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DI Collin Brown glaubt es an diesem heißen Sommertag lediglich mit einem außergewöhnlichen Unfall zu tun zu haben: Ein Laster ist in ein Nebengebäude des seit Jahren leer stehenden Gutshauses Woodland gekracht. Doch aus der Routineangelegenheit entwickelt sich schnell ein brisanter Mordfall – nach Bergung des Lasters wird das Skelett eines Säuglings in dem stark beschädigten Gebäude gefunden, mit zertrümmertem Schädel.
Während Frau und Kinder ohne ihn in den Urlaub fahren, begibt sich Collin Brown auf die Spur der Familie Hattonfield, die auf Woodland Pferdezucht betrieben hat. Kann er dem Dorfklatsch Glauben schenken, demzufolge die Mutter das uneheliche Kind aus einer Affäre eigenhändig tötete? Der Fall erweist sich als noch dramatischer, als ein weiteres Säuglingsskelett geborgen wird. Collin Brown ist sicher, dass der Schlüssel zur Aufklärung der Morde in der Vergangenheit der Hattonfields liegt. Doch die Wahrheit ist weitaus schrecklicher – und gefährlicher –, als der Detective geahnt hat …

Autor

© Iris Grädler

Iris Grädler wurde 1963 in Halle/Westfalen geboren. Sie veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten und hat mehrere Anthologien herausgegeben. Bei DuMont erschienen bislang ihr Debütroman ›Meer des Schweigens‹ (2015), der für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert war, ›Am Ende des Schmerzes‹ (2016) und ›Das Wüten der Stille‹ (2017). Iris Grädler lebt in Swakopmund, Namibia.

Iris Grädler

AM ENDE DES
SCHMERZES

Roman

 

In Erinnerung an Jacky, wo immer du jetzt sein magst, und unsere unvergessliche Zeit im New Forest.

1

Menschliche Tragödien schienen die Vögel nicht zu bekümmern. Unbeeindruckt von Blaulicht und Metallschneidern zwitscherten sie in den Bäumen an der schmalen Landstraße und auf dem Grundstück hinter dem beschädigten Gebäude. Eine Armee aus wuchtigen Rotbuchen und dicht stehenden Kiefern schirmte das Sonnenlicht ab. Und alles andere, was dahinter verborgen sein mochte.

Detective Inspector Collin Brown stand nachdenklich vor dem schmiedeeisernen Tor. Zwischen zwei grob gearbeiteten Messingpferden, die einander auf den Hinterbeinen gegenüberstanden, war der Name des Anwesens angebracht. Rostige Lettern und Grünspan zeugten vom Verfall des einst wohl stolzen Gutshauses. »Woodland« entzifferte er. Ein untypischer, nicht kornischer Hausname. Ein Makler-Verkaufsschild darunter war verblasst und hatte unter Regen gelitten. Auf dem Immobilienmarkt wimmelte es vor Herrenhäusern im Tudor-Stil, uralten Cottages und ehemaligen Farmhäusern. Wer träumte nicht vom Leben auf dem Land? Romantische Bilder hatte man im Kopf: Kaminfeuer, Frühstück auf einer von Weinlaub umrankten Veranda, der Blick aus allen Fenstern auf grasende Schafe und die Küste nicht weit. Die Realität sah anders aus. Renovierung und Instandhaltung, wie Collin aus eigener Erfahrung wusste, war ein endloses und kostspieliges Unterfangen. Abgesehen von den astronomischen Immobilienpreisen, die in Cornwall inzwischen rund fünfzig Prozent höher lagen als anderswo in Großbritannien. Woodland, so vermutete er, war schon eine Weile als schwer verkäuflicher Brocken auf dem Markt. Herbstlaub lag auf der gekiesten Auffahrt und in einem großzügigen Teich, der Rasen zu beiden Seiten war vermoost und lange nicht gemäht worden. An einem Baum neben dem Tor warnten drei verbeulte Schilder vor dem Zutritt: »Betreten verboten«. »Privatgrundstück«. »Achtung – bissige Hunde«. Über dem Zaun war Elektrodraht als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme angebracht. Der Besitzer musste entweder ein besonders ängstlicher Mensch sein oder schlechte Erfahrungen gemacht haben, so wenig einladend wirkte die Einfahrt zu seinem Anwesen. Aber wer weiß, wenn man so einsam lebt, kann man auch einen Koller bekommen, dachte Collin.

Er speicherte die Telefonnummer des Maklers in seinem alten Handy. Das neue, mit Touchscreen und Kamerafunktion, Internetanschluss und anderem Schnickschnack, das seine Frau Kathryn ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, lag noch immer unbenutzt in der Verpackung. Das TETRA gebrauchte er nur, wenn es sein musste. Seine Kladde war ihm lieber. Er schlug sie auf und notierte: Besitzer von Woodland?

Eine Schadensersatzklage würde kaum zu dem nötigen Kleingeld verhelfen, das zerstörte Gebäude neben dem Tor, zu früheren Zeiten vermutlich ein Pförtnerhaus, zu sanieren. Der Lastwagen hatte es gerammt und eine Wand zum Einsturz gebracht. Eine andere war schwer beschädigt. Die Führerkabine stand eingekeilt zwischen gebrochenem Mauerwerk. Die Frontscheibe war zersplittert, beide Türen verzogen, und der Fahrer, der bewusstlos mit einer Kopfwunde zwischen der Fahrertür und einem herabgestürzten Balken lag, war notdürftig von Sanitätern versorgt worden. Der Anhänger hing schief auf den rechten Rädern, und ein Teil der Ladung, graue Säcke, war heruntergerutscht. Was hatte zu dem Unfall geführt? Womöglich die ungewöhnliche Hitze, die seit einem Monat ganz Cornwall lahmlegte. Vielleicht war der Fahrer Stunden unterwegs gewesen, war unter Termindruck gewesen und hatte keine Pausen gemacht. Eine Klimaanlage gab es in dem Lastwagen, einem älteren Modell, nicht.

Collin ging ein Stück die andere Seite der Landstraße hoch, am hohen Zaun des Anwesens entlang, betrachtete noch einmal die Bremsspur des Lasters, die im Schatten lag. Die Sonne konnte sich wegen der hohen Bäume keinen Weg bahnen. Vor dem Zaun war ein zugewachsener Graben.

Etwas Rotes stach ihm ins Auge. Er schob das Gras zur Seite und sah einen Ball. Der lag schon lange dort, dachte er. Hatte wenig Luft und Farbe.

Er suchte sich einen Weg durch das nun baufällige Pförtnerhaus, wo Techniker dabei waren, den Verletzten zu befreien. Die Türen des Lasters waren inzwischen ausgeschnitten. Jemand reichte ihm Papiere aus dem Handschuhfach. Führerschein, Fahrzeugpapiere. Lieferscheine. »Immer noch nicht bei Bewusstsein?«, fragte er Doc Larton.

