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Heiligabend in Glasgow: Die fünfzehnjährige Marnie und ihre kleine Schwester Nelly haben gerade ihre toten Eltern im Garten vergraben. Niemand sonst weiß, dass sie da liegen und wie sie dahin gekommen sind. Und die Geschwister werden es niemandem sagen. Irgendwie müssen sie jetzt allein über die Runden kommen, doch allzu viel Geld verdient Marnie als Gelegenheits-Dealerin nicht. So ist es ihnen ganz recht, als ihr alter Nachbar Lennie, den fälschlicherweise alle für einen Perversling halten, sich plötzlich für sie interessiert. Lennie merkt bald, dass die Mädchen seine Hilfe brauchen. Er nimmt sich ihrer an und gibt ihnen so etwas wie ein Zuhause. Als die Leute jedoch beginnen, Fragen zu stellen, zeigen sich erste Risse in Marnies und Nellys Lügengebäude, und es kommen erschütternde Details aus ihrem Familienleben zum Vorschein, was ihre Lage nur noch komplizierter macht.
Mit schnörkelloser Präzision, großem Einfühlungsvermögen und finsterem Humor erzählt Lisa O’Donnell die verstörend komische Geschichte dreier verlorener Seelen, die bedingungslos füreinander einstehen und der Welt damit die Hoffnung auf ein glückliches Leben abringen.
 
 
Lisa O’Donnell wurde für ihr Drehbuch ›The Wedding Gift‹ mit dem Orange Screenwriting Prize ausgezeichnet. Für ihren Debütroman ›Bienensterben‹ (DuMont 2013) erhielt sie 2013 den Commonwealth Writers’ Prize. Ihr neuer Roman ›Die Geheiminisse der Welt‹ erscheint 2015 im DuMont Buchverlag. Lisa O’Donnell lebt mit ihren zwei Kindern in Schottland.

Lisa O’Donnell

Bienen-
sterben

Roman

Aus dem Englischen
von Stefanie Jacobs

 

Für meine Kinder Max und Christie

Prolog

Eugene Doyle. Geboren am 19. Juni 1972. Gestorben am 17. Dezember 2010 im Alter von achtunddreißig Jahren.

Isabel Ann Macdonald. Geboren am 2. Mai 1974. Gestorben am 18. Dezember 2010 im Alter von sechsunddreißig Jahren.

Heute ist Weihnachten. Heute hab ich Geburtstag. Heute werd ich fünfzehn. Heute hab ich meine Eltern im Garten begraben. Geliebt wurden sie beide nicht.

Winter

Marnie

Izzy hat mich Marnie genannt, nach ihrer Mutter. Sie ist jetzt tot, also, sie sind beide tot. Nur damit klar ist, woher ich ihn habe, meinen Namen. Meine Mum hatte einen langweiligen Namen, hat überhaupt nicht zu ihr gepasst. Sie hieß Izzy, für Isabel. Sie hätte Charlie heißen sollen. Für mich heißt sie Charlie. Mein Vater hatte einen Schwulennamen, Eugene. Er hat zwar nie gesagt, dass er ihn hasst, aber ich wette, es war so. Alle haben ihn Gene genannt, aber irgendwie hatte er mehr was von einem Frankie oder einem Tommy, vielleicht auch einem Mickey. Meine Freundin Kimberly wird immer Kimbo genannt, sie prügelt sich andauernd und würde ihrem eigenen Schatten eine in die Fresse hauen, wenn sie könnte. Kimbos Name kommt daher, dass mal irgendwer gelästert hat, sie wäre total psycho, und er ist hängen geblieben, wie eine Warnung. »Hier kommt Kimbo, rennt um euer Leben.«

Meine andere Freundin ist Susie. Sie heißt eigentlich Suzanne, und wir haben sie auch lange so genannt, uns war eigentlich nie danach, es abzukürzen, wie man das mit langen Namen so macht, aber als wir elf oder so waren, hat sie gesagt, sie will nicht mehr Suzanne genannt werden, sie will Susie genannt werden. Sie fand, es klingt älter und sexyer, tut es wohl auch. Ihre Oma nennt sie natürlich immer noch Snoozy, demütigender Babyname.

Dann ist da meine Schwester, Helen, die nennen wir Nelly, aber ehrlich gesagt glaub ich, sie weiß gar nicht, dass sie Helen heißt, weil sie schon als Baby immer nur Nelly war. Nell wäre cooler gewesen, aber bei der Geburt sah sie wie Dumbo aus, deshalb passte Nelly perfekt.

Izzy hat gesagt, es war ein Alptraum, meinen Namen auszusuchen; sie wollte irgendwas Besonderes für mich, irgendwas Anspruchsvolles, was die Leute dazu bringt, mich zweimal anzugucken, so als ob sie beim ersten Mal irgendwas übersehen hätten, und deshalb hat sie den Namen von ihrer Mutter genommen. Emma soll auch ein heißer Favorit gewesen sein, und Martha, aber Gene gefiel Emma nicht, er meinte, es ist ein schwacher Name. Sam gefiel ihm auch nicht, weil ihn mal eine Sam abgesägt hat. Er kannte auch eine Siobhan, die ein Bus erwischt hat, als sie eine Zigarettenkippe aus dem Rinnstein aufheben wollte. Gene hätte am liebsten Elise genommen, wegen einem Song von The Cure, aber den fand Izzy unmöglich, sie stand eher auf New Order, und es war wohl auch Elegia im Gespräch.

Izzy hat gesagt, ich wäre winzig gewesen bei der Geburt, ein Frühchen, das schnell auf die Intensivstation musste, und da hab ich neun Wochen unter einer Plastikhaube gelegen und Gene und Izzy haben mich durch das Plexiglas angeguckt. Der sicherste Ort, an dem ich je war. Na jedenfalls, deshalb bin ich Marnie und nicht Eve oder Prudence oder Lucretia. Ich bin Marnie. Zu jung zum Rauchen, zu jung zum Trinken und zu jung zum Ficken, aber wer sollte mich aufhalten?

