cover

Jens Mühling

Mein russisches Abenteuer

 
 
 

 
 
 
 
eBook 2012
© 2012 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: glanegger.com
Umschlagabbildungen: © Harald Eisenberger/LOOK;
© Lauren Nicole/Getty Images; © Shutterstock
Satz: Fagott, Ffm
 
ISBN eBook: 978-3-8321-8625-8
 
www.dumont-buchverlag.de

 

 

 

Für Johanna

EIS (Kiew)

Weiter nordwärts ist das Land völlig wüst, und es wohnt dort, soviel wir wissen, kein Volk mehr. Es schneit ununterbrochen, im Sommer freilich weniger als im Winter. Wegen der Kälte ist denn auch der nördliche Teil dieses Kontinents unbewohnt.

(Herodot, 5. Jahrhundert vor Christus)

 

Mit diesen Worten will ich schließen:

Nichts Neues kann ich Euch berichten,

als dass das Land zu kalt

und seine Menschen biestig sind.

(Reisebericht des Briten George Turberville,
adressiert an Elizabeth I. von England, 1568)

 

Es wird uns sehr schaden, wenn unsere Nachbarn uns besser und genauer kennenlernen. Darin, dass sie uns bisher nicht verstanden haben, lag unsere Kraft.

(Fjodor Dostojewskij, 1873)

Das Puzzle

Es war das Jahr 2010. Für die meisten Menschen. Für manche war es das Jahr 7518, andere schrieben das Jahr 50, wieder andere das Jahr 1010. All dieses zeitliche Dissidententum aber lag an jenem Winterabend in Moskau noch vor mir. Es würde meinen Weg erst im Lauf eines langen Jahres kreuzen, das gerade erst begonnen hatte und für das ich vorläufig nur die Zahl 2010 kannte.

Es war einer jener Moskauer Abende, bei denen man im Nachhinein nicht mehr sagen kann, an welcher Stelle sie die Grenze zwischen beiläufigem Trinken und ernstem Besäufnis überschritten haben. Sascha und Wanja hatten von ihrem vierten Gang zum Kiosk eine Flasche mitgebracht, die sie allein wegen des Markennamens gekauft hatten: Tri starika stand auf dem Etikett – »drei Greise«. Zu dritt stießen wir auf die Freuden des Alters an. Nach dem ersten Schluck beschlossen wir, auf keinen Fall in Russland alt zu werden. Sascha war in Hochform. Seine Trinksprüche wurden mit jedem Glas länger, exzentrischer, philosophischer. Als wir von den drei Greisen etwa zwei geleert hatten, sah er mich plötzlich ernst an.

»Dieses Buch«, sagte er. »Wenn du wirklich über Russland schreiben willst, dann musst du dir eine Sache einprägen. Hol dir was zum Schreiben.«

»Sascha, so betrunken bin ich nicht, ich kann mir das auch merken …«

»Hol dir was zum Schreiben!«

Etwas in seinem Blick ließ mich gehorchen. Als ich mit Notizblock und Stift zurück in die Küche kam, beugte sich Sascha über den Tisch und begann zu diktieren: »Die rätselhafte russische Seele …«

Ich stöhnte. Sascha richtete einen strengen Zeigefinger auf den Notizblock. »Schreib!« Schulterzuckend setzte ich den Stift wieder an.

»Die rätselhafte russische Seele …«, wiederholte er, während ich mich kritzelnd dem Ende des Halbsatzes näherte, »… gibt es nicht.«

Ich sah auf. Sascha verzog keine Miene. »Schreib! Es geht noch weiter.«

Als ich den Block am nächsten Morgen unter einem Berg schmutzigen Geschirrs wiederfand, schliefen Sascha und Wanja noch. Ich kochte mir Kaffee, um den Kater zu vertreiben, und entzifferte mit Mühe meine eigene Schrift:

 

Die rätselhafte russische Seele gibt es nicht.

Die russische Seele ist nicht rätselhafter

als der morgendliche Kopfschmerz

nach einem Besäufnis.

 

In mein Leben trat Russland als Fälschung.

Es war das Jahr 2000 (für die meisten Menschen). Eines Sommertags rief mich eine Freundin an, Kristina, wir kannten uns aus der Uni. Kristina stand kurz vor dem Abschluss, sie wollte Journalistin werden. In der Uni war ihr ein Aushang aufgefallen:

TV-Produzent sucht Praktikanten!

Am Telefon hatte sich ein Mann gemeldet, der Kristina mit schwerem slawischen Akzent in seine Wohnung einlud. Er sagte, er arbeite von zu Hause aus. Kristina witterte eine Chance, traute der Sache aber nicht recht über den Weg – ob ich zur Sicherheit mitkommen würde?

Ein paar Tage später saßen wir in Juris Wohnzimmer. Er war Anfang dreißig, ein schlaksiger, planlos gekleideter, auf verschrobene Art gut aussehender Typ, der uns Beuteltee und russischen Konfekt servierte. Juris Deutsch war gut, aber er sprach langsam, mit starkem Akzent und langen Denkpausen, was seine Sätze ungewollt ernst klingen ließ. Wir hatten vielleicht fünf Minuten gesprochen, als er uns an seinen Computer bat. Er wollte uns einen Film zeigen, den er für einen deutschen Fernsehsender produziert hatte.

»Russlands Millionäre haben alles, was man für Geld kaufen kann«, raunte eine tiefe Sprecherstimme, während auf dem Bildschirm Geschäftsmänner in dicken Autos an Sehenswürdigkeiten vorbeifuhren, die ich vage Moskau zuordnen konnte. »Nur eins können sie nicht kaufen«, fuhr das Raunen fort: »Das Unerwartete!«

Die Kamera zoomte auf einen krawattierten Mittvierziger mit abweisenden Gesichtszügen. »Igor S., Millionär«, erklärte ein Untertitel, während die Sprecherstimme die russischen Sätze des Mannes synchronisierte: »Ich bin in den Neunzigerjahren zu Geld gekommen. Da ging’s nicht immer ruhig zu – Sie wissen schon.« Igor feuerte eine unsichtbare Pistole in Richtung Kamera ab. »Aber diese Zeiten sind vorbei. Und wissen Sie was? Mir fehlt der Kitzel von damals. Das Unberechenbare, das Abenteuer. Ich bin reich, aber mein Leben ist grau geworden.«

Für Menschen wie Igor, fuhr der Sprecher fort, sei nun in Moskau ein exklusiver Club ins Leben gerufen worden, der seinen Mitgliedern gegen eine horrende Beitrittsgebühr drei unerwartete Erlebnisse pro Jahr garantiere. Die Mitarbeiter der »Agentur des kontrollierten Zufalls«, allesamt ehemalige KGB-Agenten, kundschafteten den Alltag ihrer Klienten bis ins Detail aus: Auf dem Bildschirm erschienen Männer mit harten, grauen Gesichtern, flüsternd über Karten gebeugt, mit Ferngläsern und Kameras hantierend. Zum passenden Zeitpunkt ließen sie scheinbar zufällig attraktive Frauen den Weg ihrer Opfer kreuzen – im Fahrstuhl, an der Tankstelle, im Strandcafé, auf dem Golfplatz. Aus wackliger Geheimdienstperspektive ließ der Film den Zuschauer einige dieser inszenierten Zufallsbegegnungen miterleben, deren erotischer Ausgang zu erahnen war, sobald die Kamera diskret zur Seite schwenkte.