»Schläft wie ein Engel.« Larton saß im Arztkittel, Stethoskop um den massigen Hals, auf seinem Campingstuhl, den er bei Außeneinsätzen immer dabei hatte. Sein kahler Kopf glich einem glühenden Kürbis und der Kranz struppigen Haares darum einem Heiligenschein. Mit einer Zeitung fächelte er sich Luft zu. »Hat wohl ein paar Ziegel auf die Rübe gekriegt. War nicht angeschnallt und ist aufs Lenkrad geknallt. Tippe auf Gehirnerschütterung, schlimmstenfalls Schädeltrauma.«

»Ist er transportfähig?«

»Bleibt ihm ja nichts anderes übrig. Hoffe nur, wir kriegen ihn da bald raus. So kann ich kaum was machen. Bin ja kein Bergsteiger.« Larton wies auf das zweistufige Trittbrett und klopfte sich auf den Bauch. »Und bei Ihnen? Alles in Ordnung? Sie wirken etwas, nun ja … lädiert.« Er gab ein Pfeifen von sich und zwinkerte Collin zu.

»Meine Söhne. Haben heute Geburtstag und … Na, Sie wissen schon, wie das ist.«

»Ein Kreuz mit Kleinkindern. Meine sind zum Glück aus dem Gröbsten raus.«

Kleinkinder, dachte Collin. Das waren Shawn und Simon nun wirklich nicht mehr. Aber auch zum dreizehnten Geburtstag musste es noch immer ein Programm wie zu Kindergartenzeiten sein. Eine Runde Surfen, Fußball, danach Gehüpfe zu unerträglich lauter Musik, eine halbe Zirkusveranstaltung mit ihren besten Freunden. Und die besten Freunde waren alle aus ihrer Klasse. Ist doch wunderbar, wenn sie so beliebt sind, hatte Kathryn nur gemeint. »Dann warten wir besser draußen«, sagte Collin.

Larton nickte und kletterte schnaufend hinter ihm ins Freie, dann setzte er sich in seinen klimatisierten Zafira und spielte Solitär auf seinem iPad, bis der Verletzte zehn Minuten später endlich in den Krankenwagen gebracht und an den Tropf gelegt werden konnte.

Collin wünschte sich, auch nur annähernd eine Gemütsruhe zu haben wie der Arzt. Stattdessen ärgerte er sich. Seit einer dreiviertel Stunde wartete er. Auf seinen Kollegen Johnny, auf die Feuerwehr, den Statiker und das Bergungsfahrzeug. Im Sommer schien sich das Leben im südlichsten Zipfel des Inselreichs noch mehr zu verlangsamen, obwohl das eigentlich kaum möglich war. Zumindest herrschte eine beinahe mediterrane Gelassenheit, an die sich Collin in all den Jahren, die er hier schon lebte, zwar gewöhnt hatte und die er genoss, jedoch verfluchte, sobald es ihn zur Eile drängte, so wie jetzt. Immerhin war die Straße inzwischen beidseitig abgesperrt und bis auf einen Traktor hatte es keinen Verkehr gegeben. Wer sollte sich auch in diese Gegend verirren? Weiden, Äcker und wenige, weit verstreute Farmhäuser. Für Touristen und Sonntagsausflügler gab es keine attraktiven Ziele. Die Landstraße war zwar eng und voller Schlaglöcher, wies aber keine gefährlichen Stellen auf. Sie konnte nicht als Abkürzung oder Schleichweg einer Hauptstraße genutzt werden und war kein einziges Mal in der Unfallstatistik aufgetaucht. Der Crash mit dem Lastwagen war der erste auf dieser Strecke. Warum hatte der Fahrer diesen Weg überhaupt gewählt?

Kathryn führte seit Jahren Heft über die ersten Male in ihrem Leben. Sie sammelte diese Ereignisse mit freudiger Erregung wie andere seltene Briefmarken. Trotzdem war sie nicht erbaut gewesen, als Collin wegen des Unfalls Nummer eins auf der namenlosen Allee alles stehen und liegen lassen musste. Jetzt war sie allein mit dem Grill und einer hungrigen Meute Halbwüchsiger. In einem Moment wie diesem verfluchte Collin seinen Beruf. Vielleicht sollte ich auch mit Solitär anfangen, überlegte er und beschloss den Makler anzurufen. Für den Besitzer von Woodland würde es eine böse Überraschung geben.

»… Ja, das haben Sie richtig verstanden, Mr Hemming, ein Unfall mit einem Laster … Hattonfield?« Collin kritzelte den Namen in seine Kladde. »Und der Vorname?«

»Brian.« In Hemmings Stimme lag eine Spur Ungeduld. Offenbar telefonierte er aus einem Auto heraus. Collin hörte Verkehrslärm. »Lebt jetzt in Übersee. San Francisco. Werde ihn informieren lassen, sobald es mein Zeitfenster zulässt.«

Zeitfenster, dachte Collin, stellte sich geöffnete Fensterläden vor, aus denen Uhren wie Fliegen hinein- und hinausflogen, und von einem dynamischen, vielbeschäftigten Makler, wie es Hemming sein musste, mit der Fliegenklatsche gejagt wurden.

»Wie lange ist Woodland schon auf dem Markt?«

»Rund drei Jahre.«

»Und es tut sich nichts? Ist der Preis zu hoch?«

»Tja.« Hemming hüstelte. »Mag ein Grund sein. Ein Zwei-Millionen-Anwesen wird man heutzutage nicht so leicht los.«

Mit welchen anderen Erklärungen mochte der Makler hinterm Berg halten? »Wenn Sie so freundlich wären, auch die Versicherung zu informieren. Der Unfallbericht wird voraussichtlich Mitte der Woche vorliegen.«

Collin beendete das Gespräch mit dem Gefühl, dass Hemming nicht alles gesagt hatte, was er sagen konnte. Makler waren von Beruf aus Lügner, zumindest Schönredner und rhetorische Taktiker. Ein antrainierter Zug, der wie ein Belag auf ihren Zungen haftete. Kalifornien, San Francisco, dachte er dann. Davon schwärmte Kathryn oft. Als Studentin hatte sie ein halbes Jahr dort gelebt. Sie erwähnte in ihren Erzählungen nie den Nebel, der die Golden Gate Bridge die meiste Zeit verhüllte. Stattdessen malte sie immer eine strahlende Sonne an einen kobaltblauen Himmel. Postkartenbilder beschrieb sie. Ihre Zuhörer wollten auch nichts anderes vernehmen als die Bestätigung ihrer eigenen Träume. Wer nach Kalifornien auswanderte, war ein sonnenverliebter Mensch, den man sich in Blumenhemden vorstellte. Ein Hippietyp. Zumindest unkonventionell.

War das auch Brian Hattonfield, der Besitzer eines Gutshauses mit, wie der Makler betont hatte, traditionsreichem Namen? Die Frage würde keine Relevanz haben, wusste Collin. Die genauen Umstände des Unfalls würden der Versicherung übergeben werden, der Fahrer bekäme ein Bußgeld aufgedonnert, weil er eine für Trucks gesperrte Straße benutzt hatte, und wenn man ihm ein fehlerhaftes Fahrverhalten nachweisen konnte. Damit würde der Fall in Null-Komma-Nix als abgeschlossen in den Akten landen.

Collin hob mit einem Anflug von Neid die Hand, als Larton hinter dem Krankenwagen die Unfallstelle verließ, und gab die Daten der Fahrzeugpapiere und des Führerscheins per Funk an seinen Mitarbeiter Bill weiter. Bill war der Einzige im Team, der ohne zu murren Wochenenddienst schob. Die Antwort kam umgehend. Dann kündigte ein knatternder Auspuff Johnnys Ankunft an.