Die meisten finden Nelly netter als mich, aber nur, weil sie ’ne Macke hat. Sie ist zwölf. Sie mag Cornflakes mit Cola und Kostümdramen. Sie steht auf alte Filme mit Bette Davis und Vivien Leigh. Sie mag Dokus über Tiere und alles, was mit Harry Potter zu tun hat, da ist sie wie eine Besessene. Sie spielt auch Geige, dank Sarah May Pollock, einer Musiklehrerin, die jedes Jahr die Talente aussiebte, indem sie uns zwang, Noten vom Band anzuhören. Ich bin nie für ein Instrument ausgewählt worden, dabei singe ich gern und kann auch die Melodie halten, aber Nelly hat den Violinschlüssel erkannt, den man fürs Klavierspielen braucht, da hat sie aber drauf geschissen, ihr hatte es stattdessen eine Geige mit einer kaputten Saite angetan, die einsam und allein auf einem grauen Resopaltisch lag. Sie spielt natürlich voll gut, und es hat nicht lange gedauert, da hat Miss Pollock gesagt, sie kann die Geige behalten, als Geschenk letztes Jahr zu Weihnachten, so gut ist Nelly oder so gut war Miss Pollock, die unheimlich gern mit ihr zusammengespielt hat. Leider ist Miss Pollock jetzt weg von der Schule, und für sie ist Mr. Charker gekommen, ein Trompeter. Nelly spielt immer noch, wie ein Profi, hat jemand gesagt, und natürlich lässt unsere Schule sie jedes Jahr zu Weihnachten auftreten, hauptsächlich um die Beiräte zu beeindrucken, auch wenn die Schule sie in keiner Weise fördert und niemand Neuen einstellt, der sie unterrichtet. Nicht dass es einen Unterschied machen würde, sie kann auch ohne Begleitung spielen. Kimbo und Susie hören ihr total gern zu, und die Nachbarn auch, und mir gefällt es auch, außer wenn sie die Geige einfach irgendwo mittendrin rausholt und mit Bach loslegt, weil, das macht sie nämlich manchmal, in der U-Bahn, in einem Buchladen auf der Sauchiehall Street und einmal im Bus nach Wemyss Bay. Es stört keinen, weil sie so gut ist, aber irgendwie ist es mir peinlich, wenn sie dann so abgeht und ich daneben mit einer Kippe in der Hand wie eine Wildfremde, als ob wir gar nicht zusammengehören.

Noch so eine Macke von Nelly ist, wie sie redet. Meistens klingt sie wie die Queen von England. Sie sagt nicht Mum, sie sagt Mutter, und sie sagt nicht Dad, sondern Vater. Sie hat so Sätze im Kopf wie »Was zum Teufel geht hier vor sich?« und »Was in aller Welt soll dieses Affentheater?«. Ich hab sie auch schon »bestürzt« und »Donnerwetter« sagen hören. Macht mich wahnsinnig. Ich muss sie dauernd vor irgendwelchen Bekloppten beschützen, die sich von ihr verarscht fühlen. Sie trägt auch eine Brille, so eine mit runden Gläsern wie Harry Potter, von dem ist sie seit Neuestem richtig besessen, und sie trägt sie wie eine echte Brille, nur dass es keine ist. Letztes Jahr zu Weihnachten hat Izzy ihr einen Zauberumhang geschenkt, aber sie zieht ihn nur im Haus an, bis auf ein Mal zum Müllrausbringen.

Nelly hat einen leichten Schatten, so sieht’s aus, sie ist nicht zurückgeblieben oder so, bloß anders. Sie hat nicht viele Freunde, sie lacht nicht oft, und wenn man über irgendwas Ernstes mit ihr redet, wird sie ganz still, so als ob sie es aufsaugt und im Kopf neu arrangiert. Keine Ahnung, wie sie es arrangiert, ich weiß nur, dass es anders ist, als ich es vielleicht machen würde. Sie nimmt auch alles sehr wörtlich, deshalb muss man aufpassen, was man sagt. Wenn ich zum Beispiel sagen würde: »Du hast sie echt nicht mehr alle«, würde sie so was antworten wie: »Ich kann dir versichern, Marnie, um meine geistige Gesundheit ist es bestens bestellt!« Ehrlich gesagt frag ich mich, warum sie noch nicht tot ist. So kann man nicht reden, nicht in Maryhill.

Geht einem irgendwann auf den Kranz, sogar den Lehrern, die kommen so gar nicht mit ihr klar. Nach der Grundschule haben sie sie in eine Klasse voller Oberarschlöcher gesteckt, aber mitten im Schuljahr mussten sie sie wieder rausnehmen, weil sie voll das Brain in Naturwissenschaften ist. So richtig einsteinmäßig, und dann natürlich die Geige. Sie tut mir leid. Ich meine, sie kann ja nichts dafür, dass sie so ist, sie will ja gar nicht alles sagen, was sie im Kopf hat. Sie kann einfach nichts dafür, wie das eine Mal, als sie dem toughesten Mädchen in ihrem Jahrgang, Sharon Henry, gesagt hat, sie soll sich »untenherum« waschen, weil Nelly ihre »Verdorbenheit« riechen kann. Ohne Scheiß. Da kennt die nichts. Sie hat Glück gehabt, dass Shaz es lustig fand, was bedeutete, alle anderen durften es auch lustig finden, und sie hat noch mehr Glück gehabt, dass gerade keine Jungs dabei waren. Shaz hat sich wohl ein Stück Seife genommen und allen erzählt, sie geht sich jetzt mal »untenherum« reinigen, und dann hat sie so getan, als würde sie sich waschen. Dann hysterisches Gelächter, bis Miss Moray dazwischen ist, stinksauer, sie sollen sich alle verziehen, sie will Mittag essen gehen. Wenn irgendwelche Mädchen aus Nellys Klasse an ihr vorbeigehen, tun sie jetzt immer so, als würden sie sich die Scheide waschen, oder fragen sie, ob sie nach Möse riechen. Nelly kapiert es nicht. Sagt ihnen, sie sollten sich keine Sorgen machen – sie wären »hygienisch einwandfrei«.

