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Mitte der Siebzigerjahre erschüttert ein Buch die amerikanische Öffentlichkeit: Der Sex-Ratgeber ›Pleasuring. Die Reise eines Paares zur Erfüllung‹ ist in aller Munde. Ungünstig nur, dass die Autoren, das Ehepaar Mellow, vier minderjährige Kinder haben. Die müssen sich nun damit auseinandersetzen, dass Vater und Mutter in aller Öffentlichkeit ihr tabuloses Liebesleben beschreiben. Und das Schlimmste: Das Buch zeigt sie in sehr detailreichen Zeichnungen – in jeder nur denkbaren Stellung. Während die Ehe der Eltern den Bach runtergeht, versuchen die Kinder, irgendwie mit diesem Gipfel der Peinlichkeit klarzukommen. Denn ›Pleasuring‹ wird zu einem Buch, das jeder, wirklich jeder kennt und das die Mellow-Geschwister ihr Leben lang begleiten wird …
›Die Stellung‹ ist ein tragikomisches Familienporträt, das davon erzählt, wie vier Geschwister, denen wenig Illusionen über Liebe und Sex geblieben sind, sich in der Welt behaupten. Gleichzeitig führt uns Meg Wolitzer gnadenlos vor Augen, dass wir einer Sache nicht entfliehen können: Wir sind die Kinder unserer Eltern.

autor

© Nina Subin

Meg Wolitzer, geboren 1959, veröffentlichte 1982 den ersten von bisher elf Romanen, darunter mehrere New York Times-Bestseller. Bislang wurden drei ihrer Romane verfilmt. Sie ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in New York City. Mit ›Die Interessanten‹ (DuMont 2014) stand sie auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien ›Die Ehefrau‹ (DuMont 2016).

Meg Wolitzer

DIE STELLUNG

Roman

Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence

Die Interessanten
Die Ehefrau

Für Richard

Eins

Das Buch stand im Fernsehzimmer, oben im Bücherregal, ganz so, als wäre es das einzige Exemplar der Welt und als würde den Kindern, wenn sie es da nicht fanden, auf ewig unbewusst bleiben, dass ihre Eltern sexuelle Wesen waren. Als würden sie sich dann auch niemals vorstellen können, wie sich deren heiße Haut aufeinanderpresste, wie ihre Stimmen sich überlappten, wie das Messing des Kopfendes ruckte, den Putz aufkratzte und über die Jahre zwei Kreuzblumen in die Wand des Zimmers grub, in dem die Eltern schliefen. Oder eben nicht schliefen.

Das Buch stand in einem Durcheinander weitgehend ignorierter Titel: Unten am Fluss, Wie man mit wenig Fleisch gut isst und die Natur schont, Selbst eine Veranda bauen, Ja, das schaffe ich: Die Geschichte des Sammy Davis jr., Das große Buch der Golden Retriever und so weiter und so fort. Wie ganz zufällig dort gelandet, stand es da, dieses eine Exemplar des Buches, das die Eltern ins Haus gebracht hatten. All die anderen, einschließlich der ausländischen Ausgaben, wollten sie nicht da haben. Hätten sie diese im Haus versteckt, vielleicht in zugeklebten Kartons unten im Keller, hätten »Küchenutensilien« und »div. Kleinkram« daraufgeschrieben, wäre das eine Botschaft an die Kinder gewesen: Sex ist schmutzig. Oder wenn nicht wirklich schmutzig, dann doch zumindest etwas, das nur unter der Decke stattzufinden hat, in völliger Dunkelheit, zwischen zwei im Gleichklang fühlenden, liebenden, lustvollen, verheirateten Erwachsenen.

Das dachten die Eltern natürlich nicht. Sie liebten Sex in fast jeder Hinsicht, und das so sehr, dass sie den Nerv und die Vermessenheit besessen hatten, ein Buch darüber zu schreiben. Wenn sie sich allerdings vorstellten, dass ihre vier Kinder das Buch lesen könnten, kamen sie ins Grübeln, was die möglichen längerfristigen Auswirkungen betraf. Würde das Ganze an ihnen und ihren robusten heranwachsenden Körpern einfach abprallen, oder würden sie es zusammen mit Bruchrechnung, Dosenspaghetti und Schlittschuhunterricht in sich aufnehmen, mit all dem, was nicht von Dauer war und folgenlos blieb – oder eben doch eine nicht vorhersehbare Form und Bedeutung in ihnen annehmen?

Die Bedenken der Eltern traten hinter deren Zuversicht zurück. Warum das Buch also nicht oben ins Regal im Fernsehzimmer stellen, hoch, aber doch erreichbar, wenn die Kinder es sehen wollten? Niemand würde deswegen tot umfallen, und das Leben würde weitergehen, wie es das schon immer tat und getan hatte.

Michael Mellow war dreizehn, das zweitälteste Kind der Mellows und derjenige, der das Buch fand, spätnachmittags, an einem Freitag im November 1975. Er war Augenblicke, nachdem sein Vater das Buch an seinen Platz im Regal gestellt hatte und zurück nach oben gegangen war, ins Fernsehzimmer gekommen. Michael suchte seinen Mini-Tacker, um die vielen Seiten seines Aufsatzes über die Ei-Osmose zusammenzuheften. Warum sein kleiner Tacker ausgerechnet im Fernsehzimmer gelandet sein sollte, hätte er nicht sagen können. In diesem Haus schwebten die Dinge einfach so von einem Zimmer ins andere: Ein Tacker, der für gewöhnlich in der Schreibtischschublade eines Jungen lag, konnte mit einem Mal unter dem Kaffeetisch im Fernsehzimmer auftauchen, und eine Packung Triscuits, leer oder voll, fand sich unerklärlicherweise auf der Kommode im Bad. Die Dinge zogen, wanderten herum, tauschten die Plätze und waren offenbar so rastlos wie ihre Besitzer.

Michael kam ins Zimmer und spürte, dass sich etwas verändert hatte. Es war, als verfügte er über eines dieser verrückten fotografischen Gedächtnisse und wüsste, dass etwas in diesem Raum war, das nicht hier sein sollte und bisher auch nicht hier gewesen war. Etwas rief nach ihm und es war nicht der nirgends auffindbare Tacker, der da nach ihm verlangte, sondern das Buch. Michael ließ den Blick weiter und weiter in die Höhe steigen, das Regal hinauf, über die vertrauten Buchrücken, die Teil seines Zuhauses, seiner Familie waren, genau wie der UNICEF-Wandkalender im Besenschrank und die Küchenschublade voller Batterien, die in ihr herumrollten, wenn du sie aufzogst.

Ebenso typisch für das mellowsche Familienleben war ein Lied, das sie oft in den Ferien sangen. Jahr für Jahr waren sie Schnellstraßen entlanggebraust, nach Colonial Williamsburg mit seinen Kerzenlöschern und Webstuhlhockern oder in die Roaring Fire Lodge, ein verschlafenes, verstaubtes Domizil in den Poconos – alle und alles in den Volvo-Kombi gepackt, und zwischendurch sangen sie.

