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Hans-Ullrich Kolbe ist Bibliothekar jenseits der fünfzig. Jahrzehntelang hat er sich in seiner Bücherwelt vergraben, er riecht schon »aus dem Mund nach Büchern«. Nun will er sein Leben ändern, zieht durch Nachtclubs und stößt auf Jelena, die so alt ist wie seine Tochter. Die erdbeerblonde Stripteasetänzerin merkt, dass sich mit achtundzwanzig auch ihre Laufbahn bald dem Ende zuneigt. Die beiden finden einander – eine Amour fou aus Gegensätzen. Wie sie einander bis zur Obsession verfallen und doch auch zu zweit einsam bleiben, das schildert Judith Kuckart mit seltener Intensität und Wahrhaftigkeit: das Kunststück einer unmöglichen Liebe.

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© Burkhard Peter

Judith Kuckart, geboren 1959 in Schwelm (Westfalen), lebt als Autorin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman ›Lenas Liebe‹ (2002), der 2012 verfilmt wurde, den Erzählband ›Die Autorenwitwe‹ (2003) sowie die Romane ›Kaiserstraße‹ (2006), ›Die Verdächtige‹ (2008), ›Wünsche‹ (2013), ›Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück‹ (2015) und ›Kein Sturm, nur Wetter‹ (2019). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.

Judith Kuckart

Der Bibliothekar

Roman

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Lenas Liebe

eBook 2021

www.dumont-buchverlag.de

Jede Bewegung zielt auf Ruhe,
denn am Ende jeder Bewegung
muss es etwas geben,
das bleibend ist.
Aristoteles

 

 

 

Hans-Ullrich Kolbe klappte das Buch zu, nahm seinen hellen Mantel über den Arm und schob einen Stadtplan in die Jackettasche. Es war Sonnabend, spät und Ende April. Er zog die Vorhänge in seiner Mansarde zu. Auf dem Küchentisch unter der Leselampe lagen zwei Riegel Kinderschokolade gekreuzt übereinander, und das leere Weinglas trug am Rand die milchige Spur seiner Lippen. Daneben lag das Buch.

Ein gewisser Alain Bernardin hatte vor dreißig Jahren im 8. Arrondissement von Paris das CRAZY HORSE gegründet. Zwei Wächter im Polizeikostüm sicherten den Eingang des Nachtclubs und die bürgerliche Atmosphäre. Alain Bernardin war magisch angezogen von schönen Frauen, und nur eine nackte Frau, wie gezeichnet im komplizierten Spiel des Lichts, war für ihn schön. Hob sich der Vorhang, so stand im 1. Kapitel, zeigten Frauen mit großer Lust am Zeigen ihre perfekten Körper. Tänzerinnen verschoben die Grenze zur Nacktheit so delikat, dass die Gesichter der Zuschauer sich glücklich öffneten, nicht schmal wurden vor Gier. Man sah, was man nicht sah. Die Szenen der Show wechselten alle fünf Jahre, die eine so überraschend und raffiniert ausgearbeitet wie die folgende. Alain Bernardin war ein Zauberer. Er befreite die männlichen und die weiblichen Phantasien gleichermaßen. Das hatte Hans-Ullrich Kolbe gelesen. Manche Seite hatte er dreimal gelesen.

Mehrmals war er mit der Hand über den glänzenden Einband gefahren, wie eine Frau über Seidendessous streicht und dabei die Adern und feinen Runzeln auf ihrer Hand sieht. Paris 47 23 32 32 hatte er gewählt. Die S-Bahn war zweihundert Meter von ihm entfernt vorbeigerattert. Eine Frauenstimme hatte auf Englisch Konditionen genannt. 450 Francs Eintritt, eine halbe Flasche Champagner pro Person, zwei Shows am Abend, eine um 20.30 Uhr, die zweite um 23 Uhr, samstags drei.

Heute also drei. Hans-Ullrich hatte tatsächlich auf die Uhr geschaut an seinem offenen Fenster in Friedenau. Mit einem Flugzeug könnte er es zur Late Show um 0.50 Uhr noch schaffen. Er hatte aufgelegt.

Vom Lesen ganz verrückt vergaß er, was er sehr wohl wusste. Berlin war nicht Paris. Trotzdem. Er hatte seine Armbanduhr angelegt.

Den Mantel über den Arm verließ er das Haus. Er war Bibliothekar.