Gegen Ende des Films kam erneut Igor S. zu Wort. Der Club habe sein Leben verändert, sagte er. Da er nie wisse, wann der kontrollierte Zufall in sein Leben einbreche, begegne er grundsätzlich jeder Frau wie einer potenziellen Agentin des Clubs – und erlebe so nicht drei Abenteuer im Jahr, sondern Dutzende. Grinsend zündete er sich eine Zigarre an. Schnitt. Werbung.

Juri sah uns abwartend an.

»Ist ja unglaublich«, sagte ich. »Dieser Club – wer kommt auf so was?«

Kristina sagte gar nichts. Sie starrte nur stumm auf den Bildschirm.

»Ich komme auf so was«, sagte Juri. »Den Club gibt es nicht. Die Geschichte ist erfunden. Die Darsteller sind Freunde von mir.«

Kristina schwieg. Ich lächelte unsicher.

»Wisst ihr«, sagte Juri, »die wahren Geschichten in Russland sind unglaublicher als alles, was ich mir ausdenken könnte. Bloß kauft mir die in Deutschland niemand ab. Also erzähle ich die Geschichten, die man hier über Russland hören will.«

Ich fühlte mich ertappt. Tatsächlich hatte der Film das unklare Bild bestätigt, das ich mir von Juris Heimat machte.

Kristina räusperte sich. Ihr sei da gerade ein Termin eingefallen, sagte sie, den habe sie ganz vergessen. Sie müsse dringend los.

Ich blieb noch eine Weile. Gemeinsam aßen Juri und ich den Konfekt auf. Er erzählte von Russland, von seinem Studium, seiner Karriere im russischen Privatfernsehen. Es war gut gelaufen für ihn, aber irgendwann hatte er Moskau einfach nicht mehr ausgehalten und war nach Berlin gegangen. Er kannte niemanden in Deutschland, trotzdem hatte er es geschafft, ein kleines Studio aufzubauen, das halbwegs erfolgreich Fernsehfilme verkaufte.

Ich fragte, was an Moskau so schlimm gewesen sei. Juri überlegte einen Moment. »Russland ist ein ziemlich interessantes Land«, sagte er. »Und genau das ist das Problem. Es ist zu interessant. Es passiert zu viel. Du weißt morgens nicht, wie der Tag endet.«

Er führte diesen Gedanken noch eine Weile aus. Ich hörte schweigend zu, während irgendwo in meinem Kopf eine lautlose, langfristige Weichenstellung stattfand. Ich versuchte, mir ein Land vorzustellen, in dem zu viel passiert. Ein Land, in dem die wahren Geschichten unglaublicher sind als die ausgedachten.

Am nächsten Tag rief Kristina mich an. Sie wollte ihre journalistische Karriere nicht mit getürkten Fernsehfilmen beginnen. Sie hatte Juri das Praktikum abgesagt.

Ich rief Juri an und sagte zu.

 

Bevor ich Juri kennenlernte, war Russland ein weißer Fleck auf meiner inneren Landkarte. Genauer gesagt: ein Loch.

Als Kind hatte ich ein großes Puzzle. Zusammengesetzt zeigte es die Weltkarte. Jedes Land hatte seine eigene Farbe. Manche Farben füllten viele Puzzleteile, andere nur wenige. Einige Länder – Liechtenstein, Malta, Andorra – waren so klein, dass sie sich ihr Puzzleteil mit anderen Ländern teilen mussten. Das waren die einfachen Länder. Man wusste gleich, wo sie hingehörten.

Es gab sehr viele olivgrüne Puzzleteile. Das war die Sowjetunion. Sie war größer als jedes andere Land, viel größer. Die Sowjetunion war das schwierigste Land von allen. Sie war schwieriger als die Ozeane, die natürlich noch viel größer waren, aber bei denen konnte man sich an die Längen- und Breitengrade halten, die ihr helfendes Netz über alle hellblauen Puzzleteile spannten. In der Sowjetunion gab es keine Linien, nur einförmig olivgrüne Puzzleteile, die alle gleich aussahen. Jedes Mal, wenn ich das Puzzle zusammensetzte, ließ ich die Sowjetunion bis zum Schluss übrig. Und in diesem Stadium hat sich mir die Weltkarte eingeprägt: ein buntes Puzzle mit einem großen, frustrierenden Loch oben rechts.

 

Als im Herbst 2000 mein Praktikum begann, hatte Juri das Interesse an erfundenen Geschichten verloren. Er beschäftigte sich jetzt mit Wissenschaftsthemen. Für ein deutsches Fernsehmagazin arbeitete er an einem Beitrag über einen russischen Mathematiker. An meinem ersten Arbeitstag erklärte er mir kurz, was ich wissen musste.

»Der Mann heißt Anatolij Fomenko, und er hat ausgerechnet, dass wir eigentlich im Jahr 1000 nach Christus leben, nicht 2000.«

»Aha«, sagte ich. »Gut.«

Juri hatte Fomenko in Moskau getroffen. Er zeigte mir gefilmte Interviewausschnitte: In einem Arbeitskabinett saß ein hagerer Mann um die sechzig, dessen Gesicht hinter einer riesigen Brille schwer zu erkennen war. An den Wänden hingen Bilder, die Fomenko, wie Juri mir erklärte, selbst gemalt hatte. Unklar konnte ich schwarz-weiße Fantasielandschaften erkennen, mit Bergen aus Totenschädeln, zerfließenden Uhren, tanzenden Zahlenkolonnen.

Wir machten uns an die Arbeit. Juri übersetzte Fomenkos russische Sätze ins Deutsche, ich überarbeitete sie und schrieb einen Synchrontext. Satz für Satz gingen wir das Interview durch. Erst gegen Ende hatte ich die irrwitzige Theorie des Mathematikers ansatzweise verstanden.

Fomenkos Welt bestand aus Zahlen. Sie waren überall, man musste sie nur aufspüren. Manchmal versteckten sie sich hinter anderen, falschen Zahlen, doch Fomenko ließ sich nicht täuschen. Geschichtliche Zahlen behandelte er mit besonderem Misstrauen – fast alle herkömmlichen Datierungen historischer Ereignisse hielt er für falsch. Um den echten Zahlen auf die Spur zu kommen, hatte er eine Methode entwickelt, mit der er historische Chroniken auswertete. Er befreite solche geschichtlichen Texte zunächst von ihrem nichtmathematischen Ballast. Im Kern dokumentierte eine Chronik für Fomenko nur eine zeitliche Abfolge politischer Herrscher: König A wird nach vier Jahren von König B abgelöst, auf B folgt nach 13 Jahren C, auf C nach zwei Jahren D, mit dessen siebenjähriger Herrschaft die Chronik endet. Texte, die Hunderte von Seiten füllten, reduzierte Fomenko so auf kurze Formeln:

 

 

Das tat er mit sehr vielen Texten. Herodot, Tacitus, Cicero, Thukydides, die Bibel, die Thora, die Veden, der Koran, der gesamte historische Erzählschatz der Welt zerschmolz unter Fomenkos Händen zu knappen Zahlenfolgen. Das Erstaunliche war: Es waren immer wieder die gleichen Zahlenfolgen. In Chroniken, die historisch weit auseinanderliegende Ereignisse beschrieben, entdeckte Fomenko identische Muster von Herrschaftsfolgen:

 

 

Fomenko zog aus diesen Parallelen einen kühnen Schluss: Die Chroniken beschrieben in Wirklichkeit dieselben Ereignisse, dieselben Herrscher, denselben Zeitabschnitt. Erst nachträglich waren sie zu Beschreibungen verschiedener Epochen umgedeutet worden. »Die komplette geschichtliche Chronologie, die uns im Schulunterricht beigebracht wird«, sagte Fomenko im Interview mit Juri, »basiert auf Irrtümern, Fälschungen, Lügen und Manipulationen.«

Als ich den letzten Satz notiert hatte, sah ich Juri zweifelnd an. »Glaubst du dieses Zeug?«

Er dachte eine Weile konzentriert über die Frage nach. »Ich halte das nicht für eine Frage des Glaubens«, sagte er dann. »Aus logischer Sicht kann ich keinen Fehler in der Theorie finden.«

Ich nickte stumm.

