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Über das Buch:

 

Kommissar Staves dritter Fall

 

Hamburg: Bei einem Routineeinsatz wird Oberinspektor Frank Stave niedergeschossen. Er kommt davon, aber wechselt von der Mordkommission zum Chefamt S, das den Schwarzmarkt bekämpft. Dort wird Stave gleich mit einem rätselhaften Fall konfrontiert: Trümmerfrauen haben in den Ruinen eines Kontorhauses Kunstwerke aus der Weimarer Zeit gefunden – gleich neben einer Leiche, deren Identität der Kollege von der Mordkommission offenbar gar nicht aufklären will. Kurz darauf vertraut ihm Lieutenant MacDonald ein weiteres Problem an: Auf dem Schwarzmarkt sind rätselhafte Geldscheine aufgetaucht, deren Existenz die geheimen Pläne der Alliierten stört. Der Oberinspektor entdeckt bald seltsame Parallelen zwischen den beiden Fällen. Als der Tag X gekommen ist – die Einführung einer neuen Währung, über die schon seit Wochen in der Stadt gemunkelt wird –, scheint Stave kurz vor der Lösung zu stehen. Doch die Wahrheit ist gefährlich, und nicht nur für ihn allein …

 

 

Über den Autor:

Cay Rademacher

© Francoise Rademacher

 

Cay Rademacher, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Bei DuMont erschienen seine weiteren Kriminalromane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Seine Provence-Krimiserie umfasst: ›Mörderischer Mistral‹ (2014), ›Tödliche Camargue‹ (2015), ›Brennender Midi‹ (2016), ›Gefährliche Côte Bleue‹ (2017), ›Dunkles Arles‹ (2018), ›Verhängnisvolles Calès‹ (2019) und ›Verlorenes Vernègues‹ (2020). Außerdem erschien 2019 der Kriminalroman ›Ein letzter Sommer in Méjean‹. Cay Rademacher lebt mit seiner Familie in der Nähe von Salon-de-Provence in Frankreich.

 

Mehr über das Leben im Midi erfahren Sie im Blog des Autors: Briefe aus der Provence

Cay Rademacher

DER FÄLSCHER

Kriminalroman

 

 

 

 

Für alle Hamburger Freunde:
Tschüss und bienvenu!

Verwundung

Mittwoch, 31. März 1948

Die Pistolenkugel ist schneller als der Schall. Sie trifft Oberinspektor Frank Stave in die Brust, noch bevor er den Knall hört. Ein Schlag unterhalb des Herzens, der ihn rückwärts in die Trümmer einer eingestürzten Ziegelwand schleudert. Kein Schmerz, denkt er, ich spüre keinen Schmerz. Das erschreckt ihn mehr als das Blut, das aus der Wunde über den Bauch strömt, heiß und klebrig. Flach atmen. Der Geschmack von Eisen im Mund. Rauschen in den Ohren. Stave presst die Rechte auf die Einschussstelle. Er liegt auf dem Rücken, starrt nach oben durch einen zerfetzten Dachstuhl in den niedrigen, grauen Himmel. Staubfahnen tanzen in der Luft. Es stinkt nach altem Mörtel und Schimmel. Er wünscht sich, dass der Schmerz ihn endlich überflutet. Doch statt der Qual kommt die Dunkelheit, sein Geist taucht immer tiefer ein in schwarzes Wasser. Bitte, Schmerz, komm endlich. Wenn ich keinen Schmerz spüre, werde ich sterben, denkt Stave, bevor er gar nichts mehr denkt.

Als er wieder aufwacht, ist der Schmerz endlich da: ein Band aus Feuer, das um seine Brust lodert, und eine Messerklinge, die bei jedem Atemzug in seinen Leib fährt. Der Oberinspektor lächelt erleichtert. Weiße Wände, grelles Licht, das sich bis in seinen Hinterkopf frisst, der Geruch nach Lysol. Krankenhaus. Diesmal wehrt er sich nicht, lässt sich fallen. Schlaf.

Mühselige Atemzüge wecken ihn, als schnappe jemand nach Luft, der bis zum Hals in feinem Sand eingegraben ist. Stave öffnet die Augen. Er lauscht dem Röcheln, irgendwo links von ihm. Seine Brust brennt. Vorsichtig betastet er sie: Bandagen, dick wie eine Bettdecke. Er richtet seinen Oberkörper auf. Tausend Nadeln spicken seinen Leib, ihn schwindelt, mühsam unterdrückt er einen Schmerzensschrei, bloß ein schwerer Seufzer quillt ihm aus dem Mund. Die Atemzüge nebenan stocken für einen Moment, setzen wieder ein, mühevoll. Ein Strahl Helligkeit von rechts: Licht, das durch einen Türspalt dringt. Der Flur, vermutet Stave, hinter einer Tür. Ein Krankenhauszimmer. Er macht links die Umrisse eines Paravents aus, der den Schlaf seines gequälten Nachbarn beschirmt.

Stave weiß nicht, in welchem Krankenhaus er liegt. Er weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist seit jenem Schuss. Die Beamten der Mordkommission hatten einen Mann gesucht, der vor ihrer Wohnung in St. Pauli seine Ehefrau erstochen hatte. Ein Maat auf dem Schlachtschiff »Tirpitz«, das 1944 in einem norwegischen Fjord versenkt worden war. Der Unteroffizier überlebte das Unglück, geriet 1945 in Skandinavien in Gefangenschaft, wurde bald wieder freigelassen, kehrte zurück zur Familie in eines der wenigen noch unzerstörten Häuser in St. Pauli – alles in allem jemand, der glimpflich durch den Krieg gekommen war.

Kein offensichtliches Motiv für seine Tat, doch genügend Zeugen, die gesehen hatten, wie er vor der Haustür auf seine Frau eingestochen hatte. Flucht, Fahndung. Ein Anruf am Abend. Jemand hatte den Gesuchten an der Haltestelle Baumwall aus der Straßenbahn der Linie 31 steigen sehen, nur ein paar hundert Meter vom Tatort entfernt.

Stave war mit allen erreichbaren Schupos dahin geeilt. Der ehemalige Maat stand tatsächlich noch an der Haltestelle, ziel- und ratlos vielleicht, was er nun tun solle. Er sah jünger aus, als der Oberinspektor gedacht hatte. Erst als er die Peterwagen bemerkte, lief er los und versteckte sich in einem von Bomben zerschmetterten Geschäft für Schiffsausrüstung. Der Oberinspektor ließ die Ruine umstellen und schlich sich vorsichtig in die brandgeschwärzten Räume. Nicht vorsichtig genug. Er hatte einen mit einem Messer bewaffneten Täter erwartet – nicht einen mit einer Schusswaffe.

Er fragt sich, ob der Mörder noch mehr Kollegen getroffen hat. Ob er entkommen ist? Oder von den Polizisten überwältigt wurde? Vielleicht mussten sie ihn niederschießen? Er hofft, dass sie ihn ohne weiteres Blutvergießen verhaftet haben – obwohl das Resultat letztlich dasselbe sein wird: Ein englischer Richter wird den Mörder unters Fallbeil schicken. Möglich sogar, dass sein Freund Staatsanwalt Ehrlich das Plädoyer für die Todesstrafe hält. Stave würde als Zeuge vor Gericht auftreten müssen, seine Aussage würde einen Stein für das Fundament liefern, auf dem Staatsanwalt und Richter ihr Todesurteil errichten würden. Er schließt die Augen und hofft, wieder einzuschlafen.