»Wie siehst du denn aus? Hast du Kasperletheater gespielt? Oder einen Sonnenbrand auf der Nase?« Johnny schlug ihm lachend auf die Schulter.

Collin strich sich über den Nasenrücken, wischte die rote Farbe ab, mit der ihn seine Tochter Ayesha eben in einen Clown verwandelt hatte, und unterdrückte das aufsteigende Schamgefühl.

»Und du?«, konterte er. »Stinkst nach verrotteter Brasse. Kommst gerade vom Hochseefischen, stimmt’s, oder wieso hat das so lange gedauert?«

»Perfekte See.« Johnny hob die Hände.

»Wenigstens hast du deine Schwimmflossen im Boot gelassen. Du bist auf Bereitschaft.«

»Und willst du nebenbei deine Käsebeine bräunen oder warum trägst du Shorts?«

»Du weißt doch. Heute ist …«

»Ja, ja. Kindergeburtstag. Sag mal ›Käse‹.« Johnny hielt sein nagelneues Smartphone hoch.

»Kannst du deine Späße bitte lassen?«

»Nur ein Schnappschuss für Sandra. Hat ja sonst nichts zu lachen.«

»Neuerdings muss alles immer gleich geknipst werden. Ich will hier nicht ewig Zeit vertrödeln.« Collin wandte sich ab. Heute hatte er für Johnnys Verliebtheit in Sandra kein Quäntchen Verständnis. Kaum hatte seine ehemalige Mitarbeiterin ihre Koffer gepackt, um nahe Southampton eine neue Stelle anzutreten, hatte Johnny technisch aufgerüstet, wie er es selbst nannte, damit er ihr wenigstens auf diese Weise nahe sein konnte.

»Okay, okay.« Johnny strich ungerührt auf dem Handy herum. »Dann verrat mir, was dieser Trottel an einem heiligen Sonntag in dieser Kuhgegend herumzukurven hat. Besoffen, oder?«

»Möglich. Er ist noch nicht vernehmungsfähig.«

»Hat er wen beim Mittagsschlaf gestört? Mann, wenn mir ein Laster in die Hütte düsen würde …«

»Zum Glück nicht. Das Haus ist leer. Nicht mal Möbel drin.«

»Muss ja ein ganz schönes Tempo drauf gehabt haben. Oder war der alte Schuppen schon so wackelig?«

»Schnell kann man hier nicht fahren. Die Bremsspur muss noch vermessen werden. Sieht aber nach Vollbremsung aus.«

Die Straße führte in einer leichten Linkskurve an dem Pförtnerhaus vorbei. Der Laster aber war geradeaus gefahren. War der Fahrer vor etwas ausgewichen? Einem Reh, das die Straße überqueren wollte?

»Bremse mit Gas verwechselt?« Johnny kicherte. »Na, dann schauen wir uns mal um.« Johnny schlenderte zum Anhänger, der halb aus dem Pförtnerhaus herausragte. Collin schluckte seinen Ärger hinunter und folgte ihm. Heute konnte er beim besten Willen auch keinen Gefallen an Johnnys Witzen finden. In letzter Zeit, so fand er, überdrehte Johnny seinen Sinn für Humor auf fast zynische Weise. Aber womöglich war es seine Art, mit Unglücken aller Art umzugehen, die ihnen in ihrem Beruf unweigerlich begegneten. Eine Schutzschicht wie ein Taucheranzug gegen das Grauen, die Kälte, die Klippen und Abgründe, mit denen sie es zu tun hatten. In der löchrigen Dreiviertelhose, seinem schwarzen Thermoshirt, das ihm über dem Bauch spannte, und dem feuchten Haar erinnerte er an ein vollschlankes Nilpferd. Er gab ein so wenig ernst zu nehmendes Bild ab wie Collin in den karierten Shorts und dem Manchester-United-Trikot. Collin hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich nach dem Anruf umzuziehen. Deine Persönlichkeit macht dich zur Autorität, wollte Kathryn ihm immer weismachen, nichts sonst. Er straffte die Schultern und ging zum Anhänger.

Mit einem nackten Fuß stieß Johnny gegen einen der Säcke, die von der Ladefläche gerutscht waren. Collin war froh, wenigstens Schuhe anzuhaben.

»Was ist da drin?«

»Vermutlich Futtermittel.«

»Warum sind welche aufgeschnitten?«

»Aufgeschnitten?«

»Mach die Augen auf. Da.« Johnny zeigte auf ein paar Säcke, die einen Schnitt wie von einem Messer aufwiesen. »Alles Längsschnitte. Ist doch seltsam, oder? Können ja beim Runterfallen kaum so aufgeplatzt sein. Als hätte jemand was darin gesucht.« Er holte aus einem der aufgeschlitzten Säcke eine Handvoll von etwas heraus, das an getrocknete Würmer erinnerte. »Die Viecher haben im Sommer doch genug zu fressen. Oder ist das so ein Hormonfutter?«

»Mag sein.«

»Möchte nicht wissen, woraus das Zeug gemacht wird. Stinkt jedenfalls wie Mottenpulver.«

»Fragt sich, warum der zu dieser Stunde damit unterwegs war«, sagte Collin. »Und wohin? Laster sind auf dieser Straße nicht zugelassen. Aber das ist jetzt nicht von Belang. Ich hoffe, die Feuerwehr kommt bald. Der Tank hat ein Leck abbekommen.«

»Die löschen gerade einen Heuschober. Hab Anne hingeschickt. Ist stinksauer, weil es ihr freies Wochenende ist. Heute ist wirklich die Hölle los. Wer ist der Fahrer?«

»Zaman Jatoi. Pakistanischer Abstammung.«

»Sauber?«

»Führerschein, Fahrzeugschein, ja. Kontroll- und Werkstattkarten und die Lieferpapiere müssen wir noch genauer ansehen. Nach Woodland sollte jedenfalls keine Lieferung gehen. Der Auftraggeber hat Sonntagsruhe.«

»Beneidenswert«, sagte Johnny. »Man sollte die Branche wechseln. Aber kann auch bis morgen warten, oder? Ist doch ’ne nette Aufgabe für unseren Billy-Boy. Was ist mit dem Fahrtenschreiber?«

»Hat noch einen analogen. Die Diagrammscheibe muss überprüft werden. Auf den ersten Blick alles nach Vorschrift.«

»Zeugen?«, fragte Johnny.

»Bislang nicht. Ein Mountainbiker hat den Unfall gemeldet.«

Johnny steckte sich ein Kaugummi zwischen die Zähne. Seine neueste Masche in dem ewigen Versuch, abzunehmen. »Und da drüben? Hat da jemand was gesehen?«

Johnny wies auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo ein Feldweg zu einem kleinen Haus führte. Der angrenzende Acker war von hohem Unkraut bewachsen, die Wiese auf der anderen Seite war nicht eingezäunt und ohne Rinder. Eine landwirtschaftliche Gegend, rund sechzig Meilen von der Küste entfernt, die Collin wenig vertraut war und in der die dazugehörenden Tiere zu fehlen schienen. Collin fragte sich, ob all die brachliegenden Schollen zu Woodland gehörten. Johnny holte sein Fernglas und blickte eine Weile hindurch.

»Die Bude sieht ziemlich heruntergekommen aus. Da wohnt vielleicht keiner mehr. Oder doch? Bin mir nicht sicher, aber da steht doch einer hinter der Gardine?«

Er reichte Collin das Fernglas.

