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Danko Rabrenović kam als 22-Jähriger aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. In diesem Buch erzählt er vom Ankommen und Heimischwerden in einem Land, das so ganz anders tickt als seine alte Heimat. Rabrenović sammelt »Aufenthaltstitel« wie andere Gartenzwerge und beschreibt, wie er versucht, liebgewonnene deutsche Sitten anzunehmen, ohne die eigenen Wurzeln zu verleugnen. ›Der Balkanizer‹ ist ein Insider-Bericht, der Deutschen und »Jugos« schonungslos und humorvoll den Spiegel vorhält: pointiert, selbstironisch und mit feinem Gespür für interkulturelle Zwischentöne.
 
Danko Rabrenović wurde in Zagreb geboren, wuchs in Belgrad auf und lebte als Kind mit seinen Eltern drei Jahre in Peking. Kurz nach Ausbruch des Jugoslawienkrieges kam er nach Deutschland. In seiner wöchentlichen Radiosendung »Balkanizer« auf WDR Funkhaus Europa spielt er Balkan-Musik und spricht mit seinen Gästen über ihre persönlichen »Balkan-Geschichten«. Rabrenović ist außerdem Sänger und Gitarrist der Band Trovaci (www.trovaci.de).
 
Sebastian Brück arbeitete in Hamburg als Report-Redakteur für die Zentralredaktion des Magazins »Prinz«. Heute lebt er als freier Autor und Journalist in Düsseldorf, schreibt für Print- und Online-Medien und betreibt das Blog »Düssel-Flaneur«. Kultur und Musik vom Balkan gehören seit Jahren zu seinen Herzensthemen.

Danko Rabrenović

DER
BALKANIZER

Ein Jugo in Deutschland

Unter Mitwirkung von
Sebastian Brück

Widmung und Danksagung

Dieses Buch möchte ich gerne meinen deutschen Freunden widmen, die mir geholfen haben, in Deutschland eine neue Heimat zu finden. Danke für eure Unterstützung, Freundschaft und Liebe: Helmut Hofer, Sandra Bamberger, Ulf Richter, Martin Schulte (†), Marion Matschuck, Elisabeth Schäfer-Wünsche, Ralph Stövesandt, Olaf Butler, Familie Francke, Marion Mentzel, Tobias Nowak, Jona Teichmann, Sebastian Brück, Karl Heinz Pütz (†) 

Vorwort

»Bedenke, wenn du an jemand etwas auszusetzen hast, dass die meisten Menschen es im Leben nicht so leicht gehabt haben wie du

Ich war immer fasziniert von diesem edlen, klugen Satz, mit dem F. Scott Fitzgeralds Meisterwerk »Der große Gatsby« beginnt. Es ist aber sehr schwer, diesen Gedanken im Alltag umzusetzen  In der Tat hat jeder Mensch andere Möglichkeiten, je nachdem, wo und wie er aufwächst. Dieser Hintergrund ist und bleibt immer ein Teil unserer Persönlichkeit. Die große Kunst ist, dass wir uns für unsere Biografie weder schämen noch besonders stolz auf sie sind.

Als ich mit dem »Balkanizer«-Buch begann, kam mir der Satz Fitzgeralds immer wieder in den Sinn, denn ich schrieb über meine Begegnungen in Deutschland – und somit auch über andere Menschen: »Jugos« und Deutsche. Es war mir schnell klar, dass die Themen, die ich in diesem Buch anspreche, sehr komplex und alles andere als einfach sind. Aber mir war wichtig, dass ich »meine Geschichte« möglichst authentisch und ohne unnötiges »Make-up« erzähle. Einfach so, wie sie ist: Meine sehr persönliche, subjektive Sicht auf das Leben in einer Multikulti-Gesellschaft. Meine »Weltanschauung«, die auf meinen Erfahrungen basiert. Ich hoffe jedoch, dass sich die Leserinnen und Leser in manchen Beobachtungen wiederfinden. Aber vor allem hoffe ich, dass diejenigen, die völlig andere Erfahrungen und Anschauungen haben, vielleicht ein paar neue Denkanstöße bekommen.

