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Naomi J. Williams

DIE LETZTEN

ENTDECKER

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Monika Köpfer
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Im Gedenken an meine Großmutter Kimi Kawabata,
die genau wie ich von Landkarten fasziniert war.

Wir sprechen von einem guten Landfall, wenn wir den vorgesehenen Steuerungspunkt genau nach unseren Berechnungen erreichen, andernfalls handelt es sich um einen schlechten Landfall.

Kapitän John Smith, A Sea Grammar (1627)

 

* * *

 

Jubel fasst die Inlandseele

Wenn in Richtung Meer sie reist 

Haus und Kap 

Verschwinden hinten 

Vorwärts in die Ewigkeit 

Ob der Seemann, berggeboren

Wie wir selber, je verstand

Diese göttliche Vergiftung

Eine Meile weg vom Land?

Emily Dickinson, »Exultation is the going / Jubel fasst die Inlandseele«

 

* * *

 

Ein Mann findet seine Schiffswracks,

erzählt sich die dazugehörigen Geschichten.

Stephen Dunn, »Odysseus’s Secrets«,
in: Different Hours

PROLOG

KOMBÜSENHERDE

Hafen von Brest, Frühjahr 1785

Als die neuen Kombüsenherde eintrafen, wusste zunächst niemand, worum es sich handelte. Es waren zwei – für jedes Schiff einer –, und sie wurden mit Booten angeliefert, zuerst der für die Boussole und dann der für die Astrolabe. Nachdem man sie in ihre sperrigen Einzelteile zerlegt hatte, wurden sie unter der Aufsicht eines unflätigen Werftschlossers an Bord verfrachtet, der die Aufgabe hatte, sie einzubauen.

»Was ist das denn?«, fragten die Männer beim Nahen der Boote und rätselten noch immer, während sie die schweren Eisenteile an Bord hievten.

Abgesehen davon hatten sie noch weitere Fragen, Fragen, die nach wie vor einer Antwort harrten: Wohin ging die Expedition? Was war ihr Zweck? Und wie lange würde sie dauern? Aber diesmal rief der Kapitän der Boussole, Jean-François de Galaup de Lapérouse, vom Achterdeck herunter: »Das ist ein englischer Kombüsenherd. Ein Geschenk vom Marineminister.« Als die Männer murrten, wozu man neuerdings englische Vorrichtungen an Bord brauche, lachte er und wies dann den Zimmermannsmeister an, den Einbau des Herds zu überwachen. »Sorgen Sie dafür, dass dieser Schlosser mein Schiff nicht demoliert«, sagte er.

Der Kapitän der Astrolabe, Paul-Antoine-Marie Fleuriot, Vicomte de Langle, lachte indessen nicht. Er stieg vom Achterdeck herab, bedeutete seinem Zimmermannsmeister wortlos, mit ihm zu kommen, ehe er dem Schlosser und dem zerlegten Herd auf ihrem mühsamen Weg nach unten folgte. Zwei Stunden lang ertrug er das mit Schimpfwörtern gewürzte Herumgestümpere des Schlossers, ehe er ihn schließlich fortschickte und die restlichen Arbeiten selbst beaufsichtigte.

Nur wenige Monate zuvor waren die Boussole und die Astrolabe noch einfache Frachtschiffe gewesen und hatten Bauholz oder Tauwerk zwischen den Atlantikhäfen hin- und hertransportiert. Nachdem man sie für die geheimnisvolle Expedition ausgewählt hatte, waren sie zu Fregatten umklassifiziert worden und hatten neue, respektablere Namen erhalten. Doch da sie nach wie vor die Maße von Frachtschiffen hatten, waren die englischen Herde, die zweifelsohne für Linienschiffe entworfen worden waren, eigentlich zu groß für die Kombüsen. Auf beiden Schiffen fluchten die Männer, wann immer sie Zehen oder Knie oder Stirn an Eisenfüßen oder Türen oder Griffen anstießen.

Gern hätten sie dem Schlosser die Schuld in die Schuhe geschoben, doch der Zimmermannsmeister auf der Astrolabe erinnerte seine Kameraden, dass sie es vielmehr dem Marineminister zu verdanken hätten, der von seinem komfortablen, luxuriösen Amtssitz Hôtel de la Marine in Paris aus zwei Herde habe anschaffen lassen, die er selbst nie zu Gesicht bekommen habe, und zwar für zwei Schiffe, die er ebenfalls nie zu Gesicht bekommen habe. Einige der Zimmerleute gaben sich mit dieser Einschätzung zufrieden – sie sahen lieber in einem weit entfernt residierenden Adligen den Sündenbock anstatt in einem einheimischen Handwerker. Andere wiederum waren enttäuscht, hatten sie sich doch schon darauf gefreut, bei ihrem nächsten Landurlaub mächtig über den Schlosser herzuziehen.

Der Zimmermannsmeister auf der Boussole, ein analytisch denkender Mensch, fügte hinzu, die Herde seien ein Beweis für die Wichtigkeit der Expedition. »Je weiter weg derjenige, der die Entscheidungen trifft«, sagte er, »desto größer die Mission.« Dieser Gedanke beeindruckte einige seiner Schiffskameraden, und sie malten sich eine lange Reise aus, verbunden mit Abenteuern, einer Beförderung und einem Haufen Geld – anderen hingegen wurde es mulmig zumute: Obwohl sie von den gleichen Dingen träumten, waren ihnen Expeditionen lieber, von denen man nach nicht allzu langer Abwesenheit wieder sicher nach Hause zurückkehrte.

»Vielleicht ist wieder Krieg«, meinte einer von ihnen.

»Gegen wen denn?«, fragte ein anderer.

»Spielt das eine Rolle?«

»Das sind doch keine Kriegsschiffe.«

»Jedes Schiff der Königlichen Marine ist in Kriegszeiten ein Kriegsschiff.«

»Wir befinden uns aber nicht in Kriegszeiten.«

»Vielleicht werden wir das aber bald, das will ich damit sagen.«

Monsieur de Lapérouse, der diesen Wortwechsel zufälligerweise mitbekommen hatte, stellte sich vor die Männer hin, an deren Namen er sich nicht erinnern konnte. Alle waren neu an Bord, so wie er auch. »Niemand zieht in den Krieg«, sagte er. »Wie kommen Sie bloß auf diese Idee?«

Die versammelten Seemänner sahen sich reihum an, dann den Kapitän, dann wieder reihum, bis einer schließlich antwortete: »Wegen der Herde vom Minister, Monsieur.«

»Der Herde, fragte der Kapitän. »Glauben Sie vielleicht, es würden sich feindlich gesinnte Engländer darin verstecken, um heute Nacht herauszukommen und unsere Schiffe zu kapern?«

»Nein, Monsieur«, antworteten sie. Nur ein Mannschaftsmitglied, ein Unteroffizier, der als Junge die Aeneis gelesen hatte, wagte es, angesichts der Bemerkung des Kapitäns in sich hineinzulachen.