»Oh, wir sind die Mellows, ein paar Girls und ein paar Fellows …«, und dann ging es mit den Namen anderer Familien aus ihrer Nachbarschaft weiter: »Nein, wir heißen nicht King, das wär nicht unser Ding«, und: »Nein, wir sind nicht Familie White, die sind längst blass vor Neid«, oder: »Nein, wir sind nicht die Rinzlers, sonst …« Ratloses Schweigen senkte sich über das Auto, während alle fieberhaft nachdachten, wie sie da jetzt wieder herauskamen.

»… wären wir die Pinzlers!«, kreischte Claudia, die Jüngste, und auch wenn das keinen Sinn ergab, alle einen Moment lang die Luft anhielten und die älteren Kinder verächtlich stöhnten, worauf sie von den Eltern böse angefunkelt wurden, gaben am Ende doch alle nach und sangen Claudias Reim.

Alle Familien dieser Welt hatten ihr eigenes kitschiges Unsinnslied, eine Reihe beiseitegeräumter Bücher, einen Wandkalender oder eine Batterienschublade, das alles ähnelte sich, wenn auch nur zum Teil. Die mellowschen Eigenheiten gab es schon ewig und würde es immer geben. Michael Mellow sprang aufs Sofa, barfuß, sammelte sich stumm, und dann, dort oben, auf dem zweitobersten Brett, sah er es.

Das Buch war mächtig und weiß, hatte einen festen Einband, war dick, knisterte ihn geradezu an, und als Verlagssignet schmückte eine Meerjungfrau den Rücken, deren gespaltener Schwanz unbekümmert in die Höhe ragte. Und es war diese Meerjungfrau, die ihm zu sagen schien: Nimm es, Michael. Los doch. Hab keine Angst. Du hast nichts zu fürchten als die Furcht selbst. Den letzten Satz hatte er gerade erst im Sozialkundeunterricht gelernt.

Er zog fest daran, entwand das Buch der Lücke, betrachtete es kurz und erschreckt und steckte es unter sein Hemd. Die glänzende Oberfläche legte sich auf seine matte Haut und ließ ihn seinen Tacker und die Phasen der Ei-Osmose sofort vergessen. Er lief die zwei Etagen in sein Zimmer hinauf und verschwand für eine ganze Stunde in der Düsternis hinter der Tür.

Was er in dem Buch sah, das begann Michael in dieser Stunde zu begreifen, war nichts, was er allein mit sich ausmachen konnte. Er würde Holly dazuholen müssen, wie er es so oft tat, wenn ihm etwas zu schwierig, zu verwirrend, zu aufregend oder zu undurchsichtig erschien. Sie war älter, sie kannte sich aus und verfügte über eine weltläufige, zynische Sicht der Dinge, die ihm fehlte. Aber dann dachte er, nein, ich kann es nicht einfach nur Holly zeigen, denn der würde es befremdlich, ja pervers vorkommen, wenn ihr Bruder sie einlud, sich das mit ihm anzusehen. Nein, er musste auch die beiden anderen rufen, und es würde ein wichtiger Moment geschwisterlicher Nähe werden und sie auf ewig miteinander verbinden. So wollte er es machen. Denn wenn deine Eltern so ein Buch schreiben, das in die Welt da draußen platzt, ist es unmöglich, es alleine zu lesen und nicht darüber zu reden, genauso wenig, wie du es komplett ignorieren und trotz seiner Existenz cool und unberührt bleiben kannst. Es ist unmöglich, im selben Haus wie solch ein Buch zu leben, durchs Fernsehzimmer zu laufen, während es oben auf dem Regal steht und brennt. Es ist unmöglich, sich einzugestehen: Ich bin noch nicht bereit dafür.

Michael saß auf dem Bett in seinem Zimmer, das offene Buch auf dem Schoß. In der schmalen Rinne unter seiner Nase hatte sich Schweiß gebildet, er leckte ihn schnell weg, und so unschuldig diese Geste auch sein mochte, schien sie ihm doch etwas Sexuelles zu haben, genau wie der Geschmack des Körpersafts, der da aus seinen Poren drang. Sein eigener Schweiß nahm eine neue Qualität an, und seine Zunge kam ihm plötzlich schwer und lebendig vor. Was würde als Nächstes kommen, seine Daumenspitze? Seine Kniescheibe? War alles an seinem Körper anfällig für dieses seltsame Gefühl und ließ sich neu empfinden?

Etwas später stellte er das Buch zurück an seinen Platz und sagte niemandem etwas davon. Seinen Plan hatte er jedoch in Gang gesetzt und wartete ab. Am nächsten Tag, frühnachmittags, sagte Michael zu den anderen: »Sie sind weg. Ich habe das Auto gehört.«

Es war ein nasser Samstag, und sie waren im Haus eingepfercht. Der ganze Vorort Wontauket schien in einen frühen Winterschlaf gefallen, überall saßen Kinder wie gelähmt im Haus und fühlten sich angesichts des Regens und der fallenden Temperaturen unerklärlich hilflos. Im Sommer wusste diese Stadt, was zu tun war, wusste die zeitgesteuerten Rasensprenger, die Wunderkerzen und überkuppelten Grills hervorzuzeigen und Tatkraft zu demonstrieren, an einem Tag wie heute jedoch schien alles in eine regionale, klinische Depression zu verfallen. Nichts rührte sich. Die Schatten blieben unten. In verschiedenen weiß, avocado- oder kupferfarben gekachelten Küchen wurde Brot lustlos in Toaster gesteckt, Hunde bekamen ihr Dosenfutter, Zeitungen öffneten sich, formten kleine, abgeschiedene Räume und grenzten die gemeinsam am ovalen Tisch sitzenden Familienmitglieder sauber voneinander ab. Vielleicht wurden heute vor Langem kaputtgegangene Dinge repariert, wenigstens notdürftig. Auf Entschlusskraft folgte Langeweile, und schließlich Resignation.

Eine solche Trägheit schien auf den ersten Blick auch im großen Rotholzhaus am Swarthmore Circle zu herrschen. Vor der Tür draußen tropfte der letzte Regen rhythmisch von den Blättern der Papierbirken und ließ den gepflasterten Fußweg laubglatt werden, drinnen hockten und lagen die Kinder der Mellows im knallrosafarbenen Zimmer der Ältesten, Holly, auf Paisley-Kissen und Teppich. Immer wieder verstrichen einige Momente, ohne dass jemand etwas sagte, obwohl das Zimmer doch, und besonders Michael, von einer versteckten Energie und Willensrichtung erfüllt war.

Dashiell, mit seinen acht Jahren der Zweitjüngste der vier, sang ein selbstgedichtetes Lied vor sich hin, etwas über einen elektrischen Dosenöffner, der zum Leben erwachte und tanzte, während die anderen drei sich schläfrig mit dem Spiel des Lebens beschäftigten und seinen komplizierten Wahlmöglichkeiten folgten: Geh aufs College, such dir einen Job, kauf ein Auto, heirate. (Warum musste man die ganze Zeit etwas tun?, fragte sich der eine oder andere von ihnen ab und zu. Was wollte die Welt von dir? Warum konnte sie dich nicht in Ruhe lassen?)