»Schwer zu sagen. Willst du da mal anklopfen?«

Johnny machte ein Ai-Ai-Zeichen, fuhr die kurze Strecke mit dem Wagen und kam wenige Minuten später unverrichteter Dinge zurück. »Keine Maus, kein Feuer. Trotzdem sieht es mehr bewohnt als unbewohnt aus. Ich glaube, da hockt ein alter Griesgram drin, der niemandem die Tür aufmacht.«

»Fahr da morgen noch Mal vorbei.«

Der Sonntagnachmittag malte schon scharfe Schatten, als Collin der Unfallstelle endlich den Rücken zukehren konnte. Er war dankbar, dass Johnny angeboten hatte, zusammen mit dem Statiker vor Ort zu bleiben, bis der Laster aus dem Gebäude gezogen worden war. Beim Farmerverein hatte Johnny kurz entschlossen einen Kran und einen Unimog organisiert, nachdem sie erfahren mussten, dass das Bergungsfahrzeug erst frühestens am morgigen Montag aus Penzance eintreffen würde.

Eine Routineangelegenheit, wenn auch aufwändig, dachte Collin, als er in den ungeteerten Weg zu seinem Cottage einbog. Der Fahrer würde genesen, das Leben ginge weiter und der Tag bliebe für Collin selbst nur als ein verdorbener Kindergeburtstag in Erinnerung, wo er seinen Vaterpflichten nicht hundertprozentig hatte nachgehen können.

Ein Unfall mit leichtem Personenschaden und ein Brand in einem Heuschober waren nicht das Allerschlimmste. Er konnte sogar seinen Kindern davon erzählen, ohne sie allzu sehr zu ängstigen. Das erleichterte ihn. Die Hitze reichte schon aus, um den Schlaf zu vertreiben.

Dennoch grübelte er, als er mit Kathryn die gröbsten Spuren des Geburtstagsfestes aufräumte, über den Unfall. Warum war Zaman Jatoi auf dieser Landstraße unterwegs gewesen? Warum waren ein Dutzend Futtersäcke aufgeschnitten? Vor allem ging Collin das trostlose und düster wirkende Anwesen von Woodland nicht aus dem Kopf. Es war wie eines dieser Bilder aus Märchen, in denen Ungeheuer in Höhlen wohnten, Spukschlösser auf nebelumwogten Anhöhen standen oder Hexen in einer unheimlichen Hütte tief im Wald auf ihre Opfer warteten. Bilder, die ihn als Kind erschreckt hatten, und doch hatte er den Blick nicht davon abwenden können. Er hatte das Geheimnis hinter den verschlossenen Toren und in all den dunklen Räumen erfahren wollen.

Die Neugierde hatte immer gesiegt.

2

»Gönnen wir uns ein Gläschen?« Kathryn hatte sich geduscht und umgezogen. Sie hatte ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf gewickelt und trug einen pflaumenfarbenen Kimono. Mit ihrer Kleidung zeigte sie am deutlichsten ihre asiatischen Wurzeln. In den ersten Jahren, nachdem sie ins kornische St Magor gezogen waren, hatten Dorfbewohner ihr den Spitznamen »Geisha« gegeben, so sehr hatte sie Kathryns Kleiderstil offenbar irritiert. Sie hielt ihm ein Glas Cider hin und strahlte ihn an. Habe ich etwas verpasst?, fragte sich Collin. Es war nicht ihr Hochzeitstag, das wusste er genau. Aber irgendetwas führte seine Frau im Schilde. Sie trank sonst nur bei besonderen Anlässen Cider. Und er selbst mochte dieses Getränk nicht.

»Was gibt es denn zu feiern?«

»Dreizehn ist doch eine Glückszahl, finde ich. Auf unsere prächtigen Söhne, die nun keine Kinder mehr sind.«

Sie hob das Glas in Richtung der Zimmer, wo sich ihre drei Kinder nach der Geburtstagsparty in ihre eigenen Welten zurückgezogen hatten. Ja, dachte Collin, und stieß mit Kathryn an, es war ein großes Geschenk, dass Shawn und Simon gesund und fröhlich herangewachsen waren. Wie rasch die Zeit vergangen war. Aus den pausbäckigen Zwillingen waren schlaksige Teenager geworden. Dabei erschien es ihm wie gestern, als sie nebeneinander auf einer Decke in der beengten Wohnung lagen, die sie damals in Southampton hatten, und gleichzeitig nach ihrer Flasche verlangt hatten. Und immer war es der stillere Simon gewesen, der zurückstecken musste.

»Nächstes Jahr wollen sie nicht mehr zusammen feiern«, sagte Kathryn.

»Wird schwierig werden.«

Sie setzte sich auf seinen Schoß und legte ihre Hand auf seinen Nacken. »Du bist ganz heiß. Setzt dir das Wetter wieder zu?«

»Nicht nur das«, murmelte Collin, zog Kathryn an sich und schloss die Augen. Seit Wochen fand er keinen Schlaf, döste bis zum frühen Morgen auf einer Liege im Garten, die Haut mit Mückenstichen übersät. Kathryns Kräutertees, die er mit Widerwillen trank, vermochten die chronische Migräne nicht zu vertreiben. Das Schicksal der Karotten, sagte er sich. Helle Haut, Sommersprossen und rotes Haar gehörten ins Kühle, nicht in einen Sommer, in dem die Pollen wie Staubwolken herumflogen und seine Augen aufquellen und jucken ließen. Selbst jetzt, kurz vor Sonnenuntergang, war es für seinen Geschmack noch zu warm.

»Du musst ausspannen. Etwas anderes sehen.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Wir sollten wegfahren.«

»Hab noch jede Menge vorzubereiten für die Ausstellung.«

»Die ist doch erst Anfang August. Und du hast doch alles schon fertig. Oder willst du noch etwas Neues anfangen?«

Kathryn klappte einen Fächer auf und wedelte sich Luft zu.

»Kann gut sein. Wenn ich mal Ruhe dafür habe …«

Kathryn wusste genau, dass Collin nach Ausreden suchte. Er war seit Wochen nicht mehr regelmäßig in seiner Werkstatt gewesen. Es war stickig in der Hütte, und abends hatte er mehr Lust, bei einem Bier im Garten zu sitzen oder einen Spaziergang am Meer zu machen. In Wahrheit aber mied er die Werkstatt aus Angst, mit seiner Unzulänglichkeit konfrontiert zu werden. Es war schließlich seine erste Ausstellung. Er würde einer unter vierzig anderen Bildhauern sein, alle Laien wie er, die in einer ehemaligen Bahnhofshalle präsentiert werden würden. Die sechs ausgewählten Werke, kleine Figuren aus Sandstein, hatte er schon auf ein Regal gereiht. Ich kann immer noch absagen. Zwingen tut mich niemand, dachte Collin.

»Hat Johnny noch nicht mit dir gesprochen?«

»Worüber?«

»Über unseren Urlaub.« Kathryn setzte sich neben ihn und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Was hat er damit zu tun?« Seit wann redeten seine Frau und Johnny über die Urlaubsplanung seiner Familie?, fragte sich Collin verärgert. Er hatte doch deutlich gemacht, dass er in diesem Jahr die Ferien für die Vorbereitung der Ausstellung brauchen würde.