Was die beiden Herde betraf, so taten sie ihren Dienst – jedenfalls solange nur eine Person daran arbeitete. Doch als Lapérouse einen Versuch anordnete, bei dem sämtliche Nutzungsarten gleichzeitig ausgeführt werden sollten, waren die Ergebnisse kläglich. Machten sich neben dem Schiffskoch noch der Offizierskoch, der Schiffsbäcker und der Chemiker am Herd zu schaffen, kam das Brot oben verbrannt und in der Mitte teigig aus dem Ofen, kochte der Inhalt der Töpfe über oder gar nicht und verbrauchte der Destillierkolben, der zum Entsalzen von Meerwasser diente, viel zu viel Feuerholz angesichts der spärlichen Tropfen Süßwasser, die er hervorbrachte, und der Chemiker meinte, allerdings reichlich spät, man könne von Glück sagen, dass die Kombüsen nicht Feuer gefangen hätten. Der Herd auf der Astrolabe machte seine Sache auch nicht besser.

Monsieur de Lapérouse spielte das Problem vor der Mannschaft der Boussole herunter, indem er den neuen Herd den »englischen Baron« nannte. »Er ist fett, frisst mehr, als er sollte, und sitzt den lieben langen Tag herum und qualmt vor sich hin«, scherzte er. Doch zwischen der Kapitänskammer und dem Hafen eilten gehetzt wirkende Boten mit dringlich wirkenden Schreiben hin und her, was darauf schließen ließ, dass irgendwo in der Ferne – folglich also wichtige – Entscheidungen erörtert wurden.

Unterdessen hatte auf der Astrolabe Monsieur de Langle seine Zimmerleute angewiesen, den verdrießlichen Herd wieder auszubauen und ihn durch ein kleineres, herkömmliches französisches Modell zu ersetzen. Dann machte er sich selbst daran, den Destillierapparat einzurichten, den Monsieur de Lavoisier, der berühmte Chemiker aus Paris, entworfen hatte, und schlug eine erneute Prüfung des Herdes vor. Zur Sicherheit ließ er jedoch die Astrolabe in einen weniger bevölkerten Bereich des Hafens verlegen. (»Für den Fall, dass wir in die Luft fliegen«, witzelte ein Mannschaftsmitglied Langles Koch gegenüber. Daraufhin zuckte dieser, ein dünner, schreckhafter Mensch, bei jedem kleinsten Geräusch des Herds zusammen.) Unbeirrt bestellte der Kapitän einen großen Topf Erbsen, zwei Brotlaibe, ein für ein Kapitänsabendessen taugliches Rebhuhn sowie einen Krug destilliertes Meerwasser und ließ obendrein eine Reihe von mit irgendwelchen Flüssigkeiten gefüllten Kolben erhitzen, wie bei einem wissenschaftlichen Experiment.

Am Nachmittag legte ein Skiff von der Astrolabe längsseits der Boussole an, wo Lapérouse und seine Männer gespannt auf das Ergebnis warteten. »Und?«, fragte der Kapitän, als einer von Langles Leutnants an Bord kletterte. Der junge Offizier überreichte ihm einen in ein Tuch eingeschlagenen, noch dampfenden Brotlaib zusammen mit einer Nachricht. Lassen Sie uns dem Minister freundlich mitteilen, seine Herde mögen vielleicht den Ansprüchen des englischen Seemannslebens genügen, nicht aber denen des französischen.

»Woher weißt du, was darin stand?«, fragte ein Zimmermann von der Astrolabe den Zimmermannsgehilfen von der Boussole, als dieser die Geschichte zum Besten gab. »Du kannst doch gar nicht lesen.«

»Weil der Kommandant es laut vorgelesen hat, und wir haben alle gelacht – er am lautesten von uns allen«, erwiderte der junge Mann. »Außerdem kann ich lesen, nur damit du’s weißt.«

Es war der darauffolgende Abend, und die Zimmerleute saßen in der Stammtaverne der Seeleute in Brest. Nachdem die Herde samt Monsieur de Langles Destilliervorrichtung erfolgreich auf beiden Schiffen eingebaut worden waren, hatten die Kapitäne ihnen den Abend freigegeben.

»Und wer sagt, dass euer Monsieur de Lapérouse der Kommandant der Expedition ist?«, entgegnete einer von der Astrolabe.

Die Männer von der Boussole brachen in Gelächter aus. Es sei doch offensichtlich, dass ihr Kapitän das Kommando führe – schließlich tausche er täglich Nachrichten mit dem Minister aus, und Monsieur de Langle antworte ihm und nicht umgekehrt –, hatten sie das noch nicht bemerkt? Aber ihr Kapitän sei ein Vicomte, erwiderten die Zimmerleute von der Astrolabe. Bestimmt habe das doch Gewicht. Gerade als der Wortwechsel schärfer zu werden drohte, sahen sie durchs Fenster einen Unteroffizier von der Astrolabe vorbeigehen und überredeten ihn, hereinzukommen und den Streit zu schlichten. Der junge Offizier vermied es diplomatisch, die Kapitäne namentlich zu nennen, er bestätigte lediglich, dass die Boussole das Flaggschiff und die Astrolabe das Geleitschiff sei. Als die Männer von der Astrolabe ihn auf einen Drink einladen wollten, schlug er es aus und spendierte dem Tisch seinerseits mehrere Krüge vom besten Wein, den die Taverne zu bieten hatte. Auf diese Weise machte er sich nicht nur seine eigenen Schiffskameraden gewogen, sondern sorgte auch dafür, dass sich wieder eine ausgelassene Stimmung in der geselligen Runde breitmachte.

»Können Sie uns auch verraten, wohin die Expedition geht?«, fragte einer der Männer.

»Das darf ich Ihnen leider nicht sagen«, erwiderte der Offizier und verabschiedete sich dann schnell.

Als die Zimmerleute in dieser Nacht zu ihren Schiffen zurückruderten, leuchtete ihnen ein riesiger Vollmond den Weg, der sich anschickte, im Meer jenseits des Hafens zu versinken. Er warf ein breites, weißes Lichtband aufs Wasser, wie ein Leuchtfeuer. »Da will man beinahe ewig rudern, immer weiter hinaus«, sagte ein Zimmermann, und alle spürten das Gleiche – diesen sonderbaren Sog des Erhabenen, der sie in Richtung des Unbekannten lockte, des ewigen Vergessens. Aber sie waren praktisch veranlagte Gesellen, durchaus fähig, die Poesie eines Augenblicks zu erfassen, ohne ihm jedoch zu erliegen. Der morgige Tag würde neue Befehle und vertrackte Aufgaben für sie bereithalten, deren Ausführung ihre volle Aufmerksamkeit und ihren gesunden Menschenverstand erforderte. Und so verabschiedeten sie sich voneinander und von dem lockenden Licht und kehrten auf ihre Schiffe zurück.