Michael Mellow, der da so verschlagen die Schicksale seiner Geschwister plante und entschied, war dünn und dunkelhaarig, sah gut aus, näselte allerdings leicht und schien dadurch dazu bestimmt, sein Leben lang als Bücherwurm zu gelten, selbst wenn er Gabelstaplerfahrer würde. Über das Spielbrett hinweg warf er seiner älteren Schwester Holly einen Blick zu. Sie nahm so viele seiner Gedanken ein, dass er es nie würde zugeben dürfen. Wie einen Knochen musste er das Geheimnis vergraben. Mit ihrem glänzend blonden Haar und der Unmenge Sommersprossen, die sich während der vielen in einem Liegestuhl verbrachten Sommer in Jones Beach (mit einer in Alufolie gewickelten Platte Sing-Along von Mitch Miller’s Stars and Stripes – als zusätzlichem Reflektor) auf ihrem Gesicht, ihren Armen und ihrer Brust gesammelt hatten, faszinierte die fünfzehnjährige Holly alle. Die Alufolie fing die Sonne ein und warf sie auch von unten auf das hübsche, verletzliche Gesicht des daliegenden Mädchens. Das war lange vor allen Sonnenschutzfaktoren und Hautkrebswarnungen, und die Sonne schuf eine solche Lichtwand, dass Holly sogar mit geschlossenen Augen das Gefühl hatte, in etwas silbrig Weißes zu blicken: fallenden Schnee, eine riesige Welle.

Jetzt im kalten Spätherbst, lange nach Ende des Sommers, der Reflektor lag sicher verstaut zwischen Schwimmreifen und strafend rauen Strandtüchern oben im zweiten Stock im Schrank, saß Holly auf dem Boden ihres Zimmers, gähnte und hatte nicht einen Gedanken für ihren Bruder oder sonst jemanden aus der Familie übrig, sich selbst ausgenommen. Ihre Füße steckten in weichen, limettengrünen Socken. Holly fror ständig, wie es so viele fünfzehnjährige Mädchen tun. Es war ganz so, als würde die weibliche Haut mit dem Heraufziehen der Pubertät dünner und machte die Mädchen für jeden irrlichternden Gedanken, jede Angst und jedes Verlangen empfänglich, sodass sie sich mit zusätzlichen Schichten bedecken mussten. Plötzlich brauchte Holly gehäkelte Schals und wickelte Ponchos mit langen Fransen um sich. Seit Neuestem hatte sie auch das Gefühl, den warmen, haarigen Arm eines Jungen um ihre Schultern zu brauchen, dessen Druck ein Behagen in ihr hervorrief, wie sie es allein oben in ihrem rosa Zimmer nicht fand. Die Farbe hatte sie vor langer Zeit wegen ihrer blumigen, unverdünnten Mädchenhaftigkeit gewählt, doch nun kam sie ihr eher wie ein Fanal entzündeter Verzweiflung vor.

Holly und Michael waren kurz nacheinander in die Pubertät eingetreten, was bei beiden mit der üblichen Überproduktion von Hauttalg und wilden Stimmungsschwankungen einherging. Ohne sich darüber zu verständigen, nahmen sie damit auch die Rollen eines Junior-Vaters und einer Junior-Mutter für ihre jüngeren Geschwister Dashiell und Claudia ein, deren Milchgebiss gerade riesigen, neuen Zähnen weichen musste, denen die Hemden aus den Hosen rutschten und die morgens nach Vitaminen rochen. Michael und Holly regierten gemeinsam im Herzogtum oben im zweiten Stock, in dem die Kinder zusammen mit einer Auswahl Tiere wohnten, die nicht besonders liebenswert waren: einem Frettchen, einem Gecko und einem Aquarium voller Urzeitkrebse (die von der Mail-Order-Zoohandlung unter dem Namen See-Äffchen und mit einem Bild, auf dem sie Münder, Augen und lange, kühn geschwungene Wimpern gehabt hatten, beworben wurden, aber in Wirklichkeit stinklangweilig waren). Dazu kamen noch ein paar schillernde blaue Kampffische mit zerfasernden Schwänzen, die kleine Stücke verloren, während sie wie Klingen durch das rasch trüber werdende Wasser wischten.

Die Eltern liebten ihre Kinder, waren in letzter Zeit jedoch sehr mit dem plötzlichen, heftigen Erfolg ihres Buches beschäftigt gewesen und kamen so gut wie nie in den zweiten Stock. Als Ergebnis war dort oben eine Art anarchisches Gehege entstanden, mit einem eindringlichen, dunklen Mief, Fingerabdrücken auf den Wänden und einem Kinder- und Tierdurcheinander, dass sich so völlig vom Stockwerk darunter unterschied, dem der Eltern, einer Oase im Stil der dänischen Moderne. Für einen Besucher schien die Etage der Eltern Sex zu symbolisieren, oder doch wenigstens ein hochentwickeltes Medium, in dem Sex ungehindert sprießen konnte, ein bebender, durchscheinender Nährboden aus Agar, in dem sich ein Mann und eine Frau gemeinsam auf jede Oberfläche, auf helles Holz oder das Messingbett legen, und die Ouvertüre zu willigem, verspieltem, schwelgerischem Sex anstimmen konnten.

Auf Drängen Michaels, der meinte, dass es an der Zeit sei, dass sie alle es sähen, dass sie »erwachsen« würden, »mich eingeschlossen«, kamen die Mellow-Kinder aus Hollys Zimmer und gingen nach unten, klonk-klonk-klonk die knarzenden Eichenstufen mit ihrem persischen Läufer hinunter, vorbei an der Galerie chronologisch gehängter, die Kürze des Lebens beweisender Familien- und Schulfotos, vorbei auch an den Bleistiftstrichen auf dem Treppenabsatz im ersten Stock, die Größe und Wachstum der Kinder dokumentierten, von Feuerhydrantenhöhe bis zu, in Michaels Fall, der einer Antilope.

Dashiell und Claudia trotteten hinterher. Claudia war sechs und trug eine Trollpuppe mit sich. Sie hielt ihren kleinen Begleiter an seinem orange-weizenfarbenen Haarwuschel gepackt und begriff nicht wirklich, was da gerade vor sich ging. Warum diese Heimlichkeit und der Ernst? Wobei sie nur selten die Autorität von Michael oder Holly hinterfragte, die ihr alt wie Bäume vorkamen. Als Jüngste fühlte sie sich anders als die anderen, selbst als Dashiell, der doch nur zwei Jahre älter war. Sah Claudia Holly an, wollte sie zusammenbrechen und sterben, war Holly doch so unzerstörbar weiblich und schön, während sie selbst, Claudia, ein so knautschiges, dickes, kurzbeiniges, geschlechtsloses Ding war, das niemand je würde lieben können.