Das Buch ist also keineswegs die Geschichte eines Zuwanderers, der das »Integrationsrezept« gefunden hat, sondern eine Sammlung von Geschichten aus meinem Alltag in Deutschland.

Danko Rabrenović

1

Zwischen zwei Welten

Am glücklichsten bin ich, wenn ich im Flugzeug sitze – egal in welche Richtung! Dieser Satz stammt nicht von mir, ich habe ihn ausgeliehen. Und ich bin überzeugt, der Satz-Erfinder hätte nichts dagegen einzuwenden. Schließlich haben er und ich etwas gemeinsam. Er ist ein in New York lebender Lateinamerikaner und bezieht sich auf regelmäßige Flüge zwischen seinen Heimaten Puerto Rico und den USA. Ich bin ein in Düsseldorf lebender Jugo1 mit serbischem und kroatischem Pass. In meinem Fall heißt es also: Am glücklichsten bin ich, wenn ich im Flugzeug zwischen Deutschland und dem Balkan sitze – egal in welche Richtung.

Auf den Originalsatz bin ich als Anglistik-Student an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität gestoßen. Damals interessierte ich mich besonders für Minority Studies. Oft ging es dabei um afroamerikanische Musiker und Filmemacher. Und, allgemeiner, um Literatur der Minderheiten und Einwanderer in den USA. Ich war ziemlich verblüfft, als ich in den Texten und Lebensgeschichten dieser Menschen meine eigene Geschichte wiederfand. Wir schrieben das Jahr 1995, ich war 26, vier Jahre zuvor nach Deutschland geflüchtet, und allmählich wurde mir klar, dass Menschen im Exil immer nach den gleichen Mustern leben. Demnach ist meine deutsche Exil-Geschichte ähnlich wie die US-amerikanische eines Mexikaners oder Puerto Ricaners. Ich war noch nie in Mexiko oder Puerto Rico, und ich habe bislang auch nur wenige Menschen aus diesem Teil der Welt kennengelernt. Trotzdem konnte ich die Probleme und Gefühle, die sich in ihren Texten spiegelten, nachempfinden und eins zu eins auf meine Situation übertragen. So beschrieb der puerto-ricanische New Yorker zum Beispiel, wie sehr ihm die Oberflächlichkeit vieler Amerikaner auf die Nerven ging, wie ihn die Hektik der Metropole New York stresste, wie er sich nach Hause zurücksehnte. Dort wartete all das, was er in New York nicht hatte und nun schmerzlich vermisste: Familie, alte Freunde, Strand, schönes Wetter, puerto-ric0anisches Essen und Lebensgefühl. Doch jedes Mal, wenn er in seine erste Heimat flog, war er schon nach zwei Tagen fix und fertig. Ihn störte, wie ziellos und gleichgültig einige seiner Freunde in den Tag hinein lebten. Ihn störte die fehlende Privatsphäre im Haus seiner Familie. Aber am meisten störte ihn, dass viele Menschen immer wieder den gleichen korrupten Lokalpolitikern vertrauten. Das ist ja schrecklich hier, dachte er in solchen Momenten, hier ist auch kein Paradies, ich will wieder zurück nach New York, zurück in meine Wohnung, zurück zu meinen neuen Freunden, zurück in meinen geregelten Arbeitsalltag.

Inspiriert von diesen Geschichten, begann ich eine eigene kleine Exil-Theorie zu entwickeln: Wenn du unfreiwillig von Land »A« nach Land »B« umziehst – ob aus wirtschaftlicher Not, aufgrund von Krieg oder politischer Verfolgung –, befindest du dich im Exil. Zunächst stört dich vieles. Ständig vergleichst du »B« mit »A« – und »B« kann dabei nur verlieren. Doch mit der Zeit erkennst du auch die positiven Seiten deiner neuen Umgebung. Der Wunsch, »A« nie verlassen zu haben, verblasst. Denn hättest du »B« nie kennengelernt, fehlten dir wichtige Erfahrungen. Der Ortswechsel öffnet deine Augen für einen kritischen Blick auf »A«. Und nun steckst du in einem Dilemma. Dir wird bewusst, dass du weder in »A« noch in »B« hundertprozentig glücklich sein wirst. Am liebsten wäre dir eine »C«-Variante, die das Beste aus beiden Welten vereint. Aber die gibt es nicht. Also arrangierst du dich mit einem Leben zwischen oder in zwei Welten. Das schafft der eine besser, der andere schlechter.