»Er macht sich auch Sorgen.«

»Sorgen? Um mich?« Collin schüttete den Rest Cider aus seinem Glas ins Gras und öffnete eine Flasche Bier.

»Du schläfst schlecht, bist nervös und Johnny meint, sehr launisch …«

»Sagt Johnny? Heißt das, du …?« Collin knallte die Flasche auf den Tisch und suchte nach seiner Pfeife. Seine Frau und sein Freund, wenn Johnny überhaupt ein Freund war, redeten also über ihn wie über ein ungezogenes oder krankes Kind. Sprachlos stopfte er die Pfeife.

»Die Kinder würden gern mal woanders hinfahren.« Kathryn legte ihm die Hand auf den Arm. »Und ich auch«, fügte sie hinzu. Ihre Stimme war stets schmeichelnd wie ein milder Wind, der durch Blätter strich. Aber das sanfte Timbre täuschte: Kathryn wusste genau, was sie wollte. Ein Nein war ein Nein und ein Ja ein Ja. Sie hatten einige Jahre keinen Urlaub mehr außerhalb von Cornwall, ja nicht einmal fern ihres Cottages verbracht. Warum wegfahren, wenn wir mit dem Meer vor der Haustür leben und einem grünen Hinterland, wo es prächtige Gärten, wilde Flüsse und unberührte Moorlandschaften zu entdecken gibt? Darüber waren sie sich beide einig gewesen. Oder hatten sich in Wahrheit alle auf ihn eingestellt?

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Johnny. Collin sprang auf und lief ein paar Schritte, bevor er den Anruf annahm. »Wenn man vom Teufel spricht. Was soll das, Johnny? Was hast du hinter meinem Rücken mit Kathryn …«

»Reg dich ab und …«

»Im Gegenteil. Ich rege mich auf, du verdammter …«

»Hör verdammt noch mal zu. Es geht um den Unfall.«

Collin blieb abrupt stehen und versuchte zu begreifen, was Johnny ihm erzählte. Er ließ ihn die Nachricht noch einmal wiederholen, sah, als er auflegte, die Abendsonne als zersplittertes Orange hinter der hochgewachsenen Esche, hörte wie gedämpft die Stimmen und das Lachen seiner Kinder aus den offenen Fenstern im Obergeschoss, und nur das Meer rauschte überlaut in seinen Ohren. Er ignorierte Kathryns besorgte Fragen, lief wie betäubt zu seinem Wagen, roch den fischigen Atlantik, der nur knapp drei Meilen entfernt war, durch die sommerliche Erwärmung voller Algen und Quallen, und wünschte sich einen kühlen Herbststurm, der das Schwindelgefühl vertreiben würde, das ihn übermannt hatte.

Das Skelett eines Kindes. Im zerstörten Gemäuer des Pförtnerhauses von Woodland. Das Skelett eines sehr kleinen Kindes.

* * *

Die Szenerie hatte etwas Gespenstisches. Das Pförtnerhaus war abgesperrt, Scheinwerfer warfen kantige Lichtstränge, Kollegen in weißen Schutzanzügen von der Spurensicherung aus Truro nahmen den Fundort in Augenschein und machten Aufnahmen, Streifenwagen mit Blaulicht blockierten die Landstraße, und der Mond hing wie ein angebissener Apfel am sternklaren Himmel.

Das winzige Skelett lag in einem Steinbett, so kam es Collin vor. Nichts deutete auf den ersten Blick darauf hin, dass das Kind in eine Decke gewickelt worden war oder auf einem Kissen gelegen hatte. Eine Holzente in verblasstem Grün. Das war alles, was ihm mit ins Grab gelegt worden war. Jemand wollte dieses Kind verstecken, seinen Tod verbergen. Das Spielzeug war wie der sentimentale Zug eines ansonsten kaltblütigen Mörders. Falls es Mord gewesen war.

»Der Laster ist direkt gegen die Mauer geknallt«, sagte Johnny. »Aber erst, als der Unimog ihn rausgezogen hat, ist sie richtig zusammengekracht. War wohl mal ’ne Theke für Dosenbiertrinker.« Johnny leuchtete auf die Platte, die das weitgehend zerstörte brusthohe und U-förmig vor eine Wand gebaute Mauerteil abgedeckt hatte. Sie lag in drei Teile zerbrochen auf dem Boden. »Hier, die typischen runden Schmutzränder.«

»Kann auch von Wassergläsern stammen.«

»Wie auch immer. Eine ziemlich gute Tarnung jedenfalls. Frage mich nur, wie ein Bier schmeckt, wenn man weiß, dass unter der Theke ein totes Kind liegt.« Johnny kratzte sich am Hinterkopf, was er nur tat, wenn er keine Worte fand.

Collin wandte sich von dem grausigen Steingrab ab. Gab es Schlimmeres als den Anblick eines vermutlich erschlagenen Kindes? Die Trümmerstelle am Schädel war nicht zu übersehen. Wer war dazu in der Lage gewesen?

»Da konnte jemand selbst mauern«, sagte Johnny. »Dafür heuert man keinen Maurer an.«

»Vielleicht war da schon eine Art Aussparung im Boden. Das Kind wurde reingelegt und das Ganze später zugemauert.«

»Spielt ja keine Rolle, wann. Was ich sagen will, ist, dass man dafür keinen Handwerker beauftragen kann.«

»Sehe ich auch so. Die Pläne von dem Gebäude müssten wohl aufzutreiben sein. Ich setze Bill drauf an.« Collin schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, welch ein Mensch so etwas tun konnte.«

»Neugeborene werden aus Hochhäusern geschmissen oder in Mülltonnen. Liest man doch jede Woche. Eine Mutter, die das Kind nicht haben wollte, denke ich.«

»Wenn es wirklich eine Tötung war.«

»Eine uneheliche Schwangerschaft und der Herr vom ehrwürdigen Gutshof Woodland durfte nichts davon wissen. Oder der Pförtner. Muss ja einen gegeben haben. Hatte vielleicht auch Familie.«

»Und ist durchgedreht?« Collin konnte sich nicht vorstellen, wie man so außer Kontrolle geraten konnte, dass man ein wehrloses Kind tötete.

Shawn war von den Zwillingen das Schreikind gewesen. Sein Rekord war ein sechsstündiges Durchbrüllen ohne Pause und ohne Atem zu holen gewesen, wie es Collin in jener Nacht erschienen war, als er sich Ohrenschützer umgelegt und seinen Sohn herumgetragen hatte. Knapp drei Monate hatte die Schreiphase angedauert. Kathryn war in jener Zeit ein schlafloses Nervenbündel gewesen, und er selbst hatte mehr als ein Mal heimlich bereut, überhaupt Vater geworden zu sein.

Sie waren von Arzt zu Arzt gerannt, hatten ihm Kindertee eingeflößt, Qi-Gong-Klänge vorgedudelt, das Zimmer mit Lavendelaroma eingesprüht und Stofftiere ins Bett gelegt. Nichts hatte geholfen. Shawn schrie. Und nach zwei Monaten begann auch der sonst ruhige Simon zu jammern. Collin hatte die Geduld verloren, ja, er hatte Shawn angebrüllt, in jener langen Nacht sogar geschüttelt. Mehrmals. Bis er erschrocken und beschämt innegehalten hatte. Seine eigene laute, gereizte Stimme hatte ihn wachgerüttelt. Shawn litt. Er hatte Schmerzen. Wie sollte er sich anders ausdrücken als durch Geschrei? Als Kathryn endlich einen kompetenten Arzt fand, der eine Einstülpung des Darms diagnostiziert und schließlich erfolgreich behandelt hatte, war der Horror vorbei gewesen.