Juri hatte, wie mir in diesem Moment wieder einfiel, bei unserem ersten Treffen erwähnt, dass er in Moskau Kybernetik studiert hatte. Ich wusste nicht einmal genau, was Kybernetiker eigentlich tun. Was verstand ich schon von Logik?

Um Fomenkos Arbeitsweise zu veranschaulichen, hatte Juri eine Computeranimation entworfen. Eine Zeitleiste erschien auf dem Bildschirm, unterteilt in Felder unterschiedlicher Länge, die mit den Namen großer Herrscherdynastien beschriftet waren. Anfangs ruhte die Zeitleiste in sich, dann begann der große Fomenko-Tanz: Einzelne Felder lösten sich aus ihrer geschichtlichen Verankerung und wanderten heimatlos die Zeitleiste auf und ab, bis sie Felder identischer Struktur fanden, mit denen sie geisterhaft verschmolzen. Die Habsburger gingen im Römischen Reich Deutscher Nation auf, die Romanow-Dynastie verwuchs mit den Karolingern, aus Karl dem Großen wurde Iwan der Schreckliche. Uhren zerflossen, Zahlenkolonnen tanzten, 2000 Jahre Geschichte schüttelten ihre Krebsgeschwüre ab, 1000 Jahre blieben übrig.

Zögernd sah ich Juri an. Er grinste. Mir dämmerte in diesem Moment ansatzweise, was er mit den wahren und den erfundenen Geschichten gemeint hatte. Dass Russland von verrückten Millionären bevölkert ist, war mir einigermaßen plausibel vorgekommen. Anatolij Fomenko dagegen kam mir vor wie eine Figur aus einem unglaubwürdigen Science-Fiction-Film.

Wieder endete der Tag mit Beuteltee und klebrigem Konfekt. Während Juri von Russland erzählte, wanderte mein Blick zwischen ihm und dem Bildschirm hin und her, wo immer noch die Weltgeschichte in Endlosschleife ihren irritierenden Tanz aufführte. Ich ertappte mich dabei, wie ich meinem Bild von Juris Heimat ein neues Puzzleteil hinzufügte. Ich versuchte, mir ein Land vorzustellen, in dem man Geschichte in kleine Stücke hacken und neu zusammensetzen kann.

 

Es folgten Jahre des Puzzelns. Kurz nach meinem Praktikum bei Juri reiste ich zum ersten Mal nach Russland. Ich wollte das Land kennenlernen. An einem meiner ersten Abende geriet ich in eine Schlägerei zwischen einem orthodoxen Mönch und seiner heimlichen Geliebten. Ich beschloss, unbedingt wiederzukommen.

Ich lernte die Sprache. Einen eiskalten Winter lang belegte ich einen Kurs am Moskauer Puschkin-Institut, wo eine alternde Puschkin-Liebhaberin die sechsköpfigen Monstren der russischen Deklination auf mich losließ: »Puuuschkin! Puuuschkina! Puuuschkinu! Puuuschkina! Puuuschkinym! Puuuschkine!«

Ich las. Hauptstädte und Herrscher fügten sich in mein Puzzle: Kiew, Moskau, Sankt Petersburg. Jaroslaw der Weise, Dmitrij der Falsche, Iwan der Schreckliche, Peter der Große. Zar, Zarja, Zarju, Zarja, Zarem, Zare. Nikolaj I, Alexander II, Alexander III, Nikolaj II. Revoluzija, Revoluzii, Revoluzii, Revoluziju, Revoluzijej, Revoluzii. Lenin, Stalin, Chruschtschow. Sozialism, Sozialisma, Sozialismu, Sozialism, Sozialismom, Sozialisme. Generalsekretär D wird nach 18 Jahren von Generalsekretär E abgelöst, auf E folgt nach 15 Monaten F, auf F nach 13 Monaten G, mit dessen sechsjähriger Herrschaft die Sowjetunion endet. Perestroika, Perestroiki, Perestroike, Perestroiku, Perestroikoj, Perestroike.

Ich reiste. Von einem Puzzleteil zum anderen. Ich sah die Gipfel des Kaukasus, die Wälder Sibiriens, die Vulkane Kamtschatkas. Ich schwamm in der Moskwa und in der Wolga, im Schwarzen Meer und im Baikalsee. Ich erlebte die Wirrnis Tschetscheniens, die Revolution in Kiew, den Krieg in Ossetien.

Zehn Jahre nach meiner Begegnung mit Juri arbeitete ich als Journalist bei einer Berliner Tageszeitung. Mein Schwerpunkt war Russland. Wenn irgendetwas passierte, rief mich der Chefredakteur in die Morgenkonferenz und sagte: »Jetzt erklärt uns der Mühling mal die russische Seele.« Ich erklärte. Schlechten Gewissens. Denn noch immer empfand ich dieses Russland im Grunde als das alte Rätsel meiner Kindheit: ein Stapel olivgrüner Puzzleteile neben einem großen, frustrierenden Loch. Der Stapel wuchs, aber die Teile fügten sich nicht zu einem Ganzen. Das Land war zu groß, zu widersprüchlich, man wusste kaum, wo man anfangen sollte. Und was die Zeitungen schrieben, auch was ich selbst schrieb, ähnelte allzu oft meinen Deklinationstabellen: Putin, Putina, Putinu, Putina, Putinym, Putine.

 

In meinem Schreibtisch bewahrte ich in einer großen, unsortierten Schublade Auszüge aus der russischen Presse auf. Wann immer mir in den Zeitungen oder im Internet etwas auffiel, schnitt ich es aus und legte es zu den anderen Zetteln, um später darauf zurückzukommen. An Regentagen, wenn sonst nichts zu tun war, blätterte ich manchmal die Schublade durch, auf der Suche nach Geschichten abseits der üblichen Nachrichten.

 

WISSENSCHAFTLER ENTSCHLÜSSELN RUSSISCHES GEN

ÜBERRESTE ANTIKER SIEDLUNG IM SÜDURAL ENTDECKT

DONKOSAKEN FORDERN NATIONALE UNABHÄNGIGKEIT

PETERSBURGER PRIESTER WEIHT STALIN-IKONE

 

Über die Jahre wurde die Schublade mit der Aufschrift »Russland, Ideen« immer voller. Manche Geschichten verlor ich lange aus den Augen, bevor sie mir irgendwann wieder in die Finger gerieten. Solche Funde waren die ergiebigsten, denn mit zeitlichem Abstand erschienen sie mir manchmal in völlig anderem Licht. So war es auch mit der Geschichte von Agafja Lykowa, die ich eines Regentags aus dem Wust der Zeitungsausschnitte zog.