»Herr, zeige mir Deine Wege und lehre mich Deine Steige«, erinnerte er auf der U-Bahn-Station Dahlem Dorf einen Psalm. Er tippte Nummer 25, ja, Psalm 25. Er legte den Mantel über die Schultern und warf den rosa Handzettel in den Papierkorb. »LA FEMME, für den anspruchsvollen Gast.« Das weibliche Personal in dem Club war ihm vertraut gewesen wie Studentinnen oder Kolleginnen, auch in der Verkleidung als Eisbecher. Eine Rote hatte die Arme zu Tina Turner gehoben und angetanzt gegen die Müdigkeit. Der Scheinwerfer hatte die rasierten Achseln nach Schweiß abgesucht. Hans-Ullrich hatte mit dem Rücken zur nackten Tänzerin noch einen Kaffee getrunken, war in seinen frisch geputzten Schuhen immer wieder vom Chromstreben des Barhockers gerutscht und auch deshalb schon bald gegangen.

Die U-Bahn fuhr ein. Er saß allein im Waggon und lutschte ein Pfefferminzbonbon. Er stieg um, setzte sich neben eine junge Mutter. Dem Kind auf ihrem Knie brannten vor Müdigkeit die Ohren rot. Geduldig gab er ihm mehrmals die Rassel zurück und setzte das Gesicht auf, mit dem er die jüngste seiner Töchter, Edna, angelächelt hätte. Kurfürstendamm stieg er aus. Neben dem Kino Astor ließ er sich in die Dorrett Bar locken. Der Türsteher hatte ihn, als Hans-Ullrich zögerte, mit »Herr Doktor« gelockt. Hans-Ullrich maß jedes Körperteil, maß Bein um Bein an den Sätzen vom schönen Bein. Von einer winzigen Beule an der Rückseite der Oberschenkel hatte in seinem Buch »Das Crazy Horse« nichts gestanden, aber? Aber so ein Buch log doch nicht. Es erfand um einen Kern Wahrheit herum, manchmal mit geliehener Pracht. Aber es betrog seinen Leser nicht. Da wechselte die Nummer.

Zwei Träger brachten einen goldenen Käfig auf die Bühne. Ein Mann neben Hans-Ullrich zeigte auf das Mädchen hinter den Stäben, sagte, die ist ja heiß wie eine leer geschossene MP, und wandte sich wieder seinem Glas zu. Hans-Ullrich setzte die Brille ab und sah sich das Mädchen genau an. Er setzte die Brille wieder auf. Das Gesicht war eine Beleidigung für den Körper.

Er seufzte.

Und mit dem Seufzen wurde er mutig. War doch egal, ob das Buch in Wahrheit die Wahrheit erzählte. Hauptsache, es erzählte ihn, den lesenden Hans-Ullrich. Tat es das, musste etwas dran sein an der Kunst. Genauer, musste etwas vom Leben dran sein an der Kunst. Heute Nacht noch würde er sich das Lesen vom Leib reißen und nackt ins Leben laufen. Heute Nacht noch würde er den berauschenden Wirklichkeitsgehalt des Buchs von 38 Prozent wirklich genießen. Aus den Buchseiten von »Das Crazy Horse« trat er hervor, betört von dem einen Gedanken. Im Namen der Literatur, schwor er. Und war zu jeder Schweinerei bereit.

Warum? Darum, antwortete er sich. Und leise fügte er hinzu, es sei schon spät in seinem Leben.

Wie ein Spürhund nahm er die Fährte auf. Er bestieg den Bus und sah im Kegel einer Straßenlampe bald eine Frau, die seinen Blick hielt, bald eine andere, die eine ölverschmierte Fahrradkette am Handgelenk trug. Er stieg um in die U-Bahn, dachte schneller, schneller so, starrte auf ein Gipsbein, aus dem der Schenkel eines Mädchens, siebzehn, wuchs, und hatte absonderliche Phantasien in unwirklichem Weiß, beim Ausstieg näherte er sein Gesicht dem Handgelenk einer Frau, die hielt sich an der Stange bei der Tür fest, er sah ihr Armband, die Perlen türkis, das gab ihm Kräfte, türkis zu träumen, bevor er in ein Taxi umstieg, das Taxi einem Mann, einer Frau und deren Hund vor der Nase wegschnappte, den Hund mit einem flüchtigen Blick beim Anfahren für eine Mädchenpuppe auf allen vieren hielt, sich jedoch im Halbdunkel auf dem Taxirücksitz wieder sammelte, bevor er den Fahrer mit einem Geldschein ans Kinn tippte, was er noch nie getan hatte, und sich dabei wünschte, der sei eine Frau, eine Frau mit seinem Geldschein und zu einigem bereit, ja, er fragte die einschlägigen Adressen ab, wie er gehört hatte, dass man es tut, und ließ fahren, ließ Schöneberg, Wilmersdorf, ließ »Shadow-Bar«, »Zwielicht«, »Pigalle für Alle«, ließ alles hinter sich. Geduckt in den Rücksitz kämmte er sich vor jedem neuen Anlauf. Schließlich, gegen 0.30 Uhr, strich er mit einer letzten Quittung über 27,– DM Fahrpreis in der linken Hosentasche nah dem Bahnhof Zoo an den späten Wohnungssuchenden vorbei, die im Blau der Karbidlampen die Sonntagszeitung verlangten.

