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Es war einmal – die Geschichte der alten Griechen, die Mythen von den Ursprüngen der Menschheit. Jean-Pierre Vernant erzählt in diesem wunderbaren Band von der Entmannung des Uranos, den Listen des Zeus, von der Erfindung der Frau, den Abenteuern von Europa, dem lahmen Ödipus oder vom Wettstreit mit den Gorgonen. Dabei erleben wir, dass die Bindung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen nie abgebrochen wird, und wir treffen auf lauter alte Bekannte: Mutter Erde und Prometheus, Odysseus und die Helden aus dem Trojanischen Krieg. Jean-Pierre Vernant breitet die griechischen Mythen in einer ebenso klaren wie spannungsvollen Geschichte vor uns aus.

Jean-Pierre Vernant wurde 1914 in Südfrankreich geboren und war aktives Mitglied der Résistance. Er war Professeur honoraire am Collège de France und lehrte an der École pratique des Hautes Études in Paris. 2007 verstarb Jean-Pierre Vernant im Alter von 93 Jahren.

Jean-Pierre Vernant

GÖTTER UND MENSCHEN

Griechische Mythen neu erzählt

Aus dem Französischen

von Hella Faust

Vorwort

Es war einmal  … lautete der Titel, den ich diesem Buch anfangs geben wollte. Ich entschied mich dann schließlich, ihn durch einen anderen, aussagekräftigeren zu ersetzen. Zu Beginn möchte ich jedoch von einer Erinnerung erzählen, die in jenem ersten Titel nachhallt und die diesen Geschichten zugrunde liegt.

Vor einem Vierteljahrhundert, als mein kleiner Enkelsohn mit meiner Frau und mir seine Ferien verbrachte, war zwischen uns etwas zur Regel geworden, das genauso wichtig war wie das Bad oder die Mahlzeiten: Jeden Abend, wenn die Stunde kam, da Julien zu Bett ging, hörte ich ihn, oft ein wenig ungeduldig, aus seinem Zimmer rufen: »Opa, eine Geschichte, eine Geschichte!« Ich setzte mich zu ihm und erzählte eine griechische Sage. Ohne große Mühe schöpfte ich aus dem Repertoire der Mythen, mit deren Analyse, Vergleich und Deutung ich meine Zeit verbrachte und die ich zu verstehen versuchte. Ich erzählte sie ihm aus dem Stegreif, so wie sie mir gerade in den Sinn kamen, in der Art eines Märchens, und war nur darauf bedacht, während meiner Schilderung die dramatische Spannung der Erzählung von Anfang bis Ende aufrechtzuerhalten: Es war einmal  … Julien schien beim Zuhören glücklich. Auch ich war es. Ich freute mich, ihm durch mein Erzählen etwas von jener griechischen Welt zu vermitteln, der ich mich verbunden fühle und deren Weiterleben in einem jeden von uns mir in der heutigen Zeit mehr denn je notwendig erscheint. Es gefiel mir auch, dass ihm dieses Erbe mündlich überliefert wurde, im Stil von Platons Ammenmärchen; wie all das, was eine Generation der nächsten außerhalb des offiziellen Unterrichts weitergibt, ohne sich dabei auf Bücher zu stützen – ein Rüstzeug von »außertextlichen« Verhaltensweisen und Wissensformen. Man denke an die Anstandsregeln in Sprache und Verhalten, an die guten Sitten und an die verschiedenen Bewegungsformen wie Gehen, Laufen, Schwimmen, Fahrradfahren oder Klettern …

Gewiss war es naiv zu glauben, eine Tradition antiker Sagen am Leben erhalten zu können, indem ich ihnen jeden Abend meine Stimme lieh und sie einem Kind erzählte. Doch man vergegenwärtige sich, dass von den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts die Rede ist, von einer Zeit, in der der Mythos im Aufwind war. Nach Dumézil und Lévi-Strauss hatte das Fieber der mythologischen Studien eine Handvoll Hellenisten ergriffen, die sich zusammen mit mir in die Erforschung der sagenhaften Welt des alten Griechenland stürzten. Je weiter wir fortschritten, je weiter wir mit unseren Untersuchungen vorankamen, umso problematischer wurde die Existenz eines mythischen Denkens an sich. Wir waren gezwungen, uns folgende Frage zu stellen: Was ist ein Mythos? Und wenn wir unserem Forschungsbereich Rechnung tragen wollten: Was ist ein griechischer Mythos? Natürlich wussten wir, dass es sich um eine Erzählung handelt. Damit wussten wir aber noch lange nicht, wie diese Erzählungen entstanden sind, wie sie sich entwickelt haben, wie sie überliefert und erhalten wurden. Im griechischen Fall haben sie uns erst am Ende der Wegstrecke in Form von geschriebenen Texten erreicht. Die ältesten von ihnen gehören literarischen Werken an, in denen alle Gattungen vertreten sind – das Epos, die Poesie, die Tragödie, die Geschichte, ja sogar die Philosophie – und in denen sie, mit Ausnahme der Ilias  und der Odyssee  von Homer und der Theogonie  von Hesiod, verstreut, bruchstückhaft, mitunter nur andeutungsweise erscheinen. Erst spät, gegen Anfang unserer Zeitrechnung, wurden diese zahlreichen, mehr oder weniger voneinander abweichenden Überlieferungen von Gelehrten gesammelt und innerhalb einer Textsammlung präsentiert, in der sie wie Bücher auf den Regalen einer Bibliothek aneinandergereiht waren – um den Titel aufzugreifen, den Apollodoros seinem Handbuch gab, das zu einem der großen Klassiker auf diesem Gebiet geworden ist. Auf diese Weise entstand das, was gemeinhin griechische Mythologie genannt wird.

