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In Niceville, einer Kleinstadt im Süden der USA, geraten die Dinge vollends außer Kontrolle: An einem Wochenende werden mehrere Menschen brutal ermordet. Die Täter berichten von einer mysteriösen Stimme, die sie ange­sta­chelt habe. Sind sie besessen? Ermittler Nick Kavanaugh ist zunächst damit beschäftigt, seine Familie zusammenzuhalten, die vom Adoptivsohn Rainey tyrannisiert wird. Aber was ist der Grund dafür, dass sich in Niceville scheinbar normale Menschen in eiskalte Killer verwandeln? Der Schlüssel zu allem liegt in der mit pechschwarzem Wasser gefüllten Senke am Rande der Stadt. Während Nick und seine Helfer versuchen, das Böse zurückzudrängen, hat es sich schon längst in den Köpfen der Menschen eingenistet. Ist es überhaupt noch aufzuhalten?

autor

© Linda Mair

Carsten Stroud war Surfer, Bootsbauer in Baja California und Berufstaucher in der US Army. Er hielt sich in geheimer Mission in den gefährlichsten Ge­gen­den der Dritten Welt auf. Er ist Journalist und preisgekrönter Sachbuch­autor, seine Romane sind Bestseller in den USA.
Carsten Stroud hat drei erwachsene Kinder und lebt heute mit seiner Frau in Toronto. Bei DuMont erschienen bislang ›Niceville‹ (2012) und ›Die Rück­kehr‹ (2013).

Carsten Stroud

DER AUFBRUCH

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Daniel Hauptmann

 

 

Für Linda Mair

 

 

Der Dinge, welche am meisten fürs Vergessen geeignet sind,
erinnern wir uns am besten.

Gracian (1647)
1858

Ein grausamer Mensch weidet sich an Tränen,
er wird nicht durch sie gebrochen.

Publilius Syrus (1. Jahrhundert v. Chr.)
1892

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Niceville und die Umgebung

Im Jahre 1814 versammelten sich die Einwohner von Niceville unter einem vollen Herbstmond am Ufer des Tulip, um über das Böse zu beratschlagen, das sich in ihrer Stadt ausgebreitet hatte, und um zu überlegen, was dagegen unternommen werden konnte.

Der Pfarrer Amity Suggs war der Ansicht, man habe es mit dem heiligen Zorn Gottes zu tun. Doktor Cullen glaubte, es müsse etwas mit dem Trinkwasser nicht stimmen. Der eher hellhäutige Schwarze John Brass erklärte, dass schon immer eine Kalona Ayeliski, eine Rabenspötter-Dämonin, an diesem Ort hauste, und man die Stadt daher verlassen sollte. So ging die Debatte lange Zeit hin und her.

Letztlich verkündete der Ältestenrat, woran man sich halten sollte: »Gott wird die Rechtschaffenen schützen. Sünder werden bestraft. Gehet christlich eurer täglichen Arbeit nach und lasset die heidnischen Nächte vorüberziehen.« Über zweihundert Jahre lang hielt dieser Pakt.

Dann, in einer verregneten Freitagnacht im Oktober, brach die Hölle los.

Am Freitag, um halb zehn Uhr abends, befand sich die gesamte Familie Morrison wohlbehütet in ihrem weißen stuckverzierten Heim in 1329 Palisade Drive in den Glades. Die Glades waren ein kurz nach dem Zweiten Weltkrieg errichtetes Art-déco-Viertel im Nordwesten von Niceville. Anfangs lag ein Hauch des Alten Hollywoods über dem Viertel, aber mit den Jahren wurde es lediglich immer älter.

Die kurvigen, schattigen Straßen in den Glades waren von Palmen, Zypressen und Virginiaeichen gesäumt. Der strömende Regen verlieh sämtlichen Straßenlaternen einen dunstigen Heiligenschein und prasselte auf die roten Ziegeldächer der Häuser nieder. Die Abflussrinnen der Straßen quollen beinahe über vor Herbstlaub und Schlammwasser. Dichter Nebel zog durch die Bäume. In der warmen Luft lag der schwere Friedhofsgeruch von feuchter Erde.

Im Inneren des Hauses der Morrisons herrschte eine friedliche, gemütliche Stimmung. Das Abendessen war eingenommen, der Tag klang ruhig aus. Doug, das Familienoberhaupt, war ein kleiner, rundlicher Mann mit freundlichen Gesichtszügen, der als forensischer Techniker bei der Polizei von Niceville arbeitete. Ellen, die Mutter, arbeitete als Krankenschwester auf der Säuglingsstation im »Our Lady of Sorrows«-Krankenhaus in Cap City. Jared, der dünne elfjährige Sohn mit seinen großen Ohren und zotteligem braunem Haar, lag bäuchlings vor dem 52-Zoll-Samsung-Fernseher. Auf seinem Rücken machte es sich eine übergroße und übergewichtige Maine-Coon-Katze namens Mildred Pierce bequem, die wie ein feinjustierter Motor schnurrte.

Und Ava, die fünfzehnjährige Tochter, beugte sich in ihrem zartrosafarbenen Kinderzimmer bei verschlossener Tür über ihren iMac und skypte mit Julia, ihrer allerbesten Freundin auf der ganzen Welt, mit der sie schadenfroh kichernd über die neue Mitschülerin in ihrer Klasse an der Sacred-Heart-Highschool herzog.

Neben ihrem schwarzen Haar und blauen Augen besaß Ava einen Körper, den ein liebender Gott einem 15-jährigen Mädchen niemals anvertraut hätte und dessen machtvoller Wirkung sie sich nur vage bewusst war. Sie gehörte zur Cheerleader-Truppe der Sacred Heart und liebte es, die gegnerischen Spieler sonntagnachmittags bei Footballspielen zu verspotten. An Werktagen fuhr sie mit ihren Freundinnen nach der Schule in die Innenstadt, wo die Mädchen in den marineblauen Röcken ihrer Sacred-Heart-Schuluniform und ihren scharlachroten Blazern mit dem Schulwappen entweder durch die Galleria Mall bummelten oder mit der Peachtree-Straßenbahn durch die Gegend fuhren. Sobald sie das Schulgelände verließen, zogen sie die Röcke weit nach oben und zeigten ihre blässlichen Schenkel und Kniestrümpfe. Wenn sie sich hinsetzten, achteten sie absichtlich nicht auf die Position ihrer Beine und spürten und genossen jeden einzelnen missbilligenden Blick. »Na ja, das machen alle so, oder nicht?«, hätte Ava erwidert, wenn man sie darauf angesprochen hätte, denn sie wusste rein gar nichts über die Gefahren, denen sie sich dadurch aussetzten.

Die Polizisten gingen davon aus, dass Ava vermutlich gar nicht gehört hatte, was im Erdgeschoss vor sich ging – das Läuten der Türklingel oder was auch immer es war –, denn sie saß oben in ihrem Zimmer, trug Kopfhörer und war mit ihrem Skype-Telefonat beschäftigt.

Unten im Erdgeschoss gab es jede Menge Hinweise darauf, was in jener Nacht geschehen war, angefangen in der Diele. Die Mitarbeiter der Spurensicherung waren sich ziemlich sicher, dass es hier begonnen hatte, als der Vater Doug die Tür geöffnet hatte.