Er landete im ersten Stock unter der Erde in einer Live-Show.

»Sie kommen gerade richtig«, die Frau an der Kasse tat, als ob sie ihn kenne. »Sie tanzt gerade.«

»Wer?«

»Jelena«, sagte die Frau.

Hans-Ullrich sah den Mann neben sich an der Kasse den Hosenknopf drehen und dachte, dass früher auch dies als Währung gegolten hatte. Als er noch klein war und der da auch.

»Wie ist es denn da drin«, hörte er sich leise fragen.

»Wie im Theater«, hörte er den fremden Mann sagen. »Nur wirklich und geiler.«

Jelena fuhr mit der Hand zwischen die Brüste, den Bauchnabel abwärts, und Hans-Ullrich hatte –

Sie tanzte, und er war sich sicher, sie schaute nur ihn an. Zwölf Männer saßen zu Füßen einer engen Bühne. Sie tanzte und schälte ihn heraus aus dem Dunkel, in dem er mit den anderen Kunden saß. Hans-Ullrich schloss die Augen. So erinnerte er sich an sich. Das war noch er. Neben ihm atmete jemand schwer. Nimm den Hund aus dem Gesicht, dachte Hans-Ullrich noch. Dann sah er ihr in die Augen und hatte –

Eine Erleuchtung hier, im Halbdunkel der Live-Show.

Nicht mehr essen und nicht mehr trinken würde er können, ohne diese Frau. Die Tränen würden ihm kommen, vor allem im Schlaf, ohne diese Frau. Beinahe wäre er aufgestanden und hätte sie laut angesprochen: »Fräulein, kommen Sie doch bitte mal in mein Büro.«

Jelena reckte sich ein letztes Mal und stand angespannt, festgeschraubt in ihrer Schönheit, in jener Pirouette, die er von Pin-ups kannte. Keine Frau, ein Akt. Sie ließ die Arme fallen. Sie trug über der linken Hand einen schwarzen Lederhandschuh.

Sie tanzte nicht mehr.

Hans-Ullrich griff nach seinem Mantel. Die Welt wich zurück. Knapp wie ein Junge verbeugte sie sich am Ende der Platte. Sie wandte den Kopf in seine Richtung, und er schnappte nach der Verlängerung ihres Blicks. Im Fortgehen kam sie näher? Eine optische Täuschung, dachte er noch. Dann fiel das Denken aus. Ihre und seine Augen fügten sich ineinander. Jelenas Mund lag im Schatten, ihre Augen an dessen Saum. Ein Wunder, dachte Hans-Ullrich, und hob die Nase. Mitten in der Wüste kam eine schwarz verschleierte Frau auf ihn zu. Sie schlug die Augen auf. Die waren blau, so unsagbar blau. Hagel, dachte er. Er konnte die Augen der Frau hören.

»Denn Deine Hand war Tag und Nacht schwer auf mir, dass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird«, betete Hans-Ullrich, als Jelena in der hinteren Bühnengasse verschwand. Er wusste nicht mehr, ob er noch dort und wo er überhaupt saß. Ob Holz oder Polster oder Wasser unter ihm war. Ob er ein Mann war oder plötzlich eine kranke Möwe, oder ein Kind oder nur dessen Hand, die nach dem klebrigen Gefieder der Möwe griff, ganz gleich, ob an kranken Möwen der Tod klebt. Er wusste nicht mehr, ob er was war, ob Mann, ob Tier, Finger oder Flügel. Er wusste nicht mehr, ob er war, was er gewesen war. Mit zwei Lidschlägen hatte die Frau einen Vorhang heruntergerissen. Und da war es nicht mehr Kunst, was er sah, sondern eine Frau, die ihm geschah. Still saß er da, den Zeigefinger am Mund, und horchte, da war ein unheimliches Geräusch.

Ein sehr junges Mädchen betrat in diesem Moment die Bühne. Es interessierte ihn nicht. Er war neuer, als jedes Mädchen neu sein konnte. Geschreckt setzte sich Hans-Ullrich noch einmal in den Sessel, sah aber nicht hin. Tief in seinen Sitz gedrückt, ja gedrückt, versprach er Jelena ewige Treue. Da musste er über sich lachen. Denn wenn man süchtig ist, fällt es nicht schwer, treu zu sein.

Doch wovon und wonach war er süchtig?

Er hatte nicht einmal an ihr gerochen.