1

TAUSCHWAREN

London, April 1785

Glaubwürdigkeit

Er vergisst jedes Mal aufs Neue, wie unerfreulich die Überfahrt von Calais aus ist. Noch kein einziges Mal hat er die Reise gemacht, ohne es mit Schlechtwetter zu tun gehabt zu haben oder mit widrigen Winden und Gezeitenströmungen, unerklärlichen Verspätungen, seekranken Mitreisenden, griesgrämigen Paketschiffkapitänen oder unehrlichen Bootsführern, die darauf aus waren, die Passagiere beim Übersetzen ans Ufer auszunehmen. Dieses Mal ist es eine Kombination aus allem. Als er endlich in Dover ankommt, muss er feststellen, dass er, wie sollte es auch anders sein, die Postkutsche nach London verpasst hat. Er verbringt die Nacht im Ship Hotel, wo er ein hartes, von Flöhen wimmelndes Bett ertragen muss und einen unentwegt hustenden Nachbarn.

Nicht gerade ein verheißungsvoller Beginn seiner Reise. Aber Paul-Mérault de Monneron ist kein abergläubischer Mensch. Der nächste Tag wartet mit frühlingshaftem Wetter auf, einer passablen Mahlzeit aus der Herbergsküche, einer Postkutsche, die tatsächlich pünktlich zur Abfahrt bereitsteht, und einem Kutscher, der zwar nicht lächelt, ihm sein Wechselgeld jedoch auf Heller und Pfennig herausgibt. In dem einzigen weiteren Passagier, der in der Kutsche sitzt, erkennt Monneron einen Mitreisenden vom Paketschiff; der Arme war fast auf der gesamten Strecke von Frankreich hierher ganz grau im Gesicht gewesen.

»Nun, es scheint, als würden wir für die gestrigen Schrecknisse entschädigt«, sagt der Mann.

Monneron nickt höflich, wenngleich er ihm insgeheim nicht zustimmt. Das Universum neigt seines Erachtens nicht dazu, einen für vergangenes Leid zu entschädigen, ebenso wenig wie es einem einen Lohn für Glück oder Erfolg abverlangt. Aber auch er ist nicht unempfänglich für die Annehmlichkeiten einer reibungslosen Reise an einem strahlenden Tag. Die Landschaft von Kent, jedenfalls das, was er durch das Kutschfenster sehen kann, ist bezaubernd. Nach einer Weile deutet er aus dem Fenster auf einen großen Vogel mit weißer Brust und schwarz-weißen Flügeln, der auf einem Pfosten hockt. »Bitte, wie heißt dieser Vogel?«, fragt er. »Ich kenne den englischen Namen nicht.«

Der Mann beugt sich herüber. »Das müsste ein Fischadler sein, wenn ich nicht irre.«

»Fischadler.« Es kommt selten vor, dass er ein neues englisches Wort lernt, das er schöner findet als dessen französische Entsprechung. Aber »osprey« klingt zweifelsohne gefälliger als »balbuzard«.

Dieser kurze Austausch führt unvermeidlich zu der Frage des Fremden nach dem Grund von Monnerons Reise nach London. Fast alles, was er zur Antwort gibt, ist wahr: dass er ein Schiffsingenieur ist, dass er bald in die Südsee aufbrechen wird, dass er in London einige Anschaffungen für die Reise zu tätigen gedenkt und dass er mit dieser Aufgabe betraut wurde, weil er Englisch spricht – »Nicht, dass mein Englisch gut ist«, fügt er hinzu, woraufhin der Mann antwortet: »Unsinn! Sie haben so gut wie keinen Akzent.« Nur ein Detail von Monnerons Antwort stimmt nicht: dass er sich im Auftrag eines spanischen Kaufmanns, Don Inigo Alvarez, in England befinde, mit dem er in die Südsee reisen werde. Monneron wird weder mit Spaniern noch mit Kaufleuten in See stechen. Es gibt keinen Don Inigo.

In Wahrheit nimmt er an einer französischen Schiffsexpedition teil, einer Entdeckungsreise, die sich nichts weniger zum Ziel gesetzt hat, als sich an den Erfolgen des verstorbenen Captain Cook zu messen, an einer Reise, die bis zum Tag des Aufbruchs geheim gehalten werden soll. Dieser Ausflug nach London dient nicht nur dem Einkauf von Büchern und Navigationsinstrumenten. Monneron soll auch die neuesten Erkenntnisse über Mittel gegen Skorbut in Erfahrung bringen – Maßnahmen zur Vorbeugung gegen diese Krankheit – und darüber, welche Gegenstände sich am besten zum Tauschhandel mit den Eingeborenen der Südsee eignen. Und um das herauszufinden, muss er mit jemandem reden, der mit Cook gesegelt ist – jemandem, der sowohl die nötigen Kenntnisse besitzt als auch willens ist, sie mit ihm zu teilen.

Zum ersten Mal hat er seine Don-Inigo-Geschichte bei jemandem ausprobiert. Er ist selbst überrascht, wie leicht ihm dieses Gemisch aus Lügen und Wahrheit über die Lippen geht. Anfangs hatte ihm der Gedanke, unter einem erfundenen Vorwand zu reisen, überhaupt nicht behagt – mehr noch, er hatte die Notwendigkeit dieser Heimlichtuerei bezweifelt. Und als der Marineminister seinen Einwand mit einem ungeduldigen Wedeln seiner runzligen Hand abtat, erwog Monneron sogar, diese Mission abzulehnen. Erwog es, aber nicht ernsthaft oder allzu lange. Es kam für ihn keinesfalls infrage, seinen Platz bei der Expedition aufs Spiel zu setzen. Wenn nötig, hätte er sogar einen Kopfstand vor dem Versailler Hof gemacht. Und doch hatte er laut aufgelacht, als die hohen Herren begannen, sich diese Lügengeschichte mit dem spanischen Kaufmann auszudenken. »Don Inigo Alvarez?«, hatte er ausgerufen. »Das klingt nach einer Theaterfigur.« Der Minister ließ sich jedoch nicht beirren: »Die Menschen glauben in der Regel, was man ihnen erzählt«, sagte er. »Sie müssen einfach nur selbstsicher reden, dann wird niemand Ihre Worte hinterfragen.« Bis jetzt zumindest scheint der Minister recht behalten zu haben: Monnerons Reisegefährte nickt, interessiert, beeindruckt und allem Anschein nach auch überzeugt.

Vorauszahlung für fünf Nächte

Am nächsten Abend kommt die Postkutsche in London an, und Monneron mietet sich bei einer Mrs Towe ein. Sein Bruder Louis hat sie ihm empfohlen, der häufig geschäftlich nach London reist. In ihrem Haus riecht es unerklärlicherweise nach schalem Cidre, aber diese Unterkunft genügt zum einen Monnerons elementarsten Anforderungen – ein sauberes Bett, einigermaßen zentral gelegen, eine unaufdringliche Vermieterin – und erfüllt zum anderen zwei ganz spezielle Bedingungen: erstens die Abwesenheit weiterer Gäste und zweitens ein fensterloser Lagerraum, zu dem nur er und Mrs Towe einen Schlüssel haben werden.