Mythos und Mythologie, das sind in der Tat griechische Worte, die mit der Geschichte und bestimmten Merkmalen dieser Kultur in einem Zusammenhang stehen. Muss man daraus schließen, dass sie außerhalb dieser nicht von Bedeutung sind und dass es den Mythos, die Mythologie einzig in der griechischen Form und im griechischen Sinne des Wortes gibt? Das Gegenteil ist wahr. Um die hellenischen Sagen verstehen zu können, muss man sie mit traditionellen Erzählungen anderer Völker aus sehr unterschiedlichen Kulturen und Zeitaltern vergleichen, ganz gleich, ob es sich dabei um das alte China, das alte Indien, den alten Nahen Osten, das präkolumbianische Amerika oder um Afrika handelt. Ein Vergleich drängt sich auf, weil diese Erzähltraditionen bei allen Unterschieden genügend gemeinsame Anhaltspunkte aufweisen, um miteinander in Verbindung gebracht werden zu können. Claude Lévi-Strauss konnte schlüssig nachweisen, dass ein Mythos, welcher Herkunft auch immer, sich von vornherein erkennen lässt und keine Gefahr läuft, mit anderen Erzählformen verwechselt zu werden. Der Unterschied zur historischen Erzählung, die sich in Griechenland gewissermaßen gegen  den Mythos herausgebildet hat, ist insofern deutlich, als diese der genaue Bericht von zeitlich unweit zurückliegenden Ereignissen ist, die von zuverlässigen Zeugen noch hätten belegt werden können. Was die literarische Erzählung angeht, so handelt es sich um eine reine Fiktion, die sich offen als solche ausgibt und deren Qualität vor allem vom Talent und Geschick dessen abhängt, der sie geschrieben hat. Beide Erzählformen werden normalerweise einem Autor zugeschrieben, der sie verantwortet und unter seinem Namen in Form von Schriften an eine Leserschaft weitergibt.

Der Stellenwert des Mythos ist ein ganz anderer. Ein Mythos ist eine Geschichte aus uralter Zeit, die bereits da war, bevor irgendein Erzähler mit ihrer Erzählung begonnen hätte. In diesem Sinne beruht die mythische Erzählung weder auf der Erfindung des Einzelnen noch auf schöpferischer Fantasie, sondern auf Überlieferung und dem Vermögen der Erinnerung. Die enge, funktionale Verbindung zum Memorieren rückt den Mythos in die Nähe der Poesie, die in ihren ältesten Ausdrucksformen mit dem Entstehungsprozess des Mythos verschmelzen kann. Der Fall des homerischen Epos ist hierfür beispielhaft. Um die Erzählungen von den Abenteuern sagenhafter Helden miteinander zu verknüpfen, arbeitet das Epos zunächst mit den Mitteln der mündlich überlieferten Poesie, die, von der Göttin des Gedächtnisses Mnemosyne inspiriert, von mehreren Sängergenerationen verfasst und Zuhörern vorgesungen wurde. Erst später wird es zum Gegenstand einer Niederschrift, die den offiziellen Text erstellt und festhält.

Noch heute hat ein Gedicht nur dann ein Dasein, wenn es gesprochen wird; will man ihm Leben einflößen, muss man es auswendig lernen und es sich mit seiner inneren Stimme vortragen. Auch der Mythos lebt nur, wenn er weiter Bestandteil des täglichen Lebens ist, wenn er von Generation zu Generation weitererzählt wird. In die Tiefen der Bibliotheken verbannt, erstarrt der Mythos in der Schriftform und wird zum gelehrten Bezugssystem einer Elite von Lesern, die auf Mythologie spezialisiert sind.

Erinnerungsvermögen, Mündlichkeit und Tradition sind die Bedingungen des Mythos, seiner Existenz und seines Überlebens. Sie verleihen ihm bestimmte charakteristische Züge, die deutlicher werden, wenn man den Vergleich zwischen dem poetischen und dem mythischen Schaffensprozess fortführt. Die Rolle, welche die Sprache dabei jeweils spielt, macht den wesentlichen Unterschied deutlich, der zwischen beiden besteht. Nachdem sich die Poesie mit den Troubadours in der westlichen Welt verselbstständigt hatte und sich nicht nur von den großen mythischen Erzählungen, sondern auch von der Musik, die sie bis ins 14. Jahrhundert hinein begleitete, getrennt hatte, bildete sie sich als spezifischer Bereich sprachlichen Ausdrucks heraus. Jedes Gedicht stellt von nun an eine einzigartige, überaus komplexe Konstruktion dar. Es hat eine vielfältige Bedeutung und ist doch dabei so streng organisiert und in seinen verschiedenen Komponenten und auf allen seinen Ebenen so gebunden, dass es auswendig gelernt und vorgetragen werden muss, ohne dass dabei etwas ausgelassen oder geändert werden kann. Das Gedicht bleibt sich trotz des unterschiedlichen Sprachgebrauchs, der es in Zeit und Raum aktualisiert, gleich. Die Stimme, die dem poetischen Text für ein Publikum oder für einen selbst Leben verleiht, hat einen einzigartigen und unveränderlichen Charakter. Ein verändertes Wort, ein übersprungener Vers, ein verschobener Rhythmus, und schon bricht das Gefüge des Gedichts wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die mythische Erzählung hat wie der poetische Text zahlreiche Bedeutungsebenen. Doch ist sie nicht in eine endgültige Form gefasst. Sie enthält stets Varianten, zahlreiche Versionen, die dem Erzähler zur Verfügung stehen und die er je nach Umständen, Publikum oder eigenen Vorlieben auswählt und innerhalb derer er streichen, etwas hinzufügen oder auch Änderungen vornehmen kann, wenn er dies für angemessen hält. Solange die mündliche Überlieferung von Sagen eine lebendige Tradition ist, solange sie in direktem Bezug steht zum Denken und zu den Bräuchen einer Gruppe, ist sie in Bewegung: Ein Teil der Erzählung bleibt für Neuerungen offen. Wenn der Antiquar und Mythologe sie wie im Fall Griechenlands am Ende der Wegstrecke findet, ist sie bereits in literarischen oder gelehrten Schriften versteinert. Für die richtige Entschlüsselung der Sage ist es deshalb erforderlich, ihre Untersuchung auszuweiten – zunächst von einer auf alle anderen, auch noch so unbedeutenden Versionen desselben Themas; dann auf andere mythische, nah- oder fernstehende Erzählungen, ja, selbst auf Texte, die anderen Bereichen derselben Kultur angehören wie Literatur, Wissenschaft, Politik oder Philosophie; ferner auf mehr oder weniger ähnliche Erzählungen aus weit entfernten Kulturen. Was den Historiker und Anthropologen interessiert, das ist der intellektuelle Hintergrund, über den der rote Faden der Erzählung wie auch der Rahmen, innerhalb dessen sie geschrieben wurde, Auskunft gibt. Dieser lässt sich nur im Vergleich der Erzählungen, im Spiel ihrer Abweichungen und Übereinstimmungen erkennen. Für die verschiedenen Mythologien gilt die überaus treffende Bemerkung, die Jacques Roubaud mit Blick auf die sagenhafte Komponente der homerischen Verserzählungen machte: »Sie sind nicht nur Erzählungen. Sie sind eine Schatzkammer von Denk- und Sprachformen, kosmologischen Vorstellungen, moralischen Grundsätzen usw., die das gemeinschaftliche Kulturgut der Griechen in der vorklassischen Zeit bilden.« * [* Jacques Roubaud, Poésie, Mémoire, Lecture. Paris / Tübingen, Eggingen, Éditions Isele, coll. »Les conférences du Divan«, 1998, S. 10.]

