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DIE WICHTIGSTEN BEZIEHUNGSTIPPS DES BRIGITTE-ERFOLGSKOLUMNISTEN

Was machen erfolgreiche Paare auf ihrem Weg zu einer harmonischen und langlebigen Beziehung richtig? Warum werden atemberaubende Romanzen nach der Hochzeit zu Schlachtfeldern? Seit mehr als zwanzig Jahren ist Oskar Holzberg Paartherapeut, seit mehr als zwanzig Jahren sieht er, was die Liebe zusammenhält – oder eben trennt. Dabei zeigen sich Muster, die vielen Menschen zu schaffen machen. Der Brigitte-Kolumnist hat sie zu ›Schlüsselsätzen der Liebe‹ pointiert und unterhaltsam zusammengefasst.
 
 
Oskar Holzberg, geboren 1953 studierte Psychologie und Germanistik in Hamburg. Er ist niedergelassener Psychotherapeut, Supervisor, Dozent und Autor. Die Paartherapie ist ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Seit 1984 schreibt er zu psychologischen Themen. Durch seine zahlreichen Zeitschriftenbeiträge gehört er zu den meistgelesenen Psychologen Deutschlands. Oskar Holzberg ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Hamburg

OSKAR HOLZBERG

SCHLÜSSELSÄTZE DER LIEBE

50 kluge Gedanken,
die Ihre Beziehung verbessern können

Plus 3 neue Brigitte-Kolumnen!

Welche Ungeheuerlichkeit, dass der Mensch allein nicht ein Ganzes ist. Max Frisch

VORWORT

Ich habe nicht beschlossen, dieses Buch zu schreiben, das klingt vielleicht seltsam. Aber dieses Buch ist tatsächlich »entstanden«. Fast jeden Tag treffe ich mich mit Paaren in meiner Praxis zur Paartherapie. Es ist ein besonderes Privileg, dabei zu sein, wie Liebespartner darum ringen, ein Paar zu bleiben. Wieder ein Paar zu werden. Oder überhaupt erst ein Paar zu werden. Mit der Zeit beginnt man als Therapeut, bestimmte Muster wahrzunehmen. Das ist ein gefährlicher Zeitpunkt, denn die Gefahr dabei ist, dass man dann vor lauter Mustern die Paare nicht mehr sieht. Obwohl ich also versuche, jedes Paar mit seinen ganz persönlichen Problemen zu betrachten, nehme ich gleichzeitig Strukturen ihres Miteinanders wahr, sie ploppen sozusagen automatisch in mir auf, wie Erinnerungsfenster auf dem Smartphone-Screen. Plopp: Dieser Mann unterscheidet nicht, dass er einerseits mit seiner Partnerin mitfühlen und gleichzeitig eine ganz andere Meinung zu ihrem Problem haben kann. Plopp: Diese Frau hat Angst vor Konflikten und glaubt, dass ihr Mann sie lieben wird, wenn sie nur lieb zu ihm ist. Plopp: Oh, dies war absehbar der absolut falsche Zeitpunkt für den Mann, seinen lustigen Spruch anzubringen, und er hat es nicht bemerkt! – Denken Sie sich das »Plopp« weg, denn glücklicherweise funktioniert mein Gehirn noch ohne akustische Signalmeldungen, und Sie haben eine Ahnung, was so nebenbei im Gehirn eines Psychotherapeuten vorgeht. Außer, dass ihm leider auch manchmal einfällt, dass er seine Stiefel vom Schuster abholen muss.

Ich lese relativ viel und gehöre einer Profession an, die unendlich viele Fortbildungen macht. Psychotherapeuten sind ständig auf Workshops, in Aus- und Weiterbildungen. Was Sinn macht, da es ja vermutlich kaum etwas Komplexeres und Vielschichtigeres als die menschliche Psyche gibt. Auch hier bin ich immer wieder auf Sätze gestoßen, die mich berührt haben und an denen ich mich orientierte. Sätze, die vieles auf den Punkt bringen, was ich zuvor irgendwie diffus schon gedacht hatte, und die mir helfen, Klarheit zu gewinnen.

Andererseits lese ich manchmal Bücher von vorne bis hinten durch und kann mich anschließend gar nicht mehr so recht erinnern, was ich denn jetzt gelernt habe, obwohl ich das halbe Buch mit Textliner markiert habe. Ich habe also eine gewisse Begeisterung für Zitate und kluge Sätze. Was nicht heißen soll, dass ein Satz, den ich für eine Offenbarung halte, nicht völlig trivial sein kann. Aber mich bringt er gerade weiter und hilft mir, meine Sicht der Welt etwas zu verändern.