Was auch immer es war, es hatte sich seinen Weg vom Eingangsbereich aus nach innen gebahnt und überall Spuren seiner Taten hinterlassen, an den Wänden, der Decke, dem Wohnzimmerteppich, der Treppe. Überall fanden sich Spuren, aber die schlimmsten waren im ersten Stock zu sehen, in Avas Zimmer.

Ab halb zehn Uhr abends verwandelte sich das Haus der Familie Morrison in den Glades in das reinste Fegefeuer. Da waren Schreie, Rufe, flehende Bitten, aber die Nachbarn hörten wegen des hämmernden Donners und des peitschenden Regens kein Wort. Aus diesem Grund konnten die Ereignisse im Haus die nächsten zweieinhalb Stunden ungestört stattfinden. Kurz nach Mitternacht wurden die Lichter ausgeschaltet und eine Art bestürzte Stille legte sich über 1329 Palisade Drive.

Wenige Minuten später erschien in der Tür neben der Garage eine schlurfende Gestalt, die einen grünen Müllbeutel trug, gemächlich die Einfahrt hinunter- und dann unter den Bäumen weiterspazierte und dabei immer wieder in den Lichtkreis der Straßenlaternen trat. Die in einen dunkelgrauen Regenmantel gehüllte Gestalt erreichte das Ende des Blocks, trat nach links in die Finsternis und war verschwunden.

Fünf Minuten vergingen. Dann rollte ein marineblauer Cadillac Fleetwood über die Kreuzung Palisade Drive/Lanai Lane und zog einen Schleier Regenwasser hinter sich her. Der Caddy erreichte die Ampelanlage an der River Road, überquerte die Kreuzung bei Rot – was ordnungsgemäß von einem Blitzer aufgenommen wurde –, beschleunigte dann Richtung Südosten und tauchte im Verkehr auf der River Road stadtauswärts unter, ein leuchtend blaues Ungetüm, das in den Straßenlichtern glitzerte, mit schwarz getönten Scheiben und einem hell erleuchteten Armaturenbrett, das das Gesicht des Fahrers beleuchtete. Mit bebender Brust und den wuchtigen Händen in der Zehn-vor-Zwei-Stellung auf dem schwarzen Lederlenkrad ruhend, ließ er die Glades Richtung Süden hinter sich, so schnell der Caddy nur fahren konnte.

Steig niemals aus dem Wagen aus

0:55 Uhr in derselben Nacht.

Unten in Tin Town fuhr der Streifenwagen eines Staff Sergeants mit dreißig Dienstjahren – sein Name war Frank Barbetta – die Miracle Mile entlang, Tin Towns Hauptstraße.

Tin Town war für Niceville das, was Compton für Los Angeles oder die South Side für Chicago darstellte. Die Miracle Mile wurde so genannt, weil es, sollte man je versuchen, nach Mitternacht an ihr entlangzuspazieren, an ein Wunder grenzte, wenn man eine Meile weit kam. Die Einwohner Tin Towns nannten sie nur The Mile.

Frank Barbetta war ein liebenswerter, aber zäher Cop, der auf der Mile den Ruf als fairer und sympathischer Polizist genoss, der nicht leicht zu reizen war, niemals seine Waffe ziehen musste, in dreißig Jahren niemanden erschossen hatte und lediglich sein Gehirn, Muskeln und gelegentlich einen in der Nähe stehenden Stuhl einsetzte, um Konfliktsituationen unter Kontrolle zu bringen. Kurzum, ein traditioneller Revierbulle, der niemandem die Seele aus dem Leib prügeln würde, der nicht zuvor inständig darum gebettelt hatte.

In Tin Town betrachtete man ihn als eine Art Wyatt Earp. Er war jemand, der genau wusste, dass die Nutten, Junkies, Biker, Idioten und Gauner alle zum Stadtbild gehörten und demnach zu den Bürgern zählten, die es zu beschützen und zu versorgen galt. Im Grunde entsprach dies der Wahrheit.

Kurz gesagt kam sich Frank Barbetta in jener verregneten Freitagnacht wie ein gütiger Gott in seinem persönlichen Himmelsreich vor, der mit der Welt im Reinen war. Eine Einstellung, von der das Schicksal magisch angezogen wird und über die es sich allzu gern köstlich amüsiert.

Tin Town war in gewisser Weise durch den Tulip entstanden. Breit und tief entsprang der Fluss aus der Belfair Range 90 Meilen im Norden und wurde auf seinem Weg durch die weiten Grastäler immer stärker, bis er um die hohe Kalksteinwand, die den Nordosten der Stadt überragte, einen Bogen schlug und durch Nicevilles Zentrum knallte wie ein Interstate Highway.

Der Fluss musste allerdings eine scharfe Kurve um eine steinige Untiefe südlich der Armory Bridge machen. Hier strudelte und brauste das Wasser eine schlammige Ebene entlang, auf der ein Haufen Fischerhütten mit Wellblechdächern auf Pechkieferpfählen stand, die man ins Kiesbett gerammt hatte.

Rohrkolbengewächse und Sauergrashalme hingen über angespülten Müllbergen, Bierdosen und allerlei toten Dingen. Mindestens einmal wöchentlich verfing sich eine herrenlose Leiche in den Gräsern, ein aufgedunsener Körper mit blauer Haut, dessen Augen, Lippen und Ohren von den Karpfen im Fluss abgebissen worden waren. Aus den zylinderförmigen Kaminrohren auf den Dächern stieg Rauch auf und durch Fensterläden schien gelbliches Licht, das sich auf der Wasseroberfläche widerspiegelte. So wie die tin roofs, die Wellblechdächer, Tin Town seinen Namen verliehen, so verliehen die warmen Tage und frostigen Nächte der Stadt im Herbst ihre Nebel und Schleier.

Die Miracle Mile, die sich im regenüberströmten Fenster von Barbettas Streifenwagen spiegelte, war zu beiden Seiten von mit Maschendraht umzäunten, neonbeleuchteten Bikerbars, Tattoo-Studios und Billig-Discountern gesäumt. Es gab sechs verschiedene Läden mit vergitterten, kugelsicheren Fenstern, in denen man sich einen Kurzzeitkredit zu dreißig Prozent fälligen Zinsen pro Tag leihen oder einen fremden Ehering gegen Bares verpfänden konnte, vorausgesetzt, es steckte kein Finger mehr darin.

Ungefähr auf halber Strecke der Mile, zwischen einem Lebensmittelladen und einem Waschsalon mit Selbstbedienung, stand ein zehngeschossiges Sandsteinhotel mit aufgesprühten Gang-Graffitis an allen Außenwänden. Über dem Eingang hing ein Schild, auf dem in fetten schwarzen Buchstaben stand:

NUR BARGELD, KEINE KREDITKARTEN!!!

KEINE ERMÄSSIGUNG FÜR RENTNER

SIE HATTEN DOPPELT SO VIEL ZEIT,

UM DAS VERDAMMTE GELD AUFZUTREIBEN!!!

An der bröckligen Ziegelfassade hing ein wie ein riesiges Kreuz geformtes Neonschild, das aus den Wörtern MOUNTROYAL und HOTEL bestand, wobei sich die Wörter im Buchstaben T überschnitten.