Nach der Schule sah sich Claudia auf Kanal sieben oft den Film um halb fünf an. Während ihre Brüder und ihre Schwester anderswo im Haus beschäftigt waren, saß sie allein vor dem Fernseher, und die Filme bewiesen ihr wieder und wieder, wie dringend es war, jemanden zum Lieben zu haben, wenn du erwachsen und groß warst. Manchmal nachts im Bett umarmte sich Claudia selbst, küsste und leckte sich die Hand und sagte mit einer Männerstimme, der Stimme eines Schauspielers aus einem der Halb-fünf-Filme: »Ich liebe dich, Frau, und ich will dich heiraten.«

Sie war sich sicher, so jung sie war, dass es eines Tages schwer werden könnte, jemanden zu finden, der sie heiraten wollte. Sie würde ihn wahrscheinlich dafür bezahlen müssen. Bereits mit sechs hatte sie angefangen, dafür zu sparen, und das Geld ordentlich in ihre Spardose gesteckt, einen Pillsbury-Teigjungen aus hartem weißen Plastik. Manchmal, am Wochenende, sagten ihre Eltern: »Willst du dir nicht etwas von deinem Taschengeld kaufen, Claudia?«

»Claudia ist geizig«, sagte Holly, und fügte unnötigerweise noch hinzu: »Ich hasse Geizhälse.«

»Ich bin nicht geizig«, sagte Claudia. »Ich habe Pläne mit meinem Geld.«

Claudia Mellow sparte ihr Geld jede Woche, ohne groß darüber zu reden, gab nichts für sich aus, kaufte keine Schokolade, keine Jolly-Rauncher-Melonen-Stix, keine kleinen Cola-Fläschchen aus essbarem Wachs, deren einen Tropfen Flüssigkeit man sich mit zurückgelegtem Kopf in den Mund schütten sollte. Sie war sparsam, eine einsame Nonne, die auf eine ferne, wunderbare Zukunft hoffte.

Hinter ihr die Treppe herunter kam – einen Finger in der Nase – Dashiell, der weit verschlossener war als sie und fürchterlich eigensinnig. Er wusste, was sie gleich sehen würden, und wollte nichts davon wissen. Dashiell überlegte, wie er aus der Sache herauskommen könnte, und währenddessen grub sich sein Finger weit vor. Seit seiner Geburt schien Dashiell auf einer ewigen Suche nach irgendwelchen Schätzen. Er hatte schon ganze Tage damit verbracht, auf dem Müllplatz von Wontauket zwischen alten Möbeln und Autoteilen herumzustöbern. Als sei er davon überzeugt, dass irgendwo etwas Außerordentliches zu finden sein musste, weil dieses ernüchternde Leben schließlich nicht alles sein konnte. Und wenn doch … o Gott, was für eine ungeheure Enttäuschung, was für eine Tragödie.

Einmal hatte Dashiells Nase vierundzwanzig Stunden geblutet und musste mit einer elektrischen Brennnadel verödet werden, was eine verstörende Prozedur gewesen war. In der Praxis von Dr. Enzelman hatte er helles Blut über seine kleinen Hände, sein Gesicht und das weiße Papier des Untersuchungstisches geheult, zeigte aber hinterher im Auto keinerlei Reue, als ihm seine Mutter auf dem Weg nach Hause einen Vortrag hielt.

»Du musst dir das abgewöhnen, Dash«, sagte Roz Mellow sanft, wenn auch offensichtlich verärgert. »Ich sorge mich, dass dich andere nicht mehr um sich haben wollen und dich beim Spielen ausgrenzen. Du weißt, als ich in Mount Arcadia aufgewachsen bin …«

»Das hast du schon erzählt.«

»Nein, das jetzt nicht. Nicht diese spezielle Sache. Als ich noch ein Kind war, gab es einen kleinen Jungen in unserer Tagesschule, der genau die gleiche Angewohnheit hatte. Er hieß William, und er konnte seine Nase einfach nicht in Ruhe lassen. Wenn ich mich recht erinnere, wurde er schon bald auf dem Schulhof von allen geächtet.«

Dashiell hörte nicht auf sie. Er wusste nicht, was »geächtet« bedeutete, nahm aber an, dass es mit Gefesseltwerden und vielleicht sogar Schlägen zu tun hatte. Er kauerte sich in den Schalensitz des Volvos und starrte hinaus auf den Expressway. Seine Mutter war lieb, aber manchmal eine übermäßig emotionale Frau, die gern altmodische Schreckgeschichten aus ihrer eigenen schaurigen Kindheit in Upstate New York erzählte.

»Bitte, sieh mich an, wenn ich mit dir rede«, war sie fortgefahren, und er hatte ihr trotzig das Gesicht zugewandt und dabei den Kopf so gehoben, dass sich seine Nase seine Nase, seine – vorn und ganz in der Mitte befand.

Dashiell verspürte auch hier auf der Treppe mit seinem Bruder und seinen Schwestern Trotz, nur dass es niemandem auffiel, der sich daran hätte stören können. Wenn er sich weigerte, das wusste er, würde ihm seine kleine Schwester Claudia das auf ewig unter die Nase reiben. Kaum, dass sie einen Blick in das Buch warf, würde sie voller Freude darüber sein, etwas zu wissen, was er nicht wusste. Dabei war es nicht nur so, dass er Angst hatte, das Buch würde ihn anwidern (mit seinen acht Jahren hatte er keinen Zweifel daran), er ertrug es grundsätzlich nicht, wenn ihm etwas wie ein ungewolltes, ekelhaftes Essen aufgedrängt wurde.

Direkt über dem ersten Stock, durch das große Fenster auf dem Treppenabsatz, konnten sie die ölfleckige Auffahrt sehen, auf der ihr Familienkombi fehlte. Ihre Eltern waren tatsächlich weg, unterwegs nach New York City, fünfundfünfzig Meilen weiter westlich über den Long Island Expressway. Das war die Sache, wenn man mehrere Kinder aufzog: Man musste nur lange genug warten, am Ende bildeten sie eine eigene Kolonie und konnten sich weitgehend selbst versorgen. Etwa zur Mittagszeit klatschten die Älteren Mortadella auf ein paar Stücke Weißbrot und gaben sie den Jüngeren, wobei es durchaus sein konnte, dass sie sich dabei in verschlüsselter, gestelzter Sprache über die glänzenden Köpfe der Jüngeren hinweg unterhielten, ohne dass die etwas verstanden.

Heute trieb Michael seine Geschwister über die vordere Dielentreppe hinunter ins herbstlich geschmückte Fernsehzimmer, wo die Familie über die Jahre Jacques-Cousteau-Filme (»es iste schwierisch zu wissen, wann dere weise ’ai angreifen wirde«) gesehen, wo die scheue Claudia allein auf dem Teppich gesessen und ihre Trollpuppen wie bei einem druidischen Ritual im Kreis angeordnet hatte, wo Holly kürzlich mit Adam Selig vom Princeton Court in experimenteller Atemnähe hinter dem Vorhang gestanden, wo Michael den Großteil von Katzenwiege und Große Erwartungen gelesen, wo Dashiell sich demonstrativ Stunden um Stunden hinter der großen Mingvase voller getrockneter, knisternder Eukalyptusmünzen versteckt hatte und wo den Eltern vor ein paar Jahren spätnachts, nachdem sie auf dem alten gerippten braunen Samtsofa besonders lust- und liebevoll miteinander geschlafen hatten, die Idee für ihr Buch gekommen war.

