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Seit seinem Debütroman ›Vom Wasser‹ ist das nasse Element im Schreiben des passionierten Schwimmers John von Düffel zentral. Wasser ist sein Lebensthema, eine Konstante, auch wenn sich sein Blick auf Flüsse, Seen und Meere im Laufe von zwei Jahrzehnten als Romanautor, Dramaturg und Essayist immer wieder änderte. Was vor zwanzig Jahren noch im Überfluss vorhanden schien, wird heute kostbar: Der Mensch verändert das Klima, das Wasser wird zu einer knappen Ressource. Das Verhältnis von Mensch und Natur neu zu fassen, ist für John von Düffel nicht nur eine politische, sondern auch eine poetische Herausforderung.

Ergänzend zu seinem Roman ›Der brennende See‹ versammelt er in der komplett überarbeiteten und aktualisierten Neuausgabe der Essaysammlung ›Wasser und andere Welten‹ achtzehn teils poetologische, teils autobiografische, teils alte und teils neue Texte zum Schwimmen und Schreiben. Das verschwindende Wasser stellt John von Düffel nun vor die literarische Gewissensfrage, worüber man in Zeiten des Klimawandels schreiben sollte. Brauchen wir eine neue Poetik der Naturbeschreibung?

autor

© Katja von Düffel

John von Düffel wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seit 1998 veröffentlicht er Romane und Erzählungsbände bei DuMont, unter anderem ›Vom Wasser‹ (1998), ›Houwelandt‹ (2004), ›Wassererzählungen‹ (2014), ›Das Klassenbuch‹ (2017) und zuletzt ›Der brennende See‹ (2020).

Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Nicolas-Born-Preis.

John von Düffel

Wasser und andere Welten

Geschichten vom Schwimmen und Schreiben

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VORWORT ZUR NEUAUSGABE

Wasser ist mein Lebensthema. Daran hat sich fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs nichts geändert. Die Faszination für das Element und die Nähe zum Wasser im Schwimmen und Schreiben sind meine biografischen Konstanten. An einem Fluss, einem See, dem Meer zu stehen und aufs Wasser zu schauen, ist für mich die Ursituation von Glück, von Erinnern, Träumen und Im-Moment-Sein. Über den Grund für diese Affinität zum Wasser kann ich nur spekulieren. Aber sie bleibt – und mit ihr viele Geschichten aus der Wasserwelt. Diejenigen, die mich noch immer begleiten, sind hier in diesem Band versammelt.

Und doch ist es heute weder dasselbe Wasser noch dasselbe Buch. Im Lauf von zwei Dekaden hat sich nicht nur mein Blick auf die Flüsse, Seen und Meere verändert. Die Wasserlage als solche ist eine andere geworden. Als ich mit dem Schreiben anfing, schien Wasser in unseren Breiten selbstverständlich. Im Staunen darüber begann für mich die Literatur: ein poetisches Verhältnis zu dem Element, das alltäglich war. Inzwischen hat es – auch in Mitteleuropa – längst aufgehört, eine Selbstverständlichkeit zu sein. Der Überfluss von einst ist jetzt eine knappe Ressource, verbunden mit vielen ökologischen, klimapolitischen und existenziellen Fragen. Aus meinem Lebensthema ist ein Überlebensthema geworden. Das will diese erweiterte Sammlung durch neue Wassertexte widerspiegeln.

Der Kontext ist ein anderer in einer Welt, in der das Wasser brennt. Und die größte Aufgabe beim Schreiben derzeit scheint mir, das Verhältnis von Mensch und Natur zu überdenken, das Zerstörerische und das Rettende, das darin liegt. Die Liebe zum Wasser ist deshalb nicht obsolet, im Gegenteil: Sie gehört zu dem elementaren Respekt vor unseren Lebensgrundlagen und kann ein Leitfaden sein für einen anderen Umgang mit der Natur. Das ist noch immer keine Erklärung für die Faszination des Wassers, aber ein guter Grund, sich auf sie einzulassen.