 

 

 

Im ersten Stock des roten Hauses in Friedenau schlugen zwei Fensterflügel gegeneinander. Davon wurde er wach. Wie er heimgekommen war? Mit dem Taxi gleich vom Bahnhof Zoo aus. Nicht einmal, wohin er seine Kleider geworfen hatte, wusste er. Sie lagen in der Diele, auch Socken und Unterhose. Die S-Bahn fuhr bei Westwind auf Hörnähe. Heute war Westwind. Das hatte etwas Tröstliches. Daran erkannte er seine Wirklichkeit wieder. Der Wind trug das zärtliche Rattern zum geöffneten Fenster herein.

Er stellte sich vor, er wäre über ihr. Ganz nah. Stellte sich vor, er käme in ihr Gesicht und veränderte es.

Alles war möglich. Jede Frage.

Jelena, warum hast du denn den Handschuh an? Jelena lächelte, ein Wolf, der im Bett der Großmutter lächelt, und sie gab keine Antwort. Hans schloss die Augen. Der Handschuh gehörte dazu, als Teil eines Kostüms, der Show, der Nummer? Ein Handschuh eben, Leder und Nieten. Darin steckte Jelena. Und sie ließ den Handschuh vor aller Augen gewähren. Der presste die Brüste zueinander, dass diese Furche entstand, die Hans als Kind schon erregt hatte, der, ein Handschuh nur, durfte über die Ebene des Bauchs fahren, jede sanfte Wölbung nehmen, sich ins Dickicht unterhalb des Nabels schlagen, einen kleinen Vulkan besteigen, umkreisen, sich von seiner ungeduldigen Glut anstecken lassen, um dann da zu verschwinden, wo es am schönsten sein sollte. Er durfte dabei nach Leder riechen.

»Ich auch«, murmelte Hans-Ullrich.

Der Handschuh hatte nach ihr gegriffen. Und jeder, der ihr zusah, wurde zum Handschuh. Was war das nur mit ihr?

»Sie kann zaubern«, flüsterte Hans dem Kopfende seines Sessels zu. Unter dem Bademantel war er nackt. Er legte den Kopf zurück auf den hellgeschabten Fleck seines Sessels und die linke Hand auf das Buch, das er gestern Abend gelesen hatte. Draußen wurde es Morgen. Die Vögel sangen ziemlich laut, fand er. Sie sangen so, wie ihm zumute war. In seiner Erregung begann er ebenfalls sehr leise und sehr hoch zu singen, wie eine alte Platte.

Stunden später schlug Hans-Ullrich dem Frühstücksei den Kopf ab. Es war 20 nach drei, nachmittags. Er hatte die Stunden in seinem Sessel geschlafen. Das war noch nie geschehen. Vor dem Dielenspiegel stellte er sich dann auf das Zeug, das er gestern Nacht hatte fallen lassen. Flanellhemd, beige-braune Hosen, helle Socken ohne Muster, Schuhe mit leisen Sohlen. Alles wie immer. Alles alte Haut. Als er aufschaute und er seine Augen im Spiegel traf, fand er, sein Gesicht sei schmaler als gestern noch. Gefährlicher. Ein gewisser Schatten lag darauf. Der Schatten einer Ahnung, sagte er ohne Angst vor dem eigenen Kitsch und zog sich an. Er versuchte vor dem Spiegel eine Drehung. Seine Schuhe machten kein Geräusch. Doch die Schultern waren noch nicht fest. So zog er ein Jackett über das beige-braune Flanellhemd. Er sah sich wieder in die Augen, und mit der Linken strich er durch das Haar. Mit der scheuen Geste wurde es noch dichter und weniger grau. Einen kurzen Moment hielt er die Türklinke in der Hand. Seine Vermieterin Frieda Ohm und ihr einziger Sohn spielten bei geöffnetem Fenster »Mensch ärgere dich nicht«. Würfel flogen, als hätten sie bereits Streit. Einige Häuser weiter sangen fromme Nachbarn zur Gitarre. Die Botschaft setzte froh über Hecken und Zäune hinweg. Hans-Ullrich flog die Treppe hinunter, bis seine Handfläche auf dem Geländer brannte.

Er nahm den Einhundertsiebenundachtziger und war mit dem Fahrer allein im Bus. Als er am Innsbrucker Platz umstieg, stand eine Frau mit Eimern voller Blumen an der Haltestelle. Hans-Ullrich kaufte zwei Sträuße Gerbera und ließ sie zu einem zusammenbinden. Eine Krähe flog über die dicht befahrene Kreuzung und krächzte bei jedem Flügelschlag. Eine zweite kam und begleitete sie. Erst da wurde die Krähe ruhiger.

Regen kam auf.

Am Bahnhof Zoo blieb er an einer Imbissbude stehen. Die vordere Hälfte seines Körpers brachte er unter dem Klappdach in Sicherheit. Sein Rücken wurde langsam Nass vom Regen. Er bestellte eine Currywurst mit Darm und Schrippe. Die Blumen klemmte er wie eine Zeitung unter den Arm.