 

ALTGLÄUBIGE EINSIEDLERIN WILL DIE TAIGA NICHT VERLASSEN

 

Es war ein kurzer Bericht, der von einer religiösen Eremitin erzählte. Agafja Lykowa lebte alleine in den Wäldern Südsibiriens, gut zweihundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Sie gehörte zu den sogenannten Altgläubigen, einer Splittergruppe der Russisch-Orthodoxen Kirche. Ihre Eltern waren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg in die Taiga geflohen, aus Angst vor dem Terror der Bolschewiken. Mit zwei kleinen Kindern waren sie aufgebrochen, zwei weitere Kinder, darunter Agafja, kamen in der Wildnis zur Welt. Mehr als vierzig Jahre lang hatte die Familie ohne jeden Kontakt zur Außenwelt gelebt. Erst 1978 waren sowjetische Geologen zufällig auf die altgläubigen Einsiedler gestoßen.

Agafja, die jüngste Tochter, war inzwischen die einzige Überlebende der Familie. Wiederholt hatte man ihr nahegelegt, ihre Hütte in der Taiga aufzugeben und in die Zivilisation überzusiedeln. Sie weigerte sich.

Es musste ein paar Jahre her sein, dass ich den Artikel ausgeschnitten hatte. Ich konnte mich noch daran erinnern, dass ich an Juri gedacht hatte, während ich den Zettel in der Schublade verstaute – es war eine dieser russischen Geschichten, die so unglaublich klingen, dass sie nur wahr sein können. Allerdings hatte ich damals keine Ahnung gehabt, was Altgläubige sind. Inzwischen wusste ich es. Und damit bekam Agafja Lykowas Geschichte einen völlig neuen Sinn.

 

In der nicht gerade blutarmen Geschichte Russlands war das 17. Jahrhundert eins der blutigsten. Ein bizarrer Religionsstreit spaltete das Land: Man stritt über die Frage, ob das Kreuzzeichen mit zwei oder mit drei Fingern zu schlagen sei. Der Moskauer Patriarch, der das Drei-Finger-Kreuz befürwortete, verfolgte die Anhänger des Zwei-Finger-Kreuzes erbittert, er ließ widerspenstigen Gläubigen die Hände abhacken und ihren Priestern die Zungen ausreißen. Viele kamen den Verstümmelungen zuvor, indem sie sich kurzerhand selbst den Daumen abschnitten, um nicht dreifingrig Gott lästern zu müssen. Ganze Gemeinden verbarrikadierten sich in ihren Kirchen, steckten den Altar in Brand und sahen zu, wie die Flammen ihre bis zuletzt zweifingrig gereckten Hände zerfraßen.

Ausgelöst hatte den Streit ein Mann, der seinen ganzen zweifelhaften Ehrgeiz daran setzte, den Lauf der Geschichte zu korrigieren. Patriarch Nikon, Oberhaupt der russischen Orthodoxie, leitete um die Mitte des Jahrhunderts eine Kirchenreform ein. Er berief sich auf die Ursprünge des orthodoxen Glaubens: Die Russen hatten das Christentum im Jahr 988 aus Byzanz übernommen, als der Großfürst von Kiew seine Untertanen nach griechischem Ritus taufen ließ. Im Lauf der Jahrhunderte war geschehen, was geschehen musste: Nach und nach entwickelte die russische Orthodoxie eigene, ungriechische Züge, entstanden teils durch Fehlübersetzungen griechischer Kirchentexte, vor allem aber durch die alltägliche Glaubenspraxis. Kein Russe empfand diese Eigenheiten als Verrat an den orthodoxen Wurzeln. Allein Patriarch Nikon war peinlich berührt, wenn er im Kreml griechische Würdenträger empfing, deren Befremden über die Bräuche der Russen ihm nicht entging.

Mit seiner Reform ließ Nikon die offensichtlichsten Abweichungen der russischen Liturgie von der griechischen korrigieren. Auf den ersten Blick waren es Kleinigkeiten: Die Dreifaltigkeit war nicht mehr mit zwei Hallelujas zu preisen, sondern mit dreien; der Name des Herrn war um einen Buchstaben zu ergänzen, Iisus statt Isus; nicht sieben Brote, sondern nur noch eins sollte beim Abendmahl auf dem Altar liegen; das Kreuzzeichen schließlich war nicht mehr mit zwei Fingern zu schlagen, sondern mit dreien, wie es die Griechen taten.

Möglicherweise wären diese Eingriffe klaglos hingenommen worden – wenn nicht zur gleichen Zeit viel einschneidendere Veränderungen über Russland hereingebrochen wären. Das lange isolierte Land öffnete sich gen Westen. Dinge tauchten auf, die es in Russland vorher nicht gegeben hatte. Tabak, Tee und Kaffee. Gestutzte Bärte. Heiligenbilder, auf denen man die Heiligen kaum erkannte, weil sie so fremdartig gemalt waren. Ausländer, vom Zaren gerufen, um das Land zu modernisieren, brachten fremde Sitten nach Russland, fremde Sprachen – und fremde Apparate. Am Hauptturm der Kremlmauer tauchte eine riesige mechanische Uhr auf, aus England, die erste in ganz Russland. Ihre Botschaft war unmissverständlich: Die Zeiten änderten sich.

Alle diese Umwälzungen hatten mit Nikons Reformen eines gemeinsam: Sie ließen Russland schlecht aussehen. Viele Russen wollten nicht wahrhaben, dass die Bräuche ihrer Väter plötzlich weniger wert sein sollten als die Erfindungen von Ausländern, seien es englische Uhren, holländische Gemälde, deutsche Bücher oder griechische Kirchenregeln. Die Altgläubigen, wie man die Reformgegner bald nannte, lehnten Nikons Irrlehren so vehement ab wie den Vormarsch des Westens. Ihr Zwei-Finger-Kreuz wurde zur Widerstandsgeste gegen ein Russland, das in jeder Hinsicht seine Wurzeln verriet.

Die Zeiten änderten sich. Möglicherweise, die Altgläubigen vermuteten es, näherte sich die Welt sogar ihrem prophezeiten Ende, vieles sprach dafür. Als der Religionsstreit seinen blutigen Höhepunkt erreichte, schrieb man in Russland das Jahr 7174 – die Zeitrechnung ging auf die Erschaffung der Welt zurück. Im Westen dagegen, wo man die Jahre seit Christi Geburt zählte, stand eine andere Zahl in den Kalendern, eine schreckliche: 1666. Kein Zweifel: Die Ausländer mussten Sendboten der Apokalypse sein.

Während Russland westwärts driftete, flohen die Altgläubigen ostwärts. Verfolgt von den Schergen des Patriarchen retteten sie sich in dünn besiedelte Randgebiete des russischen Reichs. Sie gründeten Kommunen, in denen die Zeit stillstand, in denen nichts den Geist des alten Russlands verwässerte, kein Tabak und kein Kaffee, kein Rasiermesser und kein Uhrwerk, kein Halleluja zu viel, kein Altarbrot zu wenig.