Und natürlich noch andere Sachen, wie ihr fanatisches Gequassel, meist wild drauflos. Ich weiß noch, als Steve Irwin gestorben ist, dieser Krokodiltyp, da hat sie ungefähr einen Monat lang ununterbrochen davon geredet. Über Steve Irwins Witwe, seine Tochter und natürlich über Stachelrochen. Wo Stachelrochen leben. Wie sie aussehen. Wie giftig so ein Stachelrochen ist, wenn er einen sticht. Wenn sie so wird, will man ihr echt eine ballern.

Dann lieber der Harry-Fimmel, da hat man mehr Ruhe. Wenn Nelly liest, existiert sonst nichts, nicht mal ich; ich liebe es, wenn sie liest, ich bin gern nicht existent, wenn auch nur für eine Stunde. Ich glaub, diese Harry-Potter-Sache erinnert sie an Oma Lou. Sie hat Nelly ein paar von den Büchern vorgelesen, als sie sich damals um uns gekümmert hat, aber die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei. Wir sind jetzt allein. Izzy und Gene sind tot, und keiner weiß, was wir mit ihnen gemacht haben. Wir würden bestimmt getrennt werden, mich würden sie in ein Heim stecken, und weiß der Geier, was sie mit Nelly machen würden. Aber in einem Jahr bin ich eh sechzehn. Dann können sie mir nichts mehr. Mit sechzehn kann ich ein Baby kriegen und heiraten, dann gelte ich als Erwachsene und darf ganz offiziell für uns beide sorgen.

Eigentlich hab ich wohl schon die ganze Zeit für uns gesorgt. Mit fünf hab ich Windeln gewechselt und mit sieben bin ich einkaufen gegangen, und sauber gemacht und Wäsche gewaschen hab ich, sobald ich den Weg zum Waschsalon wusste, und ich hab Nelly in ihrem winzigen Buggy rumgeschoben, da war ich sechs. Wee Maw haben sie mich bei den Hochhäusern immer genannt, kleine Mum, solche Scheißeltern waren Gene und Izzy. Sie haben sich einfach nie wegen irgendwas blicken lassen, und immer blieb alles an mir hängen, und an Nelly, als sie alt genug war. Sie waren nie für uns da, sie waren abwesend, aber wenigstens wissen wir jetzt, wo sie sind.

Nelly

»Lieber Gott, Mutter, du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt.«

Sie küsste mich auf die Stirn und ging in den Garten.

»Wo zum Teufel willst du hin? Draußen ist es bitterkalt.«

»Mir geht’s gut, Mausi. Ich brauch nur frische Luft.«

»Dann zieh dir wenigstens eine Strickjacke über. Du holst dir ja den Tod da draußen.«

Marnie

Auf Genes Tod hat Izzy total überraschend reagiert. Wir durften keinen Krankenwagen rufen, und sie lag da und hat sich an seinen toten Körper gekuschelt, ihm die Haare gestreichelt und seine Wangen geküsst, als ob sie ihn wirklich lieben würde. Ich hätte kotzen können, als ich sie so gesehen hab.

Als ich am nächsten Tag aufgewacht bin und es war still, dachte ich, vielleicht ist sie nachts weg und abgehauen, wie sie es immer macht. Aber dann komm ich in die Küche, und da sitzt Nelly und schlürft Cornflakes mit Cola. Ich frag sie, wo Izzy ist, und sie deutet mit dem Kopf in Richtung Garten. Ich hatte nur ein T-Shirt an und draußen war es arschkalt, deshalb hab ich mir eine Strickjacke geschnappt. Nebenan wohnt so ein Perverser, je weniger der sieht, desto besser, aber Izzy war nicht im Garten und die Schuppentür stand auf, deshalb bin ich barfuß hingerannt, und da hab ich sie gefunden, oder da muss Nelly sie gefunden haben, bevor sie sich wieder an ihr Prickelmüsli gesetzt hat. Izzy hatte sich aufgehängt.

Als ich wieder ins Haus bin, saß Nelly immer noch vor ihren Cornflakes. Ich hab ihr gesagt, Izzy ist tot.

»Nun, das war es jetzt wohl«, antwortete sie.

Dann hab ich ihr erklärt, was passiert, wenn das Jugendamt davon erfährt. Sie nickte. Ich hab zu ihr gesagt, wir müssen sie im Garten begraben.

»Ob das wohl eine kluge Idee ist?«, fragte sie.

»Klar ist das ’ne kluge Idee, du Nassbirne!«

Bevor wir sie vergraben haben, haben wir ihre Sachen nach Geld durchsucht. Gene hatte ein halbes Ticket Acid und ein paar Quittungen. Keine Ahnung, warum er Quittungen aufgehoben hat. Er hatte auch seine Bankkarte eingesteckt und die PIN, 4321, auf einem Aufkleber innen im Portemonnaie. Ohne Scheiß.

Izzy hatte eine Handvoll Kleingeld und ein paar Kippen, eine Telefonnummer, ein paar Schlaftabletten und ein paar Benzos. Die Zigaretten hab ich behalten und die Pillen weggeschmissen, aber dann kam mir die Idee, ich könnte die Pillen ja zu Geld machen, also hab ich sie wieder aus der Tonne gefischt und verkauft. Ihr Portemonnaie hab ich auch behalten. Ich war dabei, als sie es gekauft hat. Calvin Clone. Außerdem hatte sie vierzig Pfund. Gott sei Dank. Sonst wären wir verhungert, weil, auf Genes Konto war Ebbe.

Nelly

Marnie zwingt mich immer zu Dingen, die ich nicht möchte. Sagt alle möglichen entsetzlichen Sachen. Tot, begraben, aus und vorbei, aber muss sie damit weitermachen? Garstiges Mädchen.

