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BERNARD MARIS

Michel Houellebecq,
Ökonom

Eine Poetik
am Ende des Kapitalismus

Aus dem Französischen
von Bernd Wilczek

 

 

»Wir müssen dafür kämpfen,

Die Ökonomie zu beaufsichtigen, sie gewissen Kriterien zu unterstellen, die

Ich ›ethisch‹ zu nennen wagen möchte.«

 

(Michel Houellebecq, »Letztes Bollwerk gegen den Liberalismus«, in: Der Sinn des Kampfes)

 

 

»Der Verfasser dieser Essays hofft und glaubt weiterhin, dass der Tag nicht fern ist, an dem das ökonomische Problem in die hinteren Ränge verbannt werden wird, dorthin, wohin es gehört.«

 

(John Maynard Keynes, Essays in Persuasion)

 

 

PROLOG

Wer wird sich schon an die Ökonomen erinnern?

 

 

»Ich habe noch nie was von Wirtschaft verstanden.«

 

(Michel Houellebecq, Plattform)

 

 

»Berücksichtigt man die außergewöhnliche, ja beschämende Durchschnittlichkeit der ›Humanwissenschaften‹ des 20. Jahrhunderts …«

 

(Michel Houellebecq, »Dem 20. Jahrhundert entwachsen«, in: Ich habe einen Traum)

 

 

Als »Sekte« verhöhnte man zu Zeiten Ludwigs XV. die Ökonomen1 und deren verschlungene Gedankengänge. Dieser Begriff ist außerordentlich treffend: Es handelte sich von Anfang an um eine Sekte, die immer und immer wieder dieselben hermetischen und verschwommenen Phrasen wiederkäut. Man respektiert sie, weil man nichts von alldem versteht. Die Sekte huldigt schwer verständlichen Wörtern, abstrakten Begriffen und Zahlen. Ihre Widersprüche nimmt man anstandslos hin.

Nie zuvor war die Wirtschaft so allgegenwärtig wie zu unserer Zeit. Sie scheut nicht nur das Schweigen und verschafft sich in der Hintergrundmusik der Supermärkte oder im Lärm der nicht enden wollenden Prozession der Autos penetrant Gehör, sie erlegt sich auch bei den abgedroschenen Gassenhauern von Wachstum, Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsfähigkeit oder Globalisierung keinerlei Zurückhaltung mehr auf. Dem gregorianischen Gesang der Börse – die Kurse steigen, die Kurse fallen – antwortet der Chor der Experten: Beschäftigung, Krise, Wachstum, Beschäftigung. Als »dismal science« bezeichnete Carlyle2 einst die politische Ökonomie. Düstere Wissenschaft. Die teuflische und finstere Ökonomie ist die Asche, mit der unser Zeitalter sein trauriges Antlitz überdeckt.

Wer wird sich in Zukunft schon noch an die Wirtschaft und deren Priester, die Ökonomen, erinnern?

In ein paar Jahrzehnten, einem Jahrhundert, vielleicht auch früher, wird man sich wundern, dass eine Zivilisation einem Fach so viel Bedeutung beimessen konnte, das nicht nur nichtssagend, sondern auch noch furchtbar langweilig ist. Dasselbe gilt für dessen Anhänger, Experten und Journalisten, Schreiberlinge, Hetzer, Sachwalter und Diskutanten des Für und Widers (oder, wo nötig, des Gegenteils davon). Ökonom ist derjenige, der stets in der Lage ist, ex post zu erklären, warum er sich einmal mehr geirrt hat.

Die Wirtschaftswissenschaft, die als Fach mit einer Wissenschaft lediglich den Namen teilt und mit der Rationalität lediglich deren Widersprüche, wird sich einst als unglaubwürdige ideologische Scharlatanerie offenbart haben, die zugleich auch als Moral einer Epoche diente. Sie verstehen nichts davon? Seien Sie unbesorgt: Es gibt nichts, was es zu verstehen gäbe. Denn mit der Wirtschaft verhält es sich nicht anders als mit den prächtigen Kleidern, mit denen der nackte Körper des Kaisers angeblich bekleidet ist. Dass man mit einem internationalen Preis, der von denen, die seinen Namen in Beschlag genommen haben – selbstdarstellerische Banker, die als Stifter für den Preis auftraten –, »Nobel« getauft wurde, Erforscher von Hirngespinsten3 für mit Gleichungen aufpoliertes Geschwätz auszeichnet, wird eines Tages ebenso absonderlich oder kurios erscheinen wie das Verzeichnen des Rekords im Öffnen von Bierdosen mit bloßen Zähnen in einem Buch, das in mehr als zweihundert Sprachen übersetzt wird. Die Wirtschaftsbücher werden dann nicht einmal mehr die nagende Kritik der Mäuse verdienen.