John von Düffel im Februar 2021

DIE ALPHABETISIERUNG DES BLAUS

Wasser ist das Element der Verwandlung. Es ist weich und hart, glatt und rau, still bisweilen und dann wieder aufwühlend wild. Wasser kann geschmeidig sein, geradezu anschmiegsam in der Art, wie es den Rumpf eines Schiffes umspielt oder den Körper eines Schwimmers, um ihn im nächsten Moment mit aller Gewalt hin und her zu werfen, brachial und unerbittlich bis zur Grausamkeit. Wir steigen nie zweimal in dieselbe See.

Wasser ist blau, aber niemals auf ein und dieselbe Weise. Die Farbe der Meere spiegelt, so heißt es, den Himmel. Der Stand der Sonne und der Zug der Wolken geben dem Wasser und seiner Weite ein Gesicht, lassen es freundlich und einladend erscheinen oder auch abweisend kalt. Glitzerteppiche breiten sich aus und locken mit Licht. Doch schon im nächsten Augenblick kann sich der Himmel verfinstern, das Wasser schwillt an, bleigrau und bedrohlich, und nichts ist mehr, wie es war.

So wie Himmel und Meer am Horizont ineinander verschwimmen, so scheinen sich ihre Färbungen zu bedingen. Und doch ist es selbst Kennern unmöglich, von einem Blick in den Himmel darauf zu schließen, wie das Wasser heute sein wird. Es folgt seinen eigenen fließenden und sich verwandelnden Gesetzen. Auch unter einem strahlend blauen Himmel kann das Meer eine geriffelte, von unzähligen Schattenspitzen wimmelnde Fläche sein. Und selbst bei milchig trüber Witterung kann eine kabbelige See plötzlich aufschießen zu einem gischthellen, leuchtenden Grün. Der Verwandlungsreichtum des Wassers ist mit der Wechselhaftigkeit des Wetters allein nicht zu erklären, und seine unerschöpflichen Form- und Farbenspiele lassen den Himmel manchmal geradezu eintönig erscheinen.

Wasser ist das Element der Verwandlung. Sein Anblick ist mit nichts auf der Welt vergleichbar. Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde gleicht es sich nicht einmal selbst.

Unter »Himmelblau« kann sich jeder etwas vorstellen. Würde man die Farben, die verschiedene Menschen mit diesem Wort verbinden, nebeneinanderlegen, dürften die Unterschiede nicht allzu groß ausfallen. Anders das Meer. Ist von »Ozeanblau« die Rede, verliert sich die Fantasie in einer Mannigfaltigkeit von Eindrücken. Doch vor einer solchen Vielfalt versagt die Sprache. Was bleibt, sind die Erinnerungen an die Meere in ihrer Einzigartigkeit und das Gefühl, beim Anschauen und Verweilen ganz allmählich zu einem Analphabeten dieser Farbe zu werden. Jedes Blau ist auf seine Art unsagbar.

Viel wurde geschrieben über Blau als die Farbe der Sehnsucht. Wo sich keine Worte finden, suchen sich Träume und Erinnerungen ihren Weg. Doch je länger ich aufs Wasser schaue, desto mehr fange ich an, es zu lesen. Ich glaube, auf einmal erkennen zu können, wie warm oder kalt es ist. Ich versuche, seine Tiefe abzuschätzen. Ich rieche und schmecke die Gischt in der klebrigen Luft, vermischt mit Schiffsdiesel und Maschinenöl. Eine Reise beginnt, ein bewegter Traum. Und doch bieten sich – inmitten dieser wechselvollen, blau umrauschten Fahrt durch Zeiten und Entfernungen – immer wieder Anblicke der Ruhe und des Verweilens. Namhafte Meere liegen in unfassbarem Schweigen da, Bilder einer zur bloßen Farbfläche verstummten See.