Und jetzt, in diesem Augenblick, war die Welt draußen verhallt, die Eltern waren verschwunden, über den Expressway, wo die Mutter den Beifahrerspiegel herunterklappte, den sonst niemand benutzte, eine feine Schicht perlmuttfarbenen Lipgloss aus einem kleinen Töpfchen auftrug und der Vater mit der Handfläche den Rhythmus eines lockeren Stücks Radiojazz aufs Steuerrad klopfte, während der Wagen sie weiter und weiter vom Swarthmore Circle und Wontauket wegtrug, hin zur Stadt, außer Reichweite der wilden Neugier ihrer Kinder.

»Wenn wir es gesehen haben«, hatte Holly ein paar Minuten zuvor gesagt, als Michael ihnen seinen Plan erläuterte, »können wir es nicht wieder rückgängig machen. Es wird in unseren Köpfen bleiben. Erinnert ihr euch an das vom Stromschlag getötete Streifenhörnchen? Und dass ich dann diese Träume hatte?«

»Ich erinnere mich.« Ihr Bruder schloss die Augen, um das Bild zu vertreiben, den kleinen gestreiften Körper, der an einem Stromkabel im Garten gehangen hatte. Nacht für Nacht war Holly von ihren Träumen heimgesucht worden, um drei Uhr morgens war sie weinend aufgewacht und so panisch gewesen, dass ihre Mutter ihr einen Schluck NyQuil geben musste, damit sie sich beruhigte. »Aber dass du es gesehen hast, hat dich nicht kaputt gemacht«, sagte Michael. »Du bist immer noch du.« Seine Schwester dachte darüber nach und nickte langsam. Ihre Wimpern waren weiß, bemerkte er. Sie war kein irdisches Wesen, sie war eine Meerjungfrau.

»Und was dann, Michael?«, fragte sie. »Sollen wir ihnen sagen, dass wir es gesehen haben?«

»Warum sollten wir es ihnen sagen? Sie würden nur darüber reden wollen. Sie wollen immer über alles reden. Erzählst du ihnen denn überhaupt noch was von dir?« Holly dachte einen Moment lang nach und musste zugeben, dass sie das nicht tat. Nein, sie wussten nichts von ihr, und so mochte sie es.

Ihre Eltern waren unterwegs ins vollbesetzte Auditorium der New School in Manhattan, wo sie den ersten von vielen, vielen Vorträgen über die Entstehung ihres Buches, ihre Recherchen und die Erfahrung damit halten würden, sexuelle Akte auszuprobieren und darüber zu schreiben. Sie würden erzählen, wie es gewesen war, als Modell für John Sunsteins Zeichnungen zu fungieren: Die Mutter würde berichten, dass es ihr zunächst peinlich gewesen sei, weil sie ganz und gar keine exhibitionistische Ader habe, aber Sunstein habe sich als ruhiger, umgänglicher Mann erwiesen. Er sei Mitte zwanzig, habe langes, hellbraunes Haar, trage Büffelledersandalen, sei sehr respektvoll und arbeite wirklich professionell. Nach einer Weile habe sie sogar angefangen, sich auf die Sitzungen zu freuen. »Sie sehen beide wundervoll aus«, habe der Künstler gesagt, sei hinter seiner Staffelei verschwunden, und sie habe ihn für den Rest der Zeit vergessen.

»Für ihn zu posieren war eine Erfahrung tiefen Friedens«, erklärte sie dem Publikum.

Sie äußerten sich auch kenntnisreich über die erotische Kunst Chinas und die Lehren des Kamasutra, von denen einige in ihre Arbeit eingegangen waren. Und sie sprachen von der neuen Stellung, die sie erfunden hatten, und wie aufregend es gewesen sei, sie zu entwickeln und zu verfeinern. »All das Training«, sagte der Vater. »Es war strapaziös!« Darauf wurde gelacht, dann folgten Fragen des angeregten Publikums, endlose Fragen, alle wollten etwas wissen oder hinzufügen, auch wenn sie nichts zu sagen hatten.

In diesem Moment brausten die Eltern in ihrem Volvo dahin – sogar der Name des mellowschen Familienautos erinnerte an Sex. Aber schließlich war es mit allem so, wenn man es richtig betrachtete, ob es ein Volvo war oder die Art, wie man sich den Schweiß von der Oberlippe wischte. Die ganze Welt summte und spross zu etwas Lebendigem, Fleischlichem aus Erde, Sand, Wasser und rastlosen Menschen, die die Luft mit den schwermütigen, oft nicht voneinander zu unterscheidenden Geräuschen von Schmerz und Erregung erfüllten.

Das Buch hieß: Pleasuring. Die Reise eines Paares zur Erfüllung. Als die Kinder den Titel zum ersten Mal hörten und zu verstehen begannen, kam er ihnen so ungeheuer beschämend vor, dass es drohte, sie für immer zu lähmen, gefangen in der Zeit und der unverbrüchlichen Weigerung, in die Erwachsenenwelt mit ihren täglichen Anforderungen an Energie, Geld und Körperlichkeit einzutreten. Jetzt standen sie um das Buch herum, vorn Holly und Michael, die das Tempo und den Rhythmus des Umblätterns vorgaben, Dashiell und Claudia rechts und links von ihnen. So zusammen, als Gruppe, sahen sie aus wie einer Anzeige für Hausunterricht entsprungen.

»Los geht’s«, sagte Michael, als Holly die erste Seite umblätterte, und alle ließen vage Geräusche hören: eine Fanfare zur Ankündigung der Königsfamilie, ein Schnauben, ein Kichern, einen hervorgepressten Kinderrülpser, gefolgt von einem heftigen »Pssst!«. Die Titelseite enthielt neben dem Titel nichts, was ihnen Angst machen oder sie hätte erregen können. Sie war klassisch weiß, etwas glänzend, mit der einfachen Zeichnung eines zerwühlten, ebenfalls weißen Betts. Das war alles. Die Decke lag zur Seite geschlagen, als würde sie nicht gebraucht, und sie wussten, warum. Es war das Bett eines Paares, ein Mann-Frau-Bett, aber das war ein Wissen, das sie ertrugen. Der Titel schwebte in gewundenen goldenen Buchstaben über dem leeren Bett, wie der Nachhall eines Traums. So weit, so gut. Drinnen im Buch gab es eine Menge gemächlichen Text, einschließlich der Einleitung eines Wissenschaftlers namens L. Thomas Slocum von der University of Illinois in Champaign-Urbana.

»Slocum«, sagte Holly abschätzig. »Was für ein Name.«

»Wieso?«, sagte Michael verständnislos.

»Slow-cum? Langsam kommen?«, sagte sie.