In Zimmer 304 des MountRoyal wohnte ein Mann, dem viel durch den Kopf ging. Er war groß und schlank, mit grobknochiger Statur, langem grauen Haar und einem Gesicht, das aussah, als sei es aus Sandstein gemeißelt, stand am Fenster und beobachtete den Streifenwagen aus Niceville, wie er nach Süden Richtung Flussbett fuhr. Die Nummer auf dem Dach verriet ihm, dass es sich um Frank Barbettas Wagen handeln musste. Der Mann am Hotelfenster kannte Barbetta aus längst vergangenen Tagen, als er selbst als Staff Sergeant für die State Troopers auf Streife gegangen war.

Gute Erinnerungen, zumindest die meisten, während manch andere besser vergraben blieben. Erinnerungen, wie sie ihm heute Nacht durch den Kopf gingen.

Wo war er mit seinen Gedanken?

Er konnte sich deutlich ans Türeneintreten, an Barschlägereien und an Verfolgungsjagden mit der Highway Patrol erinnern, an Autoüberschläge, verstümmelte Leichen und gelegentliche Schusswechsel. Er konnte sich an unzählige wilde Nächte erinnern, in denen er mit Jimmy Candles, Marty Coors und dem einzig wahren Coker die Gegend unsicher gemacht hatte; auch den Tod seiner Frau hatte er noch so klar vor Augen, als sei es erst gestern geschehen, und ebenso konnte er sich noch an alle möglichen Kleinkriege und Skandale und Eskapaden des typischen Polizistenlebens erinnern, das er über dreißig Jahre lang geführt hatte.

Aber all das gehörte der Vergangenheit an. Ihn beschlich das starke Gefühl, dass vor Kurzem sehr viel geschehen war, lebensverändernde Ereignisse, aber als er versuchte, sich konkret vor Augen zu rufen, worum es sich handeln könnte, fiel es ihm nicht ein. Nichts bis zu dem Moment jetzt und hier, als er am Fenster in Zimmer 304 des MountRoyal-Hotels stand und Barbettas Streifenwagen die Mile entlangfahren sah. Nicht einmal bei seinem eigenen Namen war er sich ganz sicher.

Auf jeden Fall trug er einen großen goldenen Ring am rechten Mittelfinger, auf dem das Wappen des United States Marine Corps prangte. Außerdem hatte er eine prall gefüllte Brieftasche bei sich, mit knapp tausend Dollar in bar sowie einer blauen Bankkarte aus Plastik, auf der sowohl das Wort Mondex als auch das Emblem einer Art Bank prangte, der PNG Bank.

In die Karte war ein Mikrochip integriert, aber der Mann hatte keine Ahnung, was zum Teufel eine Mondex-Karte war oder wieso er eine besaß. Er müsste danach googeln.

Darüber hinaus fand sich ein Mitarbeiterausweis von Wells Fargo, auf dem ein Foto von ihm – ja, das war ganz sicher er – zu sehen war, und laut der Karte hieß er Charles Danziger. Des Weiteren steckte in der Brieftasche ein Führerschein mit einer Adresse, Rural Route 19 in Cullen County, und einem Bild, das ihm grob ähnelte, bloß wirkte es so, als hätte man es nach seinem Tod aufgenommen, denn er sah darauf verdammt krank und fahruntauglich aus.

Auf dem Führerschein stand ebenfalls, dass sein Name Charles Danziger lautete, und dass er bei Nachtfahrten Kontaktlinsen tragen musste.

Eine dritte Karte besagte, dass er ein voll zahlendes Mitglied des Retired State Patrol Officers Clubs für pensionierte Cops war und den Rang eines Staff Sergeants innehatte, und auf der Rückseite war eine ganze Reihe von Auszeichnungen aufgelistet.

Der Mann begutachtete die verschiedenen offiziellen Plastikkärtchen und fand, dass ein vernünftiger Mensch zu dem Schluss kommen könnte, dass er wirklich Charles Danziger hieß.

Okay, ich bin bereit zu akzeptieren, dass ich Charles Danziger heiße, aber was zum Teufel ist mit mir passiert? Ein Blackout?

Vom Alkohol oder durch Drogen?

Nein.

Nicht ich.

In all seinen wilden Jahren hatte er kein einziges Mal Drogen genommen, abgesehen vom Oxycontin gegen die im Einsatz zugezogenen Verletzungen, und seine einzige Schwäche war Wein. Coker hingegen war ein Mann, dem seine Pharmazeutika lieb und teuer waren. Ein riskantes Hobby für einen Staff Sergeant des Belfair und Cullen County Sheriff’s Department und den berühmtesten Polizei-Scharfschützen im gesamten Bundesstaat.

Aber nicht Charlie Danziger. Er trank zwar gerne Pinot Grigio, aber kein Mann mit einem Funken Selbstachtung würde sich mit ein paar Flaschen Pinot Grigio ins Koma saufen.

Der Streifenwagen hielt an der Kreuzung und das Licht des Hotelschildes erleuchtete das Innere des Fahrzeugs und den Fahrer, einen groß gewachsenen grauhaarigen Sizilianer mit tief liegenden, dunklen Augen und einem kraftvollen Kiefer.

Frank Barbetta.

Danziger überlegte, ob er das Fenster öffnen und nach ihm rufen sollte, aber aus irgendeinem Grund entschied er sich dagegen. Der Streifenwagen fuhr im Verkehr auf der Mile davon, die Reifen zischten auf der glatten Fahrbahn und zogen einen Schleier Regenwasser hinter sich her.

Danziger drehte sich vom Fenster weg, er fühlte sich hundemüde, deprimiert und wie von der Realität abgeschnitten. Außerdem tat seine Brust jetzt auch noch höllisch weh. Es war kein Herzinfarkt, denn er hatte bereits einen erlitten und wusste genau, wie sich das anfühlte.

Nein, es fühlte sich eher so an, als hätte man ihn mitten in die Brust getreten. Zweimal. Zwei merklich schmerzhafte Stellen. Keine Prellung, aber Schmerz, ein tiefer, stechender Schmerz. Ein Rätsel, genau wie alles andere.

Nun ja, er erinnerte sich immerhin, dass da eine Flasche eiskalter Pinot Grigio in einem Kübel auf der Kommode stand. Er durchquerte den Raum, fummelte den Verschluss ab, pulte die Plastikfolie von einem dieser billigen Pappbecher, die das Hotel bereitstellte, und goss sich einen ordentlichen Schluck ein.

Er musste schlafen. Vielleicht würde der Morgen Klarheit mit sich bringen. Während er seine Gedanken hinunterschluckte, warf er einen Blick in den Spiegel über der Kommode. Etwas leicht Ungewöhnliches fiel ihm auf.

Er sah sich selbst nicht darin.

Danziger stand vor dem Spiegel, wie versteinert, sein Atem stockte. Statt auf sein Spiegelbild blickte er auf einen Flecken bestelltes Land, das neben dicht stehenden Pinien und Weiden lag. So wie die Schatten auf die Erde fielen, musste es beinahe Sonnenuntergang sein. In der Ferne standen dunkle Gestalten, die den Acker bearbeiteten, anscheinend Gräben aushoben, mit Schaufeln und Äxten in der Hand, in gekrümmter Haltung, und irgendwie aussahen, als wären sie verprügelt worden.

Ein Karren wurde von einem Paar Ochsen gezogen. Darauf lagen runde weiße Steine oder eventuell Melonen. Ihm kam in den Sinn, es könne sich auch um Schädel handeln, ein finsterer Gedanke, der ihm ganz und gar nicht ähnlich sah.

