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JUDITH KUCKART

Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück

Roman

Für E. K. (beide)

 LEONHARD

Auf der Steinterrasse hinter dem Haus versuchte er mit seinem neuen Rennrad im Kreis zu fahren. Es sollte wie Radartistik aussehen, auch wenn keiner zusah. Ein Sonnenuntergang spiegelte sich in den Wolken über dem Haus am Hang. Der winterliche Garten ließ die Sicht frei auf eine eckige, zwei Meter hohe Regenwassertonne unten beim Zaun. Die zwei alten Apfelbäume davor verbargen deren plastikgrüne Hässlichkeit kaum. Im August hatten die Eltern sich deswegen Abende lang auf der Steinterrasse gestritten. Dixiklo, hatte die Mutter geschimpft, aber wegen der Nachbarn leiser gesprochen, als die Korbstühle knarrten. Jetzt standen die Stühle in der Garage. Es war Silvester und Leonhard war allein im Haus. Das war ein wenig traurig, aber nur wenn er daran dachte.

Lad dir doch jemanden ein!

Mal sehen, Mutter.

Irgendwo in der Nachbarschaft spielte jemand Trompete. Leonhard lehnte das Rad gegen die Panoramascheibe des Wohnzimmers, zog die Schuhe aus und ging auf Socken ins Haus. In der Küche kippte er das Fenster zur Straße. Der letzte Bus des Tages fuhr in die Haltebucht schräg gegenüber. Niemand stieg aus oder ein. Als der Bus über den Kreisverkehr in dem Wäldchen verschwand, das Bungalowsiedlung und Stadt voneinander trennte, begleitete ihn ein hoher, pfeifender Ton.

Leonhard studierte im ersten Semester Volkswirtschaft keine dreißig Kilometer von zu Hause entfernt und trug eine Brille. Seit dem Abitur hatte er ein eigenes Auto. Abends fuhr er heim, nicht aus Geldmangel, sondern aus Anhänglichkeit oder vielleicht auch aus Angst, was manchmal das Gleiche ist. In seinem Zimmer stand noch ein Kran aus Legosteinen. Den behalte ich für immer, hatte er gesagt, als die Familie aus Gent hierher nach Stuttgart-Frauenkopf gezogen war. Den behalte ich als Erinnerung an meine Kindheit. Damals war er acht gewesen.

Leonhard setzte Nudelwasser auf, öffnete ein Glas Pesto, und irgendwo zerriss eine verfrühte Silvesterrakete die kalte Dezemberluft. Eine Handvoll Pinienkerne solltest du in den Fertigsugo werfen, das wird dann eine feinere Sache, hatte seine Mutter mit dem Rollkoffer an der Hand am zweiten Weihnachtsmorgen noch gesagt. Im sprudelnden Wasser ließ er die Spaghetti wie ein Bündel Mikadostäbchen auseinanderfallen. Als sie in der Hitze nachgaben, versenkte er sie mit dem Holzlöffel ganz, warf eine Handvoll Salz hinterher, stellte den Küchenwecker, durchquerte die Diele, vollgestellt mit Bücherregalen der Mutter, Krimis doppelreihig, in englischer und französischer Sprache hauptsächlich, und lief auf Socken aus der Haustür zum Gartentor. Im Haus drüben wohnte Fabio, der Versager. Kies drückte sich in Leonhards Fußsohlen. Bald war wieder Sommer.

Im Postkasten lag nur das Managermagazin für den Vater. Zwei alte Damen schoben langsam am Zaun vorüber. Hand in Hand schnappten sie Luft und spazierten über den Radweg, den in dieser Gegend niemand benutzte. Die eine ging am Stock, die andere lächelte. Spätes Glück, hatte Leonhards Mutter die Nachbarinnen aus dem Sechzigerjahre-Bungalow beim Kreisverkehr genannt.