Doch er ist nun unbezwingbar wach, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als stundenlang in die Dunkelheit zu starren, gelegentlich seine bandagierte Wunde zu betasten und auf die Atemzüge hinter dem Paravent zu lauschen, die schwächer zu werden scheinen, je länger die Nacht voranschreitet.

Im grauen Morgenlicht wird die Tür geöffnet. Eine junge Krankenschwester tritt ein, ihr hübsches Gesicht schmal unter der hohen, gestärkten Haube. »Stukas« nannten die Wehrmachtssoldaten die Krankenschwestern, weil die Flügel der Haube geknickt sind wie die Tragflächen des Kampfbombers, das hat Stave von seinem Sohn Karl erfahren. Auf einem Schild an der Brust steht ihr Vorname: Franziska. Einen Moment lang wünscht er sich, die junge Frau mit einem Scherz begrüßen zu können, doch ihm will nichts einfallen. »Wo bin ich?«, fragt er stattdessen. Er erschrickt über den matten Klang seiner Stimme.

Sie schenkt ihm bloß ein flüchtiges Lächeln. »Einen Augenblick, bitte«, dann verschwindet sie hinter dem Paravent. Erst jetzt fällt dem Oberinspektor auf, dass er schon lange keine Atemzüge mehr gehört hat. Die Schwester eilt wieder aus dem Zimmer, kommt mit einer zweiten zurück, dann fliegt ein Arzt an Staves Krankenbett vorbei, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Geflüsterte Worte hinter dem Stoff, surreal wie in einem jener modernen Theaterstücke, die man in der braunen Zeit nicht spielen durfte.

Irgendwann wird ein Bett aus dem Raum gerollt. Der Kripo-Beamte erspart sich den Schmerz, den es ihn kosten würde, sich aufzurichten. Jemand faltet den Paravent zusammen, plötzlich flutet Licht vom hohen Fenster bis auf sein Kissen. Der Platz nebenan ist leer.

»Sie haben sich ja mal lange vom Dienst absentiert, Herr Oberinspektor.« Ein älterer Arzt, eisengrauer Bürstenhaarschnitt, Schmiss auf der linken Wange. Ehemaliger Armeearzt, vermutet Stave.

»Wo bin ich?«

»Im Universitätskrankenhaus Eppendorf. Für Staatsdiener nur das Beste vom Besten. Anderswo hätten Sie mit dieser Verletzung auch nicht überlebt. Steckschuss in der Lunge. Vor ein paar Jahren wäre da nicht viel zu machen gewesen. Aber seither haben wir ja mit Schussverletzungen enorme Erfahrungen gesammelt.«

»Ich bin ein Kriegsgewinnler.«

Der Mediziner lacht. »Sind wir das nicht alle?«

»Wie lange war ich bewusstlos?«

»Sie schwebten zwei Wochen zwischen dieser und der anderen Welt. Es war knapp, aber ich habe schon knappere Fälle gesehen. Falls Sie auf eine Frühpensionierung gehofft haben, muss ich Sie enttäuschen: Sie werden wieder.«

»Ist der Kerl geschnappt worden?«

Der Arzt hebt die Schultern. »Nicht meine Fakultät.«

»Hat er noch Kollegen verletzt oder gar …« Stave vollendet den Satz nicht.

»Zumindest ist kein Polizist mit Ihnen hier eingeliefert worden. Erholen Sie sich jetzt. Schlafen Sie.«

»Ich habe einen halben Monat verschlafen.«

»Das ist ein Befehl.«

Stave blickt dem wehenden weißen Kittel nach, der Richtung Flur davonflattert. Zunächst glaubt er, dass der letzte Satz als Scherz formuliert war, doch dann kommt der Oberinspektor zu dem Schluss, dass der Arzt das ernst gemeint hat.

Am Nachmittag legen sie einen jungen Mann ins Zimmer, fast noch ein Kind, die Stirn dick bandagiert, kaum bei Bewusstsein. Während Schwestern das Bett hineinschieben und den Paravent aufspannen, tritt noch jemand in den Raum: Staves Sohn. Sehr groß, sehr hager, die hellblonden Haare eine Spur zu lang für den Geschmack des Oberinspektors, tiefblaue Augen, Wasserflecken auf dem verblichenen Mantel und Schuhe, die vor Feuchtigkeit auf dem Linoleumboden quietschen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, murmelt Stave und hebt matt die Hand. »Habe es leider verschlafen.«

Karl blickt ihn einen Augenblick überrascht an, lächelt kurz, wird wieder ernst. Am 2. April ist er zwanzig Jahre alt geworden. »Den Geburtstagskuchen essen wir, wenn du wieder draußen bist. Hätte ich gewusst, dass du heute zu dir kommen würdest, hätte ich dir Blumen mitgebracht.«

»Aus deinem Schrebergarten?«

Wieder der Hauch eines Lächelns. »Da gedeihen nur Tabakblätter. Ich hätte Tulpen bei einem Nachbarn mitgehen lassen.«

»Diebesbeute. Das passende Geschenk für einen Krimsche.«

»Ich freue mich, dass es dir wieder besser geht.«

»Morgen bin ich wieder im Einsatz.«

»Lass dir Zeit bis übermorgen.«

Schweigen. Stave blickt seinen Sohn an, der den Schwestern mit linkischen Gesten beim Aufstellen des Paravents helfen will, aber eher im Weg steht, als nützlich zu sein. Was Karl wohl macht? Soweit Stave weiß, verdient sein Sohn, seit er aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden ist, den Lebensunterhalt mit dem Tabak, den er im Schrebergarten zieht. Kaum bin ich wach, mache ich mir Sorgen um ihn, denkt er. Das wird nie aufhören. Er würde seinen Sohn gerne öfter in dessen Schrebergarten sehen, doch irgendwie hat Karl ihn spüren lassen, dass es ihm unangenehm ist, seinen Vater dort zu haben.

Er deutet auf Karls Mantel. »Es regnet?« Überflüssige Frage, doch er will, dass das Schweigen nicht zu lange andauert.

»In diesem Jahr wird niemand in Hamburg verdursten, das ist mal sicher.«

»Ist das gut für den Tabak oder nicht?«

Der Junge zuckt gleichmütig mit den Achseln. »Apropos Tabak«, flüstert er und beugt sich näher zu seinem Vater hin. »Die Stukas nebenan sind wahrscheinlich unglücklich, wenn ich mir eine Zigarette anstecke?«

»Manchmal hilft es schon, wenn man sich einen Glimmstängel zwischen die Lippen klemmt, aber nicht anzündet. Das beruhigt die Nerven und die Schwestern. Du solltest nicht so viel rauchen. Das ist nicht gut für die Lunge.«

Karl lacht so laut auf, dass Schwester Franziska tatsächlich einen warnenden Blick über den Paravent wirft. »Deine Lunge ist löchriger als meine!«

»Weißt du, ob sie den Täter verhaftet haben?«

»Ja, sie haben den Kerl geschnappt. Der Schuss hat deine Kollegen ganz schön in Aufregung versetzt. Sie haben ihn zwischen den Trümmern überwältigt und …«, Karl zögert kurz, »und ihm eine Abreibung verpasst, nach allem, was man so hört.«

»Eine Abreibung?«

»Der Mann muss zumindest ziemlich übel ausgesehen haben, als er endlich in der Zelle saß. Es gab darüber einen Artikel in der ›Zeit‹. Nur einen, und der war auch kurz«, setzt er hastig hinzu, als er sieht, dass sein Vater die Augen schließt.