Belgrad – die Stadt, in der ich aufgewachsen bin – ist für mich »A«. Nie werde ich das Datum vergessen, an dem ich Belgrad hinter mir lassen musste: 4. August 1991. Mit einer Verkehrsmaschine der jugoslawischen Airline JAT landete ich in der Stadt, die in den kommenden Jahren meine »B«-Heimat werden sollte: Düsseldorf. In Belgrad war kurz zuvor die Mobilmachung angekündigt worden. Junge Männer wie ich, die nach dem Abitur den einjährigen Militärdienst abgeleistet hatten, mussten sich in einer der Belgrader Kasernen melden. Dort erhielten wir komplette Militäruniformen und damit die Ansage: Haltet euch bereit!

Damals arbeitete ich als Kamera-Assistent in dem Belgrader Büro des kroatischen Fernsehens HTV. Auf täglich vier bis fünf Pressekonferenzen von Regierung, Politikern und Parteien erfuhr ich aus nächster Nähe, was in der Luft lag. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien brodelte, und die von einem Groß-Serbien träumenden Nationalisten hatten die Lunte fürs Feuer längst gelegt. Ich erlebte, wie Ministerpräsident Ante Marković zusammen mit seinem »Bund der Reformkräfte Jugoslawiens« versuchte, unseren Staat zu retten. Ich war dabei, als internationale Politiker wie US-Außenminister James Baker und sein italienischer Amtskollege Gianni de Michelis nach Belgrad kamen, um Serbiens Präsident Slobodan Milošević vom Kriegskurs abzubringen. Und ich erlebte, wie serbische Generäle nicht müde wurden zu erklären, Kroaten und Slowenen könnten sich auf etwas gefasst machen, falls sie sich für unabhängig erklären sollten. Dann werde es ernst, das würde man sich nicht gefallen lassen. Ich war mittendrin – und es war nicht schwer zu erahnen, in welche Richtung sich der Konflikt entwickeln würde. In Slowenien gab es erste Kämpfe und erste Tote; bis zur Eskalation war es nur noch eine Frage der Zeit. Gleichzeitig weigerte sich etwas in mir, den Ernst der Lage zu akzeptieren. Es konnte doch nicht sein, dass mein Land im Krieg versinken würde. Wieso sollte es plötzlich wichtig sein, ob man Serbe oder Kroate war? Ich war erschüttert, fühlte mich ohnmächtig.

Meine Mutter drängte mich, nach Deutschland zu gehen. Dort lebten ihre Cousine Sonja und ihr deutscher Mann Helmut.

»Was hast du schon zu verlieren«, sagte meine Mutter, »geh einfach zwei bis drei Monate dorthin und lerne ein bisschen Deutsch, das wird dir nicht schaden.«

Tante Sonja und Onkel Helmut wohnten in Recklinghausen. Ein Jahr zuvor hatte ich sie während einer Interrailtour besucht. Ihr Leben in einem Mittelschicht-Viertel mit gepflegten Einfamilienhäusern samt Garten war irgendwie ganz nett und sehr geordnet. Bei dieser Gelegenheit hatte ich mir auch noch Bochum, Düsseldorf und Köln angeschaut – und einen zwiespältigen Eindruck mit nach Hause genommen: Ein äußerst organisiertes Land, dieses Deutschland, mit viel Geld, aber für meinen Geschmack doch etwas zu langweilig und ordentlich. Vor allem Recklinghausen kam mir im Vergleich zur Millionen-Metropole Belgrad wie ein Dorf vor. Deshalb hielt sich meine Lust, nach Deutschland zu gehen, in Grenzen – trotz der desolaten Situation in Belgrad. Aber ich hatte keine Alternative. Wenn ich blieb, würde ich kämpfen müssen. Und ich wollte nicht kämpfen. Für niemanden. Für wen hätte einer wie ich auch an die Front gehen sollen? Ich war einer von ein paar Millionen Jugoslawen, die aus einer Mischehe stammen. Mischehe hieß im ehemaligen Jugoslawien nicht, dass der Vater männlich und die Mutter weiblich ist, sondern dass die Eltern unterschiedliche Volkszugehörigkeiten hatten. Bei mir: Vater – Serbe, Mutter – Kroatin. Solche Kategorien hatten mich nie interessiert, ich war als Jugoslawe erzogen worden, und als solcher fühlte ich mich auch. Wen sollte ich also umbringen? Zuerst meine Mutter? Oder zuerst meinen Vater? Obwohl ich den obligatorischen Militärdienst abgeleistet hatte, war ich Pazifist. Außerdem galt meine Sympathie am ehesten den Muslimen in Bosnien, die am wenigsten auf den kommenden Krieg vorbereitet waren  