So haben sich dann die in mir aufploppenden Einsichten mit Sätzen verbunden, die mir eingefallen sind oder die ich irgendwo gelesen oder gehört habe. Und ich landete bei »Lieb sein ist keine Liebe« oder »Humor ist nicht immer witzig«. Und von da war es nur noch ein kleiner Schritt, diese Sätze aufzuschreiben. Und so entstanden dann in Zusammenarbeit mit einer unterstützenden Redaktion die »Schlüsselsätze der Liebe« erst als Kolumne und letztlich als dieses Buch.

Neben den Schlüsselsätzen finden Sie in diesem Buch einige längere Texte zu wichtigen Aspekten einer Partnerschaft. Suchen sie in diesem Buch nicht nach der einen Wahrheit, der richtigen Antwort oder der besten Lösung. Ich glaube nicht, dass so etwas existiert. Dafür sind Liebesbeziehungen zu komplex. Sie werden nicht erfahren, wie Sie richtig lieben können. Sie werden auch nicht erfahren, wie Sie eine glückliche Beziehung führen können. Denn es gibt weder eine richtige Art zu lieben noch eine ewig glückliche Beziehung. Lieben bleibt eine Kunst.

Aber sie können Anregungen und Einsichten finden, die Ihnen helfen, Ihren Weg in Ihrer Liebesbeziehung leichter und besser zu finden. Wenn alles gut geht, irritiert und inspiriert Sie dieses Buch und verändert Ihre Sicht auf Beziehungen ein wenig. Sobald wir etwas anders sehen, ist es schon nicht mehr das Gleiche. Ich denke und hoffe, dass dieses Buch dazu beitragen kann.

I

WIDERSPRÜCHE

Die unerträgliche Unlösbarkeit des Paarseins

Im Vorübergehen las ich den Aufmacher einer Zeitung: »Zweckehe oder wahre Liebe?« Bei näherer Betrachtung ging es dabei um eine politische Koalition zwischen SPD und Grünen. Aber die Schlagzeile stammt aus unserem Beziehungserleben. Genau so denken wir. Wahre Liebe hui, Zweckehe pfui. Doch unsere ganz gewöhnliche Lebensgemeinschaft ist beides. Sie hat einen doppelten Charakter, sie ist einerseits Liebesbeziehung, andererseits Partnerschaft. Was sich heftig widerspricht. Wie sollen die wilde, ungezügelte leidenschaftliche Liebe und die ausgewogene, faire und aushandelnde Partnerschaft eins werden? Nachts fessele ich dich ans Bett. Und morgens erklärst du mir, dass ich dich nie wieder ans Bett fesseln darf, wenn ich nicht das Altglas wegbringe.

Und wie wollen wir eigentlich mein Bedürfnis nach persönlicher Selbstentfaltung und dein Bedürfnis nach persönlicher Selbstentfaltung gemeinsam und gleichzeitig in einer Neubauwohnung in Hamburg-Altona verwirklichen? Wenn ich dreimal die Woche zur Bandprobe gehe, dann ist das meine Lebensqualität, aber du vermisst mich. Du brauchst deine Puppensammlung und deine Freundinnen unbedingt um dich, aber ich werde dabei wahnsinnig. Wir wissen nicht, wie das gehen soll. Wir wissen nur, wie wir unsere Liebesbeziehung innerhalb von zwei Wochen zerlegen könnten. Wir könnten uns fragen: »Was müsste ich tun, damit unsere Beziehung mit Sicherheit so schnell wie möglich zu Ende geht?« Und dann genau das alles nicht tun. Ungefähr so funktioniert Beziehungsarbeit.

Eine Liebesbeziehung fühlt sich wie ein unlösbares Zen-Koan an. »Welchen Laut macht das Klatschen einer Hand?« erscheint leichter zu beantworten zu sein als »Wie werde ich in meiner Liebesbeziehung zufrieden?« Besonders heute. Denn wir haben gewaltige Ansprüche. Wir möchten unsere Wünsche wirklich alle erfüllt bekommen. Zu einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis. Wir leben im Gefühlsrausch glücklicher Konsumenten, die ein Recht auf Erfüllung zu haben glauben. Wir sind gar nicht so unzufrieden mit unserem Liebesleben. Wir sind unzufrieden, weil wir glauben, ein weitaus besseres finden und noch glücklicher leben zu können. Wir ruinieren unsere Beziehungen weniger durch Bindungsangst oder emotionales Analphabetentum als durch die fixe Idee, dass eigentlich eine viel großartigere Beziehung für uns irgendwo auf uns warten könnte.