Da werde ich Cuddel Breuer einiges zu erklären haben, denkt Stave. Und vielleicht auch Staatsanwalt Ehrlich. Wenn eine Sache schiefgeht, dann geht sie auch richtig schief. Immerhin haben wir den Mörder.

Eine zähe halbe Stunde verrinnt im stockenden Gespräch. Stave würde seinen Sohn gerne vieles fragen: Willst du nicht endlich was Vernünftiges machen? Hast du endlich neue Freunde? Oder gar ein Mädchen? Aber Karl ist immer so abweisend, wenn es um ihn selbst geht. Und dem Oberinspektor fehlt die Kraft, geschickt und vorsichtig nachzuhaken. Der Junge redet bloß Belangloses, erzählt vom schlechten Wetter und von einem Fußballspiel des HSV. Er knetet seine Hände. Nikotingelbe Finger, bemerkt Stave.

»Du kannst ruhig eine rauchen gehen«, sagt er. »Ich brauche ein bisschen Ruhe.«

Karl nickt erleichtert. »Ich komme die nächsten Tage wieder.« Er hebt die Hand, eine linkische Geste, halb ein Winken, beinahe noch so etwas wie der Hitlergruß, dann schließt er die Tür hinter sich.

Der Junge hinter dem Paravent summt eine Melodie. Jazz, denkt Stave, und schließt erschöpft die Augen.

Doch der Schmerz, den er nach dem Schuss so herbeigesehnt hat, lässt ihn nun nicht einschlafen. Seine Gedanken wandern zu Anna. Wie lange hat er sie nicht mehr gesehen? Ein halbes Jahr? Ob sie überhaupt weiß, dass er im Krankenhaus liegt? Kein Selbstmitleid, ermahnt er sich.

Seine Geliebte. Oder seine ehemalige Geliebte. Er erinnert sich daran, wie Anna von Veckinhausen im letzten Sommer für viele Reichsmarkbündel bei einem Juwelier in den Colonnaden einen Ehering ausgelöst hat. Ihren? Er weiß fast nichts über ihr Leben vor dem Krieg und ihrer Flucht nach Hamburg. Vielleicht weiß jemand anderes mehr. Der Oberinspektor denkt an ihr angeregtes Gespräch mit dem Staatsanwalt in einem Café. An den heimlichen Auftrag, den sie für Ehrlich erledigt: seine von den Nazis geraubten Kunstwerke wieder aufzuspüren. Und an die traurigen Worte, die sie an ihn, Stave, gerichtet hat.

Sie waren nur wenige Monate ein Paar gewesen, ein paar Restaurant- und Theaterbesuche zusammen, einige gemeinsame Nächte, seltene Wochenenden in gestohlener Zweisamkeit. Immer hatte er zu viel zu tun. Und dann war auch noch Karl aus dem Krieg zurückgekommen, und Stave schaffte es nicht, den ihm fremd gewordenen Sohn bei sich aufzunehmen und zugleich Anna zu halten. Sie trennten sich, ohne Streit, eher resigniert, wie nach einem verlorenen Kampf.

Er sehnt sich nach Annas Lächeln, nach dem Duft ihres Haares, nach ihrer Haut. Er denkt an Karls belanglose Sätze eben. An die Tage, die er schon in diesem Krankenhaus vergeudet hat und die er sicher noch vergeuden wird, bis er wieder so zusammengeflickt worden ist, dass er gehen kann. An die »Abreibung«, die seine Kollegen dem Täter verpasst haben. An Kripochef Cuddel Breuer, der sicherlich wissen will, was bei dieser Verhaftung alles schiefgelaufen ist.

Alles läuft schief, sagt sich der Oberinspektor, einfach alles. Und ich muss erst mit perforierter Lunge im Krankenhaus liegen, bis mir das klar wird.

Stave zählt jeden Tag, den er im Zimmer verbringt. Graues Licht, das durch das Fenster sickert. Der Geruch nach Lysol, der bis in die Poren der Haut dringt. Die gesummten Melodien hinter dem Paravent. Nie wechselt er ein Wort mit dem Jungen, nie bekommt dieser Besuch, doch seine Melodien klingen, so kommt es ihm vor, nach und nach fröhlicher, kräftiger. Er selbst zwingt sich schon am ersten Tag aus dem Bett. Welcher Triumph, allein bis zur Toilette auf dem Krankenhausflur zu wanken, mit schwindelndem Kopf und brennender Lunge zwar, aber immer noch besser, als sich auf der glänzenden Bettpfanne zu erleichtern und danach zu warten, bis eine Schwester sie fortzieht.

Karl kommt nach vier Tagen wieder vorbei. Sie haben sich nicht viel zu sagen. Am fünften Tag schaut Lieutenant MacDonald herein.

»Ich bringe Ihnen zwei Medikamente«, verkündet der junge Engländer, mit dem Stave schon zwei Fälle gelöst hat, und deutet auf eine braune Papiertüte in seiner Hand. Schwungvoll zieht er eine gewaltige Tafel Schokolade hervor. »Hershey’s. Echte amerikanische Kalorien. Ein Kamerad der US Army hat sie mir spendiert, aber sie sollten besser auf Ihren Rippen landen als auf meinen.« Dann blickt er kurz über den Paravent, senkt verschwörerisch die Stimme und holt eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus der Tüte. »Whiskey, auch vom amerikanischen Offizier. ›Old Tennessee‹, von Eingeweihten liebevoll ›Old Tennisshoes‹ genannt. Ist kein schottischer Single Malt, aber er wird Ihren Puls beschleunigen.«

Stave lächelt matt. »Ein paar Schluck davon und der Arzt wird bei der nächsten Visite seine Diagnose überdenken müssen.«

»Eine Wunderheilung.«

»Wie geht es Erna und dem Kind?« Staves ehemalige Sekretärin hat ein Verhältnis mit dem jungen Lieutenant begonnen, mit ein paar gravierenden Folgen: einer drallen, gesunden Tochter namens Iris, die im vergangenen Sommer geboren wurde. Einem hässlichen Scheidungsprozess, in dem sie das Sorgerecht für ihren achtjährigen Sohn an ihren bisherigen Gatten verloren hat, einen verkrüppelten, verbitterten Wehrmachtsveteranen. Einer Kündigung bei der Kriminalpolizei »in gegenseitigem besten Einvernehmen«, weil sie nach diesem Skandal die Blicke der Kollegen nicht mehr ertrug. Und eine Trauung vor einem britischen Militärkaplan, die sie in »Mrs MacDonald« verwandelt hat.

»Die Kleine zahnt«, antwortet der Offizier und lacht. »Ich sehne mich nach dem Krieg zurück, da waren die Nächte ruhiger.«

»Die Zähne werden schneller kommen als der Frieden.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr. Dann haben Erna und ich eine Sorge weniger.«

Stave denkt an Karl und an das alte Sprichwort, dass die Sorgen mit den Kindern wachsen, aber er verkneift sich diese Bemerkung.

