nur sehen, was passierte. Er würde dem Käfer gern ein Bein, zwei Beine, drei zurückgeben. Er wüsste gern, ob das Krabbeltier jetzt tot oder lebendig ist. John Hunter atmet, und die Worte kommen mit seinem Atem heraus: »Es war ein Versuch. Es war nichts Grausames.«

Krähen über ihm. Fremde schwarze Hände fahren über den Himmel. Er fegt den Käfer fort. Er steht auf. Der Zahn des Windes beißt ihn, nagt und nagt. Er wirbelt mit den Armen. »John Hunter«, schreit er, »John Hunter. Verjag alle Krähen.« Immer wieder ruft er: »John Hunter, verjag die Krähen.«

3

Meine Brüder sind: James, kürzlich verstorben, John, tot, Andrew, tot. William lebt noch, aber er ist fortgegangen. Meine Schwestern sind: Elizabeth, tot, Agnes, tot, Isabella, tot, Janet, tot.

Ich habe auch eine Schwester, die noch lebt. Ihr Name ist Dorothea. Wenn wir guter Laune sind, nennen wir sie Dolly.

Unsere Familie leidet an schlechten Lungen und schlechten Knochen.

Der John, der tot ist, ist nicht zu verwechseln mit mir, dem jüngeren John. Ich sage dies, weil es, obwohl die Toten den Lebenden gewöhnlich in keiner Weise ähneln, unter gewissen Umständen schwierig ist, die einen von den anderen zu unterscheiden. Es gibt zahlreiche Berichte, einige aus dem Altertum, von Unglücklichen, die lebendig begraben wurden. Solche Begräbnisse mögen der Ursprung seltsamer Geschichten sein, Geschichten von Vampiren und Ghulen und Gespenstern; von Stimmen, die aus der Erde kommen, und von Blut, das aus dem Boden quillt. Aber ich habe mich mit vielen toten Frauen und Männern in einem kleinen Zimmer aufgehalten. Ich habe unter dem Seziertisch im Arbeitszimmer von Bruder Wullie geschlafen, und ich habe manch eine Leiche zu ihrer letzten Ruhestätte auf Wullies schmalem Arbeitstisch geschleppt. Ich kann euch sagen, dass es keine Gespenster gibt. Wenn es welche gäbe, dann würden sie doch bei Wullie spuken, oder?