»Oh. Yeah. Klar«, sagte Michael und nickte endlich.

L. Thomas Slocums einleitende Bemerkungen stellten das Unternehmen der Mellows in einen sozialen Kontext, nannten das Buch mutig und schön und »genau das, was in diesen Zeiten gebraucht wird«. Es folgte das erste Kapitel: »Geschlechtsverkehr: Schritt für Schritt«, das mit einer atemberaubend detaillierten Beschreibung begann, illustriert durch eine vierfarbige Zeichnung, der ersten von vielen.

Das waren sie. Sie. Die Eltern. Sie lagen auf den zerknitterten Laken des großen, weißen Betts von der ersten Seite, er auf ihr, und sie lächelten entspannt. Ihre Körper passten zusammen wie die verlöteten Teile einer einzigen Maschinerie.

»Fick dich doch ins Knie«, sagte Holly, die neuerdings solche Sachen sagte. Wenn sie am Wochenende mit ihren Freundinnen im Einkaufszentrum von Wontauket war, einer Gruppe Mädchen, die sich vor Blooberries oder Stuff ’n Nonsense herumdrückten und so taten, als betrachteten sie sehnsüchtig die bunten Oberteile im Fenster, tatsächlich aber mit schwelender Verachtung der durch das Höhlenlabyrinth schleichenden Armada Jungen hinterhersahen, gebrauchte sie diese Ausdrücke nur des Effekts halber, jetzt musste sie das sagen, musste laut reagieren, weil sie Angst hatte, sonst entlang des unsichtbaren Saums zu zerreißen, der ihr seitlich am Körper entlanglief.

Dashiell wandte den Blick ab, voller Wut dabei sein zu müssen, brabbelte ein paar Worte in sich hinein und sah auch schon wieder hin. So ging es ein paar Mal hin und her, und er hasste seinen älteren Bruder dafür, dass er ihm das antat, wo er, Dashiell, doch nichts anderes wollte, als sich in den zarten, erfundenen Melodien verlieren, die durch ihn wehten. Aber nein, er musste hier sein und sich diese Seiten ansehen. Er spürte, wie sein Gesicht zu glühen begann, und er hasste sein Leben dafür, wie es ihn in sich einsperrte, und schwor sich, es allen zu zeigen, es ihnen zu zeigen, wobei er eigentlich nichts zu zeigen hatte. Währenddessen trieb sein Blick immer wieder unweigerlich zu diesem Buch zurück, wie von einem Fluch dazu verdammt. Ja, Meister, dachte er, aber wer genau war der Meister? Sein Bruder? Seine Schwester Holly? Waren es seine Eltern mit ihrer abscheulichen Offenheit? Es war unmöglich zu sagen, und so sah er wieder und wieder hin und wünschte, jemand würde ihn aufwecken und befreien.

Die kleine Claudia auf der anderen Seite ließ kichernde, spitze Schreie hören. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihrem zukünftigen Mann nachts im Bett lag, und fragte sich zum allerersten Mal, ob sie wirklich all ihr Geld dafür geben wollte. Warum? Um den Rücken durchzubiegen und die Zähne zu blecken? Es war schrecklich, anders konnte sie es nicht betrachten. Morgen schon wollte sie all ihr Geld für Süßes ausgeben, für die kleinen Cola-Fläschchen und die Dum-Dum-Lutscher, für die orangefarbenen Marshmallows, die wie Erdnüsse aussahen, aber aus irgendeinem Grund wie Bananen schmeckten, dafür und für alles andere in dem Süßwarenladen, den sie seit Monaten mied. Sie wollte nichts damit zu tun haben, was ihre Eltern im Bett machten. Sie hatte da völlig falsche Vorstellungen gehabt. Die Liebe war nichts für sie, war nicht das, was sie gedacht hatte.

Claudia begann sich gegen das Gesicht zu schlagen und schrie: »Ruft einen Krankenwagen! Ruft die Polizei!«

»Oh, sei schon ruhig«, sagte Michael. Keines der älteren Kinder konnte in diesem Moment eine Ablenkung vertragen. Es war, als paukten sie für eine dringende Lebensprüfung und stopften so viel Wissen wie nur eben möglich in sich hinein, um es in Zukunft zur Hand zu haben.

Wie auch alle anderen Illustrationen im Buch war diese erste mit Bleistift und Tinte ausgeführt und mit leichten Schatten in Pastelltönen versehen. John Sunstein, der scheue Künstler, von dem auch ein berühmt gewordenes Plattencover für die Rolling Stones stammte, hatte die Eltern in all ihrer Menschlichkeit dargestellt, bei bekannten wie unbekannten sexuellen Praktiken, westlich und östlich, alt und modern, ohne und mit Hilfsmitteln. Kein Journalist hatte sich öffentlich vorgewagt und geschrieben, die Illustrationen sollten die Eltern darstellen, und Sunstein hatte beiden taktvoll anderes Haar gegeben, das Irish-Setter-Rot der Mutter in ein neutraleres Braun verwandelt und den vollbärtigen Vater zu einem glattrasierten Pilzkopf gemacht. Aber was änderte das? Alle wussten, dass sie es waren. Alle. Selbst die Eltern der Eltern, alt und gebrechlich, an Knochenschwund und Arrhythmie leidend, wussten es. Der Arzt der Familie, Dr. Enzelman, wusste es. Der Postbote, die Frau in der Bibliothek und die Nachbarn am Swarthmore Circle, Princeton Court und der Cornell Avenue, alle wussten es. Die Lehrer der Kinder und jetzt auch die Kinder selbst. Die Veränderungen der Haare waren ungefähr so wirkungsvoll wie die schlechten Verkleidungen von Kriminellen, die sich unterbewusst danach sehnten, gefasst und bestraft zu werden.

Ich würde den Körper meiner Mutter überall erkennen, dachte Holly, denn sie und ihre Mutter hatten sich früher immer voreinander ausgezogen, wobei Holly das seit etwa einem Jahr nicht mehr ertrug. In den Anprobekabinen von Lord & Taylor in der Mall waren sie, bevor es Holly unangenehm geworden war, einfach so aus ihren Blusen und Jeans geschlüpft, hatten auf dem voller Nadeln liegenden Teppich gestanden und gemeinsam kaum mehr Platz gehabt als in einer Wahlkabine, während hennenartige ältere Frauen mit Brillen, Perlenketten und unerklärlicherweise im Ausschnitt steckenden Taschentüchern den Gang vor den Saloon-Türen auf und ab patrouillierten und »Wie kommen die Damen zurecht?« riefen.

Zu Hause hatten sie Seite an Seite im Bad im ersten Stock gestanden, barbusig, und die Mutter hatte ihrer Tochter gezeigt, wie man sich die Brust abtastete.

»Ich habe es von einem Schaubild in der Zeitschrift MS. gelernt, und du solltest ebenfalls wissen, wie man es macht, Holly, weil Oma Jean eine Total-OP hatte, inklusive Lymphknoten«, hatte die Mutter kryptisch erklärt, während sie einen Arm wie zum Gruß hob, den anderen vor den Oberkörper legte und sich lebhaft mit den Fingern über die Brust fuhr, als spielte sie Harfe.