Zwei Stunden später herrschte draußen längst satte Dunkelheit. Drinnen würde morgen der Parmesan ausgehen, wusste er, als er den Fernseher anschaltete. Same procedure as every year, sagte im ersten Programm ein Dienerfrack mit einem gebückten Schauspieler darin und trat gegen einen Kaminvorleger, gegen den Kopf eines toten Tigers. Der Schauspieler war bestimmt längst tot und seine lachenden Zuschauer, die man nicht sah, auch. Leonhard war im Mai achtzehn geworden. Draußen auf der Straße gingen jetzt mehr Feuerwerkskörper in die Luft, und der Himmel über ihm war längst von einem rauchigen, schmutzigen Gelb, als auch er Punkt Mitternacht hinten im Garten beim Dixiklo aus ein paar Flaschenhälsen seine einsamen Raketen aufzischen ließ. Die Flaschenhälse erinnerten ihn an Ballerinen, warum, wusste er selbst nicht. Er war nur einmal im Leben in einer Oper gewesen, mit seinem Klavierlehrer, und ins Ballett ging er nie. Er kehrte, seine leeren Flaschen im Arm, ins Haus zurück, hängte die Daunenjacke des Vaters an die Garderobe und las eine SMS voller Tippfehler. Miss you! Seine Familie grüßte angeheitert aus Belgien. Statt zu antworten, lief er, wieder auf Socken, zum Flügel, korrigierte aus Gewohnheit die Höhe des Hockers und spielte los wie gestern und vorgestern, um immer an den gleichen Stellen zu stolpern. Von Mal zu Mal wurde er langsamer, bis er die Noten nur noch buchstabierte.

Vorbilder, Leonhard?, hatte der Klavierlehrer ihn neulich gefragt. Jung sah er aus, vielleicht, weil er Zopf trug.

Vorbilder?

Mozart vielleicht.

Wenn, dann Boba Fett.

Wer?

Boba Fett.

In seinem schottischen Strickpullover mit dem tranigen Geruch nach Schafwolle war der Klavierlehrer von seinem Stuhl am Flügel aufgestanden.

Boba Fett aus Star Wars? Was willst du denn mit dem, der hat ja nicht einmal eine Seele.

Genau, hatte Leonhard gesagt, ich wünsche mir manchmal auch, ich hätte keine.

Wieso denn das?

Der Klavierlehrer war auf und ab gegangen. Es hatte im ganzen Zimmer nach Schottland und Schaf gerochen.

Seele, das ist doch nur eine ewige Schwachstelle, hatte Leonhard gesagt.

Zsss, Mensch Junge!

Der Klavierlehrer, blaue Augen, dunkel wie sein Pullover, hatte über Leonhards Schulter einen Akkord gegriffen.

Schon klar, das Leben kann ab und an und vor allem ab jetzt verlangen, ungestüm gelebt zu werden. Aber deswegen musst du dich doch nicht tot stellen, Leonhard, hatte er gesagt.

Leonhard hob den Kopf und sah über die glänzend schwarze Oberfläche des Flügels hinweg aus dem Fenster. Stadtlichter glitzerten sternengleich über der Hanglage gegenüber. Darüber zuckten Raketen, als sei Kirmes im All. Auch dort, alle reich. Für euch drei Geschwister, so hatte der Großvater letztes Jahr an Weihnachten gesagt, hat doch das Wohnen hier eine ziemlich unbeschwerte Kindheit mit Garten, Straße, Wald, mit Kindergarten, Schule, Fußballplatz gebracht, oder? Alles ist ländlich, alles so nah und die böse Stadt so fern. Die Feststellung des Großvaters hatte nach Abschied geklungen, aber das fiel ihm erst jetzt auf. Leonhard spielte passend zum bunten Silvesterschauspiel im Fensterrahmen einen schwachsinnigen Popsong, bei dem seine Mutter gern den Staubsauger oder anderes Küchengerät anstellte, um ihn nicht hören zu müssen. Keine halbe Stunde später zog er seinen gestreiften Schlafanzug an, putzte sich die Zähne und ließ eine halb leere Spülmaschine laufen. Bevor er hinauf in sein Zimmer ging, löschte er im Haus und draußen das Licht. Damit hatte er alles erledigt, was es an dem Tag zu erledigen gab.

Am Morgen lag die Frau in der Diele.