Kein Geräusch drang von der Szenerie zu ihm, bloß dieses im Spiegel schwebende Bild des Ackerlands und der gebückten, dunklen Gestalten, die den Boden umgruben. Als er seine Hand langsam ausstreckte, um das Glas zu berühren, verschwand das Bild.

Jetzt sah er sich selbst im Spiegel, das Bild eines erschöpften Mannes mit hartem Blick, dem eine Menge durch den Kopf ging. Er drehte sich vom Spiegel weg und dachte: Vergiss es, leg dich einfach schlafen.

Aber er fand keinen Schlaf.

Stattdessen lag Danziger dort, in der Dunkelheit, lauschte dem Regen, wie er gegen das Fenster prasselte, dem Geräusch des Straßenverkehrs von unten, und sah das Trugbild aus dem Spiegel vor seinem geistigen Auge, den Acker bei Sonnenuntergang, die Arbeiter, den Karren, auf dem sich runde weiße Steine türmten, die ihn an Schädel erinnerten.

Er hatte den Acker schon einmal gesehen, irgendwo, und tief unten im limbischen System seines Gehirns hatte er das Gefühl, er würde es erneut sehen.

Draußen auf der Mile wurde es zunehmend trostloser. Ein paar Menschen streunten umher: Betrunkene, Drogensüchtige, Nichtsnutze und die Straßenkinder, die Jagd auf sie machten. Diejenigen mit genügend Kleingeld hockten noch in den Bars und verprassten es, während die wenigen Huren mit ernsthafter Arbeitsmoral drüben im MountRoyal ihre Brötchen auf die harte Tour verdienten.

»Eine typische Freitagnacht in Tin Town«, sagte Barbetta zu niemand Bestimmten. Er saß ohne Partner in seinem Crown Vic Police Interceptor, denn Little Rock Mauldar, seit einer gefühlten Ewigkeit Nicevilles Bürgermeister, trat gerade zur Wiederwahl an und hatte daher alle nicht lebensnotwendigen Dienstleistungen gestrichen, um die Wähler mit Grundsteuerkürzungen bestechen zu können. Das Überleben eines Polizisten während seiner Streife durch einen so gefährlichen Stadtteil wie Tin Town zu sichern, gehörte ganz offenbar nicht zu den lebensnotwendigen Dienstleistungen.

Barbetta erreichte das Ende der Hauptstraße und bog links auf die Scales Alley ein, um am Shore Walk unten beim Tulip nach dem Rechten zu sehen, als seine Schweinwerfer über eine ungepflegte, kleine Grünfläche direkt neben einem mit Brettern vernagelten Waffengeschäft streiften.

Auf der Grünfläche stand eine Reihe zerfledderter Palmen. Sie waren von einem Maschendrahtzaun umgeben, was unweigerlich die Frage aufwarf, welches schreckliche Verbrechen die Palmen wohl begangen hatten.

Inmitten der Palmenstämme erkannte Barbetta eine Bewegung, unten beim Sauergras zu Füßen der Palmen, ein leuchtend schwarzer Schimmer, wie Krähenflügel. Als das Licht seiner Scheinwerfer sie traf, erstarrte das Etwas und warf sich zu Boden, eine verstohlene Bewegung, als würde eine schwarze Flagge auf den Boden fallen, schimmernd ins hohe Gras flattern und spurlos verschwinden.

Eine Katze? Fledermaus? Hund? Krähe?

Nein. Zu groß. Und der Umriss passt nicht.

Er parkte den Wagen, beleuchtete die Stelle mit dem Fernlicht und knipste seine über dem Armaturenbrett installierte Überwachungskamera an. Nichts rührte sich im hohen Gras rund um die Baumstämme herum.

Ein Gefühl des … Abwartens.

Stille, aber keine Leere.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Er stand in einer dunklen Straße, einer Gasse, all die Straßenlichter lagen hinter ihm. Falls er aus dem Wagen ausstieg, würde er ein silhouettenhaftes Ziel darstellen, ausgeleuchtet von den Laternen der Miracle Mile. Die Grünfläche befand sich am anderen Ende der schmalen Gasse, gute fünfzehn Meter entfernt. Ein langer Weg, dazu Zäune zu beiden Seiten, so als ob er in einem Klauenstand für Rinder steckte. Zwei Spurrinnen in der Gasse standen voller schwarzen Wassers. Der Rest war Schlamm und Schotter, Palmenblätter, Müll und Bierdosen. Glasscherben. Ein unebener, schwer begehbarer Boden und kein Ort, an dem man gerne hart zu Boden fallen würde.

Wär nett, einen Partner dabei zu haben.

Er nahm sein Funkgerät.

»Zentrale, hier spricht Nine Zulu.«

»Nine Zulu.«

»Zentrale, ich gehe zwischen Scales und der Mile auf einen 10-37.«

»Habe verstanden, Frank. Was ist los?«

»Nur eine Erkundungstour. Ich hab was Seltsames auf der kleinen Grünfläche hier gesehen, wo früher Brodies Waffenladen stand. Hab meine Armaturenbrettkamera an.«

»Hast du das Walkie-Talkie dabei?«

»Darauf kannst du wetten.«

»Scales ist eine miese Gegend, Frank. Viele Scherzanrufe von dort, die ganze Woche schon. Six Yankee ist nur ein paar Blocks weg. Willst du lieber warten?«

»Worum kümmern sie sich?«

»Um einen 10-10.«

Yuppie-Gören prügeln sich vor irgendeiner Bar.

Das könnte noch dreißig Minuten dauern.

»Nein, Zentrale. Ich komm schon klar.«

Barbetta zog den Schlüssel, zerrte an seiner Kevlar-Weste und öffnete die Fahrertür, während er an die Worte des diensthabenden Captains denken musste, der ihnen stets einbläute: »Passt da draußen auf euch auf«, und jedes Mal, wenn sie das zu hören bekamen, dachten sich alle: Schwachsinn, die einzige Möglichkeit, da draußen auf sich aufzupassen, ist, niemals aus dem Wagen zu steigen.

Coker hadert mit seiner Bürgerpflicht

Streng genommen eine Stunde später – wegen des Wechsels in eine andere Zeitzone –, aber ungefähr zur selben Zeit, als Charlie Danziger begann, sich in Nicevilles Downtown wieder zu sammeln, saß der ehemalige Staff Sergeant von Belfair und Cullen County – Coker, wie ihn seine Freunde nannten, aber davon hatte er nur zwei, wenn man Charlie Danziger dazuzählte – in der Dunkelheit an einem Strand in Saint Augustine, 359 Meilen südöstlich vom MountRoyal-Hotel, lauschte der Brandung des Atlantischen Ozeans unter einem Meer aus Sternen, starrte in die glühende Asche eines Lagerfeuers, grübelte ein wenig über Danziger und die mit ihm im Zusammenhang stehenden jüngsten Ereignisse und nahm einen Schluck Laphroiag-Whisky aus seinem Flachmann aus Sterlingsilber.

Neben ihm auf der Decke lag eine junge Cherokee-Frau namens Twyla Littlebasket auf dem Rücken, die leicht bekifft beobachtete, wie sich Orion schwerfällig am Himmel Richtung Westen bewegte. Twyla, der einst von einem Cop namens Nick Kavanaugh »Kurven wie eine Wendeltreppe« attestiert wurden, trug die untere Hälfte eines mit Turmalinen und Gold besetzten Bikinis von Tommy Bahama und dazu einen verschlafenen, zufriedenen Gesichtsausdruck. Die Nacht war schwül und roch nach Meersalz, Seetang und einem Hauch von im Lagerfeuer verbranntem Zedernholz.