Wir wollen das Unmögliche. Und das ist immer zu unterstützen, besonders in der Liebe. Denn wie Eugene O’Neill schrieb: »Wer nach Erreichbarem strebt, der soll verdammt sein, es zu bekommen.« Doch das Unmögliche ist nicht, sich den begehrtesten Junggesellen Hollywoods gleich von der Leinwand zu pflücken. Das Unmögliche ist eine ganz durchschnittliche, stinknormale langjährige Liebesbeziehung zu führen und dabei nicht an den eigenen unendlichen Ansprüchen zu scheitern. Ein Applaus für alle, denen dies gelingt!

In 92 Prozent aller untersuchten Gesellschaften wurden romantische Gefühle gefunden. Aber deswegen zu heiraten, wie wir es tun, ist verwegen. Dieses Ideal hat sich erst vor 200 Jahren in der Romantik entwickelt und nur in Europa als Reaktion auf die Verunsicherungen durch die Industrielle Revolution. Im Mittelalter zum Beispiel war ein Mann, der seine Frau wirklich liebte, eher Ziel von Hohn und Spott. Und Liebe als sexuelle Leidenschaft auszuleben, galt im 16. Jahrhundert als gefährlich und musste vermieden werden. Wir sind Gefangene unserer Zeit. Liebe ist immer auch Zeitgeschichte. Sie war und ist kein einfaches Gefühl. Liebe ist ein komplexes Erleben, das sich aus Vorstellungen, Wünschen, Emotionen und Fantasien zusammensetzt. Sind Bindung, Fürsorge und Sexualität die Elemente einer Liebesbeziehung? Oder Leidenschaft, Intimität und Verbindlichkeit? Wir können voller Schmerz und Trauer Liebe fühlen. Wir können in größter Freude Liebe fühlen. In rasender Leidenschaft, in stillem Mitgefühl. Das Gefühl an sich ist dabei nicht immer angenehm. Liebe hat dunkle Seiten. Liebeskummer, Betrug, Eifersucht, unerfüllte Sehnsucht, tiefe Einsamkeit. Verdammt, was ist Liebe und wie lebt man sie?

Wir können in anderen Kulturen sehen, dass es ganz andere Wege gibt, Liebe zu leben: Vielehen, arrangierte Ehen, institutionalisierte Geliebte. Aber ob dabei eine bessere Lösung gefunden wurde als unsere? Wir werden das nie wissen. Es ist auch unwichtig. Denn wir sind dabei, die falschen Fragen zu stellen. Wir wollen immer wissen, wie es geht. Wie es richtig geht. Wie die Lösung aussieht. Dass wir auf manche Fragen keine Antwort bekommen, finden wir unerträglich. Wir wollen nicht akzeptieren, dass keine Antwort zu finden auch eine Antwort ist. Und das dürfte ganz eindeutig eine Zeitkrankheit sein, die unser wissenschaftlicher Fortschritt mit sich bringt. Für jedes Problem finden wir eine Lösung. Gletscher schmelzen? Decken wir sie eben mit Folien zu. Wir pusten zu viel O2 in die Luft? Dann pressen wir es eben in die Erde. Wir wollen wissen, wie das Wetter am anderen Ende der Welt ist. Schalten wir unser Smartphone ein. Unsere Frau ist enttäuscht von uns. Tja, dann haben wir ein Problem. Oder wir suchen eine App. Die Meine-Frau-ist-enttäuscht-von-mir-App. Die App wird es bald geben, falls es sie nicht schon gibt. Aber die Antwort werden wir dort nicht finden. Die finden wir nur bei unserer Frau, mit unserer Frau. Im guten alten Miteinandersein, das so verdammt komplex und schwierig ist. Auf unserem eigenen Weg, der allein schon deshalb so holprig ist, weil was eben noch galt, jetzt schon wieder nicht zutrifft. »Man kann sich zwar aussuchen mit wem man lebt, aber nicht was aus ihm wird«, schreibt der amerikanische Schriftsteller David Vann. Das Leben ist eine Baustelle, wir spüren es nirgendwo mehr als in der Liebe. Wenn wir wirklich Jahrzehnte miteinander verbringen, leben wir nicht eine, sondern eine ganze Reihe von Beziehungen, und alle Lösungen, die wir miteinander gefunden haben, gelten dann wieder nicht mehr, und wir stehen immer wieder vor neuen Fragen.