Er hätte über sie steigen müssen, wenn er in die Küche zu seinen Cornflakes wollte. Auf der untersten Treppenstufe blieb er stehen und zog den Bund seiner Schlafanzughose hoch. Angst machte sich breit. In Horrorfilmen griffen bei so einer Gelegenheit Halbtote nach den Beinen der Lebenden, die es wagten, über sie hinwegzusteigen. War sie tot? Auf der untersten Treppenstufe ging er in die Hocke. Atmete sie noch? Das Haus hatte keine Fußbodenheizung. Fror sie nicht? Warum hatte sie die Schuhe und Socken ausgezogen und trug an drei Zehen Ringe? War das eine Einbrecherin? Seit wann zogen die in fremden Häusern die Schuhe aus und schliefen danach auf frischer Tat ein? War sie eine Streunerin, Borderlinerin, Alkoholikerin, ein Halbmensch mit tierischen Bedürfnissen, ein Etwas oder Wesen, das es hier auf halbem Hang eigentlich gar nicht gab? Aber was gab es hier schon, was sich nicht in Geld umrechnen ließ? Selbst der Bus würde bald abgeschafft werden, der in dem Moment vorm Haus mit seinem hohen Dudelsackdauerton vorüberfuhr, zum ersten Mal etwas Tröstliches an sich hatte und versicherte, die Welt, die Leonhard kannte, gab es da draußen noch. Nur hier drinnen lag eine Frau auf der Seite, in einer dunkelbraunen Cordhose mit einem schwarzen, altmodischen Kleid darüber. Eine froschgrüne Wetterjacke hatte sie als Kissen unter der Wange zusammengerollt. Ihre Hände beteten zwischen den Knien. Ein Paar speckiger, aber solider Wanderschuhe stand in Reichweite neben ihr. Einmal hatte er in London zwischen zwei großen Straßen auf einer verwahrlosten Grünfläche ein Zelt gesehen und vor dem Zelt auch so ein Paar Wanderschuhe. Leonhard hatte angefangen, mit einer winzigen Taschenlampe am Eingang des Iglus aus Polyester herumzukratzen. Piss off, hatte eine Frauenstimme gedämpft durch die Haut des Zelts gemurmelt. Sorry! In seiner Vorstellung war die Frau im Zelt plötzlich keine Prinzessin mehr gewesen und jung, sondern den verlebten Frauen von der Kirmes ähnlich, die dünn waren wie ihre Zigaretten, die sie an den Schießbuden rauchten. Leonhard schob Nase und Kinn in Richtung Wanderschuhe auf den Terrakottafliesen seiner Eltern. Von dort kam der Geruch nach Gewürzen und Schweiß? War die Frau vielleicht eine Hexe und fähig, die Zusammensetzung von Luft zu verändern, sodass Verbotenes plötzlich ganz natürlich wirkte und bisher Selbstverständliches einfach lächerlich? So lächerlich wie er jetzt, der vielleicht selbst nach Socke stank? Leonhard drückte die Nase zur Achselhöhle. Er roch wie immer nach dem Weichspüler seiner Mutter, ganz klar. Also stank die Hexe. Aber wie war sie hier hereingekommen? Und tot war sie nicht, sie atmete deutlich. Starben Hexen überhaupt? Und was wäre schlimmer, wenn sie die Augen jetzt aufschlüge oder wenn sie sie für immer geschlossen hielte? Begriffe holperten durch seinen Kopf wie Töne auf der Tonleiter eines Klavierschülers im ersten Monat. War sie ein Notfall, Kriminalfall, ein Fall für Kirche und Caritas oder nur ein Zufall? Rief er jetzt besser die Polizei oder seine Eltern an?

Leonhard stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vom Rand der untersten Treppenstufe aus vor. Wind kam auf. Jetzt hockte er am Rand einer Klippe. Seine Zehen krallten sich an der Stufenkante fest und erbleichten. An dieser Stelle fiel die Küste steil ab ins Meer. Leonhard hielt den Atem an und schloss den obersten Knopf seiner gestreiften Schlafanzugjacke gegen den Sturm.

Ich weiß, dass ich hier etwas mache, aber nicht, was, hatte Leonhard gedacht, als er im Sommer die Studienunterlagen aus dem Netz heruntergeladen und am Computer ausgefüllt hatte, ohne eine Vorstellung davon, wie die Uni von innen aussah, für die er sich entschied. Ein unterirdisches Arrangement aus Beton, Deckenstrahlern, Holztischen auf dünnen Metallbeinen, gebrauchten Kaffeebechern und blütenlosen Topfblumen, und immer alles in der Nähe der Toiletten, hatte er vermutet. So falsch war seine Vorstellung von den kommenden drei oder vier Jahren seines Lebens gar nicht gewesen, sah er am ersten Tag. Sein Vater war Manager bei einem großen Pharmakonzern und freitags Rotarier im Interconti beim Bahnhof, falls er nicht auf Geschäftsreise war. Dort traf er sich bei Salat und Kaffee mit Fernsehmoderatoren in zu engen Anzügen und Damen mit perfekten Zahnimplantaten. In den Achtzigern hatte der Vater im Hörsaal noch gestrickt. Leonhards Mutter hatte einen langen Hals, auf dem sie ein schmales, bei bestimmtem Licht fast schönes Gesicht herumbalancierte. Sie arbeitete nicht. Leonhard sah dem Vater ähnlich. Am Ende der elften Klasse hatte er einen Aufsatz über die obszönen Ausmaße der ungerechten Verteilung von Gehältern in großen Unternehmen geschrieben, in denen CEOs vierzigmal so viel verdienten wie die ihnen unterstellten Mitarbeiter. Sehr gut, hatte der Lehrer das Referat benotet und in Klammern vorgeschlagen, er solle doch vielleicht Journalist werden. Journalist? Besser nicht, hatte der Vater gemeint, solange du wie in deiner vorletzten Hausarbeit über den Zweiten Weltkrieg Auschwitz falsch schreibst, solltest du lieber was mit Wirtschaft machen, Sohn.