Jahrhunderte vergingen. Wann immer die Altgläubigen unter Druck gerieten, zogen sie sich einfach ein Stück tiefer in die sibirischen Wälder zurück. Das ging gut, bis 1917 im fernen Sankt Petersburg eine Revolution ausbrach, die Russland in ein neues Blutbad stürzte. Die Missionare, die nun in den Dörfern der Altgläubigen auftauchten, schlugen das Kreuz nicht mit zwei Fingern und nicht mit dreien, sie bekreuzigten sich überhaupt nicht. Stattdessen predigten sie Wahrheiten, die ihnen ein deutscher Philosoph eingeflüstert hatte: Religion ist Rauschgift, es gibt keinen Gott.

Die Altgläubigen taten, was sie immer getan hatten: Sie flohen tiefer in die Wildnis. In den Dreißigerjahren aber, als die sowjetische Landwirtschaft kollektiviert wurde, drangen Planungskommandos bis in die entlegensten Siedlungen vor. In einer kleinen Gemeinde in Südsibirien stießen sie auf Widerstand. Ein Schuss fiel, ein Altgläubiger starb. Entsetzt beschloss der Bruder des Getöteten, der Welt endgültig den Rücken zu kehren. Mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern wanderte Karp Lykow in die Wildnis aus. Als wenige Jahre später seine jüngste Tochter Agafja zur Welt kam, hatte sich das alte Russland in einen winzigen Winkel der Taiga verkrochen.

 

Wieder und wieder las ich den Zeitungsausschnitt. Draußen schlugen Regentropfen auf das Fensterblech. Drinnen geriet mein Puzzle in Bewegung.

Es kam mir vor, als habe der Zufall mir ein winziges, auf den ersten Blick nebensächliches Detail in die Hände gespielt, an dem auf rätselhafte Weise das halbe Puzzle hing. Die Lykows und ihre Vorfahren hatten an den entscheidenden Weggabelungen der russischen Geschichte konsequent die Gegenrichtung eingeschlagen. Auf historischen Nebenpfaden war Agafja Lykowa in der Taiga gelandet – und nach allem, was die Zeitungsnotiz hergab, lebte sie dort noch immer. Sie war die letzte Bewohnerin eines Russlands, das es nach ihrem Tod nicht mehr geben würde.

Ich las die Notizen durch, die ich an den Rand der Zeitungsnotiz gekritzelt hatte: Kiew 988, Moskau 1666, Petersburg 1917, Sibirien 1978. Es las sich wie Stationen einer Reise.

Ich bat meinen Chefredakteur um ein Jahr Urlaub und verabschiedete mich von meinen Freunden. Eines Wintermorgens bestieg ich am Bahnhof Zoo einen überheizten Nachtzug. Im Nebenabteil saß ein junges polnisches Pärchen, dessen Liebesgeflüster durch den menschenleeren Korridor zischelte, während sich der Waggon mit geisterhafter Lautlosigkeit in Bewegung setzte. Erst als der Tiergarten an den Fenstern vorbeizog, verlor sich ihre konsonantische Romanze im lauter werdenden Schwellenschlag der Räder.

Russland ist kein Land

Polen begann mit den violett schimmernden Eisschollen der Oder und mündete in ein Crescendo aus Stacheldraht und Uniformen. Ein Schild mit der Aufschrift »Dorohusk« schob sich vor mein Abteilfenster, als der Zug bremste. Militärstiefel traten Tanzschrittmuster in den Schnee. Ein paar hastig sanierte Verwaltungsbauten wirkten überfordert mit der historischen Aufgabe, die man ihnen auf ihre alten Tage zumutete: Sie waren jetzt Bastionen der Europäischen Union. Unerwartet war der Horizont eines Kontinents vor ihre Fenster gerückt. Überrumpelt bewachten sie ihn.

Auf meiner Reise war die polnisch-ukrainische Grenze die erste von vielen mehr oder weniger willkürlichen Trennlinien zwischen Europa und jenem namenlosen, unkonturierten Hinterland, das nicht, oder nicht mehr, oder noch nicht, oder nicht ganz zu Europa gehört, gehören will oder darf, soll oder muss, kann oder könnte – wer weiß es schon. Mit Klarheit lässt sich über solche Grenzen nur sagen, dass hinter ihnen die Unklarheiten beginnen.

Auf den Seitenwechsel wurde der Zug behutsamer vorbereitet als die Passagiere. Als wir das Niemandsland zwischen den Schlagbäumen erreicht hatten, entkoppelten Arbeiter in Blaumännern die Waggons und rollten sie auf Hebebühnen. Der Reihe nach wurden die Radgestelle ausgetauscht, um den Zug für das breitere Schienennetz zu rüsten, das hinter der Grenze beginnt und bis an die Pazifikküste reicht. Die russischen Gleise liegen, wie mir einer der Arbeiter erklärte, 85 Millimeter weiter auseinander als die europäischen, der Austausch des Fahrwerks dauert je nach Zuglänge bis zu drei Stunden. Ich notierte die Zahlen mit dem Gefühl, dass irgendwo in dieser simplen Formel der komplizierte Unterschied zwischen Europa und Russland verborgen sein musste.

Auf der ukrainischen Seite der Grenze prüfte eine junge Zöllnerin unsere Pässe. Sie war kaum im Korridor verschwunden, als mein russischer Abteilnachbar losprustete: »Hast du das gehört?« Er gluckste vor Vergnügen.

»Was?«

»Diese Sprache!« Kichernd hob er seine Stimme um zwei Oktaven und imitierte die Zöllnerin: »Dokumenty, bud lasko!« Einen Moment ließ er das weiche Zwitschern der ukrainischen Laute nachhallen, bevor er zurück in seine russische Muttersprache wechselte. »Wie Kinder sprechen sie! Ach, diese süßen Ukrainer!« Seine speckigen Wangen bebten vor Lachen.

Oleg kam aus Moskau, er arbeitete als Handelsvertreter für einen ehemaligen Staatskonzern und war seit fast drei Jahrzehnten auf der Zugstrecke Moskau-Warschau unterwegs. Er hatte die Ukraine fast so oft durchquert wie sein Wohnzimmer, aber erst spät war ihm klar geworden, dass die Bewohner dieser Nachbarrepublik eine eigene Sprache hatten. Es war das Jahr, in dem Olegs Firma und die Ukraine zeitgleich entschieden, kein sowjetisches Staatseigentum mehr zu sein. An beides hatte sich Oleg nie gewöhnt. Die Privatisierung seines Unternehmens hatte ihm steile Stressfalten in die Stirn gegraben. Die Unabhängigkeit der Ukraine dagegen amüsierte ihn grenzenlos.

»Am Anfang haben sie sich noch geschämt. Im Zug haben sie nur leise miteinander getuschelt, wie Kinder, die was ausgefressen haben. Erst als die Zöllner anfingen, Ukrainisch zu sprechen, haben sich langsam auch die Passagiere getraut. Und heute … heute …« – ein Lachanfall verschlug ihm vorübergehend die Sprache – »… heute tun sie manchmal so, als ob sie mein Russisch nicht verstehen! Wie Kinder, die sich eine Geheimsprache ausgedacht haben!«

Mit dem rechten Fuß schob ich diskret die Abteiltür zu. Oleg sprach so laut, dass der ganze Waggon sein chauvinistisches Gekicher hören musste – und wenn es um ihre nationale Ehre geht, verstehen Ukrainer sehr gut Russisch.