Es geht also darum zu akzeptieren, dass es keine Antworten und keine Norm gibt. Wir haben die Wahl. Jedes Paar lebt anders. Das ist auch die Einsicht der Paarforschung. Jedes Paar wird auf seine Weise glücklich. Es gibt Paare, die leben vergnügt damit, gar keinen Sex zu haben, andere schlafen jeden Tag miteinander. Manche streiten von morgens bis abends. Andere kehren alles unter den Teppich. Der so groß sein muss wie drei Fußballfelder. Aber solange sie es gemeinsam tun, ist alles cool.

Unsere jahrzehntelange monogame Ehe ist nur eine mögliche Lebensform von vielen. Und das moderne Leben, die ungeheuren Zwänge zu Mobilität und Flexibilität, sprechen sowohl dafür, dieses Modell weiter zu vertreten, als auch dafür, sich schleunigst davon zu verabschieden. Die Lebensformen wandeln sich, brechen auf. Die serielle Monogamie ist längst Normalität, genau wie die Patchwork-Familie. Und weil ständig immer mehr Flexibilität von uns gefordert wird und wir bald mehr Zeit mit Facebook-Freunden als mit realen Freunden verbringen, brauchen wir die feste, vertraute Bindung zu einem geliebten Partner mehr denn je. Und weil immer mehr Flexibiliät gefordert ist und wir bald mehr Zeit mit unseren Facebook-Freunden als mit realen Freunden verbringen, ist eine feste, vertraute Bindung zu einem geliebten Menschen eine anachronistische Fessel, die uns nur behindert.

Wir Menschen sind flexibel. Und wo sich das gute Leben versteckt hält, muss jeder für sich herausfinden. Gerade jetzt, wo sich unsere Gesellschaft durch die neuen Technologien so dramatisch verändert. Diesmal verändert sich nicht, wie schnell wir von Stuttgart nach Ulm kommen, wie es der Otto-Motor tat. Diesmal verändert sich direkt, wie wir unsere Beziehungen leben. Wir haben keine Ahnung, was es mit uns machen wird, dass mit einem »Wisch« auf Tinder endlos neue Beziehungspartner auftauchen. Dass wir unsere Sehnsüchte nicht mehr aufsparen müssen, sondern den anderen ständig erreichen können. Dass wir immer mehr voneinander erfahren und uns bald lückenlos gegenseitig überwachen können. Dass jeder schon als Achtjähriger per Mausklick zwei Milliarden Sites zu Sex und Porno abrufen kann. Dass interkulturelle Paare die Regel werden. Und wir ständig den Herzschlag unseres Liebsten auf unserer Smart-Watch pulsieren sehen können. Und dass wir zu jedem Beziehungsproblem endlos Lösungen oder Ratschläge googlen können. Gerade das bringt mit sich, dass wir als Liebende letztlich immer unglücklicher miteinander werden. Denn wir vergleichen uns schon längst nicht mehr allein mit unseren Freunden Biggi und Olli, sondern mit der ganzen Welt. Wir bekommen das Gefühl zu versagen angesichts all der Beispiele von Paaren, die ihre Beziehungsprobleme gelöst zu haben scheinen, die happy Promi-Pärchen, die uns mit ihren gebleachten Zahnreihen anstrahlen. Und wir sind wieder so genervt voneinander, dass wir froh sind, wenn das Wochenende endlich vorbei ist, und wir wieder arbeiten gehen können. Ständig werden wir mit neuen Erkenntnissen über die Liebe konfrontiert und mit dem Druck, sie umzusetzen. Ein Forschungsergebnis besagt, dass in stabilen Beziehungen auf eine negative Interaktion fünf positive kommen – 1:5. Leicht zu merken. Aber zählen wir jetzt mit? Bekommt »gimme five« eine ganz neue Bedeutung? Geben wir fünf Streicheleinheiten vor und hauen unseren Partner dann einmal ganz gefahrlos so richtig in die Pfanne?

Oder: Verheiratete Menschen sind glücklicher als Nicht-Verheiratete. Aber was ist der Zusammenhang? Sollten wir deshalb unbedingt heiraten? Oder könnte es nicht auch sein, dass einfach niemand Bock hat, miesepetrige, unglückliche Menschen zu ehelichen? Die Liebe währt nicht ewig, weil wir begriffen haben, wie man den Liebes-Nippel durch die Lasche zieht. Aber es entsteht schnell der Eindruck, dass es einen richtigen Weg gibt. Und das macht uns dann endgültig unglücklich. Denn nun versuchen wir, es auch »richtig« zu machen, statt weiter unseren ganz eigenen Weg als Paar zu finden. Schlimmer ist aber noch, dass wir ja bislang nur alles falsch gemacht haben. Aber jetzt bekommen wir es nicht einmal mehr hin, es richtig zu machen!