»Sie müssen bald hier raus«, fährt MacDonald fort, nun wieder ernst. »Wir wollen doch ordentlich Abschied feiern.«

Der Oberinspektor hofft, dass man ihm den Schreck über diese Worte nicht ansieht. »Sie werden abkommandiert?«

»Sieht so aus, als wäre ich diesen Sommer dran. Gerüchte wehen durch den Offiziersclub, dass ich mit einer Versetzung innerhalb Europas rechnen kann.«

»Erna und Iris kommen mit?«

»Selbstverständlich.«

»Und Ernas Sohn?«

»Ich hoffe, es wird ihr nicht das Herz brechen, ihn in Hamburg zurückzulassen.«

»Werden Sie noch einmal einen Versuch starten, sich das Sorgerecht zu erkämpfen?«

»Der Richter war in dieser Frage sehr eindeutig. Meine Vorgesetzten sind es auch. Ein kluger Soldat erkennt, wann er die Schlacht verloren hat.«

Erna MacDonald, ehemals Berg, wird einen sehr hohen Preis für ihr neues Leben zahlen, sagt sich Stave. Aber sie ist ja nicht die erste Person in Hamburg, die einen hohen Preis dafür bezahlt, nach 1945 noch einmal von vorne anfangen zu können.

An einem Tag kommt überraschender Besuch: Hauptpolizist Heinrich Ruge, ein junger Schupo, der ihn schon bei manchen Einsätzen begleitet hat. Stave hätte ihn kaum erkannt, denn er sieht den Kollegen das erste Mal in Zivil – in einem dunklen Anzug, aus dessen viel zu kurzen Jackettärmeln die dünnen Unterarme ragen wie die Holzgliedmaßen einer Marionette.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagt er und schiebt mit verlegener Geste ein in Packpapier eingeschlagenes, schmales Bündel auf den Nachttisch. Schokolade. Ein kleines Vermögen für einen jungen Schupo. Ich muss wirklich mager aussehen, denkt Stave, ist aber seltsam gerührt. Ruge ist der einzige Kollege, der ihn besucht.

Sie plaudern ein wenig. Je länger das Gespräch dauert, desto selbstsicherer wird Ruge. »Schade, dass Frau Berg nicht mehr da ist«, sagt er irgendwann.

»Frau MacDonald nun.«

Ruge wird rot. »Daran muss man sich erst gewöhnen. Das klingt schon anders, als wenn jemand ›Müller‹ oder ›Schmidt‹ heißt.«

»Sie meinen, irgendwie nicht völkisch genug?«, fragt der Oberinspektor mit sanfter Stimme.

Das Gesicht des Schupos färbt sich noch etwas dunkler. »Neue Zeiten, neue Namen. Ich finde das nicht schlimm, im Gegenteil. Der Herr Lieutenant ist …«, er sucht nach dem richtigen Wort, »so weltgewandt. Aber einige ältere Kollegen haben so ihre Schwierigkeiten mit einer Veronika.«

»Mit einer Veronika?«

»So nennt man doch die Mädchen, die mit den Tommys ausgehen: Veronikas.«

»Bloß bei den Krimsches? Oder überall in Hamburg?«

»Überall. Sie wissen ja, wie das ist, Herr Oberinspektor: Plötzlich kommt so ein Name auf, keiner weiß, woher, keiner weiß, von wem das erfunden worden ist. Aber plötzlich kennt das jeder.«

»Ich erinnere mich. Nach 33 gab es plötzlich auch ein paar lustige neue Bezeichnungen für bestimmte Menschen.«

»Ich will übrigens zur Kriminalpolizei«, platzt Ruge heraus. »Ich habe mich schon zur Aufnahmeprüfung beworben.«

Der Oberinspektor blickt ihn lange an. Ob er den jungen Kerl ermutigen soll? »Wer hat dem Mörder vom Baumwall nach der Verhaftung eine Abreibung verpasst?«, fragt er schließlich.

»Oberinspektor Dönnecke.«

Das alte Schlachtschiff. Cäsar Dönnecke, der Mann, der schon seit Kaisers Zeiten bei den Krimsches ist. Der Mann, der in der braunen Zeit manche Einsätze zusammen mit den Kollegen von der Gestapo durchgeführt hat. Und der es irgendwie geschafft hat, den »Säuberungen« der Engländer nach Kriegsende zu entgehen, obwohl die Sieger Männer entlassen hatten, die weniger Dreck am Stecken hatten als er.

»Von dem können Sie lernen, wie man es nicht machen sollte.«

»Ich werde mich vor ihm hüten. Vielleicht kann ich ja bei Ihnen in der Abteilung anfangen.« Ein schüchternes Lächeln, dann wird Ruge wieder rot. »Ich meine, falls man mich überhaupt nimmt.«

Und falls ich bis dahin wieder an Bord bin, denkt Stave, nickt aber bloß stumm.

Später, als sein Besucher gegangen ist, starrt der Oberinspektor zur Decke und denkt nach. Über Erna Berg. Erna MacDonald. Ob sie weiß, wie Kollegen sie nennen? Sicher. Sie wusste immer alles, was bei den Krimsches umging, meist als eine der Ersten. Sie wird es vielleicht noch gehört haben, bevor die Schwangerschaft so weit war, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Eine Veronika, ein Engländerflittchen, das ihren Mann verließ, der im Osten ein Bein verloren hatte. Erna wird vielleicht doch nicht so unglücklich über die Versetzung ihres neuen Mannes sein.

Cäsar Dönnecke. Gestapo-Dönnecke. Der Kollege, der Abreibungen verpassen kann, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

»Ich gehöre da nicht mehr hin«, sagt Stave halblaut. Das Summen hinter dem Paravent hört schlagartig auf. Der Oberinspektor unterdrückt den Fluch, der ihm auch noch auf den Lippen gelegen hat. Er hat einen Entschluss gefasst: Ich muss die Abteilung wechseln, sagt er sich. Die Mordkommission ist nichts mehr für mich.

Chefamt S

Freitag, 11. Juni 1948

Stave steht neben dem bronzenen Elefanten, den die Krimsches »Anton« getauft haben. Ein Kunstwerk aus der Zeit, als die Kripo-Zentrale noch der Stammsitz einer Versicherung gewesen ist, in der versunkenen Vorkriegswelt der zwanziger Jahre, als sich sogar die fischblütigen Zahlenmenschen eines Konzerns luxuriöse Scherze wie eine drei Meter hohe, tonnenschwere glänzende Tierfigur neben dem Eingangsportal leisten wollten. Es ist erst sieben Uhr morgens. Obwohl es einer der längsten Tage des Jahres ist, badet die Stadt in grauem Licht. Feine Wasserschleier treiben in der Luft, zu dicht für Nebel, zu zart für Regen. Das Wetter ist kalt für einen Frühsommertag.

Noch im Treppenhaus streift der Oberinspektor den klammen, dünnen Mantel ab. Er lässt sich Zeit, sieht ihn ja niemand zu so früher Stunde. Er hinkt die in wilden Mustern gefliesten Stufen hoch, die alte Wunde im Fußgelenk aus der Zeit der Bombennächte. Die neue spürt er auch, aber weniger: eine Narbe auf der Brust, ein wenig rot noch, länger als ein Zeigefinger, doch gut verheilt schon, wie ihm die Ärzte versichert haben. Gelegentlich noch ein Schmerz, eher ein Ziehen, wenn er sich zu rasch bewegt. Und die Stiche beim Atmen, vor allem dann, wenn er sich anstrengt. Das wird auch noch vorbeigehen. In seiner Straßenkleidung sieht man ihm schon nichts mehr an, höchstens, dass er noch etwas hagerer ist als zuvor.