Mitunter kann es passieren, dass der Forscher bei der Grabungsarbeit, die die tiefer liegenden ›Schätze‹, das gemeinsame Kulturgut der Griechen, freilegen soll, ein Gefühl der Frustration empfindet; als ob er im Laufe seiner Untersuchung »das immense Vergnügen« aus dem Auge verloren hätte, auf das sich La Fontaine schon im Voraus freute, wenn man ihm eine Geschichte ankündigte. Dieses Vergnügen am Erzählen, das ich in den ersten Zeilen dieses Vorworts erwähnte, hätte ich ohne großes Bedauern abgeschrieben, wenn mich auf derselben schönen Insel, auf der ich mit Julien Ferien und Geschichten teilte, Freunde ein Vierteljahrhundert später nicht eines Tages gebeten hätten, ihnen griechische Mythen zu erzählen. Ich kam ihrer Bitte nach. Daraufhin drängten sie mich mit genügend Nachdruck, um mich zu überzeugen, das von mir Erzählte zu Papier zu bringen. Das war nicht einfach. Der Übergang von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache ist äußerst schwierig. Nicht nur, weil das Geschriebene nicht über Stimme, Tonfall, Rhythmus und Gestik verfügt, die eine mündlich vorgetragene Erzählung lebendig machen, sondern auch, weil hinter diesen beiden Ausdrucksformen zwei unterschiedliche Denkweisen stehen. Bringt man einen mündlichen Vortrag unverändert zu Papier, hält der Text nicht stand. Umgekehrt kann ein laut vorgetragener Text, der zunächst schriftlich verfasst wurde, niemanden darüber hinwegtäuschen, dass er einfach nicht dafür gemacht wurde, um von einem Publikum gehört zu werden. Er steht außerhalb des Mündlichen. Zu dieser ersten Schwierigkeit (zu schreiben, wie man spricht) kommen weitere. Zunächst muss eine Fassung der Sage ausgewählt werden, was bedeutet, dass man andere Varianten vernachlässigt, ausradiert, zum Schweigen bringt. Und in der Art, wie die gewählte Fassung erzählt wird, schaltet sich der Erzähler selbst ein und macht sich insofern zum Interpreten, als von dem von ihm vorgetragenen mythischen Handlungsablauf kein endgültig festgelegtes Muster existiert. Und wie kann der Forscher vergessen, dass er, auch wenn er sich zum Erzähler macht, trotzdem der Gelehrte bleibt, der nach dem intellektuellen Fundament der Mythen sucht und jene Bedeutungen in seine Erzählung einfließen lassen wird, deren Gewicht ihn seine früheren Studien ermessen ließen?

Obwohl mir diese Hindernisse und Gefahren nicht unbekannt waren, habe ich den Schritt gewagt. Ich habe versucht zu erzählen, als könne die Tradition dieser Mythen noch weitergeführt werden. Ich wollte, dass der Leser von heute die Stimme, die sich jahrhundertelang direkt an den griechischen Zuhörer wandte und nun verstummt ist, erneut vernehmen kann. Wenn mir das gelungen ist, dann wird es diese Stimme sein, die auf manchen Seiten des Buches nachklingt.

Der Ursprung des Universums

»Was war, als noch nichts war; was war, als es noch nichts gab?« Auf diese Frage antworteten die Griechen mit Erzählungen und Mythen.

Am Anfang war die gähnende Leere. Die Griechen nennen sie Chaos. Darunter muss man sich eine Tiefe vorstellen, eine finstere Tiefe, in der nichts unterschieden werden kann. Einen Raum des Falls, des Taumels und des Durcheinanders, einen endlosen Raum ohne Grund und Boden. Man wird von der gähnenden Leere erfasst, als sei sie die Öffnung eines unermesslich großen Rachens, der alles in die Tiefe einer endlosen undeutlichen Nacht reißt. Zuerst war also nur diese gähnende Leere, dieser blinde, nächtliche, unbegrenzte Schlund.