Also kaufte ich schließlich ein Flugticket »Belgrad-Düsseldorf-Belgrad«. Den Rückflug musste ich innerhalb von drei Monaten antreten, solange durfte ich mich mit meinem jugoslawischen Pass als Tourist ohne Visum in Deutschland aufhalten.

Sonja und Helmut holten mich am Düsseldorfer Flughafen ab und wir fuhren nach Recklinghausen. Da war ich also wieder, in einem riesigen Haus mit Garten, Schwimmbad, drei Kindern, zwei Autos, Hund und Katze  Aus dieser friedlich-deutschen Idylle heraus verfolgte ich in den kommenden Wochen und Monaten, wie mein Land auseinanderbrach. Täglich telefonierte ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Boris, der noch zur Schule ging und zu jung für die Mobilmachung war. Drei Mal war die Militärpolizei in unserer Wohnung aufgetaucht und hatte nach mir gefragt. Ich sei zum Studieren im Ausland, hatten meine Eltern erklärt, aber sie hätten momentan keinen Kontakt zu mir.

Wäre ich damals in Belgrad geblieben, wäre ich womöglich in Vukovar ums Leben gekommen. Rund um diese ostkroatische Stadt nahe der serbischen Grenze fand eine der ersten großen Schlachten dieses Krieges statt. Vukovar wurde von der serbisch dominierten jugoslawischen Volksarmee belagert, unterstützt von serbischen Freischärlern. Dabei sind Hunderte ehemalige Grundwehrdienstleistende aus meiner Generation ums Leben gekommen. Es gab Gerüchte, dass die Armee dort bevorzugt Männer aus Mischehen und Angehörige von Minderheiten wie Roma und Albaner verheizte. Und dass ich aus einer gemischten Ehe stamme, konnte man sich leicht zusammenreimen, denn in meinem Personalausweis stand unter Geburtsort Zagreb, die Hauptstadt Kroatiens und Heimat meiner Mutter.

Die ersten Wochen und Monate in Deutschland waren furchtbar. Ich hatte ein glückliches Leben in Belgrad zurückgelassen: meine Familie, meine Freundin Vesna, mit der ich schon seit fünf Jahren zusammen war, meine Freunde, meine Band Amadis (wir hatten eine Platte bei einem Majorlabel herausgebracht und wollten gerade so richtig durchstarten) und meine Arbeit als Kamera-Assistent, die mir Spaß machte, mit der ich gut verdiente und viel herumkam. Dieses Rundum-Wohlfühl-Paket wollte ich zurückhaben. Doch die Botschaften meiner Eltern und Freunde aus der Heimat waren unmissverständlich: »Gut, dass du dort bist, hier ist es schlimm  und es wird noch schlimmer!« Sie rechneten damit, dass sich der Krieg auf Bosnien-Herzegowina und den Kosovo ausbreiten würde.

Ich aber war auf dem Nostalgietrip: In Belgrad ist alles schöner als in »Schrecklinghausen«. Dabei fehlte es mir bei Sonja und Helmut an nichts. Mein Cousin Boris, der damals auf einer Internatsschule war, hatte mir sogar erlaubt, mich in seinem Zimmer einzurichten. Trotzdem fühlte ich mich wie in einem Käfig. Manchmal passte ich auf meinen kleinen Cousin David und seine Schwester Meret auf oder ging mit dem Hund Blacky spazieren. Ansonsten dachte ich an Belgrad, schaute CNN, dachte an Belgrad, schaute CNN und dachte an Belgrad  Ich war wie gelähmt. Ich gehe ja sowieso bald wieder zurück – das war der alles bestimmende Gedanke, der mich gefangen nahm und davon abhielt, mich auf Deutschland einzulassen.