Collin betrachtete noch einmal den gespaltenen Schädel des toten Kindes und war dankbar, dass er gelernt hatte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, und niemals die Hand gegenüber seinen Kindern erhoben hatte.

Sie zogen die Schutzkleidung aus und gingen zu den beiden Farmern, die den Laster geborgen hatten. Johnny war mit ihnen zu der Unfallstelle gefahren und hatte sie mit dem Statiker und zwei Technikern dort allein gelassen. Die Fische ausnehmen, hatte er kleinlaut erklärt. Nach dem aufgeregten Anruf des Statikers war er sofort zurückgeeilt.

»Wir haben den Laster rausgezogen, ging ohne Probleme, und dann … Hab mich noch mal drinnen umgeschaut. Weiß nicht, warum.« Fergus, ein Mann mit dürrer, kurz gewachsener Statur, nahm den Hut ab und wischte sich über die Stirnglatze.

»Steckst doch überall immer deine Nase rein«, murrte der andere, der breitbeinig, die Daumen im fleckigen Overall verhakt, am Unimog lehnte. »Haste nun davon.«

»Fällst mir in den Rücken, George? Wollte nichts rausholen, zum Teufel. Ich weiß auch nicht …«

»Ist dir ja immer ein Dorn im Auge gewesen. Jetzt haben wir den Salat.«

»Sie kennen das Anwesen hier?«, mischte sich Collin ein.

»Wer nicht? Ist ja nicht zu übersehen.« George kniff die fransigen Augenbrauen zusammen. Sein Gesicht mit der Warze auf der Höckernase erinnerte Collin an einen Geier. Wachsam, misstrauisch und verschlossen. Ein Wiesel und ein Geier. Ein Gespann mit offensichtlichem Groll gegenüber den Hattonfields.

»Wissen Sie, wann das Pförtnerhaus zuletzt bewohnt war?« »Pförtnerhaus?« George stieß ein verächtlich klingendes Lachen aus. »Kann sein, dass die mal einen Pförtner hatten. Muss vor meiner Zeit gewesen sein.«

»Sie erinnern sich also nicht daran, dass jemand da gewohnt hat.«

»Nein, aber unsereins bekommt keine Dinnereinladung zu solchen Herrschaften, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Gut, Sie müssen sich für das Protokoll Montag im Lauf des Tages bei uns melden. Sind Sie in der Lage, den Lastwagen jetzt abzutransportieren?«

»Sollen wir vorher blasen oder wie?«

Collin und Johnny wechselten einen Blick.

»Dann dampfen Sie ab.« Johnny wedelte mit der Hand.

»Ich wollte wirklich nicht …« stammelte Fergus.

Collin klopfte ihm auf die Schulter. »Also, wir sehen uns morgen früh.«

Fergus setzte sich hinter das Lenkrad des Lastwagens, George kletterte in den Unimog und startete den Motor.

»Komisch ist, dass der Truck nicht mehr anspringen wollte«, sagte Johnny.

»Durch den Aufprall bestimmt.«

»So ein Monstrum? Vielleicht war vorher schon was kaputt gegangen, die Bremse oder so, und dann ist der Unfall passiert.«

»Wir werden sehen, was die Fachleute sagen.« Collin blickte dem Laster hinterher, der sich im Schlepptau des Unimogs wie ein stählernes Ungeheuer die Allee entlang bewegte. Ihm fielen die Dominosteine ein, die er vor einigen Tagen mit seinen Kindern im Flur aufgestellt hatte. Simon hatte darauf bestanden, nachdem er das Wort »Dominoeffekt« irgendwo aufgeschnappt hatte. Sie bauten hundert Steine in einer langen Reihe hintereinander auf. Eine Stunde hatte es gedauert, bis sie mit ihrem Werk zufrieden gewesen waren. Sie losten aus, wer dem ersten Stein einen Stoß versetzen durfte. Es war zur Enttäuschung der anderen beiden Shawn. Sie diskutierten eine Weile, ob er wirklich der geeignete Kandidat für eine solche Aufgabe war, zeichnete er sich doch durch eine gewisse Tollpatschigkeit aus.

»Das Los hat entschieden«, hatte seine Adoptivtochter Ayesha, die mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn gesegnet war, schließlich mit Nachdruck gesagt. Dann waren die Steine einer nach dem anderen in einer raschen Welle gekippt, und das akribisch geplante Werk war in einer perfekten Kettenreaktion gefallen.

Welcher Stein des Anstoßes war es gewesen, der das Mauerwerk des Pförtnerhauses so genau zum Einsturz gebracht hatte, dass ein wahrscheinlich Jahrzehnte altes Grab aufgedeckt worden war? Einen Meter weiter rechts und der Lastwagen hätte die Theke nicht berührt.

Collin lief die schmale Landstraße hinauf, die vom Mondlicht beschienen war. Man konnte das Pförtnerhaus nicht übersehen. Ein gelb-schwarzes Warnschild war vor der Kurve angebracht. Was hatte den Truckfahrer dazu gebracht, das Lenkrad so weit nach rechts zu reißen, dass er mitten in das Gebäude gekracht war? Sie würden die Untersuchung des Lasters und die Befragung des Fahrers abwarten müssen.

Er sah Douglas Hampton, den Rechtsmediziner, mit zwei Mitarbeitern aus dem Leichenwagen steigen und ging zurück. Hamptons knotige Beine staken unter dem nachlässig geknöpften Kittel hervor. Er trug Sandalen und einen Strohhut und roch nach Schweiß. Collin drückte ihm die Hand und trat einen Schritt zurück.

»Was haben wir denn da Schönes zum späten Sonntagabend? Ein Skelett, habe ich gehört?«

»Ja. Ein Kind. Noch keine drei Monate alt, vermute ich.«

»Tja, würd sagen, muss man nehmen, wie’s kommt. Ist ja eine Affenhitze. Selbst nachts schwitzt man wie ein Schwein. Aber bald geht’s nach Mallorca. Tschaka-Tschaka!« Douglas lachte und machte eine Hüftbewegung. »Ich sag euch, das ist eine andere Wärme da unten und immer ein Pool in der Nähe. Ich soll schwimmen wegen der Wirbelsäule, meint mein Arzt. Ich sag euch, bald sitz ich im Rollstuhl.« Douglas blickte sie erwartungsvoll an. Aber Johnny reagierte so wenig wie Collin. Beide kannten Douglas’ Krankheitsgeschichten seit Jahren.

»Dann woll’n wir mal.« Hampton zog sich um und setzte sich eine Stirnlampe auf.