Sachte richtete sich Leonhard auf der untersten Treppenstufe auf und kletterte auf Zehenspitzen über die Frau hinweg. Wenn ich mich niederlege, geh über mich hinweg. Wer sang das Lied zum Klavier noch mal? Sie atmete jetzt tiefer, merkte er bei der Gelegenheit. Seine Füße zögerten kurz neben den ihren. Er zog wieder den Bund seiner Schlafanzughose höher. So machte es sein Vater, wenn er frühmorgens eine Entscheidung traf. Diese Frau war keine Streunerin, beschloss Leonhard, die Nägel waren dafür zu kurz geschnitten und zu perfekt in einem Ton lackiert, der an Aprikose erinnerte.

Er ging in die Küche. Eine Telefonnummer und Kuss, Mutti! stand auf dem gelben Zettel am Kühlschrank, magnetfixiert zwischen Familienfotos und Porträtaufnahmen von Mutters Katze, die im Herbst überfahren worden war. Leonhard löste den gelben Zettel vom Kühlschrank: Vorwahl für Belgien, Nummer von einem Ferienhaus, das er nicht kannte. Trotzdem sah er die Familie dort sitzen, und über dem Frühstückstisch ein Licht wie helle Seide, während sie ihre Cornflakes einweichten für ein spätes Frühstück. Die Schwestern, noch im Pyjama, sprachen wie immer zu laut. Wie er die beiden auf einmal mochte. Er mochte sie immer, wenn sie nicht da waren. Mit großem Schwung zog er die Gardine vorm Küchenfenster beiseite. Auf der leeren Fahrbahn liefen zwei Jogger, die Frau mindestens fünf Meter hinter dem Mann und mit roten Backen. War die Frau in der Diele über die Garage und von dort weiter über die niedrige grüne, feuerfeste Seitentür ins Haus gekommen? Hatte er beide Türen zur Straße hin nicht abgeschlossen, gestern, als er noch einmal beim Briefkasten gewesen war? Nein, diese Sache war auf keinen Fall eine Familienangelegenheit. Der Entschluss, keine Meldung in Belgien zu machen, erleichterte und erregte ihn. Auf der Straßenseite gegenüber traten jetzt zwei Frauen mit zwei Besen unter der Führung von Fabio auf. Sie kehrten die vergangene Nacht zu einem Larvenhaufen von abgebrannten Feuerwerkskörpern zusammen. Fabio war fünfzehn Jahre älter als Leonhard und wohnte unter Aufsicht seiner verwitweten Mutter noch immer im Elternhaus, im Moment mit neuer Freundin und drei Kindern von seiner alten. Fabio hatte keinen Beruf, sondern einen Verleih für Musikanlagen, untergebracht in einer Doppelgarage neben dem Gartenaufgang. Wer wollte schon wie Fabio sein, wer wollte wie Fabio enden? Vielleicht war es an der Zeit, selber einmal etwas unvermeidlich Richtiges zu tun?

Leonhard setzte Wasser auf, holte löslichen Kaffee aus dem Hängeschrank und zwei Tassen.

Ich bin nicht schmutzig, ich bin nur müde, sagte die Frau, richtete sich auf und schob den Hintern rückwärts, bis sie gegen das Bücherregal mit den Paperbacks der Mutter stieß und sich dort anlehnen konnte. Was war eindrücklicher? Das Tiefblau ihrer Augen? Die dicken Brauen? Die zwei Falten dazwischen, Furchen wie bei einem Mann, der in die Kamera raucht und gedankenvoll dabei aussehen will? Furchen wie bei einem modernen Schriftsteller.

Die Frau holte eine Bürste aus einem ihrer Wanderschuhe. Ihr Haar war nicht blond und nicht grau.

Du siehst irgendwie aus wie Dieter Thomas Heck, als der noch jung war. Bist du mit Dieter Thomas Heck verwandt? Oder mit einem Hasen?

Nein, mit meiner Familie. Wir wohnen hier, und deswegen geht das nicht.

Was?

Sich kämmen, hier in der Diele.