Ehe er sich schlafen legt, rechnet er die Ausgaben zusammen, die er seit seiner Ankunft in Dover getätigt hat: eine Übernachtung und zwei Mahlzeiten im Ship Hotel, dann sechzehn Shilling und acht Pence für die Postkutsche, dazu die Gebühren für sein Gepäck und das Trinkgeld für den Kutscher, nicht zu vergessen je eine halbe Krone für jede Mahlzeit und eine Übernachtung während der Anreise, und nun die Kosten für fünf Übernachtungen, die er Mrs Towe bereits im Voraus bezahlt hat. Somit hat er fast das gesamte englische Bargeld ausgegeben, das der Minister ihm vor seiner Abreise ausgehändigt hatte. Seine erste Aufgabe am nächsten Tag wird der Gang zur Bank sein. Bislang hatte er keine Möglichkeit, bei seinen Ausgaben zu sparen, aber nun, da er in London ist, wird er unzählige Entscheidungen zu treffen haben, von denen die meisten mit Kosten verbunden sind. Natürlich darf er nicht zu viel ausgeben. Aber zu wenig womöglich erst recht nicht. Er will auf keinen Fall den Minister enttäuschen, der so viel Vertrauen in ihn setzt. Doch vor allem will er Monsieur de Lapérouse nicht enttäuschen, den Kommandanten der Expedition. Während er den Wasserfleck an der Decke seines Zimmers im Haus von Mrs Towe betrachtet, geht Monneron durch den Kopf, dass immer noch ausreichend Zeit wäre, einen anderen Ingenieur einzustellen – und es gibt genügend ehrgeizige junge Männer aus guter Familie, die nur allzu gern seinen Platz einnehmen würden.

Anzug

Er wacht früh auf und nimmt freudlos Mrs Towes schwachen Tee und kalten Toast zu sich, ehe er sich ans Ankleiden macht, etwas, was ihm Kopfzerbrechen bereitet. Während der letzten drei Tage konnte er seine Kleidung unter einem Überzieher und Stulpenstiefeln verhüllen, aber nun wird er sich in öffentliche Gebäude und Privathäuser begeben, wo er einen guten Eindruck machen und möglichst viele Informationen sammeln möchte. Er will nicht unnötig Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem er zu französisch, zu seemännisch, zu modisch oder zu wenig modisch wirkt. Louis hat ihm geraten, sich eher nüchtern zu kleiden, wie es ein Gentleman seines Alters in Paris täte, aber Monneron ist sich nicht sicher, was das genau heißt. Nach all den Jahren auf See ist er es zwar gewohnt, sich sorgfältig zu kleiden – allerdings in Uniform. Und nun soll er plötzlich in Zivil gehen. Schließlich entscheidet er sich für sein schlichtestes weißes Leinenhemd, ein Paar gerippte weiße Strümpfe und einen Anzug, den er sich von Antoine geborgt hat, einem weiteren Bruder, der genauso groß ist wie er. Weste, Kniehosen und Gehrock sind aus derselben dunkelblauen gewebten Seide – sogar die Knöpfe sind damit überzogen. Dann zieht er Perücke, Schuhe und Mantel an, genau in dieser Reihenfolge. Er zögert, ehe er zu dem zierlichen, mit Troddeln geschmückten Gehstock greift, den Louis ihm dringend ans Herz gelegt hat. »Trag ja keinen Degen oder Hut«, hat sein Bruder zu ihm gesagt. »Dann werden sie dich sofort als Franzosen und Weichling abstempeln.«

Beim Hinausgehen betrachtet sich Monneron in dem blinden Spiegel in Mrs Towes Flur. Er sieht aus wie ein Franzose, der versucht, nicht französisch auszusehen, denkt er. Und er hasst den Stock. Was für ein absurdes Land, wo man weibisch wirkt, wenn man einen Degen trägt, mit einem bebänderten Gehstock hingegen nicht.

Briefe

Er tritt in die übel riechende, von Nieselnebel erfüllte Luft hinaus und macht sich auf den Weg zur Bank of England. Dort tauscht er Kreditbriefe gegen Bargeld und bekommt so viele Scheine ausgehändigt, wie er sie noch nie auf einmal gesehen, geschweige denn bei sich getragen hat. Jetzt ist er froh um Antoines Anzug, der genau wie ein Gehrock mit der modernen Errungenschaft der Innentaschen ausgestattet ist. Diese eignen sich hervorragend, um Geld sicher zu verstauen. Dennoch steigt er eilig in eine Droschke, aus Angst, der Geruch so vieler Banknoten könnte sämtliche Taschendiebe Londons anlocken, und nennt dem Kutscher eine Adresse in der Oxford Street.

Monneron hat an diesem Morgen einen weiteren Brief bei sich – ein an John Webber gerichtetes Empfehlungsschreiben, der als Expeditionsmaler an Cooks letzter Entdeckungsreise teilnahm. Zwar hätte Monneron es vorgezogen, Offizieren vorgestellt zu werden, die unter Cook gedient hatten, aber dem Minister zufolge sind die meisten der noch lebenden Cook’schen Offiziere auf See, und von der kleinen Zahl derer, die weder tot noch auf See sind, leben zwei zu weit außerhalb Londons, während der Rest zu hochrangig ist, um bei ihnen vorstellig zu werden, ohne Verdacht zu erwecken. »Und was ist mit Cooks Naturforschern?«, hatte Monsieur de Lapérouse gefragt. »Können wir nicht an sie herantreten?« Doch der Minister hatte verneint. Solander sei tot. Die beiden Forsters lebten in Preußen. Nur Sir Joseph Banks, der berühmte Naturforscher von Cooks erster Entdeckungsreise, befinde sich in London, doch sei er inzwischen Präsident der Royal Society und stehe sowohl der Admiralität als auch dem König nahe. »Unterschätzen Sie nicht, wie wichtig ein Künstler als Informationsquelle sein kann«, sagte der Minister. Monneron und Lapérouse hatten, nicht wirklich überzeugt, einen Blick gewechselt. Was wusste ein Zeichner schon von Mitteln gegen Skorbut und geeigneten Tauschwaren?

Die Droschke hält vor einem schmalen, würdevollen Haus in der Oxford Street. Ein schmaler, würdevoller Diener öffnet die Tür. Dieser nimmt den Brief, den Monneron ihm reicht, und führt den Ingenieur kurz darauf in einen Salon, wo ein Mann in einem Morgenrock aus Damast mit dazu passender Haube gerade sein Frühstück beendet hat. Als er den Kopf hebt und ihn ansieht, erschrickt Monneron wegen seines noch recht jungen Alters.

»Sie haben einen alten Mann erwartet«, sagt Webber.

Monneron kann es nicht leugnen. Es ist zwar erst fünf Jahre her, seit Cooks dritte und letzte Expedition ohne diesen nach England zurückgekehrt ist, aber da er bereits jetzt eine Legende ist, erwartet man offenbar, dass jene, die mit ihm segelten, inzwischen alte, ergraute Männer sind.

»Ich war erst vierundzwanzig, als wir zu unserer Reise aufbrachen«, erklärt Webber. Monneron überschlägt rasch sein Alter: Dann ist Webber jünger als er selbst.