Marnie

Gene aus dem Bett und in den Garten zu kriegen, war der reinste Albtraum. Sein Gesicht war geschwollen, als hätte ihm wer eine Tracht Prügel verpasst, und er war ganz klebrig, als ob Gift aus ihm raustropfen würde. Es kam aus den Augen, aus der Nase und aus dem Mund. Und der Gestank, ich musste echt würgen.

Wir waren uns schnell einig, dass wir ihn in das Bettlaken wickeln, auf dem er lag, weil, ihn noch mal anfassen, das ging gar nicht, aber es war total durchweicht von dieser sirupartigen Flüssigkeit, deshalb mussten wir noch ein anderes Bettlaken holen, also mussten wir ihn doch noch mal anfassen. Wir hätten Gummihandschuhe gebrauchen können, hatten wir aber nicht. Nur welche aus Wolle, deshalb haben wir die angezogen.

Gene fiel regelrecht das Fleisch von den Knochen, und an manchen Stellen ist er gerissen wie Papier. Jedes Mal, wenn wir ihn bewegt haben, hat er ein Geräusch von sich gegeben, so eine Art Furz, bloß nass, und als wir oben an der Treppe waren, hatten wir genug, und wir konnten ihn auch nicht mehr halten. Einmal ist uns sein Arm weggerutscht, schlaff wie ein Seil, und Nelly wollte ihn auffangen, aber sie hat versehentlich seine Hand erwischt, und da ist ein Fingernagel abgegangen und in den Maschen von ihrem Handschuh hängen geblieben. Da konnte sie nicht mehr und hat gekotzt. Ich konnte auch nicht mehr, deshalb haben wir uns drauf geeinigt, dass wir ihn oben vom Treppenabsatz stoßen und runterrollen lassen. Was Blöderes hätten wir nicht machen können. Er ist aus allen Nähten geplatzt, überall Körperflüssigkeit, auf dem Teppich, an den Wänden, ein Sumpf aus Gift.

»Du garstiger, garstiger Mann«, hat Nelly gesagt.

Am Ende brauchten wir eine Schubkarre, die haben wir beim Nachbarn geklaut, und dann haben wir Gene vom Boden geschaufelt und hinten rausgebracht.

Izzy war ja schon im Schuppen, ihr sanken die Augen in den Kopf und die Zunge hing raus, aber trotzdem sah sie nicht halb so schlimm aus wie Gene, sie war aufgedunsener und nicht so grün, mehr so feuchtblau. Als Nelly Izzy gesehen hat, fing sie voll an zu heulen, und dann hat sie gereihert, also ich meine, richtig gereihert. Ich war auf Autopilot. Ich wollte sie unter der Erde und weghaben. Ich hatte keine Zeit für Tränen, weil ich wusste, wir haben was zu erledigen, und vor allem hab ich mir gewünscht, wir hätten uns früher darum gekümmert, sie zu beseitigen, und eigentlich weiß ich auch nicht, warum wir das nicht gemacht haben.

Wir haben die ganze Nacht gegraben, der Boden war praktisch gefroren. Es war nicht leicht, überhaupt was rauszukriegen. Uns war auch schnell klar, dass in dem Grab nicht genug Platz für beide sein würde, weil wir nicht dran gedacht hatten, dass wir ja auch wieder Erde in das Loch schaufeln mussten, um sie richtig zu begraben, und weil Gene am meisten stank, haben wir beschlossen, ihn zuerst zu beerdigen und Izzy in den Kohlenkasten zu quetschen; klar würde sie verwesen, aber so kamen wir an sie ran und konnten zur Not Desinfektionsmittel drüberschütten. Aber eine Woche später mussten wir sie in einen Müllsack schaufeln und unter den Schuppen schieben, weil sie auf dem Beton ausgelaufen ist.

Zum Schluss haben wir noch Bleiche über beide drübergeschüttet; ein schlechter Versuch, den Gestank zu übertünchen, den sie zurückgelassen hatten, obwohl Nelly behauptete, bei der Kälte würde sich der Gestank sowieso in Grenzen halten. Dann sind wir wieder rein und wollten die Reste von Gene von der Treppe putzen, aber so sehr wir auch schrubbten, seine Flecken gingen einfach nicht weg, obwohl wir gescheuert haben, bis der Teppich kaum noch Farbe hatte und unsere Knöchel blutig waren. Da haben wir dann beschlossen, der Teppich muss raus, und ein Messer genommen und ihn bis auf das letzte Fitzelchen von der Treppe gerissen. Aber sogar, als der Teppich in der Mülltonne lag, stank es im ganzen Haus noch nach ihrem Tod.

Als alles fertig war, haben wir Izzy mit zwei Säcken Kohle zugedeckt und auf Gene Lavendel gepflanzt, aber nicht aus Rührseligkeit, von wegen, sondern damit man nicht so genau sieht, was in der Erde vergraben ist. Die Verkäuferin im Gartencenter hat gesagt, Lavendel wächst am schnellsten und riecht stark, aber sie meinte, es wäre vielleicht zu kalt und wir sollten lieber bis zum Frühjahr warten. Wir bräuchten bloß ein paar Stöcke, sagte sie, aber wir haben mehr gekauft, weil, die waren so klein. Wir mussten ja das Grab zudecken. Außerdem hat sie gesagt, Lavendel zieht Bienen an und wir sollten ihn nicht neben eine Tür pflanzen. Dann fing sie von Honigbienen an, dass die ausgerottet werden und wie traurig das für die Umwelt ist. Nelly hat das so erschreckt, dass sie eine Woche lang von nichts anderem geredet hat. Ich hab sie dann irgendwann angeblafft, sie soll verdammt noch mal von diesen Scheißbienen aufhören, weshalb ich dann später ein schlechtes Gewissen hatte, aber sie ging mir echt auf den Keks damit und hat dauernd irgendwelche Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort wusste. Ich meine, zuerst hab ich mir allen möglichen Mist ausgedacht, die Bienen sind ausgewandert, die Bienen entwickeln sich zu einer neuen Art, aber dann wurde es zu übel und meine Antworten haben ihr Angst gemacht, kann sein, dass ich irgendwas von Erderwärmung erzählt hab, in Verbindung mit irgendeiner schwachsinnigen Weltuntergangstheorie. Sie gibt einem halt das Gefühl, man müsste auf jede von ihren beschissenen Fragen eine Antwort wissen. Am Ende hat sie mich dann in die Ecke gedrängt, nicht mal mehr gefragt, sondern eine Antwort gefordert, also hat sie eine gekriegt.