Hier jetzt, auf den Seiten des Buches, konnte die ganze Welt die Brüste der Mutter begutachten, wie sie leicht zur Seite hingen, wenn sie auf dem Rücken lag, den Vater rittlings auf sich. Es war eine Sache, das begriffen die Kinder, Körper für sich allein zu sehen, aber eine ganz andere (und nichts konnte dich auf den Anblick vorbereiten), wenn sich zwei von ihnen auf die Weise verbanden, wie es Körper eben vermochten. Dafür waren deine Augen einfach nicht bereit.

Seite um Seite gaben sich ihre Mutter und ihr Vater einander auf alle möglichen Arten hin. Offenbar hatten sie all diese Stellungen in John Sunsteins Atelier eingenommen, und vielleicht auch ungezählte Male hier im Haus, während die Abzugshaube schniefte und die Kinder schliefen oder die reaktionslosen Urzeitkrebse fütterten, einen Joint rauchten, sich mit einer Hand in die Pyjamahose fuhren und sanft ihre Genitalien umfassten, als wollten sie sich vor zukünftigen Belastungen und Bürden schützen, die sie notwendigerweise durchzustehen haben würden. Es gab kein Entrinnen, das begannen sie zu begreifen, du liefst einfach darauf zu, als eiltest du in einen äußerst gefährlichen, aber auch aufregenden Krieg.

Michael warf einen Blick auf Holly. Ihre helle Sommersprossenhaut war überall rot angelaufen, selbst ihre Ohrläppchen schienen in Flammen zu stehen. Sie hatte einen biegsamen Gymnastikkörper, und er konnte sich vorstellen, wie sie sich in ein, zwei Jahren auf einem Bett hochbog und von einem gesichtslosen Jungen auf spektakulär gymnastische Weise vögeln ließ. Wie fühlte es sich nur an, gevögelt zu werden? Er war unfähig, es sich vorzustellen, denn dazu musste man leer und aufnahmebereit sein, und das war er beides nicht. Das Bild seiner vögelnden Schwester blieb ihm hartnäckig vor Augen. Nein. Nein. Hör auf. Denk nicht so an sie, dachte Michael.

Während seines kurzen, verträumten Aussetzers war die Seite umgeblättert worden, und jetzt taten Mutter und Vater etwas mit Tüchern, die der Mutter um Hand- und Fußgelenke geschlungen waren.

»Sie sollten liebevoll festgebunden werden«, war im Text zu lesen, und während die Kinder die Illustration anstarrten, dachte Dashiell: O nein, Mom wird … geächtet!

Alle stellten sich die Eltern auf dem Bett in dem New Yorker Atelier vor, in das sie monatelang mehrmals in der Woche gefahren waren, »um mit dem Künstler zu arbeiten«, wie sie es ausgedrückt hatten, und keines der Kinder hatte je genauer nachgefragt, um was es dabei eigentlich ging. Stattdessen hatten sie oft nur aufgeblickt, gelangweilt und unbesorgt, und sich zum Abschied küssen lassen. Sie sagten, ja, wir kümmern uns ums Mittagessen, ja, wir haben die Nummer der Rinzlers, falls was passiert, jaja, wir kommen zurecht – und waren auch schon wieder in ihre Selbstvergessenheit zurückgesunken. Hätten sie gewusst, was sie jetzt wussten, hätten sie dann versucht, die Eltern aufzuhalten? Vielleicht hätten sie die Eingangstür verbarrikadieren und die Eltern im Haus gefangen halten können. Vielleicht hätten sie sagen können: Tut das bitte nicht, denn es wird alles verändern.

Und das tat es am Ende. Es veränderte alles.

Im Augenblick jedoch noch, im ersten Rausch des großen Erfolgs, der schnellen Entwicklung zu einem Phänomen, waren die Eltern ohne Vorahnungen und Reue. Mit ihren neununddreißig und vierzig Jahren waren sie eine gut aussehende Frau und ein Mann in ausgezeichneter Verfassung. Das unbändige dunkle Haar und der Bart gaben dem Vater einen leicht satanischen, aber künstlerischen Anstrich, obwohl er doch eher sanft und kaum ein Künstler war. Er war aufmerksam, verspielt und ein sehr guter Zuhörer. Wenn die Kinder etwas sagten, nickte er bedächtig mit dem Kopf, strich sich über den Bart und außerdem erinnerte er sich an die Namen ihrer Lehrer. Alles in allem war er ein ungewöhnlich liebevoller Vater, der sonntags Bananenpfannkuchen machte und seinen Kindern beibrachte, Norwegian Wood in einer Geheimsprache zu singen und auf zwei Fingern zu pfeifen. Er trug Rollkragenpullover, vor allem schwarze, und einen schweren, handgefertigten Ledergürtel mit einer großen, quadratischen Schnalle wie von einem alten Pilgerschuh. Aber so aufrichtig und von ganzem Herzen er seine Kinder auch liebte, war das doch nichts im Vergleich zu der Liebe für seine Frau, und die Kinder wussten das. Die Kraft dieser Liebe war so groß, dass man spürte, wie sie das Haus erfüllte.

»Eure Mutter«, sagte der Vater einmal, als sie alle bei einem Essen in einem Fischrestaurant saßen, »sieht sogar noch mit einem Hummerlätzchen unglaublich aus. Seht sie euch nur an. Miss Sexy-Hummerlätzchen 1972.«

»Oh, hör auf, was für ein Unsinn«, sagte sie und tat seine Worte mit einer Handbewegung ab, den Mund voller Butter, wie um den Teil von sich hervorzuheben, der besonders erotisch für ihn war. Dabei konnte er sich nie auf etwas an ihr festlegen. Was ihn anging, war sie ein Gesamtkunstwerk.

Es war nicht so, dass sich die Kinder dadurch zurückgesetzt fühlten, schenkte ihr Vater doch auch ihnen seine Aufmerksamkeit. Ihre Mutter hingegen schien sich unter seinem Blick nie gänzlich wohl zu fühlen. Manchmal hatte es den Anschein, als sei sie genervt und wolle davonflattern. Es war ein Paarungstanz, den die beiden vollführten, die Anbetung gefolgt von der zufriedenen, stolz sich windenden Antwort.

»Seht euch eure Mutter an«, forderte er sie auf. »Seht, wie anmutig sie mit den Stäbchen isst«, oder: »Seht euch eure Mutter an. Sie ist eine erstaunliche Frau«, oder: »Seht euch eure Mutter an. Sie ist die interessanteste Person, die ich je kennengelernt habe.«

Und sie sahen die Mutter an, sahen über Restauranttische und Supermarktgänge, durchs abendliche Fernsehzimmer und die Küche, wo sie an der Spüle stand und unter laufendem Wasser einen Salatkopf zerteilte. Ihr tiefrotes Haar, die blasse Haut und die großen Brüste ließen sie verletzlich, mütterlich, einladend wirken, aber, offensichtlich, auch äußerst begehrenswert. Sie war lauter als er, launischer, dramatischer, und sie neigte zu Tränen, die ihre blauen Augen füllten und leuchten ließen. Wenn sie weinte, bekam sie schnell eine rote Nase, die zu ihrem Haar passte, und dann sah sie aus wie eine attraktive, betrunkene Irin mit einem tiefen, lange gehüteten Geheimnis.