Die Kasuisten dagegen hat niemand vergessen. Hätte Pascal nicht Les Provinciales, diesen zugleich schwungvollen und leidenschaftlichen Text, geschrieben, wer würde sich dann noch an die Kasuisten erinnern? Mir liegt der Gedanke fern, die spitzfindigen Jesuiten mit den Wirtschaftswissenschaftlern zu vergleichen – der heilige Ignatius von Loyola war schließlich ein ganz anderes Kaliber als Walras! –, doch ohne das Werk von Michel Houellebecq würde sich niemand mehr an die Wirtschaft und jene merkwürdigen Kasuisten erinnern, die die Wirtschaftswissenschaftler einmal gewesen sein werden.

Für die Entstehung der vorliegenden Schrift gibt es zwei Gründe und einen Anlass.

Der weniger wichtige Grund ist: Wie Pascal es für eine andere schädliche und renitente Teufelsbrut getan hat, bewahrt Houellebecq die Ökonomen vor ihrer Nichtigkeit und verschafft ihnen so viel Zeit, wie sein Werk dauert. Er glaubt daran, dass es von Dauer ist. Und er hat recht. Seine Geltung wird die Ideologie der Konkurrenz ebenso fortbestehen lassen wie diejenige des Werkes von Homer die Schlachtgeräusche vor den Mauern Trojas bis heute überdauern ließ. Houellebecq erwähnt Marx, Malthus, Schumpeter, Smith, Marshall, Keynes und andere. Er erzählt von Wettbewerb, von schöpferischer Zerstörung, Produktivität, parasitärer und nützlicher Arbeit, Geld und vielem anderen mehr, und er erzählt auf bessere Weise davon als die Ökonomen, denn er ist Schriftsteller.

Alle Schriftsteller, die diesen Namen verdienen, sind bessere Psychologen als Freud, der durchaus schreiben konnte, und bessere Soziologen als Bourdieu, der es nicht konnte. Von den Philosophen gar nicht erst zu reden: Kein Philosoph kann für sich beanspruchen, auch nur einen Bruchteil der Wahrheit zu erreichen, die ein großer Roman enthält – eine Tatsache, der auch kein aufrichtiger Philosoph ernsthaft widersprechen würde. Als ein Beispiel unter Tausenden mögen in diesem Zusammenhang die Höflichkeiten dienen, die der nicht ohne Weiteres verständliche Deleuze in Bezug auf Kafka äußert. D’Artagnan, den mittelmäßigen Musketier der königlichen Garde, wird es ebenso lange geben, wie es Die drei Musketiere gibt, den Großinquisitor so lange wie Die Brüder Karamasow und Joseph Alois Schumpeter, den miserablen Finanzminister und schwammigen Theoretiker der Innovation, so lange wie Karte und Gebiet.

Der wichtigere Grund ist zugleich auch der noblere. Bei Schriftstellern, und insbesondere bei Romanautoren, suchen wir immer ein Stückchen Wahrheit dieser Welt, in die wir geworfen sind und die uns ängstigt. Sie besitzen die Fähigkeit, von Tod, Liebe und Unglück zu erzählen – seltener vom Glück, das die Ökonomen mit dem BIP quantifizieren möchten, während die Anti-Ökonomen eine Anti-Quantifizierung nahelegen.4

Was abstruse Ökonomen und Psychologen vergeblich aus unserem Leben herauszuziehen suchen, um es uns dann, mit massenweise Theorien und Zahlen versehen, wieder aufzutischen, wenn sie in Rundfunk- oder Fernsehdiskussionen ausgiebig das wiederkäuen, was mit Asche vermischten Sägespänen ähnelt, das bietet uns Houellebecq in der delikaten Form eines Romans oder Gedichts an. Jedes seiner Werke filtert und reinigt Tonnen von Papier Tausender »wissenschaftlicher« Bibliotheken.