Danach erschien die Erde. Die Griechen sagen Gaia. Die Erde entsprang dem Schoß der gähnenden Leere. Sie ist nach dem Chaos geboren und stellt in mancherlei Hinsicht sein Gegenteil dar. Die Erde ist nicht mehr der Raum des finsteren, unbegrenzten, unendlichen Falls. Sie besitzt eine deutlich erkennbare, abgetrennte, klare Form. Dem Durcheinander, der finsteren Undeutlichkeit des Chaos stehen Gaias Klarheit, Festigkeit und Stabilität gegenüber. Jedes Ding auf Erden ist klar umrissen, sichtbar und solide. Gaia lässt sich als das Gebilde definieren, auf dem sich Götter, Menschen und Tiere sicher fortbewegen können. Sie ist die Plattform der Welt.

Im tiefsten Erdinneren: die gähnende Leere

Die Welt, die aus der weiträumigen Leere entstanden ist, verfügt von nun an über eine Plattform. Diese Plattform zieht sich einerseits in Form von Gebirgen in die Höhe; andererseits senkt sie sich in Form eines unterirdischen Ganges in die Tiefe. Diese Unterwelt verlängert sich unendlich, sodass das untere Ende von Gaia, das also, was sich unter dem festen und soliden Boden befindet, immer der Abgrund, das Chaos ist. Die Erde, die dem Schoß der gähnenden Leere entsprang, schließt in ihren Tiefen wieder an die Leere an. Die Griechen stellen sich unter diesem Chaos eine Art dichten Nebel vor, in dem sämtliche Grenzen verschwimmen. Tief in der Erde lässt sich dieser originär chaotische Aspekt wiederfinden.

Auch wenn die Erde deutlich sichtbar ist, wenn sie klare Konturen hat, wenn alles, was aus ihr hervorgehen wird, scharf umrandet und begrenzt ist wie sie selbst, gleicht sie in ihren Tiefen der gähnenden Leere. Diese Erde ist schwarz. Es kommt vor, dass die Adjektive, mit denen sie in den Erzählungen beschrieben wird, denen ähneln, die der gähnenden Leere zugeschrieben werden. Die schwarze Erde zieht sich nach unten und oben; auf der einen Seite bis in die Finsternis, bis in die Tiefen der gähnenden Leere, in der sie wurzelt; auf der anderen Seite bis in die schneebedeckten Berge, welche sie dem Himmel entgegenstreckt, leuchtende Berge, deren höchste Gipfel einen Bereich des Himmels erreichen, der stets von Licht durchflutet ist.

Die Erde ist das Fundament in der Wohnstätte »Kosmos«. Das ist jedoch nicht ihre einzige Funktion. Mit Ausnahme bestimmter Wesen, die aus dem Chaos hervorgingen und auf die wir später noch zurückkommen, gebärt und nährt sie alle Dinge. Gaia ist die universelle Mutter. Ob es sich um Wälder, Gebirge, unterirdische Höhlen, Meeresströme oder um den weiten Himmel handelt, stets verdanken sie Gaia, der Mutter Erde, ihre Entstehung. Am Anfang war also der Abgrund, die gähnende Leere, ein riesiger Rachen in Form eines finsteren, endlosen Schlunds, der sich in einem zweiten Abschnitt öffnete und einen festen Boden freigab: die Erde. Sie ragt hoch in den Himmel, steigt tief in den Untergrund.

Nach dem Chaos und der Erde entstand als drittes Eros. Die Griechen nannten ihn später »die greise Liebe« und stellten ihn auf Abbildungen weißhaarig dar: Es ist die ursprüngliche Liebe. Dieser ursprüngliche Eros entstand, weil es in jenen fernen Tagen noch kein Geschlecht und demzufolge weder Männliches noch Weibliches gab. Er ist nicht mit jenem Eros identisch, der später bei der Entstehung von Mann und Frau, von Männlichem und Weiblichem in Erscheinung treten sollte. Von da an bestand das Problem darin, die gegensätzlichen Geschlechter miteinander zu paaren, was auf beiden Seiten zwangsläufig ein Begehren, eine Art Zustimmung voraussetzt.

»Chaos« ist kein männliches, sondern ein sächliches Wort. Gaia, die Mutter Erde, ist selbstverständlich weiblich. Doch wen kann sie außer sich selbst lieben, wenn sie mit Chaos ganz allein ist? Eros, der nach der gähnenden Leere und der Erde als Dritter erscheint, kann demnach nicht derjenige sein, der die geschlechtliche Liebe überwacht. Der erste Eros ist Ausdruck eines Vorstoßes ins Universum. Genau wie die Erde aus der gähnenden Leere hervorging, wird ihr entspringen, was in ihren Tiefen verborgen war. Was Teil ihrer selbst war, trägt sie nach außen. Sie bringt es zur Welt, ohne sich dafür mit jemandem vereinen zu müssen. Was die Erde freisetzt und preisgibt, ist das, was dunkel in ihr wohnte.

Die Erde bringt zunächst eine sehr wichtige Gestalt hervor. Es ist Uranos, der Himmel, der Sternenhimmel. Danach gebiert sie Pontos, das heißt das Wasser, die Gewässer, oder, noch genauer, der Meeresstrom, denn das griechische Wort ist männlich. Die Erde erzeugt sie, ohne sich dafür mit jemandem zu vereinen. Durch die ihr innewohnende Kraft bildet die Erde das aus, was sie bereits in sich trug und was im Augenblick der Entbindung zu ihrer Entsprechung und ihrem Gegenstück wird. Sie bringt den Sternenhimmel hervor, der eine ebenso solide, ebenso feste und gleich große Nachbildung ihrer selbst ist. Und so legt sich Uranos auf sie nieder. Erde und Himmel bilden zwei aufeinanderliegende Schichten des Universums, einen Boden und ein Gewölbe, ein Darunter und ein Darüber, die sich genau überdecken.