Bislang hatte Collin selten mit ihm zusammenarbeiten müssen. Kapitalverbrechen kamen in seinem Revier nicht häufig vor. Zum Glück. Jemanden wie Hampton mied er lieber. Nicht nur, weil dieser seine Nase zu tief in die Whiskeyflasche steckte. Es war dessen Berufsethos, das ihn abstieß, so man von Ethos sprechen konnte. Hampton begegnete dem Tod mit einer sarkastischen Nüchternheit und liebte es, während seiner Arbeit unflätige Witze zu reißen. Kaum am Fundort, wurde er gleich seinem Ruf gerecht. »Kennt ihr den schon?«, fragte er. »Warum kann eine Frau einem Vergewaltiger davonlaufen, ein Mann aber nicht?« Hampton schaute sie begierig über die Absperrung hinweg an und schlug sich aufs Knie. »Na, mit Rock kann die Frau doch rennen, oder? Aber dem Mann baumelt die Hose um die Knöchel.« Ein bellendes Lachen drang aus seiner Kehle.

»Dann sollte man für Frauen die allgemeine Rockpflicht einführen, damit dein Scheißwitz Sinn ergibt und kein Vergewaltiger mehr in der Kriminalstatistik auftaucht«, erwiderte Johnny.

»Verstehst keinen Spaß, was? Stammt ja nicht von mir.«

»Und warum gibst du ihn dann verdammt noch Mal zum Besten?«

»Glaubst du, ich hab was gegen Frauen, oder was willst du mir unterstellen?« Hampton blitzte Johnny aus Augen an, die hinter der Schutzbrille – unbeweglichen Kieselsteinen gleich – unter geröteten Lidern klebten.

»Mach deinen Job. Ich schau mich mal draußen um.«

»War nicht immer so ein humorloser Vogel.« Hampton streifte sich Handschuhe über.

»Der Spalt am Schädel könnte die Todesursache sein, oder?«, fragte Collin mit einer Mischung aus Ungeduld und Widerwillen. Auch er hoffte, dass Hampton so schnell wie möglich seine Arbeit erledigte. Alles an ihm war wie Aasgeruch, der sich in der Nase festsetzte.

»Hat was kräftig aufs Köpfchen bekommen, so sieht das aus.«

»Also Fremdeinwirkung.«

»Würd ich noch nicht unterschreiben.«

»Wie alt schätzt du es?«, fragte Collin.

»Von der Größe her ist das Küken zwischen drei Wochen und einem Monat alt gewesen. Muss ich im Labor prüfen. War wohl eingemauert, oder?«

»Ja.« Collin schluckte. Eingemauert. Hatte das Baby noch gelebt, bevor es in der Dunkelheit unter einer Mauer lag?

»Prachtexemplar.« Hampton gab einen Pfiff von sich. »Der Beton und die Ziegel haben es wunderbar konserviert. Von innen noch alles hübsch mit Mörtel zugekleistert. Fehlt nur noch die Tapete.«

»Wie lange liegt es da wohl schon?«

»Würd mal sagen, zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Nur so ein Gefühl. Musst dich schon gedulden. Ich mach jetzt ein paar hübsche Schnappschüsse fürs Babyalbum.« Hampton zog einen Flachmann aus der Kitteltasche, genehmigte sich einen kräftigen Schluck, machte die Fotoaufnahmen und verpackte die Skelettstücke zum Transport in sein Labor vorsichtig in einen Leichensack. Er war als Freiwilliger in mehreren Kriegen gewesen, wo genau, hatte Collin vergessen. Aber es waren alles Orte, von denen grausame Bilder über den Fernsehschirm flimmerten. Hampton, so vermutete Collin, hatte Massengräber gesehen, Leichenberge, von Gewehrkugeln durchlöcherte, von Granaten und Minen zerfetzte Körper, durch Flammen verkohlte Leiber. Welchen Bezug zum Tod hatte solch ein Mensch? Selbst der Anblick eines toten Kindes schien ihn nicht mehr zu erschüttern. Eine derartige Haltung war für einen Rechtsmediziner wohl unvermeidlich, ja notwendig, um das alltägliche Grauen nicht zu nah an sich heranzulassen.

Soweit will ich niemals kommen, dachte Collin. Er wünschte, gläubig zu sein, um zu wissen, welches Gebet man zum Trost beim Anblick eines in einen sterilen Leichensack verpackten Kinderskelettes sprechen könnte. Aber er war nicht gläubig. Er hatte kein Verständnis für jemanden, der ihm erklärte, diese Tötung, und von einer Tötung war er persönlich fest überzeugt, wäre der Plan eines gütigen Gottes gewesen und hatte deshalb einen Sinn und wäre somit verzeihlich. Nein, wer immer dieses Kind erschlagen und eingemauert und seither ungescholten sein Leben weitergeführt hatte, sollte dafür büßen.

3

Jill tastete nach dem Haltegriff, den Ron ihr vor ein paar Tagen endlich an die Wand montiert hatte. Die Nachttischlampe war allerdings noch immer kaputt.

»Eins nach dem anderen«, hatte Ron geknurrt.

Ja, so sah es aus, dachte Jill, schob die Beine nacheinander über die Bettkante und blieb sitzen, bis der Schmerz etwas nachließ. Colt, ihr irischer Setter, war sofort an ihrer Seite, und sie kraulte ihn hinter den Ohren wie jeden Morgen. Wenn auch auf nichts sonst – auf ihn war Verlass. Betagt war er inzwischen, zehn nächsten Monat, fiel Jill ein, während sie seine Leine umfasste und sich von ihm hochziehen ließ. In Menschenjahren viel älter als ihr Vater, aber sein lahmer Hinterlauf kein Grund, nicht seine Pflicht zu tun. Ihr Vater dagegen hatte aufgeben. Auf ganzer Linie. Warum auch immer.

Jill biss die Zähne zusammen und humpelte zur Tür, knipste das Deckenlicht an, eine schief hängende, einst weiße Plastikschale, mit den Jahren gelb geworden und voller Mottenflügel. Sie horchte in den Bauch des Hauses hinein. Alles schien noch zu schlafen. Wie jeden Tag war sie die Erste. Sogar der Hahn, den Claire beim Umzug unbedingt hatte mitnehmen wollen, krähte erst Stunden später. Er war nicht mehr derselbe, seit er hierher vertrieben wurde. Wer von uns war das schon?, dachte Jill.

Sie öffnete die linke Schranktür. Dahinter war ihre Nasszelle. Eine Investition, die sich gelohnt hatte. So musste sie sich nicht den langen Flur hinunter bis zum einzigen Badezimmer im Erdgeschoss schleppen. Der Gedanke, dort die Behindertentoilette zu benutzen, die sie für ihren Vater eingebaut hatten, fand sie abstoßend. Dann lieber ein tellergroßes Waschbecken und die zersprungene Kloschüssel ohne Deckel, die Ron irgendwo aufgegabelt hatte.

Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, befeuchtete mit den Fingern die kurz geschnittenen schwarzen Locken, ignorierte die zahlreicher gewordenen Silberfäden darin und spülte zwei Valium runter. Ein verständnisvoller Apotheker hatte sie ihr unter dem Ladentisch gegeben. Es war die doppelte Menge als üblich, aber ein Tag wie heute machte das nötig. In letzter Zeit ertappte sie sich öfter bei dem Gedanken, einfach alle zu schlucken, die ganzen Seelentröster, Schmerzkiller und Schlafbeschleuniger, die ihr die Ärzte in den vergangenen Jahren zugesteckt hatten wie einem Kind Süßigkeiten, damit es bloß keine Querelen machte. Einfach runter, wie sie alles andere geschluckt hatte. Sie schloss die Schranktür mit dem Spiegel, der zu viele Fragen an sie stellte, und schüttelte die dunklen Gedanken ab.