Es dauerte vier Jahre, bis ich Belgrad wiedersah. Ein Schock. Kaum angekommen, verflüchtigten sich die angestauten nostalgischen Erinnerungen innerhalb von vier Tagen. Mit jedem Schritt spürte ich: Das ist eine andere Stadt, das ist nicht mehr »mein« Belgrad. Wie war das möglich? Klar, ich hatte vier Jahre in Deutschland gefrühstückt, geatmet, gelebt – aber hatte mich der deutsche Alltag so stark verändert? Oder hatte sich meine Heimatstadt verändert? In Belgrad erschien mir alles dreckig, dunkel und verkommen. Und verglichen mit dem Geist, der nun herrschte, erschienen mir die nationalistischen Vorbeben, die ich noch miterlebt hatte, harmlos. Es kam mir vor, als wäre ein Haufen Scheiße an die Oberfläche geschwemmt und hätte alle wichtigen Institutionen des Landes überflutet. Der Präsident Slobodan Milošević hatte einen umfassenden Kontrollapparat installiert. Halbgebildete und Mafiagangster waren binnen kurzer Zeit zu Wortführern in Politik, Militär, Kultur und Medien aufgestiegen. Die wenigen kritischen Intellektuellen wurden überhört, zu Verrätern oder Spionen erklärt – oder hatten das Land verlassen. Über die Medien wurde den Menschen eine rosarote Glamourwelt vorgegaukelt. Viele waren sich gar nicht bewusst, dass Sarajevo und Dubrovnik bombardiert wurden, denn im Fernsehen sah man den ganzen Tag über nichts anderes als südamerikanische Daily Soaps und halb nackte, mit riesigen Silikonbrüsten bewaffnete Turbofolk-Sängerinnen. Turbofolk – das war ein Teil von Miloševićs Ablenkungsstrategie. Bis heute löst die billig produzierte Mischung aus Volksmusik, Schlager, Pop und Techno Brechreiz bei mir aus.2

Als ich nach den desillusionierenden Tagen in Belgrad wieder im Flugzeug nach Düsseldorf saß, dachte ich zum ersten Mal: Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass ich mir in Deutschland etwas aufgebaut habe – und freute mich seltsamerweise auf die Rückkehr.

Was war in meinem Exil-Leben passiert? Ich hatte eine französische Freundin, mit der ich zusammenwohnte. Ich sprach Deutsch – mit rollendem »rrr«, aber ziemlich fließend. Gemeinsam mit deutschen Musikern hatte ich die Funk-Rock-Band The Wrong Side gegründet. Und ich war Student an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dennoch: Diese plötzliche Verbundenheit mit Deutschland verwirrte mich, und ich brauchte eine ganze Weile, um mich neu zu finden. Weder wollte ich meine Kultur aufgeben und mich in einen Deutschen verwandeln, noch wollte ich dauerhaft zurück nach Belgrad. Ich schwebte irgendwie dazwischen, hatte in meinem Düsseldorfer Alltag sowohl mit Jugos und anderen Migranten als auch mit Deutschen zu tun. Anders als die meisten Gleichaltrigen mit exjugoslawischen Wurzeln in Deutschland war ich kein »Gastarbeiterkind«3. Aber was war ich dann? Und wie nannte man den Zustand, in dem ich mich befand? Schließlich gaben mir die Anglistik-Seminare etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Und so kam es, dass die Lebensgeschichte eines Puerto-Rico-New Yorkers einem Balkan-Düsseldorfer half, endlich Frieden mit seinem Leben im Exil zu schließen.