Pontos, der Meeresstrom, vervollständigt mit seiner Geburt die Erde und durchdringt sie bis in die Tiefe. Er begrenzt sie in Form riesiger Wasserflächen. Genau wie Uranos stellt der Meeresstrom das Gegenteil der Erde dar. Die Erde ist solide, kompakt, die Dinge können sich auf ihr nicht miteinander vermischen. Im Gegensatz dazu ist der Meeresstrom reine Flüssigkeit, ein unförmiges und ungreifbares Fließen: Seine trüben Gewässer fließen ineinander, vermengen sich. An der Oberfläche leuchtet Pontos, in seinen Tiefen dagegen herrscht völlige Finsternis, was ihn genau wie die Erde mit einem Teil des Chaos verknüpft.

Am Ursprung der Welt stehen somit drei Wesen – Chaos, Gaia, Eros – sowie zwei weitere Wesen, die die Erde hervorbrachte: Uranos und Pontos. Sie sind Naturgewalten und Gottheiten zugleich. Gaia ist sowohl die Erde, auf der wir laufen, als auch eine Göttin. Pontos stellt die Meeresströme dar, gleichzeitig aber auch eine göttliche Macht, der man einen Kult weihen kann. Die Geschichten, die nun folgen werden, sind von einer anderen Art. Sie sind gewalttätig und dramatisch.

Uranos’ Entmannung

Beginnen wir mit dem Himmel. Uranos ist aus Gaia hervorgegangen und von gleicher Größe wie sie. Er liegt auf ihr, ist auf seine Erzeugerin gewälzt. Der Himmel bedeckt die Erde vollständig. Jedes Stück Erde ist mit einem Stück Himmel gepaart, das eng an ihr klebt. Von dem Augenblick an, da die mächtige Gottheit Gaia, die Mutter Erde, Uranos erzeugt, der ihr genaues Pendant, ihre Verdopplung, ihre symmetrische Entsprechung ist, haben wir es mit einem Paar von Gegensätzen, mit etwas Männlichem und etwas Weiblichem zu tun. Uranos ist der  Himmel, genau wie Gaia die  Erde ist. Mit Uranos’ Anwesenheit kommt Amor eine andere Rolle zu. Nun bringen Gaia und auch Uranos nicht mehr das aus sich hervor, was sie jeweils in sich trugen. Beide Kräfte werden sich verbinden, und ihrer Verbindung werden Wesen entspringen, die sich deutlich voneinander unterscheiden.

Uranos ergießt sich ununterbrochen in Gaias Schoß und kennt keine andere Beschäftigung als Sex. Das Einzige, woran er denkt, das Einzige, was er tut, ist Gaia zu begatten – und das, sooft er kann. Die arme Erde geht folglich mit einer ganzen Kinderschar schwanger, die ihren Schoß nicht verlassen kann. Sie verbleibt genau an der Stelle, an der Uranos sie gezeugt hat. Da sich der Himmel nie von der Erde löst, gibt es keinen Raum zwischen den beiden, der es ihren Kindern, den Titanen, ermöglichen würde, ans Licht zu treten und ein eigenständiges Dasein zu erhalten. Sie können nicht ihre eigene Gestalt annehmen und individuelle Wesen werden. Beständig werden sie in Gaias Schoß zurückgedrängt, genau wie Uranos vor seiner Geburt in Gaias Schoß eingeschlossen war.

Die Kinder von Gaia und Uranos sind zunächst die sechs Titanen und ihre sechs Schwestern, die Titaninnen. Der erste Titan heißt Okeanos. Er ist der flüssige Gürtel, der sich um das Universum schlingt und im Kreis fließt, sodass Okeanos’ Ende auch sein Anfang ist. Der kosmische Strom dreht sich in einem geschlossenen Kreis um sich selbst. Der jüngste Titan heißt Kronos, man nennt ihn »Kronos mit den krummen Gedanken«. Außer den Titanen und Titaninnen zeugen Gaia und Uranos zwei Dreiergespanne grässlichster Ungeheuer. Das erste Dreiergespann sind die Kyklopen Brontes  (Donner), Steropes  (Blitz) und Arges  (der Grelle). Sie sind äußerst mächtige, einäugige Gestalten, deren Namen schon besagen, welcher Art von Metallurgie sie sich widmen: dem Grollen der Donner, dem Leuchten der Blitze. Sie waren es, die Zeus den Blitzstrahl fertigten und schenkten. Das zweite Dreiergespann sind die Hekatoncheiren, die Hundertarmigen Kottos, Briareos und Gyes. Sie sind riesige Ungeheuer, die fünfzig Häupter und hundert entsetzlich kräftige Arme haben.

Neben den Titanen, die die ersten individualisierten Götter sind und anders als Gaia, Uranos oder Pontos nicht nur für die Personifizierung einer Naturgewalt stehen, symbolisieren die Kyklopen den Blitzstrahl des Auges. Sie haben nur ein einziges Auge, das in der Mitte ihrer Stirn sitzt und mit seinem Blick töten kann, wie die Waffe, die sie Zeus schenken werden. Die magische Kraft des Auges. Die Hundertarmigen wiederum stehen mit ihrer rohen Gewalt für die Fähigkeit, mit der physischen Kraft des Arms den Sieg zu erringen. Die Kraft des vernichtenden Blickes ist den einen, was den anderen die Kraft der Hand ist. Diese Hand ist in der Lage, jedes Geschöpf der Welt zu fesseln, es zu umschließen, zu zerbrechen und zu beherrschen. Doch die Titanen, die Hundertarmigen und die Kyklopen stecken im Bauch von Gaia, und auf der wälzt sich Uranos.