»Hör auf mit der Fragerei, ich hab keinen blassen Schimmer von deinen Scheißbienen«, sage ich.

Da hat sie aufgehört, nichts mehr über die Bienen gesagt, kein einziges Wort, aber ich weiß, sie denkt noch an sie.

Nelly

Mein Vater, dieses boshafte Ekel, hat mich nachts auf seinen Schoß gesetzt. Er liebt mich, hat er gesagt.

Später finde ich ihn erschöpft, unbeweglich, schmutzig und zerknittert auf einem ungemachten Bett. Neben seinem Kopf liegt mein Kissen und, gütiger Himmel, Marnie hat es ihm aufs Gesicht gedrückt.

Und tschüss, Eugene Doyle, du Armleuchter.

Marnie

Ich liebe meine Freundinnen. Für mich ist wahr, was für sie wahr ist. Uns ist egal, was die Leute denken, wir gehen Hand in Hand, seit uns unsere Grundschullehrerin gesagt hat, dass man so am sichersten über die Straße kommt. So lange sind wir schon richtig dicke, und wir wissen alles voneinander, bis auf ein paar Sachen vielleicht, aber eigentlich erzählen wir uns alles.

Susie wohnt bei ihrer Oma. Ihre Mum ist in der Klapse. Susie wird mal Schauspielerin, sie kann das verdammt gut. Geht zusammen mit den ganzen Spießern in die Theater-AG, nicht freiwillig natürlich, sie ist vor Weihnachten auf dem Klo beim Rauchen erwischt worden, und statt Nachsitzen haben sie ihr die Theater-AG aufgebrummt, einen Monat lang jede Woche, und jetzt spielt Susie bei der Schulaufführung mit, Oliver Twist. Sie ist Nancy, muss massenhaft Lieder singen. Kimbo und ich haben gesagt, wir helfen ihr mit den Kostümen und allem, aber nur, damit wir Susie singen hören. Es ist ein ziemlich cooles Musical.

Miss Fraser (Möchtegernschauspielerin in Vintage-Klamotten) meint, Susie soll auf die Schauspielschule gehen. Sie hat schon mit Susies Oma darüber gesprochen, aber die will nichts davon wissen.

»Schauspielerin, das könnte dir passen«, hat sie gesagt. »Du schneidest den Leuten die Haare. Das ist ein Beruf fürs Leben, Schätzchen.«

»Du hast mir gar nichts zu sagen«, hat Susie gesagt.

Dafür hat sie sich eine gefangen. »Schnauze, mein Fräulein, bei mir gibt’s keine Widerworte!«, hat ihre Oma gesagt.

Susie war tagelang stinksauer und meinte, ihre Oma kann sie mal, nicht ihr gegenüber natürlich, bloß um uns zu zeigen, wie ernst ihr das mit der Schauspielerei ist. Sie hat sogar aufgehört zu rauchen, macht es nur noch, wenn sie betrunken ist, weil sie meint, es schadet der Stimme, aber Kaffee ja wohl auch.

Izzy hat mal zu mir gesagt, Susies Mum ist eine Schlampe. Würde mit einem Stock ficken, der im Boden steckt. Eine Schande für Susie; ihre Mum ist in die Klapse gekommen, als Susie noch sehr klein war. Also eigentlich erinnert sie sich kaum an sie, aber sie liebt sie, als wäre sie ein Zimmer weiter. Manchmal kriegt Susie Angst, sie endet auch in der Klapse, als läge das in der Familie oder so, und dann ist sie richtig fertig deswegen, aber ihre Freunde und die Schauspiellehrerin unterstützen sie total und man merkt richtig, wie sie jeden Tag selbstbewusster wird und langsam ernsthaft darüber nachdenkt, aus Maryhill wegzugehen und von ihrer verrückten Oma, die übrigens klaut.

Kimbo ist das totale Gegenteil von Susie. Alle haben Schiss vor ihr, weil sie manisch-depressiv ist, das ist letztes Jahr festgestellt worden. Ihre Kiffereltern waren ja erst gegen Medikamente, wenn man das glauben kann, und wollten, dass sie eine Therapie macht, damit sie ihre Emotionen in den Griff kriegt, aber als sie dann im Aufenthaltsraum in der Schule einen Stuhl aus dem Fenster geschmissen hat, musste es sein. Sie hat ziemlich zugelegt in letzter Zeit, eine fiese Nebenwirkung von den Neuroleptika, die sie nimmt, aber davon abgesehen wirken sie echt gut, bloß das eine Mal ist sie davon ausgetickt. Sie meinte, es geht ihr besser, und hat sie einfach nicht mehr genommen, aber das darf man nicht, sonst wird man psycho. Sie wurde nicht eingewiesen oder so, aber sie konnte einen Monat lang nicht aus dem Haus. Susie und ich mögen Kimbo auf Medikamenten lieber, eigentlich alle, weil, wenn sie gedopt ist, ist sie wie der Weihnachtsmann, lacht permanent und schenkt einem irgendwas. Mir gibt es ein blödes Gefühl, dass sie so dick ist, weil sie eben auch nicht den Körperbau dafür hat, und natürlich macht sie sich voll was vor und zieht immer Klamotten an, die ihr viel zu klein sind. Vor Weihnachten hat sie sich ein Bauchnabelpiercing machen lassen, und der Typ musste drei Mal stechen, um das Loch reinzukriegen, aber sie peilt es trotzdem nicht, und ihre Eltern sagen ihr schon mal gar nichts, die vergöttern sie. Kimbo ist vielleicht einer von den wenigen Teenagern auf der Welt, die ihre Mum und ihren Dad echt mögen. Kann ich ihr nicht verdenken. Greg und Kate sind super; klopfen immer erst an, bevor sie reinkommen, und wenn Kimbo sagt, sie sollen sich »verpissen«, tun sie genau das. Wenn man um die Abendessenszeit zu Kimbo geht, besteht ihre Mum immer drauf, dass man mitisst. Meist gibt’s was von McDonald’s. Greg und Kate stehen auf McDonald’s, wobei, das eine Mal, als ich da war, da gab es Makkaroni mit Käse und Tomaten obendrauf. Kate hatte es für Greg zum Geburtstag gekocht, anscheinend fährt er da voll drauf ab. Und mittenrein hatte sie eine Flagge gesteckt. Er mag Flaggen. Wenn ich könnte, würde ich sie jeden Tag besuchen, aber sie wohnen im Penthouse, und der Aufzug ist mir nicht geheuer. Außerdem laufen sie immer splitternackt durch die Gegend und setzen sich mit dem bloßen Arsch auf die Sofas und die Küchenstühle. Kimbo merkt das anscheinend gar nicht. Jedenfalls, daher kenn ich Susie und Kimbo. Wir haben im selben Block gewohnt. Wir waren im dritten Stock, Susie im ersten und Kimbo ganz oben.