Wenn wir für die Widersprüche und ständigen Veränderungen unseres Liebeslebens keine Lösungen finden können, was können wir dann machen? Vermutlich genau das, was wir tun. Immer weiter fragen, denken, endlos um dieses für unser Leben so wichtige Thema kreisen. Nur eben mit der Haltung, dass unser Suchen schon die Antwort ist. So entwickeln wir Schritt für Schritt eine Paarintelligenz, die uns hilft, unsere Liebesbeziehungen nicht nur zu überleben, sondern wirklich zu leben.

Die Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander haben in ihrem Buch »Die Analogie« Intelligenz als die Fähigkeit definiert, in einer Situation naheliegende Analogien zu finden, um den Wesenskern der neuen Situation zu erfassen. Wir benötigen Begriffe, Metaphern, Kategorien, um unser Erleben einordnen und darüber nachdenken zu können. Je mehr wir davon zur Verfügung haben, desto leichter sollte es uns fallen, uns zurechtzufinden. Solange wir nur die Gänseblümchen-Lösung der Neunjährigen kennen, sind wir verloren. Bei der Gänseblümchen-Lösung geschieht, was immer unser Partner tut, entweder weil er uns liebt, oder weil er uns nicht liebt. Er hört mir nicht zu: Er liebt mich nicht. Er gibt mir einen Kuss: Er liebt mich. Abends liegen die Gänseblümchen-Intelligenten im Bett und versuchen durch Zählen herauszufinden, ob ihre Beziehung noch gut ist.

Herzchen-Bettwäsche reicht eben nicht. Wir können unser Herz nicht nur fühlen lassen. Wir brauchen ein denkendes Herz. Auch wenn wir es als Verliebte genießen, wir sollten den Verstand in der Liebe nicht verlieren. Denn wir müssen lernen, ein Paar zu sein. Niemand geht beziehungsfähig in eine Liebesbeziehung. Wir werden es erst in der und durch die Beziehung. Wenn alles gut geht. Eine Liebesbeziehung wird nicht schwierig, weil wir blöd, unreif oder emotional unterbelichtet sind. Sie ist von Anfang an schwierig. Das Modell der Liebe, das unsere Kultur von uns fordert, ist keine durchdachte Lösung, sondern ein Rätsel, das uns mehr belastet als unsere persönlichen Defizite. »Die Verbindung von geistiger Liebe, frustrierter Sexualität und Ehe ist der besondere westliche Beitrag zur Evolution menschlicher Beziehungen«, spottete der amerikanische Psychologe Sam Keen.

Trotz oder wegen all dem: Wir leben vermutlich in den besten Beziehungen, die es je gegeben hat. Es mangelt uns nicht an Engagement und Hingabe. Aber wir werden schon allein deshalb keine Lösung finden, weil es kein Problem gibt. Probleme existieren nicht einfach. Sie sind unsere Sicht der Dinge, unsere Sicht auf unser Paar-Sein.

DIE LÖSUNG IST, DASS ES KEINE LÖSUNG GIBT

»Mensch, kannst du deine Schuhe nicht einmal ins Regal stellen statt sie mitten in den Flur zu knallen? Das kann doch nicht zu viel verlangt sein!« Petra, ein friedfertiger Mensch, gibt den unschuldigen Halbschuhen ihres Gemahls einen gezielten Karatekick und brüllt dabei das S-Wort. Petra, das wird klar, fühlt sich durch den unordentlichen Michael an ihrer Seite respektlos behandelt. Verständlicherweise. Sie möchte kein Generve mehr über zugemüllte Schubladen, unauffindbare Haushaltsscheren und marodierende Socken. Sie möchte für ihren Ordnungsstress endlich eine Lösung. Der neu angeschaffte Schuhschrank war keine. Denn den benutzt Michael natürlich auch nicht.

Wir verstehen Petra, aber wir müssen sie schwer enttäuschen. Denn sie wird keine Lösung finden. Einfach weil es keine Lösung gibt. Ein Chaot mutiert selbst im Angesicht des Scheidungsanwalts nicht zum Ordnungsfanatiker. Und Ordnung ist zwar das halbe Leben, aber wer sich einmal für die andere Hälfte entschieden hat, bleibt ihr treu.