Es gibt noch kein wirkliches Licht, weil Uranos die Nacht beständig aufrechterhält, indem er sich auf Gaia ausstreckt. Da lässt die Erde ihrem Zorn freien Lauf. Sie ist wütend darüber, dass sie ihre Kinder in ihrem Schoß behalten muss, die sie von innen aufblähen, erdrücken und ersticken, weil sie den Schoß nicht verlassen können. Sie wendet sich besonders an die Titanen, als sie ihnen sagt: »Hört her, Euer Vater beleidigt uns, er unterwirft uns entsetzlicher Gewalt. Das muss aufhören, ihr müsst euch gegen euren Vater, den Himmel, auflehnen.« Als die Titanen in Gaias Bauch diese energischen Worte hören, ergreift sie Furcht. Denn Uranos, der sich noch immer auf ihrer Mutter rekelt und von gleichem Wuchs ist wie sie, sieht nicht danach aus, als ließe er sich leicht besiegen. Nur der Jüngste, Kronos, ist bereit, Gaia zu helfen und sich an seinem Vater zu messen.

Da heckt die Erde einen besonders gerissenen Plan aus. Für die Ausführung ihres Vorhabens fertigt sie in ihrem Innern eine Sichel aus weißem Stahl an, eine harpe, die sie dem jungen Kronos in die Hand legt. Der lauert Uranos im Bauch seiner Mutter auf, liegt da im Hinterhalt, wo Uranos sich mit ihr vereint. Und während Uranos sich in Gaia ergießt, packt Kronos mit der linken Hand das Geschlecht seines Vaters, hält es fest und trennt es mit der rechten Hand, in der er die Sichel schwingt, ab. Um das Unglück zu verhindern, das seine Tat verursachen könnte, wirft er Uranos’ Glied, ohne sich umzusehen, über seine Schulter. Aus dem abgeschnittenen männlichen Geschlechtsteil fallen Blutstropfen auf die Erde, bevor sein Flug im Meer endet. Uranos schreit vor Schmerzen, als er entmannt wird, und zieht sich jäh aus Gaia zurück. Er lässt sich daraufhin am obersten Rand der Welt nieder und rührt sich nicht mehr von der Stelle. Da Uranos von gleichem Wuchs wie Gaia ist, gibt es kein Stück Land, über dem sich nicht ein gleich großes Stück Himmel befände.

Die Erde, der Raum, der Himmel

Mit der Entmannung des Uranos, die Kronos auf den Rat seiner Mutter hin und mithilfe ihrer List ausführt, vollbringt er einen für die Entstehung des Kosmos wesentlichen Schritt. Er trennt den Himmel von der Erde. Er schafft zwischen beiden einen freien Raum: Alles, was künftig die Erde hervorbringen, was Lebewesen zur Welt bringen werden, hat nun einen Ort zum Atmen und Leben. Aber nicht nur der Raum ist freigegeben, auch die Zeit hat sich verändert. Solange Uranos auf Gaia lastete, gab es keine Generationenfolge. Die Generationen blieben im Innern ihrer Erzeugerin verborgen. Nachdem Uranos sich zurückgezogen hat, können die Titanen den mütterlichen Schoß verlassen und ihrerseits Kinder zeugen. Damit setzt der Generationswechsel ein. Der Raum hat sich aufgetan, und der »Sternenhimmel« spielt jetzt die Rolle eines Dachs. Man muss ihn sich in der Art eines großen, dunklen Baldachins vorstellen, der sich über der Erde ausbreitet. Ab und zu erhellt sich der schwarze Himmel, denn von nun an wechseln Tag und Nacht einander ab. Mal ist es ein schwarzer Himmel, der lediglich vom Licht der Sterne erleuchtet wird, mal ist es ein strahlender Himmel, der sich, nur von Wolken überschattet, seine Bahn bricht.

Aber lassen wir die Nachfahren der Erde einen Augenblick beiseite und beschäftigen wir uns mit denen des Chaos. Die gähnende Leere erzeugte zwei Kinder, Erebos, die Finsternis, und Nyx, die Nacht. Erebos ist als unmittelbare Fortsetzung des Chaos das Stockschwarze, die Kraft des Schwarzen im Reinzustand, die sich mit nichts vermengt. Der Fall der Nacht liegt anders. Wie Gaia zeugt auch sie Kinder, ohne sich mit jemandem zu vereinen, als schnitte sie sie aus ihrem eigenen nächtlichen Gewebe heraus: Ihr entstammen einerseits Aither, der Äther, die Himmelshelle, und Hemera, der Tag, das Tageslicht.

Erebos, das Kind der gähnenden Leere, steht für das typische Schwarz des Chaos. Dagegen ruft Nyx, die Nacht, den Tag herbei. Ohne Tag keine Nacht. Die Nacht hat Aither und Hemera hervorgebracht. So wie Erebos das Schwarze im Reinzustand ist, ist Aither das reine Leuchten. Der Äther ist das Pendant zur Finsternis. Der glänzende Äther ist der Teil des Himmels, in dem nie Finsternis herrscht, jener Teil, der den Olympiern gehört. Der Äther ist ein außergewöhnlich intensives, nie überschattetes Licht. Im Unterschied dazu stützen sich Nacht und Tag durch ihre Gegensätzlichkeit aufeinander. Seitdem sich der Raum geöffnet hat, folgen Nacht und Tag in regelmäßigen Abständen aufeinander. Das Tor der Nacht, das zu ihrem Wohnsitz führt, befindet sich am Eingang des Tartaros. Dort werden Nacht und Tag nacheinander vorstellig, dort winken sie sich zu, laufen sich über den Weg, ohne sich je zu streifen oder zu berühren. Wenn es Nacht ist, gibt es keinen Tag, wenn es Tag ist, gibt es keine Nacht, doch gibt es keine Nacht ohne Tag.