»Vergiss dieses ganze Gerede von Unabhängigkeit«, fuhr Oleg fort. »Die Ukraine war nie unabhängig, nie! Der östliche Teil war immer russisch, der Westen polnisch, litauisch, österreichisch. Jetzt haben sie ihr eigenes Land und denken sich lauter Unsinn aus: eine ukrainische Sprache, eine ukrainische Geschichte, eine eigene Regierung. Ihre Sprache ist ein Bauerndialekt, ihre Geschichte ein Märchen, ihr Staat ein Zirkus.« Amüsiert schüttelte er den Kopf. »Es ist eigentlich überhaupt kein Land.«

 

Am nächsten Morgen stieg ich trotzdem in Kiew aus, der Hauptstadt des Landes, das kein Land ist.

Eis bedeckte die Stadt. In glasigen Schlieren überwucherte es die Bürgersteige und verlangsamte die Bewegungen der Fußgänger zu tastenden Tanzfiguren. Alle fluchten – seit Wochen waren die Straßen nicht geräumt worden, niemand wusste, warum. Rotweißes Flatterband durchzog die Innenstadt wie die Fäden einer riesigen Kunststoffspinne. Ich duckte mich unter den Absperrungen durch, wie alle anderen auch. Ihren Sinn begriff ich erst, als dicht neben meinen Füßen ein riesiger Eiszapfen in tausend Splitter zersprang. Vorsichtig hob ich den Kopf. Unter den Dachfirsten grinsten die Zahnreihen gläserner Reptilien.

Der Dnjepr, der die Stadt in zwei weit voneinander entfernte Hälften teilt, war komplett zugefroren. Kleine schwarze Punkte zeichneten sich im Weiß des schneebedeckten Flusses ab. Erst als ich näher kam, wurden sie zu menschlichen Silhouetten. Es waren Eisfischer. Zu Hunderten hockten sie reglos neben ihren Bohrlöchern.

Wieder stand ich vor einer jener Trennlinien, die Europa in ein trügerisches Drinnen und Draußen scheiden. Westlich des Dnjepr wurde das Land, das heute Ukraine heißt, im Lauf der Jahrhunderte meist von europäischen Mächten regiert, während der Osten, Kiew eingeschlossen, meist zu Russland gehörte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden beide Landstriche zu einer Sowjetrepublik verkuppelt. Gemeinsam hatten sie sich nach 46-jähriger sozialistischer Ehe unabhängig erklärt. Später erst begannen die beiden ungleichen Gatten, über ihre Herkunft zu streiten, über ihre Verwandtschaft zu Europa und Russland. Seit erste Scheidungsdrohungen in der Luft liegen, markiert der Dnjepr im Groben die Grenze, an der die Ukraine ihren Ehekrach austrägt.

Das aber war nicht der Grund, warum meine Reise hier beginnen musste. Ich suchte nach den Spuren einer viel älteren Grenze. In Kiew hat Russlands Erzählung begonnen. Hier, an den Ufern des Dnjepr, ist das Land aus dem Nebelreich des Mythos aufgetaucht, um in die klarer konturierten Bahnen der Geschichte einzutreten.

Ich versuchte, es mir vorzustellen: Ein Tag im Jahr 988, vielleicht ein Frühlingstag, vielleicht aber auch ein beißend kalter Wintertag wie heute, möglicherweise hatte man Löcher ins Eis des Dnjepr brechen müssen. Die Jahreszeit ist nicht überliefert, wohl aber, dass Fürst Wladimir von Kiew die Zwangstaufe seiner Untertanen persönlich überwachte.

Als Herrscher eines jungen Reichs, der Kiewer Rus, hatte Wladimir kurz zuvor entschieden, die heidnische Vielgötterei seiner Untertanen durch eine zeitgemäßere Staatsreligion zu ersetzen. Er sandte Kundschafter aus, um mehr über die modischen Monotheismen zu erfahren, mit denen sich die umliegenden Reiche schmückten. Den Islam verwarf er sofort, als er von der Alkoholabstinenz der muslimischen Bolgaren erfuhr: »Das Trinken ist die Freude der Rus«, erklärte Wladimir. »Ohne das können wir nicht sein!« Das Judentum der nomadischen Chasaren kam dem Fürsten wenig staatstragend vor, und in den Kirchen der katholischen Deutschen hatten seine Kundschafter »keinerlei Schönheit« entdecken können. Ganz anders dagegen klang, was Wladimirs Emissäre über die Gotteshäuser von Byzanz berichteten: »Wir wissen nicht, ob wir auf Erden waren oder im Himmel, denn auf Erden gibt es solchen Anblick und solche Schönheit nicht. Nur das wissen wir, dass dort Gott unter den Menschen weilt, und ihr Gottesdienst ist besser als bei allen anderen Völkern.«

So war es der Christengott, in seiner griechischen, orthodoxen Erscheinungsform, für den sich Wladimir entschied. Die alten heidnischen Holzgötzen, an deren Bäuchen noch das Fett der letzten Speiseopfer geglänzt haben muss, ließ der Fürst ausgraben und in den Dnjepr werfen. Ich fragte mich, ob er mit Stolz zugesehen hatte oder mit Skrupeln, als das Pantheon der gestürzten Slawengötter an ihm vorübertrieb, Perun und Chors, Daschbog und Stribog, Semargl und Mokosch, mit ihren hölzernen Leibern und silbernen Köpfen und goldenen Schnurrbärten.

Dann kam der Tag, von dem es heißt, dass der Teufel vor Verzweiflung stöhnte, weil das Volk der Rus sich geschlossen von ihm abwandte. Wladimir ließ seine Untertanen am Ufer des Dnjepr versammeln. Niemand verstand die griechischen Taufgebete, mit denen die eigens aus Byzanz angereisten Priester das Sakrament begleiteten. Hatte man, fragte ich mich, die Menschen am Ufer nur tropfenweise mit Flusswasser besprengt, oder war tatsächlich das gesamte Volk in den Dnjepr gestiegen, jubelnd und entkleidet, wie es später auf den Ikonen dargestellt wurde?

Ich suchte das Flussufer ab und versuchte, die Geschichte zu beleben. Aber mir war kalt, meine Konzentration ließ nach, und ich spürte, wie Russlands Anfänge vor meinen Augen in ihre tausendjährige Vergangenheit zurückwichen. Weit oben über dem Flussufer stand Fürst Wladimir auf den Hügeln, überlebensgroß, ein Neonkreuz in der ausgestreckten Kupferhand, aber seine Pose wirkte leblos, eine staatstragende Verkörperung des 19. Jahrhunderts, nachträglich illuminiert. Längst stand diese Statue nicht mehr auf russischem Boden, längst hatten sich Russlands Grenzen ostwärts verschoben, und vom Gründungsmythos des Landes, so schien es mir nun, war nur die gehaspelte Antwort übrig geblieben, die russische Schüler geben, wenn sie den Beginn ihrer Landesgeschichte datieren sollen: 988, Taufe der Rus. War das, wonach ich suchte, mehr als eine Zahl in einem Schulbuch?