Nicht jedes Problem hat eine Lösung. Ein ungewöhnlicher Gedanke. Wo wir doch heute immer lösungsorientiert denken sollen. Und jedes Haushaltsgerät Lösungen verspricht für Probleme, von denen wir nicht einmal wussten, dass es sie gibt. Rund 70 Prozent aller Probleme in einer Beziehung sind nach Dr. John Gottman, einem der führenden Paarforscher, unlösbar. Eine Zahl, die sich langsam herumspricht und zunächst wie eine Einladung zur Vollresignation klingt. Wenn sich 70 Prozent aller Konflikte ohnehin nicht lösen lassen, wozu streiten wir dann? Sollten wir schwierige Beziehungen also besser gleich aufgeben?

Tatsächlich ist es umgekehrt. Wir können Beziehungen erst sinnvoll führen, wenn wir verstehen, dass es für die meisten Konflikte in einer Partnerschaft keine Lösung gibt, die das Problem ein für alle Mal und einvernehmlich aus der Welt schafft. Sobald wir das akzeptiert haben, denken wir anders. Dann suchen wir Lösungen, um mit dem Problem leben zu können. Statt endlos um eine nicht erreichbare Einigkeit zu streiten, suchen wir nach Möglichkeiten, die unsere Unterschiedlichkeit respektiert. Eine Er-lösung! Wir können endlich weiterkommen.

Denn nun können Kruschelschubladen existieren, die ein ordentlicher Mensch nie haben würde, in die er aber alles werfen kann, was vom unordentlichen Partner in der Wohnung herumfliegt. Dann teilt man das gemeinsame Einkommen so auf, dass sich der sparsame Partner nicht ewig am konsumfreudigen reiben muss. Der Kampf um nicht erreichbare Lösungen ist wie Don Quichotes Kampf gegen die Windmühlen. Wenn wir ihn endlich aufgeben, werden gegenseitiges Verständnis und Kompromisse möglich. Weil wir jetzt unseren Partner nicht mehr dafür hassen, dass er die Lösung verhindert.

Bleibt noch die wichtigste Aufgabe: Zu erkennen, welche Probleme sich tatsächlich lösen lassen. Zumeist jene, bei denen Persönlichkeitsmerkmale keine Rolle spielen. Aber Vorsicht! Wenn er lieber einen Einkaufsplan hätte, sie das aber überflüssig findet, ist das sicher lösbar. Wenn aber hinter dieser harmlosen Differenz der Konflikt darüber lauert, wie spontan man in einer Partnerschaft sein muss, dann wissen wir jetzt, dass die Lösung wieder sein wird, dass es hierfür keine Lösung gibt.

DU KANNST ENTWEDER RECHT HABEN ODER VERHEIRATET SEIN

Die Neurowissenschaftler sagen uns, dass sich unser großes Gehirn nicht entwickelt hat, um mit einem Smartphone umgehen zu können, sondern um in den komplexen sozialen Beziehungen zu überleben, die der Homo sapiens eingeht. Das macht Sinn. Und deshalb ist es umso erschreckender, wie oft Paare schon an der Beziehungsregel Nummer 1 scheitern: In einer Beziehung kann niemand Recht haben.

»Und dann hast du mir Vorwürfe gemacht, dass ich wie immer zu viel Geld ausgebe, und …« Hendrik kann nicht mehr an sich halten. »Das ist überhaupt nicht wahr! Ich habe dir nur ganz genau vorgerechnet, wie viel Geld wir noch zur Verfügung haben. Und deutlich gesagt, dass wir sparen müssen. Das waren sachliche Aussagen und keine Vorwürfe! Das bringst du immer durcheinander!« Halt, Hendrik, halt! Wissen Sie, was gerade geschieht?

Hendrik fühlt sich zu Unrecht beschuldigt. Das möchte er deutlich machen. Das ist sein Recht, und es ist verständlich. Aber dabei verwandelt sich der Hendrik, der richtig verstanden werden möchte, auf wundersame Weise in einen Hendrik, der Recht haben will. Er bleibt nicht bei sich. Er attackiert Bettina. Er empfindet zwar, dass er sich nicht richtig gesehen fühlt. Aber viel deutlicher ist ihm, dass Bettina falschliegt. In seinem Erleben gibt es nur eine Wahrheit. Wenn er also Recht hat, dann muss Bettina Unrecht haben und falschliegen.

Je weniger in unserer Kindheit auf unsere Gefühle eingegangen wurde, desto stärker neigen wir zu Hendriks Verhalten. Ein autoritärer Vater, der nur sein Erleben gelten lässt. Eine Mutter, die ganz in den eigenen Bedürfnissen gefangen ist. Sie lassen uns früh das Falsche lernen: Dass es nur eine gültige Wirklichkeit gibt. Entweder deine oder meine. Aber niemals deine und meine.