Als er die Schrippe ins Ketchup tunkte, an ihr roch und sie dann erst aß, überkam ihn ein Heißhunger, den keine Currywurstbude, keine Currywurstfabrik der Welt würde stillen können. Es musste am Ketchup liegen. Hans-Ullrich schnüffelte. Manchmal mischten sie etwas bei, das süchtig machte.

Die zwei Männer neben ihm sah er erst jetzt. Sie hatten schwarze Hüte auf. Männer mit Hut sind an Currywurstbuden selten. Hans-Ullrich sah ihnen hinterher. Sie gingen leicht gebückt unter dem Nieselregen auf den Eingang in seinem Rücken zu. Über der Tür flackerte rhythmisch das Wort S-H-O-W. Hans-Ullrich wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Mund, wechselte den Blumenstrauß in die Rechte, hielt ihn mit dem Kopf nach unten, sah den Draht, der den Blüten in die Kehle stach, sah den Zeitungsverkäufer in seiner Rotunde zwischen den Sonntagszeitungen in mehreren Sprachen, zögerte noch vor dem Zögern und ging an den Überschriften entlang und gegen den Strich der Schrift auf den Eingang zu, dachte, das Mädchen ist arm, aber sauber, ihre Phantasie ist das Gegenteil, betrat auf seinen leisen Sohlen die Show, und erst als er das Ende der Treppe sah, durch Nebel und Watte hindurch, nahm er sich vor, ein Normalfall zu sein, ein Normalfall, während eine Welle roh vom Bauch über Herz und Gesicht schlug, alles unkenntlich machte, wüst und leer, bis der Blumenstrauß in seiner Hand ihn zurückholte.

So konnte er doch da nicht rein.

Blumensträuße galten hier nicht. Jelena würde ihn auslachen. Was wäre schlimmer.

Da stand er, am Kopf der Treppe. An dieser Stelle fiel die Küste steil ab ins Meer.

 

 

 

So leicht war es also zu sterben?

Er hält ihr das Foto hin. 172 Zentimeter, 58 000 Gramm schwer, Kopfumfang 55 Zentimeter, Geschlecht weiblich, geboren, nackt, tot. Es ist früh am Morgen, als Sophie Schleußner die Dienststelle betreten hat. Gern ist sie nicht gekommen, bleibt fünf Tage, und da sie sowieso schon einmal hier ist –

»War er das?«

»Ja«, sagt Kommissar Abenstein. Er zeigt auf das nächste Foto. »Ihre Schamhaare sind wegrasiert.«

Das Zimmer ist fast vollständig auf dem Bild. Nur die Ecke hinten rechts bleibt im Dunkeln.

Den Mann erkennt sie auch von hinten, der Rücken weiß, Kreide und Kalk. Die Muskulatur hängt tannenbaumförmig über der Hüfte durch. Der Mann kniet auf dem Bettvorleger. Im Bett liegt eine Frau, nackt. Lider und Mund scheinen einen Spalt geöffnet zu sein, die Brustwarzen wölben sich mit einem winzigen schwarzen Loch in den Spitzen. So sieht man dann aus? Sie sucht im Foto den Schutz der vierten, der dunklen Ecke.

Sie schlägt die Augen nieder und schaut auf ihren kurzen karierten Rock, der sich auffächert. Sie rutscht auf dem Holzstuhl weiter vor, und die schwarze Strumpfhose verhakt sich in der gesplissenen Sitzfläche.

»Ach«, und sie schaut mit dem gleichen Blick das Foto an, wie sie gerade noch ihren Rock angeschaut hat.

Etwas wird sichtbar, doch nicht die Geschichte, die sie hören will.

Der Mann vor dem Bett trägt eine Frauenunterhose. Eine schmale Spitze umzackt den Beinausschnitt. Über dem Bett sind zwei Bogenfenster, die Vorhänge vorgezogen. Sicher hat das Gesicht des Mannes die Farbe der Vorhänge, aber blasser. Das muss sie sich denken, denn das Foto ist schwarzweiß.

»Ein gutes Foto«, sagt sie, als könnte sie einen Alptraum auf seine technischen Qualitäten überprüfen.

Auf der Sitzfläche eines Stuhls liegen ein kleiner Pullover und eine kleine Jacke übereinander. Sophie fällt das Wort für die altmodische Kombination nicht ein. Rechts an die Wand gerückt steht ein Schminktisch mit Pappbecher und Kassettenrekorder darauf.

»Was ist das da auf dem Nachttisch?«

»Rasierzeug«, sagt Kommissar Abenstein. Neben dem Rasierzeug liegt ein Terrier aus Plüsch auf dem Rücken, die Beine breit und steif in die Luft gestemmt.