»Ich weiß, dass euer Vater sich oft schwer bremsen kann«, sagte ihre Mutter manchmal zu ihnen. »Er ist ein sehr ausdrucksstarker Mann, was ziemlich ungewöhnlich ist.«

Ganz sicher schienen die Eltern ihrer Freundinnen und Freunde nicht so aktiv ineinander verliebt. Die meisten Mütter und Väter lebten zusammen wie Gäste in einer Pension, die sich nicht auf die Nerven zu gehen versuchten, grundsätzlich aber getrennte Leben führten, er mit Tabellen und einem Arbeitszimmer, sie mit der Sorge um die Kinder. Die Mellows waren anders, was die Kinder schon vor langer Zeit mit einem gewissen Stolz und einer gewissen Traurigkeit erkannt hatten.

Ihre Eltern hatten sich bereits täglich fit gehalten, als das noch längst nicht in Mode war, hatten jeden Morgen die von der kanadischen Luftwaffe empfohlenen Sit-ups und Liegestütze gemacht und ihre Bäuche davon abgehalten, jene runzlige, teigige Konsistenz anzunehmen, die Aufgabe signalisierte. Und jetzt stellten sie die Ergebnisse zur Schau. Auf einer Illustration kauerte ihre Mutter – »die Frau«, wie die Kinder lieber dachten – leicht gelangweilt auf dem Bett und hielt den Kopf zurückgelegt, als wollte sie sehen, was denn dahinten bloß vorging, was »der Mann« da machte, als hätte sie wirklich keine Ahnung und als könnte er genauso gut eine Landkarte zusammenfalten. Auf einer anderen saß sie mit erhobenem Kopf auf ihm, und John Sunstein hatte die Abschnitte ihrer Kehle mit großer Sorgfalt wiedergegeben. Im anatomischen Zeichnen an der Cooper Union School of Art war Sunstein vor einigen Jahren der begabteste Schüler gewesen, den sein Lehrer je erlebt hatte. Die Augen der Mutter waren geschlossen, weil die Lust anscheinend zu groß war, um sie mit offenen Augen zu ertragen, aber vielleicht hatte sie auch gewusst, dass ihre Kinder dieses Bild sehen würden, und wollte ihnen nicht in die Augen blicken.

»Das kann nicht wahr sein«, sagte Holly, während sie weiterblätterte.

»Ist es aber«, sagte Michael. »Ganz offensichtlich. Also werd’ damit fertig.« Es tat ihm gleich leid, dass er seiner Schwester gegenüber so einen Ton anschlug, brauchte er ihr Vertrauen und ihre Liebe jetzt doch noch mehr als gewöhnlich. Er selbst war der Grund, weshalb sie damit fertigwerden musste, wobei es auch ohne ihn so weit gekommen wäre. Keinesfalls hätte sie das Buch da oben ungelesen stehen lassen. Genau wie er hätte sie der Sache auf den Grund gehen müssen.

»Ich werde ja damit fertig. Ganz offensichtlich. Aber wie krank kann man eigentlich sein? Wessen Eltern machen denn so was?«, fragte sie.

»Unsere«, sagte er. Er musste leicht unberührt wirken, locker, als könnte man ihm nicht vorwerfen, es entdeckt und, genauer noch, den anderen aufgedrängt zu haben.

Alles Dargestellte schien tagsüber stattgefunden zu haben, die weißen Seiten ließen an einen sonnenbeschienenen oder mit Lampen ausgeleuchteten Hintergrund denken. Nächtliches Vögeln gab es offensichtlich nicht, in der Nacht hätten Einzelheiten verloren gehen können. Jemand hätte jemanden berühren, das Gefühl wundervoll, aber flüchtig und die Kombination von Druck und Genauigkeit niemals wiederholbar sein können. Auf dem weißen Papier, den weißen Bettlaken ging nichts verloren. Die Hand des Mannes fand die Brustwarze der Frau, Daumen und Zeigefinger fassten sie, wie ein Fotograf sich bei seiner Aufnahme ganz auf das Wesentliche konzentrierte und alles Unwesentliche aus dem Bild ausschloss. Die Frau drückte sich gegen den Mann, und die Oberflächen ihrer Körper formten eine Art menschliche Steppe.

Der Mann und die Frau in Pleasuring waren ansehnlich, ziemlich sogar, und alles, jede Bewegung, jeder Finger, der sich in eine Falte schlich, jede Schwanzspitze, jede Hand, jeder Fuß, jeder Bauch, jedes Rückgrat, jede Öffnung, jedes Schlüsselbein, jeder Haarwirbel, jedes Rinnsal Schweiß, jeder sich in williges Fleisch drückende Mund, jeder stumme Schrei, jedes Strumpfband, jede Handschelle, jeder fließende purpurne Schal, jeder Stöckel auf nacktem Bein, alles brachte die Kinder aufs Neue zum Staunen, wie eine Serie Hammerschläge, nicht alle unangenehm, manche auf die exquisite Weise schmerzlich wie das Anheben einer Kruste auf dem Knie und einige auch erregend, obwohl die jüngeren Kinder noch nicht wussten, dass sie erregt waren, weil das Gefühl für sie noch nicht definiert war.

Die Jüngeren fühlten sich wie von den Beinen gehoben, erhöht, so wie sie sich fühlten, wenn sie jemanden über den schwarzen Teil des Spielplatzes bei der Schule jagten, an Silvester bis zum neuen Jahr wachbleiben durften oder in Jones Beach den ganzen Tag im Wasser gewesen waren und tropfend, mit blauen Lippen und brennender Kopfhaut herauskamen und immer noch mehr wollten, auch wenn Mutter und Vater »Genug!« sagten.

Keines der vier Kinder konnte aufhören, das Buch anzusehen. Sie saßen in der ersten Reihe, um ihre persönliche Urszene zu betrachten. Der schwere rötlich braune Vorhang, hinter dem die Mysterien der Liebe verborgen waren, die kein Kind dieser Welt sehen durfte, hatte sich gehoben.

Kann ich das mit Adam Selig probieren?, fragte Holly sich.

Sie würde die Antwort darauf eher erhalten, als sie es sich vorstellen mochte.

Gott, ich hasse sie, dachte Michael.

Er würde lernen, das für sich zu behalten.

Wenn ich das Buch nehme und zum Müllplatz von Wontauket bringe, wird es dann verschwinden?, dachte Dashiell.

Leider nicht, nein. Das Buch sollte über die Jahre noch viele Leben haben. Nichts konnte es umbringen.

Ich werde mein Leben allein leben, mit meinen Trollen, dachte Claudia.

Für lange Zeit würde eine modifizierte Version dieses Gelübdes wahr bleiben.