Der Künstler lädt seinen Gast ein, Platz zu nehmen, und sagt dem Kammerdiener, er solle ein zweites Gedeck bringen. Nachdem Monneron einen kleinen Anstandsprotest erhoben hat, lässt er sich mit großem Appetit den starken, heißen Tee, geräucherten Hering, eine Scheibe kalte Kalbspastete und ein Marmeladenbrötchen schmecken.

»Dann brechen Sie also in Bälde in die Südsee auf?«, fragt Webber.

Da er den Mund voll hat, nickt Monneron zuerst nur, dann gibt er seine Geschichte von Don Inigo zum Besten und erklärt, er brauche dringend wissenschaftliche Bücher und Instrumente. Und, nicht zu vergessen, Informationen über Mittel zur Vorbeugung gegen Skorbut. Und Ratschläge zu Waren, die sich für den Tauschhandel mit Eingeborenen eignen.

Webber nickt. »Wie lange werden Sie in London sein?«

»Bis Freitag.«

»Nur bis Freitag?« Der Künstler stellt seine Tasse ab und lacht. »Dann werden Sie aber von früh bis spät beschäftigt sein, Mr Monneron.« Er sieht seinen Gast offen und zugleich herausfordernd an. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen besonders nützlich sein kann. Ich bin schließlich kein Seemann.«

Monneron stimmt ihm insgeheim zu, verkneift sich jedoch eine diesbezügliche Bemerkung. »Ich weiß, dass Sie mit Hunderten von Bildern von der Reise zurückgekehrt sind«, sagt er, indem er sich in Erinnerung ruft, was der Minister ihm über den Maler erzählt hat. »Wenn Sie so viele Bilder gemalt haben, haben Sie bestimmt auch eine Menge neuer Kenntnisse gewonnen.«

Einen Moment lang erwidert Webber seinen Blick, dann schiebt er seinen Stuhl zurück und steht auf. »Kommen Sie mit.«

Messer

Webbers Bibliothek ist ein hoher Raum mit weiß getünchten Wänden und einer Reihe kleiner Fenster über den Regalen, durch die Tageslicht hereindringt. Die oberen Fächer sind mit Büchern bestückt, die unteren hingegen mit Kunst- und anderen Gegenständen. »All diese Dinge stammen von der Reise«, sagt Webber. Die Bilder seien von ihm, erklärt er – Zeichnungen und Gemälde, die er während der Expedition angefertigt habe; der Rest seien Gegenstände, die er gefunden, gekauft oder geschenkt bekommen habe.

Monneron tritt näher heran, um die Zeichnungen in Augenschein zu nehmen. Es handelt sich um Landschaften und topografische Ansichten, Skizzen von Pflanzen, Vögeln und Eidechsen, um Porträts von Eingeborenen sowie um Studien ihrer Hütten und Kanus und verschiedener Lebenssituationen – die Eingeborenen beim Tanzen, beim Festschmaus, beim Empfang Cooks und der Bestattung ihrer Toten. Die Zeichnungen haben unterschiedliche Formate, einige sind größer als von Monneron erwartet, manche sogar eine Armeslänge breit. Er versucht sich seinen in Seide gewandeten jungen Gastgeber bei der Arbeit vorzustellen – beim Malen auf dem betriebsamen Verdeck der Resolution, wie er in einem der kleineren Boote auf und ab geschaukelt wird oder auf einer neu entdeckten Insel herumwandert, beladen mit diesen großen Papierbögen, den Zeichenutensilien und vielleicht sogar einer Staffelei –, und plötzlich erscheint ihm diese Vorstellung unmöglich, komisch und irgendwie auch erhaben. »Sie sind wunderschön«, sagt er.

»Sehr freundlich von Ihnen«, erwidert Webber. Er steht vor dem Porträt eines Eingeborenen. Dieser hat etwas Langes, Schmales im oberen Rand seines Ohrs stecken. Sein Haar ist in einer Art Knoten hoch oben auf dem Kopf zusammengefasst und wird von Schnüren gehalten, und er hat einen dichten, wenngleich kurz rasierten Vollbart; abgesehen von dem sonderbaren Ohrschmuck ist er ein angenehm anzusehendes Geschöpf. »Das ist ein Insulaner aus Mangea«, sagt Webber. Sie seien auf dieser Insel nicht an Land gegangen, führt er weiter aus, aber ein paar Männer seien in Kanus zu den Schiffen hinausgerudert, und man habe diesen Mann – »sein Name war Mourua« – dazu überredet, an Bord zu kommen. »Er zitterte vor Angst. Ich fürchtete, er würde sich jeden Moment über Bord stürzen.«

Monneron betrachtet das Bild noch einen Moment lang, dann erlaubt er sich die Bemerkung: »Aber auf dem Bild sieht er nicht verängstigt aus.«

Webber lacht. »Ja, das lag daran, dass wir ihm ein Messer im Austausch für Fische und Kokosnüsse gegeben hatten«, sagt er. »Und das steckt in seinem Ohr, wie Sie sehen können. Die Männer dieser Insel hatten alle einen Schlitz in einem Ohr. Mourua nahm das Messer und schob es hinein, als wäre er eigens für diesen Zweck gemacht.« Monneron solle Don Inigo raten, einen großen Vorrat an ähnlichen Messern mitzunehmen, da sie unter allen Insulanern, denen sie begegneten, begehrt gewesen seien. »Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen ein Geschäft, wo es eine große Auswahl an Messern gibt«, fügt er hinzu.

Monneron dreht sich zu Webber um. »Sehen Sie? Sie sind mir ja bereits eine große Hilfe.« Er hofft, seine Überraschung ist ihm nicht anzusehen.

Als Nächstes zeigt Webber ihm seine Sammlung der unterschiedlichsten Mitbringsel – einen Kopfschmuck, Ziergegenstände, Holz- und Knochenschnitzereien, tahitianische Kleidung. Webber erinnert sich an alles: an die Herkunft jedes einzelnen Stücks, die Umstände, unter denen sie in seinen Besitz gelangten, welchen Eindruck die Eingeborenen auf ihn machten, wie sie sich benahmen, was Cook und seine Männer ihnen zum Tausch anboten und was diese dafür haben wollten. Monneron kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wenn es ihm gelingt, die ganze Woche lang die Gesellschaft dieses Mannes in Anspruch zu nehmen, denkt er, dürfte seine Mission umfassend erfüllt sein.

Nachdem sie die Besichtigung der Bibliothek abgeschlossen haben, öffnet Webber wieder die Tür zum Salon. Aus einem Impuls heraus sagt Monneron: »Malen Sie immer noch Porträts, Mr Webber?«

»Nun, ich habe mir vor allem als Landschaftsmaler einen Namen gemacht«, erklärt Webber und folgt dann Monnerons Blick, der über die zahlreichen Eingeborenenporträts an den Wänden wandert. »Im Grunde sind Porträts von Eingeborenen auch eine Art Landschaftsmalerei«, fügt er hinzu. »Warum fragen Sie?«

»Ich gehe für eine lange Zeit weg … in der alles Mögliche passieren kann … und da dachte ich … natürlich nur, falls Sie Zeit haben …«, sagt Monneron mit echtem Unbehagen.