Die Frau lächelte und kämmte sich. Leonhard setzte sich auf die unterste Treppenstufe und schob ihr eine Tasse Kaffee hin. Durch seinen Kopf flitzte der strubbelige Terrier von gegenüber, der Köter von Fabios neuer Freundin, der ihn bei jeder Begegnung anbellte, als hätte Leonhard ihn schon mal gebissen.

Du bist allein?

Heute, ja, und morgen auch noch. Möchten Sie vielleicht eine Bulette zum Kaffee? Ich habe noch welche im Kühlschrank.

Du bist bestimmt ein ganz Lieber.

Ja, richtig, er war ein ganz Lieber, das sagten die Nachbarn auch immer, wenn er seiner Mutter den Wäschekorb auf die Terrasse hinterhertrug und ihr die nassen Socken zum Aufhängen anreichte. Die Frau hob die Hand, als wolle sie ihm über den Kopf streichen.

Kannst du auch Auto fahren, mein Hase?

Jetzt bloß nicht rot werden, dachte Leonhard, wurde rot und sagte: Der rote Polo in der Garageneinfahrt gehört mir. Hat mir mein Großvater geschenkt. Er zog den Autoschlüssel aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Die Frau griff in den Ausschnitt ihres altmodischen Kleids und holte zwischen ihren Brüsten ebenfalls einen Schlüssel hervor, einen nummerierten, mit doppeltem Bart.

Schau mal, sagte sie, und er versank in ihren blauen Parmaveilchenaugen, die ganz weit hinten von irgendeiner ihm unbekannten Dunkelheit gesättigt zu sein schienen.

Wie sind Sie hier reingekommen?

Sag Du, und frag lieber, warum ich hier hereingekommen bin.

Warum?

Draußen ist Winter, und ich hatte keine Streichhölzer mehr. Apropos, darf man hier rauchen?

Nein.

Ich bin aber alt genug, um zu machen, was ich will.

Nein.

Was denkst du denn, wie alt ich bin?

Alt, wollte er sagen, vierzig vielleicht, weil seine Mutter gerade vierzig geworden war.

Fünfunddreißig, wisperte er.

Ist das nicht alt?, wisperte sie zurück.

Nein.

Ab wann ist man dann alt?

Man ist alt, wenn man stirbt.

Wie heißt du eigentlich?

Leonhard.

Was für ein Name, sagte sie.

Ein leiser Regen fiel, dessen Farbe er nur an der Bewegung erkennen konnte. Leonhard überholte mit seinem roten Polo die Straßenbahn stadteinwärts. Ob er das große A für Anfänger von der Heckscheibe hätte abmachen sollen, bevor sie es sah? Ob er sie im Haus hatte allein lassen dürfen? Das Zimmer im Keller hatte er ihr angeboten, damit sie sich nicht katzenhaft überall hinlegen und haaren konnte. Gästezimmer, hatte er gesagt, das Fenster aus geriffeltem Glas gekippt und die Heizung darunter höher gedreht. Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt, das sich zu einem schmalen Doppelbett ausziehen ließ. Sie würde es nicht aufschlitzen, sicher nicht, und sicher würde sie auch nicht auf die Idee kommen, mit dem neuen Beamer oder dem zwölfteiligen Zwiebelmuster von Tante Helma einschließlich Saucière abzuhauen. Die Tapete im Gästezimmer würde sie auch nicht abknibbeln oder ihren Namen mit Kuli und Datum dort verewigen. Bargeld war nirgendwo im Haus versteckt. Aber sie würde nicht aus Geldgier, sondern aus Neugier wieder nach oben gehen, Wohn- und Esszimmer inspizieren, dann die Küche, ein oder zwei von den selbst gebackenen Plätzchen der kroatischen Putzfrau essen, die einmal in der Woche alles und auch die Bürste der Mutter reinigte und das Knäuel toter Haare mit bloßen Händen in die Tasche ihrer Kittelschürze steckte. Sie würde vielleicht noch einen löslichen Kaffee kochen und sich auf die Zehenspitzen stellen, während sie auf das Sprudeln des Wassers wartete, um draußen auf der Straße den Bus vorüberfahren zu sehen. Würde mit dem hohen Dudelsackdauerton im Ohr eine Treppe höher in die Zimmer der Schwestern gehen, um deren Mädchenunordnung, die Bücher, Tücher, Ohrstöpsel, die Sandaletten, Stoffblumen, Schälchen mit gesalzenen Mandeln und pastellfarbige Schminke gegen frühes Leid zu sehen. Sie würde in sein Zimmer gehen, das hinterste im oberen Stock. Unter dem Bett stand der alte Plattenspieler seiner Mutter, und unter dem Fenster im Regal hatte er sorgfältig seine vielen Socken in eine ausrangierte Holzkiste für Wein einsortiert. Leonhard war Jungfrau. Um genau zu sein, war Leonhard doppelt Jungfrau. Für sein Sternzeichen kann keiner was. Gegen Zustände, Erfahrungsrückstände ließ sich etwas machen. Leonhard arbeitete daran, doch gegen was für einen Namen arbeitete er an. Leonhard, so hieß ein Schutzpatron für Viecher.