Der Flur im sechsten Stock ist verlassen wie der Führerbunker im April 45. Sein Vorzimmer, das Reich von Erna Berg. Erna MacDonald. Keine neue Sekretärin. Wozu auch? Zuerst, nach der Geburt von Ernas Tochter, war gerade keine qualifizierte Bewerberin da gewesen. Und danach hatte man ja niemanden einstellen müssen – nicht für einen Oberinspektor, der im Universitätskrankenhaus lag. Die schwere, schwarze Schreibmaschine, die auf dem Tisch stand, fehlt. Hat sich wohl ein Kollege organisiert, denkt Stave. Ist ja jetzt auch gleichgültig.

Sein Büro. Eine dünne Staubschicht auf dem Schreibtisch, keine neuen Akten, keine Anzeigen, keine Fotos aus dem Labor, kein Obduktionsbericht von Doktor Czrisini. Er zieht die Schublade eines Metallschranks auf: in grünen Hängeregistraturen die Akten der gelösten Fälle, die der ungelösten muss jemand mitgenommen und einem anderen Beamten hingelegt haben. Eine Schublade voller dünner Hängeordner aus Pappe – die Leistung eines Berufslebens. Sieht nicht übermäßig imposant aus, denkt der Kripo-Mann. Aber was zählt ist das, was unsichtbar ist: der verhaftete Mörder. Die Sühne vor Gericht. Der Trost für die Angehörigen der Opfer, ein schwacher Trost zwar, aber immerhin. Und vor allem: die Befriedigung, ja das Glück, wieder ein Rätsel gelöst zu haben.

»Es müssen ja nicht Mordfälle sein«, murmelt Stave und schiebt die Lade wieder zu, die mit einem metallischen Schlag in ihren Rahmen knallt.

Systematisch räumt er seinen Schreibtisch aus, wirft Zettel und bis zur letzten Seite vollgekritzelte Notizblöcke weg. Am Ende legt er einige Bleistifte und Blöcke auf die Platte, seine Ernennungsurkunde der Kriminalpolizei, auch ein Relikt der untergegangenen Weimarer Republik, die Karteikarten mit den Aberhunderten Adressen von Tätern, Opfern, Kontaktpersonen, Informanten und Verdächtigen, die er in Jahren zusammengetragen hat, einen Vorkriegsstadtplan von Hamburg und einen neuen Falkplan, in dem die zerbombten Viertel rot schraffiert sind und blaue Linien die Grenzen der britischen Sperrzone an der Alster markieren. Dazu eine Lupe, ein Federmesser. Mit dem Nippes und den Souvenirs, die manche Kollegen angesammelt haben, hat er noch nie etwas anfangen können. Und Fotos von Karl oder seiner verstorbenen Frau Margarethe wollte er nie im Büro haben; und erst recht kein Bild von Anna. Von ihr, fällt ihm erst jetzt auf, hat er nicht einmal ein Foto zu Hause.

Er stopft seine Habseligkeiten in eine lederne Aktentasche, deren Schloss nicht mehr schließt. Er hat sie auf dem Schwarzmarkt erstanden – wenn das die Kollegen wüssten. Inzwischen hört er Stimmen vom Flur, Schritte, Türenschlagen. Stave wird sich nun zum Dienstantritt melden. Der Chef wird nicht erfreut sein zu hören, was er ihm zu erzählen hat.

Cuddel Breuer wuchtet seinen massigen, muskulösen Körper aus dem Sitz, als Stave eintritt, kommt ihm entgegen, schüttelt ihm die Hand, ehrliche Freude im Gesicht. Macht mir die Sache nicht einfacher, denkt der Oberinspektor.

»Ich möchte gerne die Abteilung wechseln«, sagt er geradeheraus.

»Hat der Kerl vom Baumwall Sie auch am Kopf erwischt?«, fragt sein Chef und lässt sich in seinen Stuhl fallen. Noch immer lächelt er, doch irgendwie ist in seinen Zügen ein Licht erloschen. »Kommen Sie erst einmal hier an. Leben Sie sich ein. Sie müssen nicht sofort wieder einen Fall bearbeiten. Nicht sofort wieder hinaus.«

»Die Mordkommission ist nichts mehr für mich.«

»So eine Schusswunde kann einen ganz schon aus der Bahn werfen. Ich meine, nicht nur körperlich. Durchdenken Sie die Sache. Nehmen Sie sich Zeit.«

»Ich hatte im Krankenhaus Zeit genug zum Nachdenken. Es ist nicht so, dass ich plötzlich Angst hätte, mir könnte so etwas noch einmal passieren.«

»Warum wollen Sie dann wechseln? Zur Mordkommission kommen nur unsere Besten. Ich selbst habe Sie dorthin versetzt. Die Arbeit da war sicher spannender als die, die Sie vorher gemacht haben.«

Ein feiner Hinweis darauf, dass die Nazis Stave kaltgestellt hatten – und dass ihm das auch in den neuen Zeiten wieder drohen könnte. Was soll Stave antworten? Dass er einem wie Dönnecke nicht mehr über den Weg laufen möchte? Dass er sich bei jedem Kollegen fortan fragen würde, ob der zu denen gehört, die seine ehemalige Sekretärin als »Veronika« geschmäht haben? Dass er sich bei der Mordkommission so tief in Fälle eingegraben hatte, dass er keine Zeit mehr hatte für seinen Sohn und die einzige Frau, die er liebt?

»Das ist eine komplizierte Geschichte«, erwidert er.

»Es gehört zu meiner Arbeit, komplizierte Geschichten zu einem einfachen Ende zu führen«, brummt Breuer. »Haben Sie Angst, dass ich Ihnen Vorwürfe mache, weil Sie sich niederschießen ließen? Oder dass ich Sie nach der Abreibung frage, die man dem Kerl in der Ruine verpasst hat?«

»Nein. Das eine ist Berufsrisiko. Das andere ist Oberinspektor Dönneckes und Ihre Angelegenheit.«

Breuer murmelt Unverständliches, doch er holt einen Ordner hervor und blättert in den Akten. »Wohin wollen Sie denn?«

»Zum Chefamt S.«

Sein Vorgesetzter knallt den Ordner wieder zu. »Was ist los mit Ihnen, Stave? Kinder, seid Ihr denn alle verrückt geworden? Was will einer wie Sie bei der Abteilung, die den Schwarzmarkt bekämpft?«

»Das ist eine wichtige Arbeit.«

»Das war eine wichtige Arbeit! Waren Sie denn die letzten Wochen im Krankenhaus gar nicht bei Bewusstsein? Haben Sie nichts gehört?«