Ein Paar, zwei Menschen, leben eine »doppelte Wirklichkeit«, wie es der Paarexperte Professor Lukas Möller nannte. Was Bettina erlebt, sind Vorwürfe. Auch wenn Hendrik es nicht so gemeint hat. Und selbst, wenn er es nicht so gesagt hat. Es ist Bettinas Erleben der Beziehung. Es ist, warum auch immer, ihre Wirklichkeit. Und Hendriks Erleben ist ein anderes. Wir sind immer zwei Herzen und zwei Seelen. Wir leben am selben Lebensfluss aber nicht am gleichen Ufer. Die Beziehungskunst besteht darin, Brücken über den Fluss zu bauen, und sich auf den Brücken zu treffen. Um von dort gemeinsam auf die Ufer, unsere beiden Wirklichkeiten, zu schauen.

Natürlich ist Istanbul nicht die Hauptstadt der Türkei. Aber selbst für eine Diskussion um Fakten gilt, dass es nie allein um die Inhaltsebene geht. Es geht auch immer um die Beziehungsebene: Wie fühle ich mich von dir behandelt? Und wie glaubst du mich zu behandeln? Was scheinst du in mir zu sehen? Und wen siehst du gerade in mir?

Wer versucht, in der Beziehung Recht zu haben, der bestimmt über die Wirklichkeit des anderen. Der Partner muss sich wehren oder er ordnet sich unter. Aber es gibt kein Paar auf Augenhöhe mehr. Wer Recht haben will, sollte nicht heiraten.

DICH BERUHIGT, WAS MICH BEUNRUHIGT

»Wir hatten so ein saublödes Wochenende«, sagt Gerd und schüttelt den Kopf. »Wir haben uns über unseren Zypernurlaub gefetzt. Dabei … also wir kommen dort spät an. Und Ulrike hat Angst, dass dann die Schalter schon alle geschlossen sind, und wir unser Mietauto nicht mehr bekommen.« »Und wir dann auch nicht mehr rechtzeitig ins Hotel kommen«, fällt sie ihm ins Wort. »Also wollte sie, dass ich das alles google. Ich fand das überflüssig, aber da hast du mich gleich angemacht, dass ich nie mal auf deine Bedürfnisse eingehe.« »Was? Du warst doch sofort aggressiv! Hast rumgebrüllt, dass du nicht dein Leben mit so einem Scheiß verbringen willst.« Gerd und Ulrike sind ratlos. Was hat sie so aufgebracht? Die Antwort ist Angst. Oder genauer: wie beide mit ihren Ängsten umgehen.

»Angst essen Seele auf«, sagt ein viel benutztes Zitat. Und unsere nahen Beziehungen, vor allem unsere Partnerschaft, schützen uns davor. Wir wissen, dass der andere für uns da ist, wenn wir ihn brauchen, und das beruhigt. Wenn wir eine OP vor uns haben, kann der Partner bei uns sein. Wenn uns die Zukunft ängstigt, können wir unsere Sorge mit ihm teilen. Auf einer gefährlichen Wanderung kann er uns beschützen.

Aber es wird schwierig für Paare, wenn die eigene Art, sich zu beruhigen, für den Partner eher beunruhigend ist. Wenn die Angststrategie eines Partners darin besteht, sich abzulenken, die des anderen aber, ausführlich über die Sorgen sprechen zu wollen. Wenn einer den pessimistischen Weg geht und sich das Schlimmste vorstellt, um dagegen gewappnet zu sein. Der andere aber den optimistischen Weg verfolgt, sich beruhigt, dass schon alles gut gehen wird und sich gar nicht damit beschäftigen mag, was alles schiefgehen könnte. Wenn einer auf die Angst zugehen, der andere aber ihr ausweichen will. Dann hindern sich Partner gegenseitig daran, innere Ruhe zu finden. Sie werden aufgeregt und versuchen aggressiv, sich gegenseitig zu stoppen.

Ulrike sucht Sicherheit, indem Sie alles genau durchdenken, planen und wissen will. Sie hat dann das beruhigende Gefühl, alles getan zu haben, was möglich ist. Gerd dagegen macht das eher unruhig. Er glaubt, dass man nie weiß, was noch alles dazwischenkommen kann und setzt darauf, dass er im Notfall schon eine Lösung finden wird. Wenn Ulrike ihn bittet, mit ihr zu planen, verweigert er sich und bekämpft ihren Weg, mit der Angst umzugehen.