Genau wie Erebos für die totale und endgültige Finsternis steht, verkörpert Aither die absolute Helligkeit. Alle Lebewesen auf Erden sind Schöpfungen von Tag und Nacht. Die totale Finsternis, die Nacht des Erebos, in die nie ein Sonnenstrahl dringt, ist ihnen unbekannt; sie lernen sie erst mit dem Tod kennen. Während Menschen, Tiere und Pflanzen sowohl nachts als auch tagsüber in dieser Vereinigung von Gegensätzen leben, ist den Göttern am höchsten Punkt des Himmels der Wechsel von Tag und Nacht unbekannt. Sie leben in einem ständigen intensiven Licht. Oben im glänzenden Äther haben wir also die Himmelsgötter, unten die Götter der Unterwelt oder jene, die besiegt und in den Tartaros verbannt wurden und in beständiger Nacht leben; ferner haben wir in dieser Welt, die bereits eine Mischwelt ist, die Sterblichen.

Kommen wir auf Uranos zurück. Er hat am obersten Ende der Welt seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Die Zeiten sind vorbei, in denen er sich mit Gaia vereinte, mit Ausnahme der befruchtenden Regenzeit, in der sich der Himmel ergießt und die Erde gebärt. Dieser wohltuende Regen ermöglicht es der Erde, neue Geschöpfe, neue Pflanzen und neues Getreide hervorzubringen. Außerhalb dieses Zeitraums aber ist die Verbindung zwischen Erde und Himmel unterbrochen.

Als sich Uranos von Gaia entfernte, stieß er gegen seine Söhne einen fürchterlichen Fluch aus: »Ihr werdet Titanen heißen«, hatte er ihnen gesagt und dabei mit dem Verb titaino  gespielt, »ihr habt eure Arme zu hoch gestreckt, ihr habt gegen euren Vater die Hand erhoben, und dieses Verbrechen werdet ihr sühnen müssen.« Aus den Blutstropfen, die aus seinem verstümmelten männlichen Glied traten, entstanden später die Erinnyen. Sie sind äußerst wichtige Rachegeister. Ihre Aufgabe besteht hauptsächlich darin, die Erinnerung an die Kränkung zu bewahren, die ein Verwandter einem anderen zufügte, und ihn dafür zu bestrafen, egal wie viel Zeit es dafür braucht. Es sind Gottheiten, die gegen Blutsverwandte begangene Verbrechen vergelten. Die Erinnyen symbolisieren den Hass, das Gedächtnis, die Erinnerung an die Schuld und die Forderung, dass ein Verbrechen gesühnt werden muss.

Außer den Erinnyen entstammen dem Blut aus Uranos’ Wunde auch die Giganten und die Meliai, die Eschennymphen. Die Giganten sind hauptsächlich Krieger, sie personifizieren die Kriegsgewalt. Kindheit und Alter sind ihnen unbekannt, ihr ganzes Leben lang sind sie Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer Kräfte stehen und zum Kriegstreiben geradezu berufen sind. Sie haben eine Vorliebe für mörderische Schlachten. Auch die Eschennymphen, die Meliaden, sind Kriegerinnen, auch sie sind zum Gemetzel berufen, denn das Holz der von den Kriegern im Kampf benutzten Speere stammt von den Bäumen, die sie bewohnen. Somit entstehen aus den Blutstropfen des Uranos drei Typen von Gestalten, die alle drei die Gewalt, die Strafe, den Kampf, den Krieg und das Gemetzel verkörpern. In den Augen der Griechen personifiziert ein Name diese Gewalt. Es ist Eris, die Zwietracht in jeder erdenklichen Form oder – im Fall der Erinnyen – der Zwist innerhalb ein- und derselben Familie.

Zank und Liebe

Das Glied, das Kronos ins Meer, in den Pontos warf, versinkt nicht etwa in den Fluten, sondern schwimmt und treibt dahin, und der Schaum des Spermas mischt sich mit dem Schaum des Meeres. Aus dem Schaum, der sich im Umkreis des Gliedes sammelt, als dieses im Spiel der Wellen dahintreibt, entspringt ein herrliches Geschöpf: die Göttin Aphrodite, die aus dem Meer und dem Schaum Geborene. Sie treibt eine Weile umher, bevor sie auf Zypern, ihrer Insel, Fuß fasst. Während sie auf dem Sand dahinschreitet, erblühen unter ihren Schritten die duftendsten und schönsten Blumen. In ihrem Gefolge schreiten Eros und Himeros, Liebe und Begehren. Bei diesem Eros handelt es sich schon nicht mehr um den Ur-Eros, sondern um einen Eros, der die Existenz von Männlichem und Weiblichem voraussetzt. Mitunter heißt es, er sei der Sohn der Aphrodite. Die Funktion dieses Eros ist eine andere. Seine Aufgabe ist es nicht mehr wie zu Beginn des Kosmos, das ans Licht zu bringen, was die Urkräfte der Finsternis in sich bargen. Seine Rolle besteht jetzt darin, zwei individualisierte Wesen unterschiedlichen Geschlechts in einem erotischen Spiel zusammenzuführen. Das setzt eine Strategie der Verführung voraus, mit allem, was dies an Betörung, Zustimmung und Eifersucht bedeutet. Eros vereint zwei unterschiedliche Wesen, damit ein drittes aus ihnen entstehe, das weder dem einen noch dem anderen seiner Erzeuger gleicht, sondern eine Weiterführung beider darstellt. Demnach unterscheidet sich die Schöpfung jetzt von der der Urzeit. Mit anderen Worten, indem Kronos seinem Vater das Geschlecht abschnitt, hat er zwei Kräfte eingeführt, die sich für die Griechen ergänzen: Eris, die Zwietracht, und Eros, die Liebe.