Eine Geografie der Farben tut sich auf: Fremde Gewässer zeigen ihre blauen Rücken. Wie gezähmt ducken sie sich vor dem Betrachter und lassen doch in einer blauschwarzen Schattenmulde, einem Wirbel oder einer Wölbung ihre bodenlose Tiefe ahnen und manchmal durch den Anschlag einer Schaumzunge ihre Willkür und Gewalt.

Blau ist die Farbe der Sehnsucht, der Stoff, aus dem die Träume sind, aber es ist auch die Farbe einer ruhenden, aus dem Dunkel heraufdämmernden Kraft.

Ebenso vielfältig wie das Element sind die Menschen am Wasser. Es ist nicht möglich, einen Fluss oder ein Meer zu beschreiben, ohne die Geschichte der Menschen mitzuerzählen, die an ihm gelebt haben. Die Geschichte eines Gewässers ist immer auch die Geschichte der Menschen am Wasser und umgekehrt. Die Mythen und Legenden, die sich darum ranken, sind Teil seiner Aura, sie sind im Wasser real. Was wäre der Rhein ohne die Loreley und das Rheingold, was die Nordsee ohne den Schimmelreiter. Der Mensch spiegelt sich im Wasser, und das Wasser spiegelt sich im Menschen. Doch es spiegelt ihn nicht nur als das, was er ist, sondern auch als das, was er sein könnte. Das Wasser als Spiegel des Menschen besitzt eine fantastische, eine so utopische wie beklemmende Dimension. Es spiegelt seine Wünsche und Ängste, Träume und Wirklichkeit. Es ist ein poetischer Spiegel, dessen Einblicke tiefer und durchdringender sind als die der Oberflächenrealität. Und entlarvender.

Die Mentalität und Denkungsart der Menschen am Wasser, der Rhythmus ihres Lebens und Sterbens, das Auf und Ab ihrer Geschicke ist vom Gang des Wassers, seinem Rhythmus und seinen Gezeiten bestimmt. Würde man einen Menschenschlag von einem Gewässer an ein anderes umsiedeln, würden diese Menschen ihre Lebensweise, ihre kulturelle Identität, ihre Mythen und die ihnen eigene Weisheit verlieren. Es wären Wasserfremde, ohne Bezug zu dem Element, das einmal der Spiegel ihres Lebens und ihrer Geschichte war, das Element ihres Erinnerns.

Das Verhältnis der Menschen zum Wasser ist vielfältig und verwandlungsreich. Es kann praktisch und pragmatisch sein, sinnlich und selbstverliebt, domestizierend und herrschsüchtig, kultisch und religiös oder melancholisch und dem Vergehen verwandt. In einer Ästhetik des Wassers haben all diese Haltungen und Spielformen Platz, sie reichen von den Idealen der Unschuld und Reinheit bis hin zur Dämonie der Zerstörung. Denn auch darin spiegelt das Wasser den Menschen: in seinem Wollen und seinem Wahn.

Doch das Wasser offenbart nicht nur den Menschen, dieser Spiegel besitzt eine magische Gegenseitigkeit. Die Menschen geben dem Wasser mit ihren Mythen und Geschichten etwas zurück: Sie machen es beschreibbar. Mit ihren Erinnerungen, ihrer Sprache, ihren Bildern alphabetisieren sie das Blau. Ohne sie wäre es für immer stumm.

GESPRÄCH ÜBER BÄUME

»Bis gestern war’s noch gut«, lautet der Satz, den ich auf meinen ersten Lesereisen am häufigsten zu hören bekam. Gemeint war das Wetter. Es schien, als bestünde tatsächlich ein Zusammenhang zwischen schweren Wolkenbrüchen und dem Roman Vom Wasser, mit dem ich damals unterwegs war. In jenen Jahren sah ich selten die Sonne.