Als Susie und ich aus den Blocks weggezogen sind, ist Kimbo an unsere Schule gewechselt, so dicke sind wir. Izzy hat es gehasst in den Türmen und war froh, als sie uns umgesiedelt haben. Nach Maryhill in die Hazelhurst Road haben sie uns gesteckt, neueste Wohnsiedlung im Block. Ich weiß noch, der Geruch, als wir da hinkamen, Farbe und Kitt, aber zu Kimbo geh ich nicht mehr. Es ist gefährlich dort, nicht wegen den Flüchtlingen, die sie da untergebracht haben, sondern wegen den kleinen Spackos, die die Flüchtlinge dort nicht haben wollen. Wenn es um ihr Revier geht, verstehen die Glasgower keinen Spaß, auch nicht in so einem Loch wie Sighthill. Das ist denen noch nie in die Birne gekommen, dass die ganzen Akzente, die sie um sich herum hören, von Ärzten, Krankenschwestern, Lehrern und Anwälten kommen, von gebildeten Leuten, die aus schönen Häusern in schönen Ländern rausmussten, nur um dann in Hochhäuser im Nordosten von Glasgow gesteckt zu werden. Mal im Ernst. Das musst du dir mal vorstellen, du verlierst alles, was du bist, und alle, die du kennst, kannst dich gerade so vor irgendwelchen Völkermordwahnsinnigen retten, die dich umbringen wollen, und dann hockst du am Ende in so einem schimmeligen Wohnblock. Jetzt haben wir hier Einwanderer mit Uniabschluss und Leute mit Doktortitel, die sich prostituieren oder Drogen verticken oder weiß der Geier was machen, um die Hölle hier zu überleben, die wir Asyl nennen. Die wahren Helden sind wohl die, die hierherkommen und das alles einfach aushalten, die Essenszuteilung, die Übergriffe, die gebrauchten Klamotten und die üble Unterbringung, ganz zu schweigen von den Bergen von Papierkram, die ein Land von dir verlangt, das nicht mal deine Sprache kennt; aber die anderen, die zum Überleben kriminell werden, die sich in Gangs zusammentun, um sich vor den Arschlöchern zu schützen, die wie die Vollhirne auf sie eingedroschen haben, als sie hierhergekommen sind, die kämpfen gegen einen neuen Feind, und mit derselben Gerissenheit, die sie überhaupt erst aus ihren Ländern vertrieben hat. Da ist dieser eine Typ, Vlado, so ein Großer mit einem 5er BMW, und wenn ich groß sage, meine ich so eine Kante von einsfünfundneunzig. Wie es aussieht, ist er keiner von den Köpfen, er arbeitet für jemanden ohne Verbindung zu ihm, falls wirklich mal die Kacke am Dampfen ist. Kimbos Mum fährt voll auf ihn ab. »Schnittchen« hat sie ihn mal genannt. Anscheinend kommt er manchmal in den Block und hängt mit Kates Freundin Sarah ab, zwar nicht oft, aber oft genug, dass Kate eifersüchtig ist. Kate sagt, Vlado war früher mal Lehrer. Jetzt ist er Zulieferer für so Flachwichser wie Mick, den Eisverkäufer, der das Zeug dann entgegennimmt und vertickt. Wenn er was verkauft, kriegt er einen Anteil, dann kriegt Vlado seinen Anteil und der Rest geht an denjenigen, für den Vlado arbeitet. Kate hat mal erzählt, Vlado hätte zwei Töchter und seine Frau im Krieg verloren. Vielleicht leben sie auch noch und sind irgendwo, aber angeblich traut er sich nicht, sie zu suchen, weil er Angst hat, sie sind in so ein Vergewaltigungslager verschleppt worden, aber Kate ist eine Tratschtante und erzählt viel, wenn der Tag lang ist.

Jedenfalls ist vor sechs Monaten der Aufzug bei Kimbo stecken geblieben, und ich drin. Ich saß über eine Stunde in dem Ding fest, bis ein Monteur kam, und ich hab’s nicht so mit geschlossenen Räumen. Ich bin total ausgetickt, und als die Türen endlich aufgegangen sind, musste mir Kimbos Mum zum Runterkommen einen Joint geben, ihr Dad hat MS. Ich bin dann ein paar Tage bei ihnen geblieben, die meiste Zeit stoned, und als ich wieder wegmusste, bin ich die zwanzig Stockwerke zu Fuß runter, aber unten an der Tür bin ich gestolpert und hab mir das Knie aufgeschürft. Ich dann direkt in den Mund damit und an der Schramme gesaugt, aber gebrannt hat es immer noch, und dann fragt irgendwer: »Alles klar, Schätzchen?« Eine nette Stimme, wie so italienisch, aber nicht von einem Italiener, und da seh ich, es ist Vlado. Er reicht mir die Hand und zieht mich hoch. Ich klopfe mich ab, zieh mein Top runter und schieb den BH hoch. Dann quatsche ich los.