Als ich gerade gehen wollte, stand einer der Eisfischer auf und hob den Blick in die Hügel über dem Ufer. Kirchenkuppeln säumten die verschneiten Hänge, gold auf weiß, ein winterliches Zwiebelbeet. Der Fischer führte seine Fingerspitzen an die Stirn, an die Brust, die rechte, dann die linke Schulter, bevor er mit der Handfläche das Eis vor seinen Füßen berührte. Er wiederholte die Gesten ein zweites, ein drittes Mal, dann schulterte er den Eisbohrer und ging seiner Wege.

 

Träge trieben die gestürzten Holzgötter den Dnjepr entlang. Sie ließen Kiew hinter sich, sie durchquerten die südlichen Steppen und wurden schließlich ins Schwarze Meer geschwemmt. Und mit ihnen verschwand ein Abschnitt der russischen Vergangenheit. Denn was vor der Taufe geschah, liegt heute weitgehend im Dunkeln.

Herodot, der griechische Geschichtsschreiber, der im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Schwarzmeerküste bereiste, mühte sich vergebens, Zuverlässiges über die Welt nördlich der skythischen Steppengebiete zu erfahren. »Niemand weiß Bestimmtes zu sagen«, klagte er. Mal wurde ihm von kargen Wüsten berichtet, mal von undurchdringlichen Wäldern oder Sümpfen, besiedelt von den unerhörtesten Stämmen – kahlköpfig, ziegenfüßig oder gar einäugig. Noch weiter nördlich, erfuhr der Grieche, scheine die Sonne nur dann, wenn es anderswo regne, während im Sommer ein Gewitter das nächste jage. Herodot notierte die Gerüchte skeptisch, nur eins hielt er für gesichert: Unerträgliche Kälte herrsche an den Rändern der bekannten Welt. Die Luft, versicherten ihm die Skythen, sei gen Norden »voller Federn«, und was hinter den Federn liege, wisse niemand. Menschen jedenfalls konnten in diesen Eiswüsten unmöglich leben.

Es muss ein Schock für Herodots griechische Leser gewesen sein, als aus dem Federgestöber ein paar Jahrhunderte später die ersten nordischen Langboote auftauchten, bemannt mit Kriegern, deren Haare und Bärte so bleich waren wie die Schneelandschaften, aus denen sie kamen. Die normannischen Waräger, Verwandte der Wikinger, erreichten die byzantinische Welt über das verzweigte Flusssystem, das den europäischen Norden mit dem Schwarzen Meer verbindet. Unterwegs, an den Ufern der Newa, der Düna und des Dnjepr, begegneten sie einem bis dahin kaum in Erscheinung getretenen Volk: den Slawen.

Glaubt man der einzigen Quelle, die vom Zusammentreffen dieser beiden Federvölker berichtet, dann verlief ihre Begegnung mehr als ungewöhnlich. Die straff geführten Expeditionen der Waräger, ihre schnittigen Boote, ihre Erfolge als Händler wie als Krieger, all das muss großen Eindruck auf die slawischen Flussanrainer gemacht haben. Der Streitsucht überdrüssig, die ihr eigenes Reich zermürbte, wandten sich einige der slawischen Stämme im Jahr 862 an die »Rus«, ein warägisches Herrschergeschlecht. »Unser Land ist groß und reich«, erklärten sie den erstaunten Normannen. »Aber es ist keine Ordnung darin. Kommt, über uns zu herrschen.«

Drei warägische Brüder sollen es gewesen sein, die gemeinsam ostwärts zogen, um den Wunsch der Slawen zu erfüllen. Rurik, der Erstgeborene, begründete ein Fürstentum, dessen Machtzentrum Kiew wurde. Zwei Eisvölker verschmolzen, und fortan bezeichnete man die Slawen und ihre warägischen Herrscher mit dem gleichen Stammesnamen: Rus.

Die Griechen müssen die Geburt dieses nördlichen Zwitterstaats mit einigem Frösteln verfolgt haben. Versöhnt fühlen durften sie sich erst, als Ruriks Urenkel Wladimir ein gutes Jahrhundert später das byzantinische Christentum nach Kiew brachte. Mysteriöserweise war zu diesem Zeitpunkt bereits jede warägische Spur aus Russlands Geschichte verschwunden – in den dynastischen Stammbäumen hatten innerhalb eines Jahrhunderts Igors und Olgas die Ingvars und Helgas verdrängt. Legten die Waräger ihre nordischen Namen ab, passten sie sich ihren Untertanen an, wurden sie zu Slawen? Oder ist die ganze Geschichte von ihrer Machtübernahme eine Legende? Nur eine einzige russische Chronik berichtet von ihr. Trotzdem verstanden sich Russlands Fürsten und Zaren bis ins 17. Jahrhundert als Erben eines Normannengeschlechts, als Nachfahren Ruriks. Erst später, nach dem Aussterben der Rurik-Dynastie, griff eine verquere Art von nationaler Scham um sich – plötzlich wollte man nicht mehr wahrhaben, dass Russland seinen Namen und seine Staatsgründung angeblich einem fremden Volk verdankte. Generationen patriotischer Historiker versuchten, die Waräger aus der Landesgeschichte zu verjagen. Eindeutig gelungen ist es keinem.

Vom Dnjepr-Ufer führt ein schmaler Pfad auf die bewaldeten Hügel über der Stadt. Als ich oben angekommen war, machte ich Halt und folgte mit den Augen dem Lauf des Flusses. Er krümmte sich, bevor er im Dunst verschwand, zu einem riesigen, eisgrauen Fragezeichen.

 

Der Mann, der Russlands Anfänge dokumentiert hat, starrt aus kohlschwarzen Augen in die Finsternis. Seine Hände ruhen auf einem Schreibpult, umgeben von den Instrumenten seiner Zunft: rechts die Feder, links das Tintenfass, dazwischen ein aufgeschlagenes Buch. All diese Attribute aber versinken in den dunklen Rändern des Gemäldes, überstrahlt von einem grellen Heiligenschein, in dem seltsam körperlos der Kopf des Chronisten schwebt. Nestor, der heiliggesprochene Geschichtsschreiber der Rus, wurde ein gutes Jahrhundert nach der Kiewer Massentaufe geboren, er rekonstruierte die Machtübernahme der Waräger und die Einführung des Christentums aus früheren, heute verlorenen Chroniken. Seine »Erzählung der vergangenen Jahre« ist die älteste überlieferte Chronik der Ostslawen. Zu Papier brachte Nestor sie in einer Mönchszelle des Kiewer Höhlenklosters, das kurz nach der Christianisierung gegründet wurde. Die labyrinthischen Klostergänge unterkellern bis heute die Hügel westlich des Dnjepr-Ufers. Mit einer Kerze in der Hand war ich den schmalen Tunneln gefolgt, bis Nestors Ikone vor mir auftauchte.

Eine Weile blieb ich vor dem Heiligenbild stehen. In der Enge des dunklen Gangs schoben sich Pilger und Touristen an mir vorbei, manche bekreuzigten sich im Vorübergehen, andere blieben stehen und drückten ihre Lippen auf Nestors Hände, sein Mönchsgewand, den Holzrahmen der Ikone. Reglos lauschte der Chronist dem Gebet einer jungen Frau, die minutenlang auf ihn einflüsterte.