Beim Bahnhof parkte er auf dem Stück Niemandsland zwischen den zwei Riesenbaustellen, die die Stadt als Parkplatz auswies und von einem Rentner in Bretterbude bewachen ließ. Keine zehn Minuten später zog Leonhard einen alten Samsonite-Koffer mittlerer Größe, schwarz und an den Rändern aus den Fugen, zum Auto. Das Innenfutter drückte sich an den Nähten nach außen wie Rosshaar aus einer geplatzten Matratze.

Als Leonhard auf das Schließfach 227 zugegangen war, hatten sich seine Handflächen seifig angefühlt. Konnte es nicht sein, dass in wenigen Sekunden, sobald er den nummerierten Schlüssel mit doppeltem Bart im Schloss umdrehte, eine fremde Hand sich schwer auf seine rechte Schulter legen und eine zweite, eine weibliche vielleicht, die kalte Mündung einer Waffe an seine linke Schläfe drücken würde? Polizei. Ausweis bitte. Sie blond und jung, er mittelalt, Dreitagebart und Bauchansatz unter dem Blouson für Zivilbeamte, und auf beiden Gesichtern diese professionelle Gleichgültigkeit, die verriet, um sechzehn Uhr ist Feierabend. Sicher hatte die Angelegenheit, in die er wegen der fremden Frau geraten war, mit Drogen zu tun oder einem Mord, von dem er, Leonhard, noch nichts, dafür aber sicher sein Großvater, der auch Leonhard hieß, vor Tagen oder Wochen oder einem Jahr bereits in der Zeitung gelesen hatte. Doch nichts von alledem. Ein leerer Pappbecher für Coffee to go hatte vor dem Schließfach gelegen, mit einer Spur von Lippenstift am Rand. Aus dem Schließfach nebenan hatte ein spanisch aussehendes Paar eine Computertasche geholt, und die Frau hatte sich umständlich eine dickere Hose angezogen. Eine Taube war zu Fuß vorbeigekommen, hatte innegehalten, den Kopf von der einen zur anderen Seite gedreht und Leonhard betrachtet, mit jeweils einem Auge. Wahrscheinlich hielt die ihn auch für einen Hasen.

Aus dem Kassenfensterchen des Rentners kam ein Weihnachtslied, als Leonhard seine Parkgebühr zahlte. Gutes neues Jahr, nickte er mit der gleichen aufmerksamen Unaufmerksamkeit in Stimme und Ton wie sein Vater, der auf alten Fotos noch Haare hatte.

Was für ein später Mittag. Fast war schon wieder frühe Nacht. Kein Schnee fiel. Ein Flugzeug flog lautlos und hoch am Himmel. Bei Schnee hätte er es besser hören können.

Leonhard fuhr die Strecke durch den dunklen Mittag zurück. Während im Radio die Vierzehn-Uhr-Nachrichtensprecherin mit ausgeglichener Stimme etwas von Unruhen und Toten erzählte, ging die Verhaftung, die nicht stattgefunden hatte, noch einmal durch seinen Kopf: Polizei, Ausweis bitte, danke, langer Blick aufs Passbild, kürzerer Blick in sein Gesicht, noch kürzer der, den die Blonde und der Bauch miteinander wechselten, Ausweis zurück, danke: Sie können weiterhoppeln.

Kurz hinter der Straßenbahnhaltestelle, wo man ins Viertel am Hang einbog, hielt er an und öffnete die Heckklappe. In seiner Hosentasche klingelte die Melodie von Der dritte Mann. Papa stand auf dem Display.

Alles in Ordnung bei dir, Leonhard?

Da lag der Koffer. Die Metallzipper des Reißverschlusses waren durch Packzwirn ersetzt.

Leonhard?

Ja, hier.

Hat es geschneit, musstest du streuen?

Nein.

Ist die Straße sehr schmutzig von der Böllerei, haben die Nachbarn Feuerwerk gemacht?

Nein.

Auch Fabio nicht?

Kaum, nein.