Angststrategien sind meistens nicht bewusst, aber ständig im Einsatz. Ob wir nun unsicher sind, die richtige Entscheidung zu treffen, befürchten, nicht gemocht zu werden oder nur Sorge haben, zu spät zu kommen. Es ist für Paare hilfreich, sich gemeinsam bewusst zu machen, wie jeder mit Angst umgeht. Wir können uns gegenseitig dabei helfen, es zu erkennen. Und sobald wir unvermittelt in heftige Auseinandersetzungen geraten, dann lohnt es sich erst recht zu überprüfen, ob dich nicht gerade beunruhigt, was mich beruhigt.

HILFLOSIGKEIT KANN HELFEN

»Wie fühlen Sie sich?« »Ratlos«, sagt Claudia und schaut zu Boden. »Hilflos«, sagt Thomas. Tränen treten in seine Augen. »Das ist jetzt vermutlich nicht leicht zu hören«, sage ich, »aber Sie beginnen sich gerade im Tal der Verzweiflung zu treffen.« Sie sehen mich irritiert an, voller Schmerz, wie ihn Paare erleben, wenn sie einander verloren haben. Claudias Eltern hatten sich getrennt, als sie acht Jahre alt war, Thomas’ Eltern eine entleerte Ehe geführt, die er um keinen Preis wiederholen wollte. Als sie sich kennen lernten, waren sie kostbar und besonders füreinander, und nach einigen gescheiterten Beziehungen haben beide entschieden zusammenzubleiben. Eine Familie zu haben, bedeutete ihnen mehr als alles andere im Leben. Doch wie in jeder Beziehung wurde schwer, was vorher leicht war. Zunächst richteten sie sich damit auf, dass durch Kinder alles schwieriger wird. Aber irgendwann waren sie einsam und enttäuscht voneinander, von ersten Affären bedroht. Und so sitzen sie jetzt vor mir. Und können ihren gemeinsamen Weg nicht mehr sehen.

In schwierigen Zeiten können sich Paare nicht mehr auf den Gipfeln des Glücks treffen. Sobald sie es versuchen, stürzen sie ab. Sie fühlen sich unverstanden, nicht geliebt und begehrt. Unsicher miteinander. Jeder erregtere Tonfall, jede unachtsame Geste, jedes unbedachte Wort führen zum Konflikt und verstellen den Weg zu guten Gefühlen. Zwar wissen oder ahnen sie, dass auch ihr Partner tief unglücklich ist. Aber dass auch das Unglück zu zweit verbindet, gehört nicht zu unseren Vorstellungen von der Liebe.

Dabei können wir uns ja immer nur dort treffen, wo wir sind. Und in schweren Zeiten sind wir im Tal der Tränen und Verzweiflung. Doch uns so hoffnungslos zu zeigen, macht Angst. Wir wollen unsere wankende Beziehung nicht noch weiter belasten, unseren Partner nicht noch tiefer frustrieren, wenn er hört, wie unglücklich wir mit ihm sind. Er könnte resignieren und die Beziehung ganz aufgeben. Wo wir uns ohnehin schon so alleingelassen fühlen, fällt es uns noch schwerer, uns hilflos zu zeigen. Ja, wir weinen, wir streiten, aber wir geben nicht auf. Wir glauben immer noch zu wissen, was anders sein müsste, wie unser Partner sich verändern müsste.

Wenn wir hilflos sind, dann fühlen wir uns klein. Hilflosigkeit gehört zum Kindsein wie der Daumen im Mund und auf Mamas Schoß sitzen. Schlimm war es, wenn unsere Eltern nicht für uns da waren. Genauso wie jetzt unser Partner. Unbewusst versuchen wir dann das Gleiche wie damals: lieb und artig sein, trotzen, uns verstecken, becircen, abhauen oder kämpfen.

Wenn wir aber wieder zueinander finden wollen, bleibt uns nur der Weg aufzugeben. Wir können das nur, wenn wir das Risiko eingehen, unseren Schmerz, unsere Ratlosigkeit ehrlich miteinander zu teilen. Nicht als klagendes Opfer. Nicht beschuldigend anklagend. Thomas und Claudia lagen irgendwann heulend im Bett. Aneinander geklammert wie zwei Ertrinkende. Aber sie begannen einander wieder zu spüren, hatten Nähe, weil sie ihre Empfindungen miteinander teilten. Durch ihre Offenheit konnten sie einander wieder vertrauen. Zwei Einsame können sich immer treffen. Denn Liebe ist manchmal auch das gemeinsame Unglück zu zweit.

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