Heute, nach zwanzig Jahren in Deutschland, durchströmt mich immer noch ein tiefes Glücksgefühl, wenn ich in Richtung Belgrad einchecke: In ein paar Stunden treffe ich Verwandte, alte Freunde und Bekannte wieder. Und im Flugzeug bin ich dann voller aufgeregter Vorfreude. Vorfreude auf lange vermisste Theatervorstellungen und Konzerte in meiner Muttersprache. Vorfreude darauf, mich in einer Stadt zu bewegen, in der alle um mich herum meine Sprache sprechen. Vorfreude auf die schrägen Geschichten der Belgrader Taxifahrer. Auf leckere Balkan-Spezialitäten. Auf unplanbare, unkalkulierbare Tagesabläufe mit jeder Menge Überraschungen. Vorfreude auf all das, was mir nur Belgrad und der Balkan geben können. Doch schon kurz nach der Landung lauern die ersten Stolpersteine. Da ist zum Beispiel diese Grenzpolizistin, die sich per Handy über Kochrezepte austauscht und gleichzeitig, ohne Begrüßung und ohne aufzublicken, die Pässe der Ankommenden kontrolliert und stempelt. Herzlich willkommen auf dem Balkan! Sobald du etwas erledigen musst – ob auf der Bank, in der Post oder im Rathaus –, merkst du, dass die Situation noch chaotischer ist als im Sozialismus. Der eine sagt dies, der andere das, Kaffeepause hier, Kaffeepause da, keiner weiß so richtig Bescheid. Sogar für Kleinigkeiten brauchst du irgendeine Beziehung oder Geld zum Schmieren. Und wenn du niemanden kennst und kein Geld hast, stehst du eben dumm da.

Bei jedem Balkanbesuch stoße ich auf eine Menge Dinge, über die ich mich aufrege. Schön, dass ich hier war, denke ich nach einer Woche, aber nun reicht es. Und wenn ich dann wieder im Flugzeug Richtung Deutschland sitze, steigt exakt die gleiche Vorfreude in mir auf wie beim Hinflug. Ich freue mich auf das, was ich mir in Deutschland aufgebaut habe. Auf meine Familie, die ich hier gegründet habe. Auf meine Arbeit beim Radio. Auf meinen deutsch-balkanesischen Freundeskreis. Aufs Musikmachen. Ich freue mich auf genauso viele Dinge wie auf dem Hinflug. Zu Hause in Düsseldorf – da weiß ich, was mich erwartet; da kenne ich mittlerweile die verbindlichen Regeln, um dieses oder jenes Problem zu lösen.

Offenbar habe ich die heiß ersehnte Variante »C« meines kleinen Exil-Modells gefunden. Sie liegt weder in Belgrad noch in Düsseldorf, weder auf dem Balkan noch in Deutschland. Im Laufe der Jahre hat sie sich still und heimlich in meinem Alltag eingenistet, ist Teil meiner Persönlichkeit geworden. Etwas, das in mir schlummert. Nur im Flugzeug zwischen Deutschland und dem Balkan hat das »C« seinen großen Auftritt. Es kommt für zwei Stunden nach oben und manifestiert sich in purem Glück. Vielleicht kennt mich das Bordpersonal auf den Flügen Düsseldorf-Belgrad-Düsseldorf und Düsseldorf-Zagreb-Düsseldorf schon: Ich bin derjenige, der zwei Stunden lang versonnen lächelt, weil er sich darauf freut, heimzukommen!

Partisanen-Deutsch

Einmal habe ich aus Versehen ein neues deutsches Wort erfunden. Per SMS fragte ich einen deutschen Freund: »Bist du telefonierbar?« Er verstand sofort, dass ich wissen wollte, ob er gerade sprechen kann, und war begeistert von der neuen Wortkreation. Offenbar sind auch die deutsche Sprache und ich im Laufe der Jahre so etwas wie gute Freunde geworden. Als ich 1991 bei der Familie meiner Tante in Recklinghausen ankam, war daran überhaupt noch nicht zu denken  Wie wahrscheinlich viele Jugos fand auch ich Deutsch unheimlich hässlich. Und zwar – wie das bei Vorurteilen meistens so ist –, ohne dass ich bis dahin besonders oft Kontakt mit dieser Sprache gehabt hatte. Verantwortlich waren wohl die alten jugoslawischen Partisanen-Filme im Fernsehen, die wir als Kinder mit großen Augen verfolgt hatten. Dort hießen die Deutschen mit Vornamen »Hans« und mit Nachnamen »Schulz«. Und statt zu sprechen, schrie Hans Schulz Worte wie »Halt!«, »Schnell!« und »Achtung! Achtung!«. Das klang aggressiv und brutal – und alles andere als sexy. Kaum verwunderlich also, dass Deutsch vor meinem Zwangsexil die letzte Sprache war, die ich lernen wollte.