Aber jetzt tut es dir schon leid, dass du nicht mitgefahren bist, oder?

Weiß nicht, ich glaube nein. Behutsam zog Leonhard die Zwirnschlaufe über vier Ecken und öffnete den Koffer.

Ich erkenne am ersten Tag des Jahres deutlich etwas Neues an dir, Sohn. Der Vater lachte: Nämlich die Fähigkeit, Nein zu sagen.

Ein Laptop, ein altes Handy, ausgeschaltet, ein Kopfkissen, weiß bezogen, eine Teekanne, Trainingszeug, Sportschuhe, eine bunte Hose aus großen quadratischen Designerflicken, ein Herrenregenmantel, zwei T-Shirts, eins mit NADA PRADA bedruckt, drei Lippenstifte in einer Apothekentüte, noch eine Haarbürste, ein Korkenzieher, Müsliriegel, eine Wärmflasche, eine Flasche Wodka …

Hallo, Sohn?

… eine Stange Zigaretten …

Freust du dich eigentlich, wenn wir wiederkommen, Sohn?

… und ganz zu unterst …

Sohn?

… eine grüne Polizeiuniform.

Freust du dich?

Ein verspäteter Silvesterknaller, der die kalte Luft drüben beim Wäldchen zerriss, ersparte Leonhard die Antwort. Die Detonation klang, als könnte es bis zum Abend noch Verletzte geben.

Als sie ihm die Tür öffnete, hatte sie das schwarze Kleid ausgezogen und trug nur noch die Cordjeans, darüber ein Männerunterhemd, geflickt, aber sauber, das sie unter einer alten braunen Pelzjacke von Tante Helma, die längst nicht mehr zu Besuch kam, aus dem Sack für die Altkleidersammlung gezogen haben musste. Der Sack stand seit Anfang Dezember im Gang zwischen Gästezimmer und Waschküche und wartete darauf, abgeholt zu werden.

Danke! Sie strich behutsam und doch neutral mit dem Handrücken über seinen Unterarm, der noch in der Windjacke steckte, und zog den Koffer selbst ins Haus.

Hat lange gedauert.

Ich war noch kurz auf dem Parkplatz da drüben.

Wieso das?

Telefonieren, sagte er, und auf einmal sah er wieder den Mann, der damals an der gleichen Stelle angehalten hatte wie er, als der Parkplatz noch ein Kinderspielplatz gewesen war. Der Mann war aus einem ziemlich alten Auto ausgestiegen, einem silbergrauen Volvo. Er hatte alle vier Türen sowie den Kofferraum seines Wagens geöffnet und Musik eingelegt. Laut, sehr laut war das gewesen und schon so lange her. Der Mann hatte sich auf dem leeren Spielplatz auf eine Schaukel gequetscht und geschaukelt, die Hände vor dem Gesicht. Noch nie hatte Leonhard einen so traurigen Mann gesehen, der für solch eine Gelegenheit auch gleich die richtige Musik dabeihatte.

Bist du eigentlich von der Polizei? Er schaute sie an und lieh sich die Strenge seines Vaters dafür aus. Sie war so unverschämt schön, dass er eine Sekunde lang vergaß, dass er hier wohnte.

Hast du in den Koffer geschaut?

Eine Göttin fragte das, die ein Zufall oder ein Missverständnis ins Haus seiner Eltern gespült haben musste. Wie alt mochte sie sein? Ihr Haar, gewaschen und Seegras jetzt, stieß feucht auf ihre Schultern und rahmte das Gesicht ein. Bisher hatte er über das Alter von Mädchen, aber nie über das von Frauen nachgedacht. Sie war die erste Frau, die erste richtige Frau, der er bislang begegnet war. Du solltest mal den Kranz da draußen abnehmen, sagte sie und meinte den Adventsschmuck mit den vier roten Schleifen außen an der Tür zur Straße. Sieht ja aus, als sei hier jemand gestorben.

Ich glaube, das würde meiner Mutter nicht gefallen.

Glauben, glauben, sagte sie, was heißt hier glauben?

Jeder glaubt an was, sagte er und ahnte, so eine Frau wie diese hier würde er wahrscheinlich nie verstehen.

Stimmt, jeder glaubt an was, sogar die Männer, die Labellos von kleinen Mädchen klauen, sagte sie, und jetzt habe ich Hunger. Sie nahm seine Hand. Ihre Finger fühlten sich schmal und kalt und trocken an.