Ich wäre heute Regenmacher, wenn ich an mein Talent geglaubt hätte, mit ein paar romanhaften Wasserbeschwörungen für Niederschlag zu sorgen. Nicht auszudenken, was ich in den vergangenen Dürresommern hätte bewirken können, als landauf, landab die Pegelstände der Flüsse auf Niedrigstände fielen, die Seen zu Tümpeln mit breiten Trockenrändern schrumpften, die Felder staubten und die Wälder brannten. Ich habe es auf diversen Literaturfestivals redlich versucht, kam aber zuletzt nicht mal auf einen einzigen Open-Air-Veranstaltungsabbruch wegen Regens pro Saison – früher waren es zwei pro Woche! Der Einfluss von Wasser-Lesungen auf das Wettergeschehen bleibt somit fraglich, falls es sich überhaupt noch um Wetter handelt und nicht um Klima.

Im Übrigen ist der Zusammenhang von Literatur und Meteorologie viel zu wenig erforscht. Dabei liegt er so nahe. Allein der Wetterbericht! Wie oft scheint er frei erfunden, wie selten ist er tatsächlich »Bericht« oder Vorhersage, sondern einfach nur Dichtung in freien Rhythmen und hat mit der Realität nichts zu tun. In meinem nächsten Leben werde ich Meteorologe, denke ich dann beim Blick aus dem Fenster, wegen der größeren künstlerischen Freiheit. Doch unterm Strich kommt es auf dasselbe heraus: Weder der Deutsche Wetterdienst noch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur können Regen herbeibeten.

Es ist vielleicht nicht die erste Frage, die dieser Befund aufwirft, aber eine, die mir am Herzen liegt: Wozu dann Naturbeschreibungen? Was vermag die Schilderung eines stillen Sees am Morgen oder der Glätte des Meeres vor dem ersten Wind? Was leistet der Blick in den Himmel auf die Formfantasie einer Wolke oder ein literarischer Lungenzug voller Waldluft, wenn es der Natur dadurch keinen Deut besser geht? Warum sich mit Wortwahl und Satzbau herumschlagen, wenn es allen Naturbeschreibungen und Wasserbeschwörungen zum Trotz, verdammt noch mal, nicht ausreichend regnet?!

Aber der Reihe nach. Ich beginne mit einem Geständnis. Ich liebe Naturbeschreibungen, und ich liebe sie grundlos. Zumindest bin ich mir über den Ursprung meiner Liebe nicht im Klaren. Sie geht auch auf kein poetisches Programm zurück, im Gegenteil. Diese Liebe war zuerst da, noch vor jeder Intention oder Idee. Sie ist gewissermaßen unvordenklich.

Geständnis Teil zwei: Eine gelungene – und das heißt »nicht kitschige«, sondern auf schwer zu erklärende Weise »wahre« – Naturbeschreibung macht mich glücklich, und zwar auf so vielen Ebenen, dass ich das Glück des Gelingens oder die Freude darüber höher schätze als so manche literarische Lebensweisheit.

Das gilt nicht nur für mich als Schreibenden, sondern auch als Leser. Zum Beispiel: Anna Karenina von Tolstoi, zweifellos einer der besten Romane der Welt, geschrieben mit einer erzählerischen Meisterschaft, vor der man sich nur verneigen kann. Doch am allerbesten hat mir, ehrlich gesagt, nicht die verzweifelte Liebesgeschichte der jungen Kitty gefallen oder der tragische Fall der Karenina selbst, sondern die Beschreibung des Sensens einer Sommerwiese oder die Waldbetrachtungen des Naturphilosophen und Landwirtschaftsreformers Lewin.

Selbstverständlich hat Großmeister Tolstoi diese Naturbeschreibungen eingestreut, um bei den Leserinnen und Lesern kurzzeitig für Entspannung zu sorgen. Es sind kleine Atempausen der Ruhe zwischen hochdramatischen Ereignissen, Spannungstäler, bevor die Handlung wieder anzieht und zum nächsten Gipfel stürmt. Doch für mich sind sie die Höhepunkte, kein »retardierendes Moment«, sondern das Hauptvergnügen.