»Hässlich«, sagte sie, weil es ihr peinlich ist. Die Frau ist tot, der Mann nicht. Die Frau ist nackt, der Mann nicht. Den Mann kennt sie. Die Frau nicht. Eigentlich ist der Mann nackter.

Sophie will weg.

»Warum sind Sie eigentlich gekommen?«, fragt Abenstein.

»Ich habe am Freitag ein Vortanzen, und dann hat auch mein Freund Karl gesagt, fahr hin.«

»Sie sind Tänzerin?«

»Sozusagen.«

»Warum sind Sie dann zu mir gekommen?«

Kommissar Abenstein ist ein schmaler, ein trauriger Mann, sie schaut ihn an.

»Sie meinen, jetzt erst?«

»Ich meine, jetzt noch«, sagt er.

Ein gutes Polizeifoto. Sophie nickt und geht mit dem Gesicht ganz nah heran, sitzt plötzlich mitten drin. Das kommt davon. Sie sitzt im Bild mit dabei, tut nichts und schaut. Das Bild wird nicht einmal breiter.

»Kein Zeichen von Kampf?« Sophie wendet sich Abenstein zu und schiebt einen Kaugummi unauffällig in die andere Gesichtshälfte. Das entspannt die Züge.

»Damals war ich vierzehn oder so«, sagt sie.

»Damals war die Tür halb offen, als wir ankamen«, sagt er. »Draußen hing ein Schild. ›Bitte nicht stören.‹ Mein Assistent ging als Erster hinein, rührte nichts an. Die Tote nicht. Den Mann auch nicht. Hätten wir ihn angestoßen, er wäre wie ein Sack zur Seite gefallen, glaube ich. Dann kam der Fotograf, er arbeitete rasch und sagte ›Gespenstisch‹. Sonst sagte keiner was. Wir nicht. Der Mann nicht. Wie viel Zeit verging! Ich begann Staub auf den nackten Schultern des Mannes zu sehen. Er kniete noch immer. Einmal, als der Fotograf den Film wechseln musste, legte er die Kamera beiseite und ging auf das Bett zu. Er legte Ihrem Vater die Hand auf die Schulter.«

So weit ihr Arm reicht, schiebt sie die Fotos auf Abensteins Schreibtisch von sich.

»Ihr Vater war versteinert.«

Sie legt die Ellenbogen auf den Tisch, und er will die Fotos in den Ordner zurücklegen, zögert aber. Denn sie lächelt so. Sie liest die Tagebuchnummer KK1 / C / Datum 30.9.1982/, dann das Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft 70-UJs, Mordfall Schnee.

»Wir haben ihn nach drei Monaten Untersuchungshaft mit einigem Unbehagen laufen lassen.« Er lächelt auch.

»Niemand hat ihn je wütend gesehen«, sagt sie.

»Das glaube ich gern.«

»Ich verstehe also nicht …«

»Haben Sie ein Glück, dass Sie nichts davon verstehen«, und Abenstein dreht den Kopf, denn es klopft an der Bürotür. Er steht auf, und Sophie, so aufgefordert, ebenfalls. Als sie ihre Berliner Telefonnummer auf den Schreibtisch legt, sieht sie, das Foto liegt noch oben auf dem Aktenordner. Sie nimmt es weg. Schließlich sitzt sie in dem Bild mit dabei, seitdem sie es zu nah angeschaut hat. Hat nichts getan und tut nichts dazu, aber sitzt mit drin. Sie schiebt das Foto in den Rockbund.

»Kleiner Pullover, kleine Jacke in gleicher Farbe, jetzt fällt es mir ein. Twinset!«, sagt Sophie laut, als Abenstein sich zu ihr umdreht.

»Dann hat sich der Besuch für Sie ja gelohnt.« Er schiebt sie zur Tür.

Damals war sie vierzehn. Jetzt ist sie sechsundzwanzig, sieht aber aus wie siebzehn. Als die Mauer fiel vor einigen Jahren, ging sie gleich in den Westen, dann in den Süden, weit fort.

»Wer erzählt mir die Geschichte meines Vaters?«

Sie schaut Abenstein an, und der schaut aus dem Fenster. Im Hof kein Vogel, der aus der Leere rettet.

 

 

 

»Marotzke«, sagte Frau Marotzke an der Kasse. Nein, nur am Wochenende arbeite Jelena, und manchmal auch am Donnerstag, aber immer erst ab 18 Uhr. Frau Marotzke nickte, während sie Nein sagte. Jelena arbeite nur, wenn es sich lohne. Es war Montag, 17 Uhr. Hans versteckte seine Aktentasche hinter seinem Rücken. Vor Enttäuschung bekam er keine Luft.