»Sie wollen, dass ich Sie male

Monneron lacht verlegen. »Das Porträt wäre für meine Mutter. Aber Sie sind gewiss sehr beschäftigt.«

»Gewiss nicht so, wie Sie es diese Woche sein werden.«

Monneron spürt, wie die Hitze in seine Wangen schießt. In der Tat hat er diesem Mann soeben von seiner langen Aufgabenliste erzählt, für deren Erledigung ihm keine ganze Woche bleibt; sein Wunsch nach einem Porträt muss abwegig und eitel in Webbers Ohren klingen. »Vielleicht etwas Schnelles, einfach nur eine Bleistift- oder Federzeichnung«, sagt er, »wie eines dieser Bilder von der Expedition.« Als ihm bewusst wird, dass er Webbers Werke soeben wie beiläufig hingeworfene Skizzen hingestellt hat, hält er beschämt inne. Er fasst sich an die Stirn, eine Geste der Nervosität, die auf andere – insbesondere Frauen – immer eine entwaffnende Wirkung hat.

Webber lächelt. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie zu malen.«

Monneron lacht erleichtert auf. »Ich verstehe nichts von diesen Dingen. Sind fünfundzwanzig Guineen ein angemessener Lohn?«

Webber schüttelt den Kopf. »Das ist nicht nötig.«

»O doch, das ist nötig.«

Nach längerem Sträuben erklärt sich Webber mit fünf Guineen einverstanden. Am liebsten würde er auf der Stelle anfangen, bekräftigt er, habe jedoch für den Rest des Tages bereits Verabredungen. Ob Monneron am nächsten Tag wiederkommen könne.

»Wenn möglich, um drei Uhr nachmittags«, sagt Webber. »Dann ist das Licht in meinem Atelier am besten.«

Eine schwindelerregend hohe Summe

Monneron hat ein weiteres Dokument in seiner Tasche – eine Einkaufsliste, von Monsieur de Lapérouse persönlich verfasst. Der Minister war keineswegs erfreut darüber gewesen: »Wir haben doch die Erfahrung gemacht, dass ›englisch‹ nicht unbedingt ›besser‹ bedeutet!«, hatte er verkündet. »In Paris haben wir ebenfalls Instrumentenmacher.« Aber Lapérouse hatte darauf bestanden. »Wir werden Frankreich keinen Ruhm bescheren, wenn wir mit in unserem Land gefertigten, aber minderwertigen Instrumenten reisen«, sagte er. Der Minister lenkte ein, und nun ist Monneron auf dem Weg in die Fleet Street zum Atelier von George Adams jr., um mehrere Exemplare der weltbesten Kompasse zu erwerben.

Mr Adams ist ein junger Mann – nach Monnerons Schätzung noch keine fünfunddreißig –, der von seinem Vater sowohl das Geschäft als auch seine Stellung als Instrumentenmacher des Königs geerbt hat. Unter falscher Bescheidenheit leidet Mr Adams nicht. Er scheint unter gar keiner Art von Bescheidenheit zu leiden. Zunächst unterzieht er Monneron einer Art Verhör, als müsste er erst herausfinden, ob sein neuer Kunde seiner Waren würdig ist. »Inigo Alvarez?«, fragt er mit einem Naserümpfen. »Noch nie von ihm gehört.«

»Nun, aber er von Ihnen, Monsieur Adams«, erwidert Monneron mit übertriebenem Akzent.

Seine Schmeicheleien im Verein mit seinem Französischsein verfehlen ihre Wirkung nicht, sodass Adams schließlich einwilligt, sich von zwei Azimutalkompassen zu trennen. In ihrer Einfachheit sind sie wunderschön: Jedes der handbemalten Zifferblätter ist zusammen mit einer robusten Stahlnadel in ein glasbedecktes Messinggehäuse eingebettet, das wiederum an einem äußeren Messingring aufgehängt ist, und das Ganze ruht in einem Holzkasten – eine Konstruktion, die den Bewegungen auf See trotzen soll. Zu Monnerons großem Bedauern hat Mr Adams keine Inklinationskompasse, die dazu dienen, die Ergebnisse der Messungen abzugleichen, und die auf einer langen Reise in unbekannte Gebiete unerlässlich sind. Monsieur Lapérouse hat diese Kompasse ausdrücklich angefordert – und zwar zwei, jeweils einen für jedes Schiff.

»Seit fast einem Jahr habe ich keine einzige Bestellung für diese Instrumente mehr erhalten«, sagt Adams und beäugt Monneron mit neu erwachtem Misstrauen.

»Kennen Sie jemanden, der …?«

»Nein.« Adams ist offenbar nicht geneigt, einen seiner Konkurrenten zu empfehlen, auch dann nicht, wenn er die Wünsche eines Kunden nicht befriedigen kann.

Die anderen Instrumentenmacher, die Monneron an diesem Nachmittag aufsucht, sind freundlicher und stellen nicht so viele Fragen. Unweit von Adams’ Atelier trifft er auf die Gebrüder Troughton, deren Werkstatt At the Sign of the Orrery sich unter dem Schild mit dem Orrery befindet, einem mechanischen Sonnen-Planeten-Modell. Den beiden elfenhaften Brüdern ist es eine Freude, Monneron einen Sextanten und einen Pantografen für die Expeditionskartografen zu verkaufen. Bei Nairne and Blunt’s in Cornhill erwirbt er zwei der schönsten und teuersten Barometer, die er je gesehen hat; die werden den Expeditionsgelehrten bestimmt gefallen. In einem Geschäft unmittelbar daneben findet er Stundengläser und Stabmagneten. Und im berühmten Ramsden’s in der Piccadilly gibt er eine Summe aus, bei der einem schwindlig werden kann. Nachdem man ihm die Lieferung von zwei Theodoliten, zwei Nachtteleskopen, vier Thermometern, einem großen und einem kleinen Sextanten und vier Handkompassen für Landerkundungen zugesagt hat, verlässt er den Laden. Aber leider auch diesmal ohne Inklinationskompasse. »Dafür müssen Sie sich an Mr Adams wenden«, sagt man ihm auch hier.

Es ist sieben Uhr, als Monneron erschöpft, hungrig und frierend in sein Zimmer bei Mrs Towe zurückkehrt. Das Feuer im Kamin ist erloschen, und das Abendessen besteht aus zerkochtem Rebhuhn und gebutterten Kartoffeln, die so kalt sind, dass die Butter darauf erstarrt ist. Doch nachdem er selbst ein Feuer entzündet hat, nimmt er schicksalsergeben sein Mahl ein. Er hat schon viel schlechter und unter wesentlich unbequemeren Umständen gegessen. Im Übrigen hat er allen Grund, mit seinem ersten Tag in London zufrieden zu sein: Er hat Kontakt aufgenommen zu einem kenntnisreichen und mitteilsamen Mitglied der Cook-Expedition und beinahe alles besorgt, was auf Monsieur de Lapérouse’ Liste steht. Sogar der Gedanke, dass er die Schatullen des Königs an einem Tag um mehr als dreitausend Louis erleichtert hat, verschafft ihm ein befriedigendes Gefühl. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass diese Expedition mit keiner anderen vergleichbar ist, die Frankreich bislang unternommen hat, und da sie wissenschaftlich von höchster Bedeutung ist, dürfen keine Kosten gescheut werden, sofern sie sich in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Und heute hat er seinen Beitrag zu ihrem Gelingen geleistet.