Hinter den beiden stand auf einer großen Düne ein von Palmen geschütztes und von Pampasgras gesäumtes Strandhaus im Frank-Lloyd-Wright-Stil aus Glas und Holzträgern. Ein sanfter Lichtschein aus dem Inneren des Strandhauses lag wie Kerzenlicht im Sand um sie herum. Kurz gesagt, eine liebliche Nacht, die perfekt gewesen wäre, wenn nicht vierhundertfünfzig Meter den Strand hinunter eine Hausparty zunehmend außer Kontrolle geraten würde.

Der Strand lag fast vollständig im Dunkeln, abgesehen von diesen beiden Inseln aus Licht. In einer Linie reihten sich weitere Häuser aneinander, so kostspielig wie ihr eigenes, wobei die meisten davon in dieser Freitagnacht aufgrund der ausklingenden Sommersaison leer standen.

Der dröhnende Bass wurde von Minute zu Minute lauter. Er kam aus dem Haus der Kellermans. Die Kellermans, nette Nachbarn, ein klein wenig verschlagen und eingebildet, aber dennoch reizend, befanden sich derzeit auf einer Rheinkreuzfahrt der Viking-River-Cruise-Gesellschaft.

Den Schlüssel zu ihrem Strandhaus hatten sie jedoch ihrem jüngsten Sohn Nathan überlassen, der in der Football-Mannschaft der Notre-Dame-Universität ein Fullback zweiter Garde und ansonsten eine Nervensäge erster Klasse war. Momentan versuchte Nathan, seinem hart erarbeiteten Ruf gerecht zu werden.

Der Bass aus dem Hause Kellerman vibrierte so stark, dass die Fenster klirrten, und inmitten der brüllend lauten Musik und dem Gejohle betrunkener Menschen konnten Coker und Twyla das Geräusch von zerbrechendem Glas und den Schrei eines Mädchens hören, der plötzlich verstummte. Twyla setzte sich auf und starrte den Strand hinunter.

»Meine Güte, Coker. Sollten wir nicht was unternehmen?«

Coker lehnte sich nach vorn, gab Twyla einen sanften Kuss auf den Wangenknochen und schüttelte den Kopf, wobei das Licht des Lagerfeuers in seinen blassen Augen flackerte.

»Nein, Twyla, wir sollten definitiv nichts unternehmen.«

Noch mehr Glas splitterte, dazu brach johlendes Männergelächter aus, ein Massengekreische wie von einem Idiotenchor. Twyla erhob sich und stemmte die Hände in die Hüften – sie war eine kampflustige Frau mit einer sehr kurzen Zündschnur.

»Ich werd die Cops rufen.«

Coker kam auf die Beine. Er war ungefähr 1,85 Meter, muskulös und dünn, hart wie ein Gehstock aus Hickoryholz, mit kurz geschnittenem grauen Haar und einem Gesicht, das als hartherzig und einschüchternd empfunden werden könnte – und oft auch wurde.

»Twyla, du kennst die Regeln. Wir lenken keine Aufmerksamkeit auf uns. Wir rufen nicht die Cops. Du musst daran denken, wer wir sind.«

»Ich weiß, wer wir sind, Coker.«

»Okay. Gehen wir’s noch mal durch. Wer sind wir?«

In ihr brodelte es, während sie zuhörte, wie der Bass alles um sie herum zum Beben brachte. Sie gab sich Mühe, ihren Zorn abzuschütteln.

»Wir sind die Sinclairs. Du bist Morgan und ich bin Jocelyn. Ich bin deine dritte Frau. Du hast dein Geld im Devisenhandel verdient, bist im Ruhestand, und ich bin –«

In diesem Moment grölte ein ganzes Orchester, gefolgt von einem Bass-Crescendo, das bis an die Schmerzgrenze ging, und dem Geräusch von zerbrechenden, teuren Gegenständen. Außerdem ein weiterer schriller Frauenschrei.

Twyla warf ihm ihren Todesstrahl-Blick zu.

»Verdammt, Twyla«, sagte er und zögerte.

Sie schaltete den Todesstrahl hoch auf BETÄUBEN. Coker kannte die nächste Stufe sehr gut. Sie lautete VAPORISIEREN, und davon wollte man lieber keine Kostprobe abbekommen.

»Okay. Okay, ich ruf die Cops an.«

Karrieremöglichkeiten für Caligula

Nick Kavanaugh war Detective des CID, der Kriminalpolizei von Belfair und Cullen County. Er war Anfang dreißig, hochgewachsen, mit breiten Schultern, flachem Bauch, hart wie Eichenholz und flink, mit grauen Augen und kurz geschnittenen schwarzen Haaren, die an den Schläfen schon grau wurden. Er trug einen marineblauen Anzug, italienischer Schnitt, dazu ein weißes Hemd ohne Krawatte. An seiner rechten Hüfte hing in einem Bianchi-Holster ein stahlblauer Colt Python. Nick lehnte mit schräger Hüfte und verschränkten Armen an einer Ecke des schäbigen Sperrholzschreibtischs in Lacy Steinerts »Schnüfflerbüro« – so nannten die Einwohner Tin Towns das Bewährungshelferbüro von Belfair und Cullen County.

Lacy Steinert, ein richtig heißes Geschoss, stand insgeheim auf Nick, aber hatte wegen Nicks Ehe und des ganzen familiären Friede-Freude-Eierkuchen-Schwachsinns bisher keine Chance gehabt, ihm das zu zeigen, also ging es beim Treffen nur ums Geschäft, und das Geschäft hieß Jordan Dutrow, seines Zeichens 17-jähriger Teilzeitautodieb.

Nick war sich ziemlich sicher, dass Jordan Dutrow spät am gestrigen Abend bei einem Paar namens Thorsson in deren hübschem Ranch-Style-Haus in Long Reach vorbeigeschaut hatte, einem von Nicevilles vornehmeren Vierteln.

Während seines Aufenthalts dort, so vermutete Nick, hatte Jordan sein kriminelles Repertoire neben den gelegentlichen, impulsiven Autodiebstählen offiziell um Hausfriedensbruch, Freiheitsberaubung, schwere Vergewaltigung, Mord in zwei Fällen und schweren Autodiebstahl erweitert. Jordan Dutrow, einer von Lacys jugendlichen Klienten, war auf Bewährung, nachdem er – sturzbetrunken – am Steuer eines gestohlenen Jaguars erwischt wurde. Nick war sich einigermaßen sicher, dass Lacy Steinert eine Ahnung haben könnte, wo sich Jordan Dutrow in dieser verregneten Freitagnacht in Tin Town aufhalten könnte.

Lacy verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf.

»Erst musst du mir ein paar Dinge versprechen.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass du, wenn du ihn aufspürst, nicht einfach deine typische Nummer bei dem Jungen abziehst, so wie du es bei Junior Wanless und Cory Frampton getan hast.«

»Wanless hat Widerstand geleistet und Frampton seine Nase in fremde Angelegenheiten gesteckt.«

»Die Nase steht jetzt übrigens schief zu einer Seite ab und sieht aus wie eine Aubergine.«

»Eine Aubergine?«

»Großes, hässliches lilafarbenes Ding. Wird auch Eierfrucht genannt.«

Nick musste lächeln.