In Recklinghausen versuchte ich, meine Situation pragmatisch zu sehen. Ich lebte im Haus meiner Tante Sonja. Mit ihr sprach ich Serbisch4, mit Onkel Helmut und Cousin Boris Englisch und mit Cousine Meret und Cousin David ein Gemisch aus Englisch und Deutsch. Da mein Partisanen-Deutsch ziemlich begrenzt war, meldete ich mich bei der Volkshochschule an. »Deutsch – Grundstufe 1«. Zweimal wöchentlich. Der Deutschkurs war sogar in doppelter Hinsicht gut für mich, denn ich habe dort andere »Jugos in Deutschland« getroffen. Man könnte sogar sagen, meine deutsche Sozialisierung begann an der VHS Recklinghausen. Die Jugos stammten hauptsächlich aus Bosnien-Herzegowina und waren vor dem Krieg geflohen. Außerdem waren in dem Kurs noch eine Slowakin, die mit einem Engländer verheiratet war, ein Engländer, der mit einer Deutschen verheiratet war, sowie mehrere Polen und Türken. Natürlich kam ich am leichtesten mit den Jugos ins Gespräch. Bei manchen war es von Anfang an sehr entspannt, nach dem Motto »Hej, super, wir sind Landsleute«. Andere waren erst einmal vorsichtig, schließlich herrschte in unserer Heimat Krieg, und einige hatten wirklich Schlimmes erlebt. Wenn mich jemand fragte, woher ich käme, sagte ich: »Aus Belgrad.« Doch »aus Belgrad« kann alles heißen. Ich konnte genauso gut ein serbischer Nationalist oder Milošević-Fan sein wie jemand, der wegen Milošević das Land verlassen hat. Mit der Zeit wussten aber alle, dass meine Mutter Kroatin ist und ich in Zagreb geboren und sowieso alles andere als nationalistisch eingestellt war. Da die Jugos in meinem Kurs andere Jugos in Recklinghausen und Umgebung kannten, die wiederum welche kannten, trafen wir uns schon bald auch außerhalb des Unterrichts: meine erste kleine Jugo-Clique in Deutschland.

Nach drei Monaten stand fest, dass ich vorerst in Deutschland bleiben würde, und ich wechselte von der VHS Recklinghausen an die Uni Bochum. Mein Onkel Helmut, der dort Professor für Mathematik war, hatte herausgefunden, dass es beim AStA5 einen täglichen Intensivkurs Deutsch gab.

»Deutsch – Grundstufe 2«

Also fuhr ich jeden Morgen mit dem Zug nach Bochum. Und zwar gemeinsam mit Nenad – einem Mischehe-Freund aus Belgrad, der mittlerweile ebenfalls bei Sonja und Helmut Zuflucht gefunden hatte. Die beiden hätten damals wohl am liebsten alle Jugo-Pazifisten zu sich nach Recklinghausen geholt  

Da wir auch bei dem AStA-Kurs nicht die einzigen Jugos waren, wuchs unser Freundeskreis plötzlich rasant. Wir trafen uns zum Fußballspielen, guckten ab und zu gemeinsam Jugo-Filme (ohne Hans Schulz), feierten Geburtstage, oder wir spielten einfach Gitarre, sangen alte Lieder und erzählten uns gegenseitig Witze. Natürlich haben wir uns auch Gedanken über die aktuelle Lage im zerfallenen Jugoslawien gemacht: Wie ging es Eltern und Familie? Wie gefährlich war ihre Situation? Wie hatte sich der Alltag unserer Freunde in Sarajevo, Zagreb und Belgrad verändert?

Wir waren eine bunte Truppe von rund 15 Leuten, in der alle Regionen und Religionen des Landes vertreten waren: Teki aus Zagreb, Damir und Senida aus Sarajevo, Nebojša aus Karlovac, Ismail aus Zenica, Nenad aus Belgrad  Mit den meisten habe ich bis heute Kontakt, einige sehe ich sogar regelmäßig. Freundschaften fürs Leben.