Ihr Zimmer war spärlich eingerichtet. Der Einbauschrank aus Furnierholz, ein paar Haken für Parka und Hüte, Colts Hundekorb, ein Sessel mit ausgeblichenem, rotem Bezug, aus dem an einer Seite die Füllung herausquoll. Auf dem Tisch daneben stapelten sich die ungelesenen Fachzeitschriften, die ihr Lester Goldsmith, der Nachbarfarmer, jeden Monat wie eine Schachtel Pralinen überreichte. Dabei war er überhaupt kein Pferdezüchter. Die Ponys auf seinem Hof waren nur ein Nebengeschäft, wenn auch einträglich, wie er betonte. Jill vermutete, dass er sich einschleimen wollte. Warum, war ihr schleierhaft. Die Zeitschriften waren ein Grund für ihn, vorbeizukommen. Auf ein Glas. In den letzten Wochen kam das häufiger vor. »Witwer. Der ist auf der Suche«, hatte Ron mit einem Augenzwinkern nach Lesters letztem Besuch gesagt. Bestimmt nicht nach mir, hatte Jill gedacht.

Der ganze verstaubte Stapel Papier sollte ins Feuer und das andere Zeug gleich mit. All die gelben, grauen, weißen und blauen Turnierschleifen mit Prägestempel und Goldlettern, die wie Ausrufezeichen an den rissigen Tapeten hingen. Die Pokale mit den stumpf gewordenen Silber- und Goldbeschichtungen waren nach dem Umzug in den Kartons geblieben. Der antike Glasschrank, in dem sie einst würdevoll präsentiert worden waren, war unter den Hammer gekommen wie alles andere. Aber das war Vergangenheit. Was nützte Groll und Bedauern? Zwei Valium und der Schmerz ließ nach. So war das.

Jill stieg in Arbeitshose und Wellingtons, streifte ein kariertes Baumwollhemd über und ging den schlecht beleuchteten Flur entlang. Sie horchte kurz an der Schlafzimmertür ihres Vaters und hörte ihn schnarchen. Früher war es umgekehrt gewesen. Er hatte nachts an ihren Türen gehorcht. Sie spürte einen Anflug der altbekannten Beklemmung im Hals. Der Tag war ihr immer lieber gewesen als die Nacht. Bis heute. Wenn auch die bedrohlichen Stimmen der Dunkelheit an Kraft verloren hatten. Wie alles andere. Wenigstens das, dachte sie, knipste das Licht in der fensterlosen Diele an und schloss die Haustür auf.

Man konnte das Alter des Hauses riechen, die Würmer in Balken und Holzdielen, den Schimmel in den Wänden, den Staub der alten Teppiche, in denen Generationen von Milben hausen mussten. Bevor sie hierher gekommen waren, hatte das kleine, heruntergekommene Farmhaus Jahre leer gestanden. Jill konnte sich nicht vorstellen, dass es einst im Besitz ihres Großvaters gewesen war, dem Vater ihres Vaters. Sie hatte ihre Familie immer auf der Sonnenseite des Lebens gesehen und sich nie gefragt, ob es einmal anders gewesen war. Die Großeltern mütterlicherseits hatte sie nie kennengelernt. Ihre Mutter war zu früh aus ihrem Leben verschwunden und Jill zu jung gewesen, um Fragen zu stellen. Jetzt hatte sie Tausende Fragen, die ihr auf der Zunge brannten wie ein Geschwür und die sie im Zaum hielt. Was nützte es auch, Fragen zu stellen? Die Vergangenheit war vergangen. Es galt sich in der Gegenwart zurechtzufinden. An Zukunft war schließlich auch nicht zu denken.

Dennoch seltsam, dass sie gerade hier gelandet waren. Erklärt hatte es ihr Vater nie, als er noch dazu in der Lage gewesen war. Aber was sollte es auch helfen, das alles zu wissen? Am besten war es, einen Tag zu überstehen und danach den nächsten.

In der Küche nahm Jill den Schlüsselbund vom Gürtel und schloss den Vorratsschrank und den zweiten Kühlschrank auf, den Dylan in seiner unverschämten Art auf den Namen »Bunker« getauft hatte. Kaffee, Zucker, Claires Pralinen, diverse Brandweine und Liköre, feiner Schinken, Käse und anderes waren darin eingeschlossen. Alles für die erste Klasse, würde Dylan sagen. Jill suchte ihre grüne Blechtasse, fand sie mit einem angetrockneten Milchrand im Abwaschbecken, wo sich das Geschirr von mindestens zwei Tagen stapelte. Marmeladenflecken und Krümel auf der Plastiktischdecke. Das Linoleum, von undefinierbarem Muster, klebte vor Dreck. Todd hatte wohl wieder die ganze Nacht mit Dylan Karten gespielt, statt sich um seine Pflichten zu kümmern. Warum sich Dylan überhaupt seit Neuestem mit diesem Flegel abgab?, fragte sich Jill kurz, wusch ärgerlich die Tasse aus und brühte sich einen Tee auf. Wenn die Nachlässigkeit erste sichtbare Spuren hinterließ, war nichts mehr zu retten. Man musste damit leben. So war das.

Man könne nur ein wenig an den Symptomen herumdoktern, hatte der Orthopäde gesagt, Linderung verschaffen, eine Chance auf Heilung gebe es nicht. Die Ursache des Rückenschadens sei irreparabel.

Der Kampf dagegen lohnte sich nicht. Auch nicht in dieser Küche, in diesem Haus, das kein Zuhause war. Jedenfalls nicht für Jill. Auch kein neuer Linoleumboden würde da helfen. Es war, wie es war. Ihr gesamtes Leben hatte tiefe Risse, die durch nichts mehr gekittet werden konnten. Man konnte den Blick abwenden, über die Bruchstellen hinweg balancieren oder in sie hineinstürzen.

Jill tunkte ein Biskuit in den Tee und schaute in den Hof. Es war erst halb vier. Ein erster fahler Streifen Morgendämmerung lag hinter der Koppel. Die letzten Tage trieb die Schlaflosigkeit sie früher aus dem Bett als sonst. Dank ihrer Schwester Claire. Die lag jetzt selig unter den Federn in ihrem Himmelbett und würde erst Stunden später aufwachen. Trug wahrscheinlich eines ihrer lächerlichen Nachthemden, ein Kitsch aus Rosa, Schleifen und Blümchen. Für sie würde es weitergehen. Nicht wie immer. Aber das schien Claire ja auch nicht zu wollen. Jill merkte, wie die Wut in ihrem Hals kratzte wie die Biskuitkrümel. Sie brühte sich einen zweiten Tee auf und versuchte sich auf die Chronologie des Tages zu konzentrieren. Das hatte sie immer gerettet. Sich der Arbeit zuzuwenden und alles andere auszublenden. Was heute vor ihr lag, löste in ihr allerdings nichts als Missstimmung aus.

Die ersten Vorbereitungen zum Farmerfest.

Ein alljährliches Großereignis, auf das die Leute in der Gegend hinfieberten wie auf das wichtigste Derby. Claire bestand darauf, dass sie wie in den letzten Jahren dabei waren. Wir zeigen, wer wir sind und was wir haben, hatte sie verkündet. Ihre Welt ging unter, doch Claire tat so, als lebten sie noch wie Großgrundbesitzer.