»Mann, bin ich ne Nuss. Voll peinlich. Sorry. Du bist doch Vlado, oder?« Ich lächele, so gut ich kann, und winke kurz. »Ich bin Marnie.« Für einen Moment sagt er gar nichts, starrt mich nur an, und ich sehe, wie sein Gesicht finster wird und er mich abcheckt. Einmal von Kopf bis Fuß. Dieser Männerblick halt. Nur dass er mich nicht so anguckt. Er guckt auf irgendwas anderes, und das macht mich nervös und verlegen, so als hätte er irgendwas an mir auszusetzen, und ich fange an rumzuzappeln. Ich merke, wie ich rot werde, vor allem weil er bestimmt eine Minute lang nichts sagt.

»Geh heim zu deiner Mutter«, flüstert er schließlich.

Er ist enttäuscht, das hör ich. Dann sagt er: »Und kleb dir ein Pflaster aufs Knie«, und geht. Logisch muss ich da erst mal schlucken, aber mal davon abgesehen, was er gesagt hat, lag so eine Art Spott in seiner Stimme, so ein kleines Lachen.

Aus der Glastür guckt mich mein durchsichtiges Spiegelbild an. Ich such es verzweifelt von oben bis unten ab, was könnte ihn denn geärgert haben? Die schwarzen Pumps, meine zerrissenen Leggings, das aufgeschrammte Knie oder die rosa Trainingsjacke, die ich mir von Susie geliehen hab? Ich könnt mich in den Arsch beißen, dass ich keine High Heels anhab, aber ich bin zwanzig Stockwerke runtergelaufen, in anderen Schuhen hätte ich mir das Genick gebrochen. Ich frag mich, ob es vielleicht daran liegt, dass ich kein Make-up und keinen Lippenstift drauf hab, und da schäm ich mich dann. Ich versuch immer, absolut top auszusehen, und dann tu ich’s einmal nicht und begegne ausgerechnet so jemandem wie Vlado. Seit dieser Sache war ich kaum noch da. Eigentlich eine Schande, weil, man muss echt mal die Aussicht bei Kimbo sehen, vor allem nachts, wenn ganz Glasgow leuchtet wie ein Weihnachtsbaum, da könnte man glatt vergessen, wo man ist, bei diesem Blick, und wenn die Sirenen und das dauernde Geschrei im Treppenhaus nicht wären, würde man es vielleicht wirklich vergessen.

Lennie

Ich beobachte sie jetzt schon seit Tagen. Wie sie graben. Pflanzen. Den Müll von Jahren aus ihrem schrammeligen Garten ausbuddeln. Eine kaputte Kloschüssel und ein paar Absperrkegel, einen zerdepperten Fernseher und ein rostiges Fahrrad, einen Buggy und massenweise Müllsäcke mit allem möglichen Mist drin, möchte ich wetten. Wie die Wiesel, die zwei, haben den geklauten Einkaufswagen bis zum Rand vollgemacht und danach Lavendel gepflanzt. Französisch, glaube ich. Drollige Pflänzchen, dieser Lavendel, aber die gehen nicht an, nicht bei dem Wetter, wobei ich beeindruckt war, wie schön sie sie gepflanzt haben, mitsamt den Töpfen, und darüber etwas Mulch und eine Abdeckung aus Folie. Wie sie wohl überhaupt in den Boden reingekommen sind, der muss doch steinhart gefroren gewesen sein. Anscheinend machen sie Hausputz, an der Leine hängt Wäsche, sie schütten eimerweise Schmutzwasser raus, und dann noch die viele Bleiche und dieses Geklopfe und Geschrappe. Nur Musik hört man keine. Die Jüngere hat schon wochenlang nicht mehr gespielt, dabei höre ich ihr so gern zu. Ein echtes Talent.

Bobby hat davon natürlich kaum etwas mitbekommen, von den Geräuschen, meine ich, nicht einmal müde gebellt hat er. Das Wetter macht ihm gerade sehr zu schaffen. Letzte Woche war ich mit ihm beim Tierarzt, der meinte, er hätte die Räude. Ich habe was zum Baden und ein Antibiotikum für ihn bekommen, und was gegen die Schmerzen, aber der Ärmste kann sich kaum auf den Beinen halten. Schläft den ganzen Tag. Und dann sein Gestank. Da kippt sogar ein Toter aus den Latschen. Allmählich mache ich mir Sorgen, dass er vielleicht stirbt. Der Tierarzt meinte, die Hautkrusten sind sehr schlimm und in manchen Fällen kann das zu einer Blutvergiftung führen. Ich soll Fisch, Öl und Reis füttern.

Eigentlich hätte ich ihn da lassen sollen, wo ich ihn gefunden habe. Ein kleiner weißer Streuner, sieht aus wie ein Terrier. Er stand zitternd in einer Gasse vor den Mülltonnen, hat etwas zu fressen gesucht. Das kleine Ding hat solche Angst gehabt. Da hat einem einfach das Herz geblutet. Es hat nichts geschadet, ihn aufzunehmen, er kränkelt bloß andauernd. Der Tierarzt sagt, ich soll sein Futter umstellen. Er hat wahrscheinlich eine Allergie. Vielleicht mache ich das. Ich könnte wohl wirklich mal ein bisschen spendabler werden; ich habe ihn schon ziemlich lieb gewonnen. Es würde mir das Herz brechen, wenn er sterben würde.