Ich kenne nur Michel Houellebecqs Bücher. Aber ich habe gehört, dass er etwas von Informatik, Logik und Naturwissenschaften versteht. Seine Werke sind voller Bezüge zum akademisch-universitären Bereich. Als Informatiker ist ihm ein Algorithmus, der per Definition mit dem Begriff des »Optimums« (Effizienz, efficiency, wie es im Englischen heißt) verbunden ist, den die Ökonomen so sehr lieben, keineswegs gleichgültig; es ist völlig normal, dass der Hyperrationalismus der Wirtschaft und die ihrem allgegenwärtigen Gesetz von Angebot und Nachfrage eigene bipolare Betrachtungsweise der Dinge (»Der Preis steigt? Ich möchte weniger davon. Er fällt? Ich möchte mehr davon!«) ihm was sagen, wie es auf der Straße so schön heißt.

Um das Leben zu verstehen, entziehen ihm die Wirtschaftswissenschaftler im Namen des rationalen Verhaltens fortwährend das Salz, die Liebe, das Begehren, die Gewalt, die Angst, den Schrecken. Um es zu zerstören, treiben sie ihm das Gefühl aus, das »die Kausalkette außer Kraft [setzt]«.5

Sie haben eine Ökonomie des Verbrechens errichtet, in der Banditen ihr kriminelles Verhalten und die von ihnen eingegangenen Risiken mit mutmaßlichen Strafen und künftiger Beute begründen. Sie haben eine Theorie der optimalen Kinderzahl ersonnen, nach der Familien die Wahl haben zwischen wenigen Kindern guter Qualität und vielen Kindern schlechter Qualität. (Das ist kein Scherz: Gary Becker, der Trottel, der sich dieses Hirngespinst ausgedacht hat, hat sogar den Nobelpreis bekommen.)

Selbst der Tod muss es mit der Angst zu tun bekommen haben, als Gérard Debreu, ebenfalls ein Nobelpreisträger, erklärte, dass eine der großen Fragen der Gesellschaften die Lebensdauer der ganz Alten sei: Sollte man ihnen früher den Stecker ziehen, um die Sozialsysteme zu entlasten, oder sollte man sie um jeden Preis dem Siechtum überlassen, um Arbeitsplätze für Seniorenwindelwechsler zu schaffen? Das gelte es abzuwägen 

Ein dritter Starökonom und wohl auch zukünftiger Nobelpreisträger (Larry Summers) stellte auf genau derselben Grundlage fest, dass es besser sei, die Verschmutzung etwa in Form von Giftmüll aus den Ländern der nördlichen Hemisphäre in solche der südlichen Hemisphäre, insbesondere nach Afrika, zu exportieren und die – eher schwarze und schlecht bezahlte – Urbevölkerung daran zugrundegehen zu lassen, als den Giftmüll im Norden zu behalten, wo die – eher weiße und gut bezahlte – heimische Bevölkerung daran sterbe. Im Hinblick auf das Welteinkommen würde die Menschheit davon sehr profitieren.

Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen. Manche Wirtschaftswissenschaftler sind der Meinung, dass der Sklavenmarkt im Süden der Vereinigten Staaten im Interesse der Werterhaltung schonender mit den menschlichen Ressourcen umgegangen sei, als dies in den Konzentrationslagern der Fall gewesen sei. Die Ökonomie zeichnet sich durch ein gewisses Maß an schwarzem Humor aus. Wenn man etwa zum Zeitpunkt der Neujahrsansprache des französischen Präsidenten und anlässlich der »Umkehrung der Arbeitslosenkurve« erfährt, dass die dreihundert reichsten Menschen der Welt innerhalb eines Jahres fünfhundertdreißig Milliarden Dollar mehr Gewinn eingefahren haben, dann ist das einigermaßen amüsant. Die Ökonomie gehört in den Bereich des zynischen Humors. An Humor mangelt es Michel Houellebecq nie – ebenso wenig wie Céline –, an Zynismus hingegen gänzlich – ganz im Gegensatz zu Céline.

Für die Anspielungen auf die Wirtschaft im Werk Houellebecqs trifft das Attribut »grau«, das seinem Humor zugeschrieben wurde,6 zweifellos ebenso zu.