Er wirft eine kalte, von einer harten Butterkruste überzogene Kartoffel ins Feuer und sieht zu, wie sie zischend verbrennt. Wenn er doch nur wüsste, wo er diese Inklinationskompasse finden kann, denkt er und wirft eine weitere Kartoffel ins Feuer.

Eine Abhandlung über Skorbut

Am nächsten Morgen liegt zu seiner großen Überraschung auf dem Frühstückstablett eine Nachricht von Sir Joseph Banks, dem Naturforscher, von dem der Minister meinte, er stehe der Admiralität und dem König zu nahe, als dass man es wagen könne, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Es handelt sich um ein eilig verfasstes Schreiben, von sicherer Hand hingeworfen, aber kaum lesbar.

 

Sir

Nachdem ich soeben von Ihrer Anwesenheit in London erfahren habe, wo Sie Don Inigo Alvarez bei den Vorbereitungen für seine bevorstehende Reise unterstützen, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen meine Hilfe anzubieten, weil Don Inigo und ich miteinander bekannt sind, denn dieser hegt, wie Sie sicherlich wissen, großes Interesse an Naturgeschichte und war so freundlich, mir zwei Exemplare der Blepharopsis mendica für meine Sammlung zu schicken.

Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie mich um 11 Uhr besuchen würden, damit wir uns in beiderseitigem Interesse und zu gegenseitigem Nutzen ein wenig unterhalten können.

JB

Mehrere Minuten lang starrt Monneron auf den Brief. Er weiß nicht, was merkwürdiger ist – dass Banks überhaupt von ihm weiß oder dass er behauptet, mit dem erfundenen Don Inigo befreundet zu sein. Banks muss wissen, in wessen Auftrag er wirklich hier ist. Aber wie? Adams!, denkt Monneron und ruft sich die herablassende, beharrliche Neugier des jungen Instrumentenmachers in Erinnerung. Anders kann es nicht sein. Aber was will Banks? Will er Monneron vorführen und die französische Regierung bloßstellen? Und was ist eine Blepharopsis mendica?

Die Krux bei der Sache ist hingegen eine andere: Man lehnt nicht ab, wenn Sir Joseph Banks einen zu sich beordert. Als die Glocken der nahe gelegenen Kirche besagte Stunde schlagen, wird Monneron in Banks’ Wohnhaus am Soho Square 32 vorstellig. Weder Gegend noch Gebäude entsprechen dem Bild, das sich Monneron vom Wohnsitz des Präsidenten der Royal Society gemacht hat: Das Viertel strahlt die geräuschvolle, schicksalsergebene Atmosphäre einer Gegend aus, der die Anwohner, die etwas auf sich halten, längst den Rücken gekehrt haben. Und das schmale dreistöckige Haus kann man bestenfalls als bescheiden bezeichnen. Doch von innen wirkt es groß und geräumig, und genau so ist auch Banks – groß und stämmig, mit einer makellosen Perücke auf seinem beträchtlichen Haupt und einem pelzbesetzten Morgenrock über seiner Tageskleidung. Doch als wollte er all die Größe und Herrlichkeit ein wenig dämpfen, führt er Monneron in die kleine, dicht bestückte Bibliothek, die unter die weitläufige Treppe eingepasst ist.

Er bedeutet Monneron, vor dem überladenen Schreibtisch Platz zu nehmen, während er es sich in einem roten Ledersessel ihm gegenüber bequem macht. Dann sagt er: »Und wie geht es dem guten Don Inigo?«

Monneron mustert seinen Gastgeber argwöhnisch. »Als ich ihn zuletzt sah, ging es ihm sehr gut.«

»Wunderbar.« Banks schiebt einen gerahmten Schaukasten über den Schreibtisch zu ihm hin. Bei dem Exponat scheint es sich um ein paar dünne Zweige mit Blättern zu handeln – einige noch grün und fleckig, andere braun und knittrig –, aber nein, denkt Monneron, es sind ja gar keine Zweige, sondern Insekten, Insekten mit langen, zartgliedrigen Gliedmaßen und dreieckigen Köpfen, ähnlich der mantes, der Heuschrecken, über die er als Junge so entzückt war, wenn er sie im Garten fand. »Die Kleine Teufelsblume«, sagt Banks, »Blepharopsis mendica.«

»Mantis«, wiederholt Monneron murmelnd, um sich den englischen Namen der Gottesanbeterin einzuprägen. Er betrachtet das Insekt und fragt sich, ob es Don Inigo vielleicht doch gibt.

»Sie hängen ihr Leben lang kopfüber an Baumästen, deren Blättern sie ähneln«, sagt Sir Joseph Banks. »Ihre Beute krabbelt oder fliegt vorbei, ohne die Gefahr zu erahnen, bis sie erwischt wird.«

Monneron richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf Banks. »Erwischt?«

Banks lächelt.

»Verzeihen Sie, Sir Joseph«, sagt Monneron, »aber ich wusste nicht, dass Don Inigo Ihnen geschrieben und Ihnen meinen Besuch angekündigt hat.«

»Oh, das hat er auch nicht«, erwidert Banks. »Ich habe gestern Nachmittag Mr Webber getroffen.«

»Mr Webber?« Also nicht Adams. Monneron spürt einen Anflug von Enttäuschung. Er hatte Webber zwar nicht gebeten, seine Anwesenheit in London für sich zu behalten. Dennoch fühlt es sich an wie … nun, nicht gerade wie ein richtiger Vertrauensbruch – das hieße zu viel zu erwarten von einer flüchtigen Bekanntschaft, die sich gerade einmal auf einen gemeinsam verbrachten Vormittag erstreckt –, aber wie eine Offenherzigkeit seiner Person gegenüber, zu der Monneron ihn nicht ermuntert hat. »Mr Webber war so freundlich, mir ein paar seiner Bilder zu zeigen«, sagt er schließlich.

»Er ist ein tüchtiger Landschaftsmaler«, sagt Banks. »Wobei ich gestehen muss, dass ich nicht allzu viel von seiner Porträtkunst halte.« Als er den überraschten Ausdruck seines Gastes bemerkt, fügt er hinzu: »Seine Porträts sind zwar hübsch anzusehen, aber nicht besonders wirklichkeitsecht. Seine Eingeborenen wirken zu europäisch. Und seine Europäer – nun, die wirken wiederum ein bisschen wie Wilde. Zum Beispiel hat er ein höchst ungewöhnliches Porträt von Kapitän Cook gemalt und es dessen Witwe geschenkt. Ich hoffe, es hat die Trauer der leidgeprüften Mrs Cook nicht noch verschlimmert. Es hat nämlich keine große Ähnlichkeit mit dem berühmten Cook.«

Monneron ruft sich die Bilder und Skizzen aus Webbers Bibliothek in Erinnerung – wie warmherzig und menschlich der Mann von Mangea aussieht, trotz des Messers, das in seinem Ohr steckt. Sagt Banks einfach nur ganz offen seine persönliche Meinung, oder will er ihn warnen? Was beabsichtigt er überhaupt?