Ich musste an die Worte aus der Chronik denken, mit denen Wladimirs Kundschafter die byzantinischen Kirchen gepriesen hatten: »Auf Erden gibt es solchen Anblick und solche Schönheit nicht.« Es mussten vor allem die orthodoxen Ikonen gewesen sein, die die Abgesandten so überwältigt hatten, dass ihnen die deutschen Kirchen im Vergleich blass und leer vorkamen. Ich sah den Gang entlang. Eine Armee der Heiligen bewachte die Wände. Ihre Gesichter waren in der Dunkelheit schwer auseinanderzuhalten, aber das verstärkte nur ihre Wirkung. Im Kerzenschein blieben allein ihre Augen erkennbar. Sie wirkten so gespenstisch belebt, dass ich unwillkürlich begriff, was die slawischen Kundschafter in ihrer Gegenwart gespürt haben mussten: »dass dort Gott unter den Menschen weilt.«

Nestors Blicke musterten die Pilger, die in endloser Prozession an seiner Ikone vorbeizogen. Viele Menschen blieben stehen, um den Glasdeckel eines Sargs zu küssen, der in einer Nische unter dem Heiligenbild stand. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass Sarg und Ikone zusammengehören, dass der Körper, der sich unter dem gewölbten Leichentuch abzeichnet, Nestors Mumie ist. Ein Taschenspielertrick der Natur bewahrt ihn vor der Verwesung, wie all die anderen Heiligen, die in gläsernen Särgen die Gänge des Klosters säumen. Ein Trick der Natur – oder Gottes Wille, je nachdem. In manchen der Leichentücher klaffen kleine Löcher, aus denen heilige Hände ragen, zu Klauen verschrumpelt, die Finger zum fünffachen Gottesbeweis gekrümmt. Nestors Leichnam ist vollständig bedeckt, aber das Wissen, dass unter diesem Tuch die Hand ruht, die Russlands Anfänge aufgezeichnet hat, umgibt den Sarg wie ein historischer Heiligenschein.

Nach der Oktoberrevolution wandelten die Bolschewiken das Kloster in ein »Museum des Atheismus« um. Den Ikonen klebte man Hohnbotschaften auf die Holzrahmen, man erklärte sie zu Ausstellungsstücken, die den Wahn einer untergegangenen Welt veranschaulichten. Immerhin, man ließ sie hängen. Andere Ikonen landeten nach der Revolution im Dnjepr. Wie tausend Jahre zuvor die Slawengötter trieben nun christliche Heilige den Fluss entlang, unter einem Himmel, in dem, wie es hieß, kein Gott mehr lebte.

 

»Sie dürfen hier nicht fotografieren!«

Ein Mönch verstellt in einer der Klosterkirchen einer Reisegruppe den Weg. »Keine Fotos! Das ist ein Gotteshaus!«

Die Reiseleiterin tritt dem Mann entgegen. »Verschwinde! Du hast hier nichts zu suchen! Bleib im Kloster, wo du hingehörst!« Sie wendet sich an die Touristen. »Fotografieren Sie, fotografieren Sie! Es ist ein Museum, Sie haben Eintritt bezahlt.«

»Geld!«, ruft der Mönch. »Gott ist nicht käuflich!«

»Verschwinde! Ich rufe den Wachschutz!«

Der Mann gibt widerwillig den Weg frei. Verschreckt drücken sich die Touristen an ihm vorbei.

»Hören Sie nicht auf ihn«, zischt die Reiseleiterin. »Ein Verrückter.«

 

Ich fing Natalja in der Mittagspause ab, nachdem sie ihre Reisegruppe verabschiedet hatte. Sie war um die sechzig, eine energische Frau in einem voluminösen Nerzmantel. Ihre Stimme hatte den Umfang eines Rotarmistenchors. Selbst wenn sie flüsterte, war ihr Russisch rabiat und schneidend. So spricht jemand, dachte ich, der jahrzehntelang Schulklassen übertönen musste.

Wie wir auf Gott kamen, weiß ich nicht mehr. Natalja versicherte mir, dass sie nie geglaubt habe. Gleichzeitig sprach sie so bewegt von den Wundern der Höhlen, dass es mir schwerfiel, ihr die Atheistin abzunehmen. »Hast du die Mumien gesehen? 118 Heilige! In den Höhlen wurden Tausende von Mönchen begraben, und bis heute kann kein Wissenschaftler erklären, warum die einen verwest sind und die anderen nicht. Ein-hun-dert-acht-zehn! Wo gibt es das sonst?«

Sie erzählte von Ikonenwundern, von mysteriösen Heilungen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie im Grunde ihres Herzens längst die Seiten gewechselt hatte. Dass sie es nicht zugab, auch vor sich selbst nicht, schien komplizierte Gründe zu haben. Ihr Leben lang hatte sie das Kloster als Museum betrachtet. Dass inzwischen wieder Mönche hier lebten, war ihr suspekt. Mönche mochten etwas von Wundern verstehen, aber was verstanden sie von Brandschutz, von Ikonenrestaurierung, von Reisegruppen? Wissen Mönche, wie man eine Schulklasse übertönt?

Daher rührte auch der Streit, den ich am Vormittag beobachtet hatte. »Der Abt schickt seine Leute ins Museum, um die Touristen zu vergraulen«, sagte Natalja. »Am liebsten würden sie das ganze Kloster übernehmen.«

Bisher gehörte ihnen nur die Hälfte. Die Höhlen hatte man den Orthodoxen im Symboljahr 1988 zurückgegeben, tausend Jahre nach der Slawentaufe. Der untere Teil des Klosters gehört seitdem der Russisch-Orthodoxen Kirche, der obere dem ukrainischen Staat. In den Höhlen herrscht der Patriarch. Im Museum Natalja.

»Komm«, sagte sie. »Ich zeige dir etwas.«

Wir überquerten den Klosterhof. Natalja schloss den Seiteneingang einer kleinen Kirche auf und schob mich ins schummrige Innere. Sie ließ den Arm durch das Mittelschiff kreisen. Der komplette Innenraum war mit Fresken ausgemalt.

»Sieh dir diese Bilder an«, sagte sie. Ihre Augen glänzten. »Das sind unsere Ikonen. Ukrainische Ikonen.«

Ich suchte die Wände ab, aber ich entdeckte nichts Ukrainisches. Die Bilder sahen aus wie europäische Barockfresken. Heilige gestikulierten schmerzensreich, Tempelhändler flohen mit angstverzerrten Grimassen vor einem zürnenden Christus. Ich musste an die russischen Ikonen in den Höhlen denken, an ihre stoischen Blicke, ihre starre Mimik, die versteinerten Segensgesten ihrer Hände. Der Kontrast zum Gefühlsdrama der Wandmalereien hätte nicht größer sein können.

»Sie sehen ein bisschen italienisch aus«, sagte ich vorsichtig. »Oder holländisch.«

»Aber sie sind ukrainisch, ukrainisch!«, rief Natalja. »Der europäische Stil ist es doch gerade, der unsere Ikonen ausmacht! Du redest wie der Abt! Nicht orthodox, sagt er, nicht kanonisch! Am liebsten würde er hier alles mit russischen Ikonen übermalen lassen.«

wirWir