Ich habe gesehen, wie die Mädchen in dem berüchtigten Einkaufswagen den Dreck von Jahren aus dem Haus geschafft haben, und da musste ich an letzte Weihnachten denken, als der Vater die Mutter darin wie ein Baby im Kinderwagen umhergeschoben hat. Er hat gesungen, weißt du noch? Lauthals gesungen. Es war zwei Uhr morgens. »Flower of Scotland«. »Take the High Road«. »The Northern Lights«. Lieder, die ihm gar nicht zustanden. Lieder über Helden und Krieger, Lieder über Auflehnung, über Orte, an denen er im Leben nicht war. Seine Frau hat sich an einen Absperrkegel geklammert, und ihre Beine baumelten links und rechts aus dem Wagen raus. Ich dachte zuerst, sie wäre tot, aber dann hat sie den Kopf gehoben und an einer Zigarette gezogen. Da hat sie gesehen, dass ich sie anschaue, und hat wie üblich einen Aufstand gemacht von wegen, sie hätten eine Schwuchtel als Nachbarn. Sie haben ein paar Dosen nach mir geworfen und eine Tasche, ihre Tasche, und der ganze Inhalt ist über den Beton geklackert. Sie ist aufgestanden, so war es doch, und kopfüber rausgefallen. Da ist dann dieser Klempner aufgetaucht, der keine Waschbecken reparieren kann, der hat ihr ein Handtuch gegeben, und seine Frau, diese Schabracke, die war stinksauer und hat von hinten gebrüllt: »Halt dich da raus, Tommy.« Irgendwann kam der Krankenwagen und die Polizei gleich hinterher, der Klempner hat eine Zeugenaussage gemacht, und Mr. Eugene Doyle haben sie einkassiert und mitgenommen (höchstwahrscheinlich in die Zelle). Die Mutter kam erst am zweiten Weihnachtstag zurück, mit einem dicken Verband um den Kopf. Ich will mir gar nicht vorstellen, was die Mädchen an dem Weihnachten gemacht haben. Ich will mir nicht vorstellen, was sie diese Weihnachten machen. Von ihren Eltern hab ich kaum was gesehen, und gehört übrigens auch nicht. Ich sollte eigentlich dankbar sein für die Stille, bin ich aber nicht, weil das alles sehr beunruhigend ist, wenn ich ehrlich bin. Sehr beunruhigend.

Marnie

Weihnachten war ätzend. Wir haben Geschenke von Izzy und Gene in der Besenkammer gefunden. Wir hatten das Desinfektionsmittel gesucht, weil wir Genes Überreste vom Boden schrubben wollten. Für mich gab’s einen geklauten iPod. Für Nelly eine Harry-Potter-DVD. Ein goldenes Kreuz für mich und passende Ohrringe für Nelly. Sie dachten wohl, die könnten wir uns teilen. Ich hab mich ziemlich mies gefühlt; die Kreuze waren zwar hübsch, aber es hat sich angefühlt wie ein R.I.P. aus dem Grab. Da lag auch noch ein Armband, für Izzy von Gene, so ein goldenes mit Anhängern dran, aber ich hab einfach das Kärtchen abgemacht und Nelly erzählt, es wäre von mir. Sie ist voll drauf abgefahren, auf die Anhänger.

Essen hatten wir noch in der Tiefkühltruhe. Hähnchenpfanne und ein paar Ofenpommes. Als Weihnachtsessen echt armselig, aber wir wollten nicht noch mal aus dem Haus. Wir hatten auf einmal Angst vor allem da draußen, deshalb haben wir gegessen, was da war, die meiste Zeit, ohne groß was zu sagen, mit dem Teller auf dem Schoß vor der Glotze. Nelly war total depri. Irgendwann hab ich das Radio angeschaltet, aber da ist sie ausgerastet und hat es ausgemacht. Musik ist nicht so ihr Ding im Moment. Sie spielt nicht, hockt nur rum. Ich vermute mal, es erinnert sie an Izzy, die hat nämlich immer gern gesungen, nur dass sie absolut talentfrei war, aber sie hat sich trotzdem die Lunge aus dem Leib geschrien, besonders wenn sie dicht war, dann hat sie losgeträllert, dass es schon unter Lärmbelästigung fiel und die Nachbarn ausgetickt sind und manchmal sogar die Bullen gerufen haben. Ich nehm mal an, wenn Nelly an Izzy erinnert wird, muss sie auch wieder an Gene denken, das kann sie im Moment so gar nicht brauchen, und ich auch nicht. Sie wollte ihn ganz sicher nicht umbringen, aber jetzt ist es passiert und wir können es nicht mehr ändern. Sie muss jetzt nach vorn gucken. Wir beide müssen das.

Bei uns steht eine Menge auf dem Spiel im Moment, und ich kann nicht ins Heim, nicht schon wieder, das ist zu gefährlich, und wer weiß, was dann aus Nelly werden würde, die käme wahrscheinlich in so eine Art Klapse, so komisch, wie sie ist. Gott, wie ich diese Heime hasse, man muss sich das Zimmer mit Mädchen teilen, die Klamotten mitgehen lassen und einem dauernd die Kippen klauen. Immerhin ist das Essen gut, aber Nelly hab ich kaum gesehen. Sie haben sie immer in so Zimmer mit Bauklötzen und Puzzeln gesteckt. Sie hat die ganze Zeit kein Wort gesagt, nur diese Igelnummer durchgezogen, sich zusammengerollt und geschrien. Sie war erst neun, ich elf. Izzy war mit diesem Esten aus Milton Keynes durchgebrannt, und Gene war abgetaucht. Kimbos Mum hat angeboten, dass wir bei ihr wohnen können, aber die Sozialarbeiterin meinte, ihre Wohnung wäre nicht groß genug. Ohne Nelly wären wir gar nicht erst dorthin gekommen. Sie hat sich dauernd in die Hose gepinkelt, deshalb kamen die von der Fürsorge und wollten gucken, was los ist. Erzählt hat sie nichts, nehm ich mal an, aber wenn sie so was bringt, werden die Leute halt misstrauisch, und ruck, zuck steht irgendwer mit einem Klemmbrett auf der Matte.

Kimbo hat uns Pralinen zu Weihnachten geschenkt, das hat Nelly aufgeheitert. Sie hat die ganze Schachtel verdrückt, und ich hab in der Zeit zwanzig Kippen geraucht. Dann haben wir zum zehnmillionsten Mal »Only Fools and Horses« geguckt.

Nelly