Am frühen Abend kochte er eine doppelte Portion Nudeln mit Fertigsugo und ohne Pinienkerne. Seine Brillengläser beschlugen dabei. Dann rieb er den letzten Rest vom Parmesan. Er stellte zwei Rotweingläser auf den Küchentisch und zündete eine Kerze an. Ballerinabesuch, dachte er, so war das wenigstens gestern noch gewesen. Rockmusik aus den Siebzigern kam aus dem Keller, als er zum Essen rief. Draußen vor Fabios Garage hielt ein Transporter. Fabio im T-Shirt sprang aus der Fahrertür und schloss auf. Dann redete er laut mit seinem Beifahrer und zündete sich eine Zigarette an, bevor sie anfingen, eine Musikanlage von der dunklen Straße ins neonweiße Licht der Garage zu tragen. Beide waren über dreißig, beide hatten deutlich Spaß, deutlich Bauch, und die Zigarette im Mund war eine Art dritte Hand.

Das ist hier bei euch wie in einer Sekte, sagte sie, als sie zum Essen raufkam, alles beige und grau und verwaschenes Braun. Alles eigentlich nur schwarz-weiß.

Wir sind in keiner Sekte.

Alles, wie in diesem Film Das weiße Band. Kennst du den?

Ich geh nicht so oft ins Kino, sagte Leonhard.

Eine Stunde später saß Leonhard noch bei seinem ersten Glas Wein. Sie schüttete sich das dritte ein. Ronja war zehn, wusste er jetzt, trat mit einem Schulranzen und aufgeklebten Engelsflügeln auf dem Rücken und einem Kinderakkordeon vor dem Bauch auf der Straße auf, musizierte. Mutti stand in einiger Entfernung als dumme Auguste dabei und tarnte mit roter Nase, dass sie eigentlich die Aufpasserin war. Ronja verdiente an manchen Nachmittagen so viel wie eine Putzfrau in einer Woche nicht.

Wo ist Ronja jetzt?, fragte er, statt zu sagen: Das tut aber eine von der Polizei nicht.

Bei Tarzan.

Und du bist eigentlich Jane? Klang doch ganz schlagfertig, wie er nach dem Titel eines Films fragte, den er nicht mal gesehen hatte.

Ich dachte, du gehst nicht so oft ins Kino.

Sie lachte, und deswegen war Leonhard stolz auf seine Antwort. Sie hatte gesagt, sie habe letzte Nacht eigentlich nicht ihn, sondern ihre Schwester im neuen Fertighaus unten an der Ecke besuchen wollen. Ausgeflogen, die Gute, hatte die Frau gesagt, also bin ich hier gelandet. Du hattest die Garagentür nicht abgeschlossen, Junge.

So ein Glück! Leonhard trank die Pfütze aus seinem Glas, als würde er eine Maß Bier auf ex trinken. Die Frau, die nach eigenen Angaben mit einem Mann, der auf den Spitznamen Tarzan hörte, ein Wunderkind namens Ronja hatte, stand auf und machte zwischen Herd und Küchentisch einen Kopfstand. Übung eins, sagte sie. Dann stellte sie sich auf die Unterarme und sagte: Übung zwei, auch Ellenbogenstand oder Skorpion genannt. In einem fließenden Übergang ging sie in die Brücke, richtete sich von dort wieder auf in den Handstand, sagte: Übung drei, und das alles sollte man nur machen, wenn man schon mal Akrobatik gemacht hat, und lief auf den Händen zum Küchentisch zurück.

So, jetzt noch einen Schluck Wein, sagte sie, ohne sich zurück von den Händen auf die Füße zu stellen.

Wie denn?

Mit Strohhalm, Junge.

Lernt man das auch bei der Polizei?

Schnüffler! Sie ließ sich auf die Füße zurückfallen. Ihr Kopf war rot. Schatten schoben ihre Wangenknochen höher. Einen Moment lang war es in der Küche so still, dass er die Uhr über der Tür zum Esszimmer ticken hörte. Sie schwankte ein wenig, hatte zu viel getrunken, und die Umkehrstellungen hatten den Rest besorgt.

Ich bin nicht bei der Polizei. Etwas Unklares, Schlaftrunkenes lag auf ihrem Gesicht, während sie versuchte zu lächeln. Ich muss jetzt träumen. Kommst du mit?

Leonhard stand auf und räumte den Tisch ab. Ein brennender Schleier hatte sich um seinen Hals gewickelt. Stellungen … es ihr besorgt, … aber richtig, er war ein Hase und Schutzpatron von anderen Viechern, ein treuer Trabant seiner Eltern, manchmal zwar schlecht gelaunt und deswegen bockig, aber eigentlich brav in der Spur.

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