»Wie wäre es, wenn du damit aufhörst, diese Mistkerle Kinder zu nennen, Lacy? Jordan Dutrow ist einer der besten Middle Linebacker, den die Frederick-Douglass-Tech je hatte, 1,90 Meter groß, gebaut wie ein Brahman-Bulle, und hätte er sich aus allem Ärger rausgehalten, hätte er eventuell mit einem Footballstipendium an die Ole Miss oder die LSU gehen können.«

»Er ist immer noch ein Teenager. Außerdem nimmt ein Gentleman in Gegenwart einer LSU-Absolventin niemals die Worte Ole Miss in den Mund. Die Unis sind sich spinnefeind, wie du genau weißt.«

»Er ist einer deiner Schützlinge. Genau aus diesem Grund gehe ich dir zu dieser unchristlichen Stunde auf den Wecker.«

Lacy sah ihn schief von der Seite an.

»Bist du dir wirklich sicher, dass er derjenige ist, der die Thorssons erledigt hat?«

»Bin ich.«

»Was weißt du bisher?«

»Donnerstag, gegen Mitternacht, kam der Killer einen steilen Hang entlang, kletterte über den Zaun, hinterließ Fußspuren im nassen Gras, große Laufschuhe mit tiefem Abdruck, demzufolge ein schwerer Kerl. Er betrat das Haus durch einen überdachten Durchgang mit defektem Türschloss. War von außen eigentlich nicht zu erkennen. Laut den Fußspuren lief er direkt dorthin. Die Thorssons befanden sich hinten im Haus, im Elternschlafzimmer. Wir vermuten, dass er direkt dorthin ging, da der Rasen frisch gemäht war und ihm daher Grashalme an den Schuhen hingen, die wir dann überall im Flur fanden, bis hin zum Schlafzimmer.«

»Also kannte er sich im Haus aus?«

»Anscheinend. Die Thorssons wollten das Haus verkaufen und hatten ihr Inserat ins Internet gestellt, wo man eine dieser virtuellen Touren durch das Haus machen kann. Alles nur mit einem Klick, darunter der Grundriss. Über so was denken die Leute natürlich nie nach.«

»Wie führt uns das zu Jordan? Dieses Video hätte sich jeder ansehen können.«

»Auf dem Video war aber das defekte Türschloss im Durchgang nicht zu sehen. Das konnte nur ein Insider wissen.«

»Und …?«

»Die Thorssons hatten ein Dienstmädchen …«

»Oh nein …«

»Doch.«

»Jordans Tante, LaReena Dawntay«, sagte Lacy nach einem Moment. »Eine Cracksüchtige. Sie liegt im Lady Grace, Krebs im Endstadium. Sie ist eine meiner Klienten. Manchmal treffe ich ihre Tochter im Flur. In einer Dienstmädchenuniform.«

»Sie arbeitet für Sweep No More, heißt Cheryl Reid. Sie putzt jeden zweiten Donnerstag das Haus der Thorssons.«

Lacy wurde ganz still.

Der Regen fauchte am Fenster vorbei und trommelte auf das Dach. Sie konnte Nicks Herz schlagen hören, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein, vielleicht war es auch ihr eigenes. Sie hatte ernsthaft geglaubt, sie hätte in Jordan Dutrow etwas bewirkt.

»DNA oder Fingerabdrücke?«

»Er trug Handschuhe, aber kein Kondom. Oder es riss.«

»Also DNA

»Ja. Wird gerade im Labor untersucht. Jordan saß wegen der Sache mit dem Jaguar im Gefängnis von Cullen County. Dort hat man bei seiner Inhaftierung routinemäßig einen Abstrich gemacht.«

»Er ist ein Teenager. Er geht noch zur Schule. Das dürfen sie bei einem Minderjährigen nicht.«

»Haben sie aber.«

»Wäre nicht vor Gericht zulässig.«

»Nein, aber es würde ihn definitiv überführen«, erklärte Nick mit bissigem Unterton.

Lacy legte den Kopf schief.

»Du nimmst die Sache richtig ernst. Was hat er getan? Ich meine, als er im Haus war?«

Nick fing an zu erzählen und ersparte ihr keine Einzelheiten.

Ein langes, lähmendes Schweigen legte sich zwischen die beiden.

»Um Himmels willen«, brachte Lacy hervor, als sie ihre Stimme wiederfand. »Er ist doch erst siebzehn

»War Caligula auch.«

Lacy ging das Ganze im Kopf durch und wurde leicht grün im Gesicht.

»Mein Gott. Das muss ja eine ganze Weile gedauert haben.«

»Fast die ganze Nacht, sofern der Gerichtsmediziner sich beim Todeszeitpunkt nicht irrt, den er mit ungefähr zwei Uhr früh angibt. Die Mutter starb als Erste, dann erledigte er den Ehemann. Wäre Schwachsinn gewesen, ihn am Leben zu lassen, wie wir vermuten, nachdem er alles mitangesehen hatte …«

Sie sah Nick eine Weile lang an und verarbeitete alles.

»Nick, so etwas würde Jordan niemals tun. Diese Dinge, die du erzählt hast, an die würde Jordan nicht einmal denken. Dazu müsste er ja eine Art … Monster sein. Ein Dämon. Es hätte doch warnende Anzeichen gegeben. Ich habe ihn Montagnachmittag noch gesehen. Er hatte abgenommen und klagte über Kopfschmerzen, aber er ging jeden Tag zur Schule und absolvierte jedes Footballtraining. Letzten Sonntag hat er mit der ersten Mannschaft gegen Sacred Heart gespielt und wurde zum Mann des Spiels gewählt. Nick, ganz im Ernst, ich habe mich ganz normal mit ihm unterhalten. Da war … nichts von alledem. Nichts. In seiner Kindheit …«

»Im Multiplex-Kino um die Ecke läuft ein Haufen sadistischer Mist. In Videospielen wimmelt es nur so davon.«

»Ich habe noch nie glauben können, dass Menschen wegen Slasher-Filmen oder Gewaltspielen zu Killern mutieren. Ansonsten würden nämlich Millionen Teenager ihre Familien niedermetzeln.«

Nick zuckte mit den Schultern.

»Alles, was ich will, ist dieser Junge, Lacy.«

Lacy wurde still.

Nick ließ sie nachdenken. Er vertraute ihr.