Seit Adam leidet der Mensch. Die sozio-psychologisch-philosophischen und jetzt auch ökonomischen Überlegungen, die die leidende Menschheit umkreisen wie Fliegen den künftigen Kadaver, mussten großen Schriftstellern aufstoßen. Niemand sollte den Menschen im Angesicht des Todes so treffend beschreiben wie Tolstoi in Der Tod des Iwan Iljitsch, die Liebe so wie Madame de La Fayette mit Die Prinzessin von Clèves, den Hass so wie Céline oder den melancholischen Schrecken vor der vergehenden Zeit so wie Marcel Proust und Michel Houellebecq. »Es hat keinen Zweck, nicht zu leben, man kommt doch in die Jahre«,7 würde Michel dem geschätzten Marcel sagen. Doch soweit ich es einzuschätzen vermag, ist es bisher noch keinem Schriftsteller gelungen, das ökonomische Unbehagen, das unser Zeitalter vergiftet, so exakt zu erfassen, wie es Michel Houellebecq gelungen ist.8

Zugegeben, es gibt Balzacs Verlorene Illusionen, Zolas Das Geld, Maupassants Bel-Ami und sogar Camus’ Der erste Mensch, der mit einem »Raubmord« beginnt. Genau genommen kann man auf alle großen Romane verweisen. Sobald es um Ehrgeiz, Grausamkeit, Egoismus geht, sind Verbrechen und Liebesgegurre immer mit Leidenschaft, Geld, Erfolg oder Absturz vermischt. Doch niemand hat bisher jene unterschwelligen ökonomischen Töne eingefangen, jene Hintergrundmusik der Supermärkte, die mit ihren ebenso quälenden wie eintönigen Noten unser Leben verschmutzt, jene Ohrgeräusche des quantifizierenden Denkens – Geschäftsführung, Management, Anlage, Rente, Versicherung, Wachstum, Beschäftigung, BIP, Konkurrenz, Werbung, Wettbewerbsfähigkeit, Handel, Export et cetera –, die Tropfen für Tropfen auf unseren Kopf herunterfallen und so sehr an unserem Gehirn nagen, dass wir daran verrückt werden. Denn (so Houellebecqs Hypothese) unser Zeitalter ist besessen von dem Bestreben, das zu verschleiern, was die Menschen gequält hat und sie noch so lange quälen wird, bis sie verschwunden sind: die Liebe und den Tod.

Man sollte sich nicht vom Titel dieses Buches in die Irre leiten lassen! Aus Houellebecq einen Ökonomen machen zu wollen wäre ebenso unpassend, wie Balzac mit einem Verhaltenspsychologen gleichzusetzen.

Auch würde ich nur höchst ungern die Führungskraft, jene bemitleidenswerte Führungskraft, die der houellebecqsche Protagonist schlechthin ist, durch eine oberflächliche Etikettierung von der Lektüre des bedeutendsten französischen Schriftstellers unserer Zeit abhalten wollen, sollte jener leitende Angestellte denn zufälligerweise bereit sein, seinen Blick von den Excel-Tabellen abzuwenden, die er sich selbst noch im Ehebett ansieht, während seine Frau neben ihm von ihrem Liebhaber träumt … Ebenso wenig würde ich behaupten wollen, man könne durch die Lektüre von Houellebecq die Wirtschaft verstehen.

Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es da nichts, aber auch rein gar nichts zu verstehen gibt – ich muss das wiederholen – und dass ein Roman oder ein Gedicht der Ausdruck des Anti-Ökonomischen selbst sind. Nichts anderes. So wie Sie bei der Lektüre von Kafka verstehen, dass die Welt ein Gefängnis ist, und bei der von Orwell, dass die Nahrung, die darin verabreicht wird, die Lüge ist, werden Sie, wenn Sie die ökonomischen Aspekte im Werk von Michel Houellebecq erfassen, die ich offenlegen werde, verstehen, dass der Leim, der Ihre Schritte verlangsamt, der Sie erschlaffen lässt, der Sie daran hindert, sich zu bewegen, Sie so traurig macht und eine so klägliche Figur abgeben lässt, ökonomischer Natur ist. Über den Umweg eines Gedichts beschrieb Rimbaud den Terror der Ökonomie,9 und Viviane Forrester hat daraus ein den Intellektuellen verhasstes (was immer ein gutes Zeichen ist!), sehr schönes Buch gemacht. Und Sie werden fürderhin an Michel Houellebecq zu schätzen wissen – das werden Sie inzwischen begriffen haben –, dass er Sie gegen die Wirtschaft impft.