Er war der Sohn eines protestantischen Pfarrers aus Rerik, hatte Literatur und einundzwanzig Semester Religionswissenschaften studiert. Hans war geschieden, hatte drei Töchter. Eine davon verheimlichte er, denn Sophie lebte bei der Mutter in Ostberlin. Er war ein Sammler, er sammelte Kakteen, Bücher und »Bücher, die es nicht mehr gibt«. Sammler seien die leidenschaftlichsten Menschen der Welt, hatte Balzac einmal gesagt. Hans-Ullrich klemmte die Tasche unter den Arm, rieb sich die Hände und stellte die Füße näher zueinander, während er Frau Marotzke anstarrte. Er war dreiundfünfzig Jahre alt.

Jelena würde über alles lachen, was für ihn galt. Zum Beispiel über sein Spezialgebiet »Bücher, die es nicht mehr gibt«. Unregelmäßig hielt er an Freitagen in der Ecke des Lesesaals Vorträge zu diesem Thema. Eine Handvoll älterer Frauen hörte ihm dabei mit hängenden Schultern zu. Eine Handvoll Staub, dachte er, wenn er sich ihrem dünnen Applaus beugte und für einen kommenden Freitag die Fortsetzung versprach. Kalt gingen sie nach seinem Vortrag schlafen. Er stellte es sich vor, kalt. Ein für sein Alter auffällig junger Mann, sagten die jüngeren Frauen in der Bibliothek hinter seinem Rücken. Er gefiel den Frauen. Nur hatte er es in letzter Zeit vergessen. Die Trennung, die Scheidung, sein Auszug, die Kinder. Er gefiel. Ein stiller, aber verführbarer Streuner.

»Sie haben eine schöne Stimme«, sagte Frau Marotzke da. Unter ihrer weißen Bluse schnitt ein schwarzer BH ins Rückenfleisch. Hans sah sie langsam an. Sie war eine, die sich mit dem Glanz ihrer früheren Jahre trösten konnte, und da kannte er sich aus.

»Schöne Stimme«, wiederholte zaghaft Frau Marotzke, und ihre Augen flackerten. Hans legte beide Hände auf die Kassentheke. Der Schaukasten neben der Kasse, mit Mädchenfotos im Aushang, roch nach Glasspiritus.

Seine erste Frau war Ärztin gewesen. Hatte er abends der Ärztin die Füße massiert und fest in den Steg zwischen Ferse und Wade gegriffen, sodass die Sehne fast sprang, war sie sofort erregt gewesen. Das hatte er sich für weitere Abenteuer gemerkt, und sie hatte ein weiteres Kind von ihm verlangt. Sofort. Das Sofa hatte leise geweint und das Radio Miles Davis gespielt. »Fahrstuhl zum Schafott«. Hans-Ullrich, hinter geschlossenen Lidern, hatte sich Jeanne Moreau vorgestellt.

Er nahm die Hände von der Kassentheke. Frau Marotzke verzog den Mund, als er die Show verließ. Noch auf der Straße hatte er in der Nase den Geruch von Spiritus.

Der Bibliothekar liest nicht mehr, sagte er laut, und nur ein alter Hund drehte sich nach ihm um.

Gleich nach der Arbeit schlich er wieder um den Laden, am Dienstag, am Mittwoch. Verzweifelt, denn er hatte keine Zeit mehr für diese Zeit ohne Jelena.

Am Donnerstag stand er vor dem Schaukasten, in dem die Bilder der Mädchen ausgestellt waren, die heute auftraten. Die Mädchen wechselten täglich, das Schild »Heute« nie. Da stellte Frau Marotzke sich neben ihn. Donnerstag, noch so ein Tag, der einfach »Heute« hieß.

»Soll ich Ihnen Feuer geben?«

»Ich rauche nicht, warum?«, fragte Hans-Ullrich.

»Na, für Ihre Kerze«, Frau Marotzke lachte, den Kopf im Nacken, und zeigte auf seine Hände. Die waren gefaltet.

»Haben Sie denn nichts anderes vor?« Frau Marotzke berührte seine Schulter und ging an ihre Kasse zurück. Nichts anderes, murmelte Hans, und wieder blieb ihm die Luft weg. Donnerstags war immer Sophies Donnerstag gewesen. Er zog den Kopf zwischen die Schultern. »Sophie gewesen«, hatte er eben gedacht.

Er fuhr nach Hause.

In der U-Bahn hörte er sein Telefon in Friedenau bereits klingeln, sah Sophie, vierzehn, mager, klein und mit Mütze drüben in der Post Pankow in einer Zelle von einem Bein auf das andere treten. Sicher hatte sie die Stiefel ihrer Mutter an.

Papa?

Ja?

Es ist Donnerstag.

Wie bitte?