»Hat er denn irgendwas mitgehen lassen? Normalerweise hat er mit viel Glück fünf Mäuse in der Tasche.«

»Er hat den Wandsafe im Arbeitszimmer geplündert, keine Ahnung, was da drinnen war, aber es ist weg. Laut Waffenregister besaß Todd Thorsson einen Waffenschein für eine Kimber 45. Die ist auch verschwunden.«

»Wie ist er geflohen?«

»Er hat die Familienkutsche geklaut. Einen roten Mercedes SLS AMG

»Grundgütiger. Das Auto ist eine Viertelmillion Dollar wert. Er müsste damit doch aufgefallen sein wie ein …«

»Wie ein bescheuerter Gangster in einem gestohlenen roten Benz.«

»Irgendeine Spur vom Wagen?«

»Nein, gar keine. Ist wie vom Erdboden verschluckt. Womöglich hat er ihn an ein paar Kumpels gegeben. Beau Norlett schaut sich die Verkehrsüberwachung auf der Bluebonnet bis nördlich zur South Gwinnett an. Bis jetzt keine Spur. Aber er wird auftauchen. In diesem Teil des Staates gibt es nur zwei Wagen von der Sorte.«

»Wie geht’s Beau denn?«

»Auf dem Wege der Besserung. Er hasst die Schreibtischarbeit, aber er hat Glück, noch am Leben zu sein. Also, irgendwelche Ideen?«

Weiteres Schweigen, während der Regen auf das Dach trommelte. Dann antwortete Lacy: »So wie ich Jordan kenne – oder dachte, ihn zu kennen –, würde er zu Verwandten gehen.«

»Wir haben es schon bei allen versucht. Und unsere Streifenpolizisten haben schon allen Hotel- und Motelrezeptionisten der Stadt sein Foto gezeigt. Keiner hat ihn gesehen. Darum bin ich hier. Du bist seine Bewährungshelferin. Du kennst den Jungen. Du musst ihn aufspüren. Fallen dir irgendwelche Orte ein, an denen er untertauchen würde?«

Lacy dachte darüber nach.

»Kennst du das Werkzeuglager der Stadtwerke unter der Armory Bridge?«

»Ja. Am westlichen Ende der Brücke, direkt neben den Sandbänken von Tin Town.«

»Genau. Eine Zeit lang hatte Jordan den Schlüssel dazu, wegen eines Sommerjobs. Als er einmal zu einer Sitzung nicht erschien, fand ich ihn dort. Er hatte dort einen Kochherd, eine Kühlbox und ein Feldbett. Sehr kuschelig.«

»Wie kamst du darauf, dort nachzusehen?«

Lacy tippte sich an die Nase.

»Durch einen Tipp.«

»Von wem?«

»Seiner Mutter. Celeste. Sie ist eine gute Frau und gibt ihr Bestes bei ihm. Sie gibt nie auf.«

An dieser Stelle stoppte Lacy und warf Nick einen Blick über ihre Halbbrille zu.

»Hör mal, Nick …«

»Du willst mich begleiten?«

»Genau.«

»Nein.«

»Nick … komm schon.«

Schweigen.

»Wenn wir ihn dort finden, hältst du dich dann im Hintergrund?«

»Versprochen.«

»Das hab ich schon oft gehört.«

»Dieses Mal meine ich es ernst.«

Nick atmete tief ein und wieder aus.

»Wo ist deine Waffe?«

Lacy zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen Gurt mit einer großen, fetten Glock darin heraus.

Nick seufzte.

»Okay. Schnall ihn um. Wir fahren hin.«

Frank Barbetta steigt aus dem Wagen

Barbetta leuchtete mit seiner Maglite-Taschenlampe auf die Grünfläche. Die Sauergrasblätter wirbelten im Wind umher, ganz nass und glitschig. Sie sahen aus wie Messer. Er trat durch das Tor und hinein in die Schatten unter den Palmen. Nach etwa neun Metern stieß er auf einen Kanaldeckel, der offen auf dem Sauergras lag. Er gehörte zu einem alten Regenschacht. Barbetta war schon Dutzende Male bei dieser Grünfläche gewesen, hatte den Schacht aber nie offen gesehen.

Auf dem Kanaldeckel stand »Niceville Wasser und Strom« und laut dem Datum darauf stammte er noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Er hatte immer geglaubt, man hätte den Schacht zugeschweißt, aber nun lag der Deckel da und drückte das Sauergras platt, während die Öffnung des Kanals ein feucht schimmerndes schwarzes Loch offenbarte.

Und da war noch etwas anderes. Dampf stieg vom Kanaldeckel auf. Er streckte seine Hand aus, berührte den Deckel leicht mit einem Finger und zog ihn ruckartig zurück. Das Metall war so heiß wie eine Herdplatte.

Was zum Teufel?

Er stand über der Öffnung und richtete seine Taschenlampe nach unten in den Schacht. Es ging sehr tief hinab, weiter als der Schein seiner Taschenlampe reichte. An der Betonmauer des Schachts war mit Nieten eine verrostete Eisenleiter befestigt, deren Stufen in die Tiefe führten, in die Dunkelheit bis zum Grunde des Schachts.

Als Barbetta sich neben die Öffnung kniete, vermied er es, den Rand zu berühren, er spürte die aus dem Schacht nach oben steigende Hitze. Er hielt seine Taschenlampe noch tiefer in das Loch und versuchte zu erkennen, wie weit der Boden wirklich entfernt war, und dachte: Da muss ja wohl irgendwo der Boden sein, oder?

Nun, irgendetwas war dort unten. Es sah aus wie Rauch, schwarzer Rauch, eine ganze Wolke, und im Rauch schienen goldene Funken, die wie Katzenaugen glitzerten. Außerdem war da dieser Geruch, der Geruch von gebratenem Fleisch, rau und beißend. Vielleicht irgendeine Art Tier? Vielleicht ein Waschbär oder ein Opossum.

Oder Ratten.

Barbetta hasste Ratten.

Vielleicht brannte es auch dort unten?

Der Regen rann seinen Nacken hinunter und prasselte auf seine Schussweste.

Völlig ausgeschlossen, dass in einer so regnerischen Nacht wie dieser irgendetwas am Grund eines hundert Jahre alten Schachts Feuer fing.

Könnte womöglich eine Stromleitung einen Kurzschluss gehabt haben?

Hatte sich vielleicht die Hitze – der Dampf oder was auch immer – so sehr im Schacht aufgestaut, dass es den Deckel aufgesprengt hatte, und nun schloss der Regen ein paar veraltete Stromleitungen unten am Boden des Schachts kurz?

Mal runtersteigen und nachsehen?

Im Leben nicht, Kumpel. Du weiß doch, was in solchen Filmen passiert.

Barbetta setzte sich auf die Fersen, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zog sein Funkgerät heraus.

»Zentrale.«

»Nine Zulu

»Ich bin bei dieser Grünfläche neben Brodies Laden. Ich habe es hier meiner Meinung nach mit so einer Art elektrischem Feuer unten am Boden eines alten Regenschachts zu tun. Ich kann Funken sehen, außerdem ist es im Schacht ziemlich heiß. Ich glaube, wir müssen ein paar Feuerwehrleute herholen, vielleicht auch die Jungs von den Stadtwerken.«

»Roger, Frank. Mit Blaulicht und Sirene?«

Barbetta betrachtete das Loch und sah zu, wie der Dampf, der Rauch, was auch immer, nach oben stieg. Unter dem Prasseln des Regens auf die Sauergrashalme konnte er ein schwaches Geräusch hören, das erklang und wieder verebbte. Es war der Schrei irgendeines Tieres, schwach, aber voller Schmerz und Panik.

Was zum Teufel …?

»Ja. Mit Blaulicht und Sirene.«

Highschool Confidential

Nick und Lacy fuhren gerade in Nicks marineblauem Crown Vic eine Viertelmeile nördlich der Auffahrt zur Armory Bridge durch zäh fließenden Verkehr, als der Streifenwagen von hinten mit blinkenden roten und blauen Lichtern beleuchtet wurde. Kurz darauf hörten sie den Feuerwehrwagen blechern aufheulen, der inzwischen im Rückspiegel immer größer wurde.