»Vom Tag X?«

»Dem Tag X, in der Tat. Seit Wochen schwirren Gerüchte herum: Wir kriegen neues Geld. Fort mit der alten, wertlosen Reichsmark! Das ist nur noch Altpapier. Irgendwann geben uns die Alliierten eine neue Währung. Keiner weiß wann, keiner weiß, wie alles werden wird, aber jeder hofft das Beste. Die Schaufenster der Läden sind noch leerer als sonst. Die Leute nehmen ihre Reichsmarklappen und zahlen bündelweise für alles, was sie trotzdem noch kriegen können. Sie glauben gar nicht, wie voll die Theater und Kinos sind. So viele Kulturinteressierte gab es noch nie, da die Kultur ja praktisch nichts mehr kostet. Wer weiß, ob man nicht nächste Woche die Tausendmarkscheine nur noch als Toilettenpapier verwenden kann?«

»Klingt doch nach goldenen Zeiten für den Schwarzmarkt.«

»Unsinn. Das ist das erste Mal, seit die Nazis verschwunden sind, dass ich nervöse Schieber gesehen habe. Niemand weiß, was mit der neuen Währung kommt. Vielleicht kollabiert ja die Wirtschaft endgültig. Dann gibt es aber auch nichts mehr auf dem Schwarzmarkt zu verhökern, dann werden wir alle wieder Bauern und graben in Holstein die Felder um. Aber vielleicht funktioniert es ja auch: Dann werden die Menschen wieder richtiges Geld verdienen und richtige Waren in richtigen Geschäften kaufen, so wie in der guten, alten Zeit. So oder so: Wer braucht da noch den Schwarzmarkt? Und da wollen sie zum Chefamt S, wo sie den Schwarzmarkt bekämpfen!« Breuer klopft auf den Ordner. »Ich habe hier ein Dutzend Versetzungsgesuche von Kollegen: weg vom Chefamt S, egal wohin! Wenn ich Sie bestrafen wollte, Stave, dann würde ich sie zum Chefamt S versetzen.«

»Sie belohnen mich.« Zum ersten Mal lächelt der Oberinspektor. »Im Krankenhaus kann man nicht viel tun, außer die Risse im Wandputz zu zählen und nachzudenken. Ich habe nicht nur an den Schwarzmarkt gedacht, Chef, sondern auch an die Ruinen, an die kaputten Straßen, an den Strom, den man uns immer wieder abschaltet, an die zerbombten Werften, die zertrümmerten Bahnhöfe, an die klapprigen, qualmenden Vorkriegsautos mit Holzvergasern, an die Schuhe aus zerschnittenen Gummireifen und die Kleider aus umgenähten Fallschirmen. Auf absehbare Zeit wird kein Deutscher mehr nach Russland oder sonst wo in der Welt einmarschieren. Überhaupt wird die Welt wenig von uns wissen wollen. Wir sind allein, und uns bleibt gar nichts anderes übrig, als den Trümmerhaufen wieder aufzubauen. Goldene Zeiten für findige Leute – ob nun Schwarzhändler oder ehrliche Kaufmänner. Viel Geld wird fließen, sehr viel Geld, in welcher Währung auch immer. Und wo viel Geld fließt, da sind die Kriminellen nie weit. Mag sein, dass das Chefamt S abstirbt. Aber daraus wird eine Abteilung für Wirtschaftsdelikte werden, das geht gar nicht anders. Das ist die Zukunft. Da will ich dabei sein.«

»Schmuggler und Hehler statt Leichen und Mörder?«

»Klingt in meinen Ohren nicht nach einem schlechten Tausch.«

»Da hören Sie eine Melodie, die niemand sonst auf diesen Fluren hört.« Breuer bemüht sich nun nicht länger, seine Enttäuschung zu verbergen. »Also gut. Ich habe hier ein Dutzend Beamte, die mir die durchgelaufenen Sohlen meiner alten Schuhe küssen würden, wenn ich sie zur Mordkommission versetze. Ich werde mir einen davon herauspicken. Sie dagegen können sofort Ihre neue Stellung antreten. Sie kennen ja den Flur. Melden Sie sich bei Bahr vom Chefamt S und suchen Sie sich ein Büro aus, es stehen dort einige leer.«

Als Stave ein letztes Mal über den Flur der Mordkommission geht, um seine Aktentasche zu holen, tritt ihm ein Beamter in den Weg: an die sechzig Jahre alt, schwer, wuchtiger Schädel, um den sich ein Ring aus Haaren legt wie der Lorbeerkranz auf dem Haupte eines Kaisers, tiefliegende, stechende Augen. Cäsar Dönnecke.

»Willkommen zurück, Kollege.« Er reicht ihm nicht die Hand.

»Auf Wiedersehen«, antwortet der Oberinspektor. »Ich gehe zum Chefamt S.« Er will sich vorbeidrängeln. Doch Dönnecke legt ihm eine Pranke auf die Schulter.

»Ich wusste immer, dass Sie zu weich sind für diese Arbeit, Stave«, flüstert er. Sein Atem stinkt nach kaltem Tabak. »Aber dass Sie so weich sind, hätte ich nicht gedacht. Ein Schuss und Sie verkriechen sich dorthin, wo Ihnen garantiert nichts geschieht. Der Schwarzmarkt ist am Ende, haben Sie das noch nicht gehört? Ist nur noch eine Frage der Zeit, bis uns die Amerikaner neues Geld schenken. Dann lösen sich die Kunden vom Chefamt S auf wie ein Furz bei Nordwind.« Er imitiert erstaunlich naturgetreu das passende Geräusch und wedelt mit der behaarten Rechten. »Und dann? Was machen Sie dann?«

»Dann stelle ich mich mit einer Kelle auf den Stephansplatz und regle den Verkehr.«

»Das wäre eine Verbesserung.« Dönnecke lacht, lässt ihn los.

Stave geht zwei Schritte, dreht sich dann aber noch einmal um. »Was haben Sie mit dem Kerl vom Baumwall gemacht?«

Der wuchtige Alte zwinkert einen Moment lang irritiert, dann verzieht er seine fleischigen Züge zu einem freudlosen Grinsen. »Das hat sich geklärt. Sie könnten es in den Akten nachlesen – wenn Sie noch in der Mordkommission wären.«

Stave hat schon die Tür zu seinem Büro erreicht, als Dönnecke noch hinter ihm herruft – absichtlich so laut, dass es alle Kollegen hören können, denkt der Oberinspektor: »Wie geht es eigentlich Ihrer Sekretärin? Dieser Erna – wie war noch einmal ihr Nachname?«

»Veronika«, antwortet Stave ebenso laut und drückt die Klinke hinunter.

Einige Minuten später steht er ein paar Meter tiefer auf einem nahezu identischen Flur. Bei der Kripo sind die Abteilungen nach Bedeutung und Prestige auf die Stockwerke verteilt. Ganz oben die Mordkommission. Nur eine Etage darunter das Chefamt S, denn die Bekämpfung des Schwarzmarktes genoss seit 1945 höchste Priorität. Der Oberinspektor sieht sich um: Niemand steht auf dem Gang, die Türen zu etlichen Büros sind bloß angelehnt, nirgendwo hört er das Klacken einer Schreibmaschine. Sieht so aus, als würde dieses Stockwerk bald von einer anderen Abteilung bezogen werden.

Er geht auf die einzige Tür zu, hinter der er eine Stimme hört. Jemand telefoniert. Er klopft, tritt ein.