Als ahnte er seine Verwirrung, sagt Banks: »Mr Monneron, der einzige Grund, warum ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt habe, ist, weil ich Ihnen meine Unterstützung im Rahmen meiner Möglichkeiten anbieten möchte.« Einen Moment lang sehen sich die beiden Männer an, dann fährt Banks fort: »Soviel ich weiß, sind Sie mit der Aufgabe betraut, sich über Mittel zur Vorbeugung gegen Skorbut zu informieren.« Er nimmt ein dickes Buch vom Rand des Schreibtischs und reicht es Monneron. Es trägt den Titel A Treatise on the Scurvy von James Lind – »Eine Abhandlung über Skorbut«. »Der wichtigste Beitrag unseres Jahrhunderts auf dem Gebiet der Schiffsmedizin«, erklärt Banks. »Nehmen Sie es. Ich habe mehrere Exemplare. Und stellen Sie sicher, dass die Schiffswundärzte es lesen.«

»Vielen Dank, Sir Joseph«, sagt Monneron und bemüht sich, den in seinem Kopf tobenden Widerstreit zwischen Misstrauen und Berechnung zum Verstummen zu bringen. »Da ist noch eine Sache, bei der ich Ihren Rat sehr schätzen würde.« Er erzählt Banks von seiner bislang erfolglosen Suche nach Inklinationskompassen.

Banks hört ihm mit geschlossenen Augen zu und nickt dann. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen«, sagt er und öffnet die Augen wieder. »Ich werde Sie benachrichtigen.«

Als Monneron das Haus am Soho Square 32 verlässt, weiß er immer noch nicht, was er von dieser Begegnung halten soll. Die am wenigsten beunruhigende Schlussfolgerung ist, dass Sir Joseph Banks schon vorher von der Expedition wusste, seine Hilfe aus rein wissenschaftlichem Interesse anbietet und das Lügenmärchen um Don Inigo nur deswegen aufrechterhält, weil er Monneron nicht in Verlegenheit bringen will. Aber wie konnte Banks allein aufgrund von Webbers Bericht diese Verbindung herstellen? Es sei denn, Webber weiß es ebenfalls – nein, denkt Monneron und ruft sich Webbers argloses, offenes Gesicht ins Gedächtnis. Allerdings könnte er es jetzt wissen, natürlich – Monneron hält kurz bei der Querung des Platzes inne und spinnt den Gedanken weiter –, was seinen Besuch an diesem Nachmittag bei Webber unangenehm gestalten könnte. Was Banks betrifft, so umgarnt er ihn vielleicht nur deshalb mit seiner Aufmerksamkeit und seinem Hilfsangebot, um auf die Gelegenheit zu warten, dass Monneron unbeabsichtigt eine Bemerkung entschlüpft, ein kleiner Informationshappen, der geradewegs an die Admiralität weitergereicht würde. Aber würde jemand, der einen als Spion der französischen Marine entlarven will, einem die jüngsten Erkenntnisse über Skorbut-Vorbeugung aufdrängen?

Transparenz

Als er wieder im Haus von Mrs Towe eintrifft, ist er halbwegs darauf gefasst, eine Nachricht von Webber vorzufinden, in der dieser ihm bedauernd mitteilt, dass dringende Geschäfte ihn von einem weiteren Treffen mit Monneron abhalten. Und als keine Nachricht auf ihn wartet, überlegt er, ob er selbst vielleicht höflich absagen soll. Er spürt ein plötzliches Bedauern, weil er sich unter falschem Vorwand bei dem Künstler eingeschmeichelt hat. Aber Webber ist ein zu wertvoller Kontakt, um wegen eines Anflugs von schlechtem Gewissen auf seine Unterstützung zu verzichten. Als Mrs Towes düstere Standuhr halb drei schlägt, macht sich Monneron erneut auf den Weg in Richtung Oxford Street.

Der schmale, würdevolle Diener bittet ihn, in der Bibliothek zu warten. Monneron wandert durch den Raum und betrachtet abermals die Bilder und Gegenstände, die ihn am Vortag so entzückt haben und so lehrreich für ihn waren. Vergeblich sucht er in Webbers Porträts von Eingeborenen nach Hinweisen, dass diese »zu europäisch« wirken. Auf einem kleinen Tisch entdeckt er den erst kürzlich veröffentlichten Bericht von Cooks letzter Reise Capitain Cook’s dritte und letzte Reise, oder Geschichte einer Entdeckungsreise nach dem stillen Ocean, welche auf Befehl Sr. Großbritannischen Majestät zu genauerer Erforschung der nördlichen Halbkugel unternommen etc. – in drei Bänden und dazu ein Folioband mit Karten und Drucken. Während er in Letzterem blättert, erkennt er einige der ihn umgebenden Bilder als Kupferstichfaksimiles wieder. Die veröffentlichten Abbildungen sind ihren Originalen zwar sehr ähnlich, aber dennoch ist bei der Übertragung der unbearbeiteten Bilder, die in situ entstanden, auf Kupferstiche etwas verloren gegangen. Die Originale sind farbig und die Stiche natürlich nicht, aber daran allein liegt es nicht. Monneron schlägt den Band zu und betrachtet das nächsthängende Original, ein Bild von tahitianischen Tänzerinnen. Er kann die einzelnen Schritte der Entstehung des Werkes nachverfolgen – von den zugrundeliegenden Bleistift- und Kreideskizzen über die Lavierung mit Wasserfarben bis zu den mit Tusche aufgebrachten winzigen Details. Diese Transparenz des künstlerischen Prozesses vermisst man in den veröffentlichten Abbildungen.

»Mr Monneron«, sagt Webber, der unvermittelt den Raum betritt. Er ist genauso gekleidet wie am gestrigen Morgen – der Gürtel des Morgenrocks locker geschlungen, sodass man darunter die ausgeblichenen Hosen und die bestrumpften und mit ausgebeulten Seidenpantoffeln beschuhten Füße sehen kann. Er geht zu Monneron und schüttelt ihm die Hand. »Freut mich, Sie wiederzusehen.« Sein Lächeln ist ebenfalls wie tags zuvor – freundlich und ungekünstelt. Monneron erwartet, dass er eine Bemerkung über Banks fallen lässt Ich habe gestern Sir Joseph getroffen und ihm von Ihnen erzählt – er kennt übrigens Don Inigo; er sagte, er wolle Ihnen oh, er hat bereits Kontakt mit Ihnen aufgenommen? Und Sie waren schon bei ihm? Großartig