Nick steuerte seinen Streifenwagen ruckweise auf die rechte Seite, um die Feuerwehr passieren zu lassen, die sich mit hoher Geschwindigkeit durch die langsamer fahrenden Autos schlängelte. Der Wagen fuhr vorbei und verschwand dann in Tin Towns Nebel, dicht gefolgt von einem weißen Lieferwagen mit der Aufschrift »Niceville Stadtwerke« auf der Seite.

Eine Minute später nutzte Nick eine Lücke im Verkehr, um links vom Riverside abzufahren, knipste die Schweinwerfer aus und fuhr bis vor das Tor im Maschendrahtzaun, der das Werkzeuglager unter der alten Eisenbrücke umgab. Am Tor hing ein Vorhängeschloss, unbeschädigt.

Das Werkzeuglager war eine Nissenhütte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, ein riesiger, zwischen die Brückenpfeiler eingepferchter Halbzylinder aus Wellstahl. Sie war von dem Rost und Ruß übersät, der vom Brückendeck herabgefallen war. Das Ganze machte einen verwahrlosten, niedergeschlagenen und deprimierenden Eindruck. Nick verstand, wieso. Wie sollte es anders sein.

»Okay«, sagte Lacy, »wir glauben, dass er eine Kimber bei sich hat, richtig?«

Nick nickte und grinste ihr im Dunkeln des Streifenwagens zu. »Willst du lieber Verstärkung rufen?«

Lacy schüttelte den Kopf und grinste zurück.

»Du kriegst das schon hin, Nick. Ich bin direkt hinter dir.«

»Klar. Wie weit hinter mir?«

»Weit genug, um keine ekeligen Knochensplitter abzubekommen, wenn er auf dich schießt. Hast du Westen?«

»Hinten drinnen«, erklärte Nick und schaltete das Innenlicht aus. Sie kletterten aus dem Streifenwagen in den Regen, zogen sich die Kevlar-Schutzwesten an und gingen vorsichtig den körnigen Schotterweg bis zum Tor entlang.

Beide hielten ihre Waffen in der Hand, Nick seinen Colt Python und Lacy ihre Glock 17. Ihre Schatten kräuselten sich im gelb-orangefarbenen Licht der einzigen Laterne vor ihnen auf dem Boden. Sechs Meter über ihnen sammelte sich auf dem vor Verkehr donnernden Brückendeck Regenwasser an. Nick untersuchte das Vorhängeschloss. Es hing unbeschädigt am richtigen Ort, war aber nicht verschlossen. Er zog es von der Kette und stieß das Tor auf.

»Hat die Hütte noch einen anderen Ausgang?«

Lacy schüttelte den Kopf.

»Nein«, flüsterte sie mit heiserer Stimme, »nur den hier. Der Schuppen wird zur Lagerung von Ausrüstung, Pumpen, Streusalz und dem ganzen Wartungsscheiß benutzt. Ist vollgestopft damit. Hinter der Tür liegt gleich ein schmaler Gang, der zwischen Lagerregalen entlangführt, von denen die ganze Hütte voll bis hoch zum Dach steht. Am Ende des Gangs liegt der Raum, in dem er letztes Mal untergetaucht war. Direkt geradeaus, und falls er da drinnen ist, sitzt er im Grunde genommen wie in einer Falle. Wie willst du die Sache angehen?«

Nick blickte die gebogenen Stahlwände der Hütte entlang und dachte an die Kimber 45, an die Kraft ihrer gewaltigen Munition.

»Nicht allzu kompliziert«, erklärte er und richtete seinen Colt auf die Tür. »Falls er da drinnen ist, halten wir die Taschenlampe auf ihn drauf, danach liegt es bei ihm. Aber falls er nach irgendetwas greift, sollten wir aufpassen, ob es eine Knarre ist oder nur ein Schinkensandwich.«

Lacy nickte. Das war beileibe nicht ihr erster Tanz.

Das Fenster in der Tür bestand aus Hartmetall mit gesprungenem Glas und war mit eingebautem Maschendraht verstärkt. Die Scheibe sah dreckig aus und ließ kein Licht hindurch. Lacy atmete tief ein und machte Anstalten, die Tür einzutreten. Nick hielt sie auf.

»Versuch’s mit der Klinke«, sagte er.

Das tat sie.

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Trotz des dröhnenden Lärms von der Brücke und des prasselnden Regens konnten sie das rhythmische Tuckern irgendeiner Maschine hören.

»Eine Sumpfpumpe«, vermutete Lacy, »das Dach tropft.«

Eine kurze Pause, Mut sammeln, dann nickte Nick Lacy zu und es ging los. Lacy trat direkt neben der Klinke gegen die Tür, ein fester Polizistentritt, in dem all ihre Muskelkraft steckte. Die Metalltür prallte gegen einen Pfosten auf der rechten Seite – ein wuchtiger, hallender Rumms – Nick lief an ihr vorbei und hinein, Waffe oben, Taschenlampe an – Lacy sicherte den Rückraum und die Flanken, während Nick frontal nach vorne zielte – die Taschenlampe warf einen Lichttunnel die Lagerregale entlang und traf knapp zwölf Meter vor ihnen auf ein zerwühltes Feldbett mit einem Haufen Klamotten darauf, auf dem Boden verstreut lagen Bier- und Limonadedosen. Das Bett war leer.

Lacy gab ihm Deckung, während sich Nick seitlich den Flur entlangschob, jede Regalreihe anvisierte, an der er vorbeikam, und mit seinem Colt danach sofort wieder Kleiderhaufen und Decke fixierte, Lacy dicht hinter ihm, stets drauf vorbereitet, jemanden aus einem toten Winkel springen zu sehen.

Nick erreichte das Feldbett, stieß es mit dem Fuß um und trat gegen den Kleiderhaufen. Dosen rollten scheppernd davon. Lacy kam rückwärts den Gang entlang und sicherte den Raum, aber beide hatten dieses Keiner-daheim-Gefühl, das alle Cops mit der Zeit entwickeln. Nick drehte sich zu ihr.

»Schalt das Licht an, ja?«

Lacy lief zurück und zog an einer Schnur, woraufhin der Innenraum von einem harten blauen Licht erfüllt wurde. Der Raum roch nach Schmierfett, Benzin und Rost. Und etwas Menschlichem. Schweiß. Angst. Blut. Aus einem Riss im runden Metalldach tropfte Regen auf einen Stapel orangefarbener Leitkegel. Der Betonboden war rutschig und verschimmelt.

Sie sah sich kurz im Rest des Schuppens um, Regal für Regal. In einer Ecke fand sie einen Eimer, der als Latrine genutzt wurde, und zwar vor Kurzem erst.

Sie ging zu Nick zurück. Er kauerte am Boden und stocherte mit der Gewehrmündung seines Colts durch das Gewirr aus Bettwäsche, Pizzaschachteln und zerbeulten Dosen Miller Lite und Red Bull. Lacy ließ ihren Blick über den Kleiderhaufen, die Schachteln und die Dosen schweifen. Kleine braungrünliche Stückchen lagen dazwischen auf dem Boden zerstreut.

Nick hob eines davon auf und zeigte es Lacy.

»Grashalme.«

»Nick, wir wissen nicht mit Sicherheit, dass Jordan hier war. Könnte auch ein Hausbesetzer gewesen sein oder irgend so ein Obdachloser, oder?«

Ihre Stimme verstummte allmählich, als ihr Blick auf einen seltsamen Fetzen fiel.