Ein Kollege, der vor dem Krieg einmal füllig gewesen sein muss, legt gerade mit einer resignierten Bewegung den schweren, schwarzen Hörer auf die Gabel. Wilhelm Bahr ist der Leiter des Chefamtes S – ein Mann, dem die Entbehrungen der letzten Jahre das Fett weggeschmolzen haben, seine alte Haut hängt nun schlaff an seinen Wangen und seinem Hals wie zerschlissene Segel an einem windstillen Tag. Stave hatte beim Fall des Trümmermörders mit ihm zusammen eine Razzia organisiert. Damals war er energisch und fröhlich gewesen, nun schaut er müde auf seinen Besucher. Ein Mann, der fürchtet, dass er verloren hat.

»Ich bin Ihr neuer Kollege«, sagt Stave und reicht ihm die Hand.

»Sie müssen verrückt sein. Ich habe gerade mit Cuddel Breuer gesprochen.« Bahr klopft auf den Hörer, schüttelt ihm aber immerhin die Hand.

»Selbst Sie glauben, dass diese Abteilung am Ende ist?«

»Nein. Wir werden in Zukunft wachsen und gedeihen. Aber niemand sonst in diesem Haus glaubt das.«

»Jetzt sind wir immerhin schon zwei«, erwidert der Oberinspektor.

Bahr schüttelt ungläubig den Kopf und wirft ihm einen Stapel Papiere zu. »Lesen Sie!«

Stave nimmt den obersten Zettel, ein liniertes Blatt, offenbar aus einem Schulheft herausgerissen, darauf in schwarzer Tinte und in ungelenken Buchstaben: Hiermit gebe ich Ihnen bekannt, dass der Fuhrunternehmer Kröger Straße 102 an der Kieler Straße, auf seinem Hof eine große Menge Hafer gelagert hatt. Ein Teil davon von Ungeziefer schon umgekommen ist, die Not ist so groß warum solche Zustände? Das Auto was Herr Kröger besitzt wird nur für Schwarzfahrten benutzt, dafür erhält Herr Kröger Brennstoff geliefert. Jetzt wird Nutz. u. Bauholz gefahren auf seinen Hof als Brennholz hunderte Meter.

»Was will uns der Dichter damit sagen?«, murmelt Stave.

»Dass er im Deutschunterricht nicht aufgepasst hat.« Bahr deutet verächtlich auf den Packen Papiere. »Denunzianten! So etwas segelt uns hier jeden Tag rein. Früher haben wir das meiste ignoriert und uns auf die dicken Fische konzentriert. Jetzt kümmern wir uns um diesen Dreck. Kollege, wir arbeiten hier die reguläre 56-Stunden-Woche, keine Überstunden wie in der Mordkommission, das verspreche ich Ihnen. Aber diese 56 Stunden können ziemlich zäh dahinfließen.«

»Kann ich mir ein Büro aussuchen, oder weisen Sie mir eines zu?«

»Gehen Sie nach nebenan. Schöner Blick über den Karl-Muck-Platz, viel Sonne, das Fenster schließt dicht. Wichtig im Winter – falls wir nächsten Winter noch hier sind. Eine eigene Sekretärin bekommen Sie aber nicht.«

»Ich werde mich daran gewöhnen.«

»Noch etwas: Wollen Sie heute erst einmal Ihre Sachen im Büro verstauen und sich einrichten? Oder wollen Sie schon einen Fall übernehmen?«

»Verdorbener Hafer an der Kieler Straße?«

»Nein. Kunstwerke in einem Trümmergrundstück. Hehlerware vielleicht, vielleicht auch Vorkriegszeug. Keine Abteilung will sich darum kümmern, also landet es beim Chefamt S.«

»Klingt interessanter, als mein Büro einzurichten. Das hat Zeit. Und viel Arbeit macht es sowieso nicht.« Der Oberinspektor deutet auf seine Aktentasche.

»Gut. Ziehen Sie los: Kontorhaus Reimershof an der Reimersbrücke. Gegenüber der Ruine von Sankt Nikolai. Die Schupos sind schon da. Ich organisiere Ihnen einen Wagen. Scheint so, als gebe es dort zeitgleich einen zweiten Fall, den ein Kollege der Mordkommission bearbeitet. Hat wohl nichts mit unserer Sache zu tun.«

»Welcher Kollege?«

»Oberinspektor Dönnecke.«

»Verdammter Mist.«

»Ich sagte es Ihnen ja: Wir stehen hier nicht auf der Gewinnerseite.«

Die grauschwarze Wolkendecke hängt so niedrig am Himmel, als könnte sie sich jeden Moment auf die Ruinen legen. Feiner Regen wirbelt im Wind, ein Vorbote stärkerer Güsse. Stave schlägt den Mantelkragen hoch, obwohl er nur wenige Schritte von der Zentrale zu einem auf dem Platz parkenden Peterwagen laufen muss. Der Radiwa – Radiostreifenwagen – ist ein kastenförmiger, alter Mercedes Benz, ein ehemaliger Sanitätswagen der Wehrmacht, mit dem nun die Kollegen der Revierwache 66 an der Lübecker Straße durch Hamburg patrouillieren. Der Oberinspektor fragt sich flüchtig, warum Bahr ausgerechnet dieses Auto organisieren konnte. Vielleicht hat er mal auf diesem Revier gearbeitet. Er nickt dem älteren, müden Schupo hinter dem Steuer zu.

»Zum Reimershof am …«

»Weiß ich schon. Achtung mit der Beifahrertür, die springt manchmal während der Fahrt auf.«

Bilde ich mir das ein?, fragt sich der Kripo-Beamte. Kaum bin ich nicht mehr bei der Mordkommission, schon behandeln mich die uniformierten Kollegen weniger respektvoll.

Ein kurzer Weg, Stave wäre ihn gerne zu Fuß gegangen, trotz des miesen Wetters. Doch er wollte Bahr nicht gleich am ersten Tag einen Gefallen ausschlagen, den der ihm tut. Der alte Mercedes rumpelt über die Kaiser-Wilhelm-Straße und passiert Ruinen an der Stadthausbrücke. Die Außenwand eines Hauses ist fortgesprengt. Der Oberinspektor blickt im Vorbeifahren in ein aufgerissenes ehemaliges Büro im ersten Geschoss, in dessen aufgeweichter Wandtapete Regenschlieren seltsame Muster fräsen. Ihm kommt es vor, als würde ihn eine Fratze anlächeln. Zwischen zwei eingestürzten Mauern dreht ein einbeiniger Drehorgelspieler an seiner Kurbel. Der Kripo-Beamte wundert sich, wer ihm bei diesem Regen und an diesem verwüsteten Ort eine Münze spendieren soll. Am Rödingsmarkt unterqueren sie die grauen Stelzen der Hochbahn. Nur eine Station neben dem Baumwall und der Ruine, in der er niedergeschossen worden ist. Denk nicht daran, sagt sich Stave.

Er sieht schon die Nikolaikirche – oder das, was von ihr übrig geblieben ist. Deren schmaler, neogotischer Turm ragte, seit er sich zurückerinnern kann, in Hamburgs Himmel. Eine Zeitlang war das sogar der höchste Kirchturm der Welt gewesen. Nun steht er da wie ein kariöser Zahn: immer noch fast hundert Meter hoch, doch an beiden Seiten aufgerissen, als habe jemand zwei der vier Wände mit Hammer und Meißel abgeklopft. Die Treppen im Innern liegen frei, die Reste eines gewaltigen Glockenspiels glänzen regennass. Vom Kirchenschiff stehen noch drei, vier schwarz vernarbte Wandreste, abgehackte Pfeiler, steinerne Fensterrahmen und Rosetten, aus denen der Feuersturm das Glas weggeschmolzen hat.