Eris versinnbildlicht den Kampf innerhalb ein- und derselben Familie oder innerhalb ein- und derselben Menschheit, sie verkörpert den Streit, den Zwist im Zentrum dessen, was vereint war. Eros dagegen symbolisiert das Einvernehmen und die Vereinigung dessen, was einander ungleich ist, so ungleich, wie etwa Frau und Mann es sein können. Eris und Eros sind das Ergebnis ein- und desselben begründenden Aktes. Dieser Akt öffnete den Raum, brachte die Zeit zum Laufen und gab den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit, die Bühne der Welt zu betreten, die jetzt offen vor ihnen lag.

Jetzt werden sich die göttlichen Gestalten mit Eris auf der einen und Eros auf der anderen Seite gegenübertreten und bekämpfen. Weniger, um das Universum zu formen, dessen Fundamente bereits gelegt sind, als vielmehr, um den Gebieter über dieses Universum zu bestimmen. An die Stelle der Fragen nach der Entstehung der Welt – wie: »Wann hat die Welt begonnen? Weshalb gab es zunächst einen Abgrund? Wie ist all das entstanden, was das Universum enthält?« – treten nun andere Fragen. Und andere, weitaus dramatischere Erzählungen versuchen, diese Fragen zu beantworten. Wie werden die neu geschaffenen Götter, die ihrerseits Kinder zeugen, sich bekämpfen und zerfleischen? Wie werden sie sich einigen? Wie werden die Titanen das Vergehen sühnen, das sie ihrem Vater Uranos antaten? Wie werden sie bestraft? Wer wird die Stabilität einer Welt gewährleisten, die aus einem Nichts heraus erbaut wurde, das Alles war, aus einer Nacht heraus, der das Licht entsprang, einer Leere, der das Volle und das Feste entwuchs? Wie wird die Welt zu einer stabilen, durchorganisierten Welt, die individualisierte Wesen bevölkern? Uranos eröffnet durch seinen Rückzug einen kontinuierlichen Generationswechsel. Wenn sich die Götter in jeder Generation aber neu bekämpfen, wird die Welt nie stabil werden. Damit eine endgültige Weltordnung errichtet werden kann, muss der Krieg der Götter ein Ende nehmen. Über den Kämpfen um die göttliche Vorherrschaft hebt sich der Vorhang.

Der Kampf der Götter und Zeus’ königliche Herrschaft

Das Theater der Welt hat sein Bühnenbild. Der Raum hat sich geöffnet, die Zeit vergeht, die Generationen wechseln einander ab. Unten liegt die Unterwelt, die weite Erde, die Fluten, der Strom Okeanos, der alles umschließt, und oben ein fester Himmel. So wie die Erde den Menschen und Tieren einen ständigen Wohnsitz bietet, so ist der ätherische Himmel weit oben ein sicherer Aufenthaltsort für die Götter. Die Titanen, die streng genommen die ersten Götter und die Kinder des Himmels sind, können über die Welt frei verfügen. Sie lassen sich oben auf den Bergen nieder, wo auch unbedeutendere Gottheiten wie die Naiaden (Wassernymphen), die Dryaden (Baumnymphen), die Oreaden (Bergnymphen) ihren festen Wohnsitz haben. Jeder nimmt dort seinen Platz ein, wo er zum Zuge kommen wird.

Die Titanen befinden sich am äußersten Rand des Himmels. Sie werden Uraniden genannt, denn sie sind die Kinder des Uranos, Jungen und Mädchen. An ihrer Spitze steht Kronos, der jüngste Titan, ein listiger, durchtriebener und grausamer Gott. Er war es, der seinem Vater, ohne zu zögern, das Geschlecht abschnitt. Durch diesen gewagten Akt gab er das Universum frei, schuf den Raum und brachte eine differenzierte, organisierte Welt hervor. Doch dieser positive Akt hat auch eine dunkle Seite, weil er gleichzeitig ein Vergehen ist, das gerächt werden muss. So versäumte der Himmel es auch nicht, gegen seine Kinder, die ersten individualisierten Götter, einen Fluch auszustoßen, bevor er sich an seinen endgültigen Platz zurückzog. Dieser Fluch wird sich verwirklichen, und die Erinnyen, die aus der Verstümmelung des Uranos entsprungen sind, werden sich seiner annehmen. Eines Tages wird Kronos den Erinnyen, den Rächerinnen seines Vaters, seine Schuld bezahlen müssen.

Kronos also, der jüngste, aber auch der kühnste von Gaias Söhnen, jener, der ihr dabei half, ihre List in die Tat umzusetzen, den Himmel beiseitezuschieben und ihn von ihr fernzuhalten, wird König der Götter und der Welt. Ihn umgeben die Titanen, die ihm zwar unterlegen, aber auch Komplizen sind. Kronos befreite sie, daher stehen sie unter seinem Schutz. Aus der Vereinigung des Uranos und der Gaia waren zwei weitere Dreiergespanne hervorgegangen, die wie ihre Brüder, die Titanen, zunächst im Schoß der Erde festsaßen. Es sind die drei Kyklopen und die drei Hekatoncheiren  (Hundertarmigen). Was ihr Schicksal anbelangt, so lässt alles darauf schließen, dass Kronos, der eifersüchtige, gemeine, stets auf der Lauer liegende Gott sie in Ketten legt, aus Furcht, man könne ihm übel mitspielen. Er bindet die drei Kyklopen und die drei Hekatoncheiren fest und verbannt sie in die Unterwelt. Die Titanen und Titaninnen dagegen, die Brüder und Schwestern sind, paaren sich miteinander, und Kronos ganz besonders mit einer von ihnen, mit Rhea. Rhea scheint eine Art Zweitausgabe von Gaia zu sein. Sie sind zwei Urkräfte, die sich nahestehen. Etwas unterscheidet sie jedoch: Gaia hat einen Namen, der jedem Griechen verständlich ist. Gaia heißt Erde und ist