Der alte Schupo umkurvt die Kirchenruine. Direkt dahinter führt die Reimersbrücke über das Nikolaifleet. Es ist Ebbe, rissige Spundwände und hölzerne Eichenbalken, vor Generationen in den weichen Boden gerammt, um die Häuser abzustützen, ragen aus dem schlammig braunen, kaum halbmetertiefen Wasser.

»Ich weiß nicht, ob die Brücke das Gewicht des Autos trägt. Ich parke mal davor«, brummt der Polizist und tritt hart auf die Bremse.

Stave murmelt Dankesworte.

»Soll ich hier auf Sie warten, Herr Oberinspektor?«

Der Kripo-Beamte will schon den Kopf schütteln, weil er, wann auch immer er hier fertig sein wird, die paar hundert Meter zurückgehen kann. Doch dann fällt ihm ein, dass es zwischen den Trümmern der Kontorhäuser zu beiden Seiten des Fleets sicher kein Telefon geben wird und es vielleicht nützlich wäre, ein Funkgerät zu haben, falls er einen Spezialisten hinzurufen muss.

»Machen Sie es sich bequem«, antwortet er.

Der Schupo nickt erleichtert. Offenbar ist es ihm ganz recht, untätig im Mercedes zu dösen.

Zwei Uniformierte haben die Reimersbrücke und die weiterführende Straße abgesperrt – was kaum nötig wäre, denn weit und breit ist kein Passant zu sehen. Stave zückt seinen gelben Kripoausweis.

»Ludwig Ramdohr«, stellt sich einer der beiden Schupos vor und salutiert. »Trümmerfrauen haben den Schlamassel entdeckt. Sie haben am Haus gearbeitet, als eine Windböe eine Mauer umgeworfen hat. Können von Glück sagen, dass sie nicht erschlagen worden sind. Als sich der Staub legte, haben sie ein Skelett entdeckt. Und dann noch ein Kunstwerk.«

»Um das Skelett kümmert sich ein Kollege. Mich interessiert nur das Kunstwerk. Was für eines?«

Ein gleichgültiges Achselzucken. »Neumodisches Zeugs.«

Stave denkt an Anna, die ihr Geld damit verdient, Kunstwerke und Antiquitäten aus Ruinen zu bergen, um sie an Engländer und Schwarzhändler zu verhökern. »Geht es präziser? Ein Bild? Eine Statue?« Er klingt schärfer, als es nötig wäre.

»Eine Statue, so wird man das wohl nennen können. Sieht für mich auch nicht schöner aus als das Skelett daneben. Kein Ding, das ich mir ins Wohnzimmer stellen würde.« Oberwachtmeister Ramdohr reibt das Brustschild seiner Uniform: eine kleine Metallspange, auf der oben das Wort »Hamburg« prangt, darunter das Wappen im Kreis, schließlich seine vierstellige Dienstnummer. Er tut das unbewusst, bis er Staves Blick bemerkt, der der Bewegung seiner Rechten folgt.

»Kann mich an diese englische Erfindung nicht gewöhnen«, entschuldigt sich Ramdohr.

»Immerhin glänzt die Marke schön.«

»Anders als das Kunstwerk. Das hätte eine gründliche Politur nötig. Ich führe Sie hin.«

Der Reimershof ist das erste Kontorhaus links hinter der Brücke, oder das, was davon noch übriggeblieben ist. Ursprünglich ein acht Stockwerke hoher Block, einst weiß verputzt. Die ebenfalls zerschmetterten Gebäude zu beiden Seiten waren aus Backstein errichtet worden, der Oberinspektor vermutet, dass der helle Putz ein Zeichen dafür ist, dass dieses Gebäude moderner war als die anderen. Zwanziger Jahre vielleicht, schätzt er, auch wenn das nun gleichgültig ist. In den weißen Putz haben sich braune und gelbe Feuchtigkeitsflecken gegraben, rund um jedes leere Fenster breitet sich ein rußig schwarzer Rand aus. Darüber der Himmel – kein Dach mehr. Volltreffer, denkt Stave. Brandbombe im Dachstuhl, und in der Angriffsnacht niemand da, der sich im Bombenhagel hinausgewagt hätte, um die Flammen zu löschen. Ein Feuer, das den Dachstuhl gefressen hat, bis der auf die Etagen darunter stürzte und alles in einer Lawine aus Holz und Stein und was auch immer dort gelagert gewesen sein mag in die Tiefe stürzte. In Hamburg stehen Hunderte Häuser wie dieses, mit fast intakten Außenmauern, ohne Fenstergläser, ohne Dach, das Innere ein Berg aus Schutt.

Am Eingang, in dem noch verkohlte Reste einer schweren Eichentür in den Angeln hängen, nickt ihm Polizeifotograf Ansgar Kienle zu. »Ich kümmere mich zuerst um den Toten, Herr Oberinspektor«, sagt er entschuldigend. »Dann widme ich mich Ihrem Fall.« Stave blickt ihn an: ein sommersprossiges, fröhliches Gesicht, das aus einer zeltartigen Regenpelerine leuchtet. Er hält den gewachsten Stoff des Umhangs schützend über seine kostbare Vorkriegs-Leica, den einzigen Fotoapparat im Besitz der Hamburger Kriminalpolizei.

»Die Sachen werden mir schon nicht wegrosten«, erwidert er. Der weiß auch schon, dass ich nicht mehr zur Mordkommission gehöre, denkt Stave. Spricht sich ja schnell herum. »Gut«, fährt er fort, »aber ich gehe trotzdem schon zum Fundort. Ich bin vorsichtig und zertrample Ihnen keine Spuren.«

»Das sagen sie alle«, seufzt Kienle und fingert an seiner Leica herum.

»Wo sind die Trümmerfrauen?«

»Hinter dem Reimershof«, antwortet Ramdohr. »Nachdem die Mauer umgekippt ist und sie die Leiche gefunden haben, wollten sie nicht drinnen warten. Sie können Sie befragen, nachdem …« Er zögert.

»Nachdem die Kollegen der Mordkommission ihre Fragen gestellt haben.«

Im Innern des Reimershofes ist es irreal still. Hügel zwischen den Wänden, manche bloß hüfthoch, andere ragen drei, vier Meter weit auf, ein Gebirge aus zertrümmerten Ziegeln, angeschwärzten Balken, verdrehten Kabeln und zersplitterten Fliesen. Gras überzieht einige flachere Stellen, mitten in der Ruine reckt sich eine Birke schon bis zu der Höhe empor, in der früher einmal der Fußboden der zweiten Etage gewesen sein muss. Keine Stelle ist eben, bei jedem Schritt knirscht es unter Staves Sohlen, manchmal rollen Steinchen die Abhänge herunter. Da die Außenmauern den Wind abhalten, fällt der Niesel in feinen, geraden Schleiern herunter, die Trümmer glänzen, es scheint ihm hier stärker zu regnen als draußen.

In der der Reimersbrücke abgewandten Seite klafft eine große Lücke. Dort ist die Wand auf einer Breite von mindestens fünf Metern nach innen gekippt.

»Die Trümmerfrauen standen zum Glück an der Außenseite«, erklärt Ramdohr. Unwillkürlich hat er seine Stimme gesenkt.