Donnerstag!

Hans öffnete die Augen. Mit leerem Blick sahen zwei Frauen durch ihn hindurch. Ihre Köpfe wackelten im Rhythmus der Fahrt.

Papa!

Hans wurde rot, und keiner achtete darauf. Sophie war das Kind, das er mit Sophies schöner Mutter hatte. Seit Sophies Geburt war er fast jeden Donnerstag über die Grenze gegangen. Diese Donnerstage im Osten waren die regelmäßigen Abenteuer in seinem Leben gewesen. Sophie war seine Lieblingstochter, und die wöchentliche Reise in die Hauptstadt der DDR eine, so gab er verlegen zu, literarische Erfahrung. Die Sache mit Sophie war für ihn das Buch, das es noch nicht gab.

Papa?

Ja.

Es ist Donnerstag. Wie stellst du dir das vor, so hörte er Sophie erbärmlich reden, als stünde sie nicht in der Post Pankow, sondern in einer unbeheizten Halle mitten in Sibirien. Wie stellst du dir das vor, einfach nicht zu kommen an unserem Donnerstag? Ich wähle seit einer Stunde deine Nummer, es ist die erste freie Leitung nach Westberlin und …

Er duckte sich in den U-Bahn-Sitz. Zum ersten Mal war ihm die Mauer willkommen. Er konnte sich dahinter verstecken. Krumm saß er da und machte dem Moment rasch ein Ende. Er ließ Sophies Geld schneller durchfallen da drüben, ließ die Pausen länger werden. Da passte Abschied hinein. Stimmen wie die von Mickymäusen drängten sich dazwischen, und dann, dann riss er die Leitung einfach ab und sagte, die ist schuld. Die Mauer.

Er öffnete die Augen. Gleichgültig schauten ihn die zwei Frauen an. Innsbrucker Platz stieg er aus, ging zu Fuß weiter.

Dieser Donnerstag war der längste Donnerstag seines Lebens. Oft klingelte sein Telefon, oft. Er ging nicht hin.

Was er tat? Ohne Jelena, keinen Schritt.

 

 

 

Hans-Ullrich saß im Pressecafé. Es waren siebenundzwanzig Schritte von hier bis zur Show, der vierundzwanzigste ging mit rechts um die Ecke. In kleinen Schlucken trank er sein zweites Glas Wein.

»Heute ist Freitag«, sagte der Begleiter einer sehr jungen Frau am Nachbartisch. Weil sie wusste, was das heißen mochte, wurde sie verlegen. Sie stellte die Vase mit den Maiglöckchen beiseite. »Damit ich dich besser sehen kann«, sagte sie.

Lange hatte Hans am Morgen überlegt, was er anziehen könnte. Er wusste nicht, was, weil er nicht mehr wusste, wer er war. Also hatte er sich für etwas Beige-Braunes entschieden. Da war die Auswahl groß.

Am Nachbartisch küssten sie sich. »Halt den Mund«, sagte die Frau, als sich ihre Münder trennten.

Wie ein Heimwerker hatte Hans seine Jelena aus der Luft gesägt und war, in Tagen gerechnet, schneller gewesen als Gott bei der Erschaffung der Welt. Jelena war eine Sensation geworden unter seinen Händen. Du bist schön, meine Liebste, du bist schön, hatte er geflüstert und war in ihrem Anblick ertrunken. »O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe«, sang sein Herz. Die Bachkantate 34 kannte er noch von Pfingsten. Manchmal wurde sie auch als 34 a für Trauungen benutzt. In der U-Bahn Richtung Bibliothek hatte er Montag, Dienstag, Mittwoch am Morgen und am frühen Abend die Augen geschlossen und sich erst heute auf Jelena gelegt. Erst einmal von hinten, auf ihren Rücken. Hatte ihren Kopf gehalten, fest, ihre Arme fester, hatte gesehen, wie schön sie sein kann, wenn einer Macht über sie gewinnt. Sie hatte ihn nicht berührt. Dafür fehlte seiner Phantasie das Vokabular. So war er ungehindert bis zum Äußersten gegangen. Als er in der U-Bahn, auf Höhe der Station Heidelberger Platz und noch zwei Stationen von der Freien Universität entfernt, als er ein wenig in Eile in sie drang und sie einen Schmerzensschrei ausstieß, da wusste Hans, sie war noch Jungfrau. Für ihn war sie es noch.

»Ja, schaut nur«, sagte er laut.

Das junge Paar würdigte ihn keines Blicks. Er stand langsamer auf als nötig und ging auf die Tür neben der Kuchentheke zu. Drei Mohrenköpfe mit aufgemalten Gesichtern blickten ihm entgegen. Sonst niemand. Noch war es ihm nicht anzusehen. Er ging auf die letzte und vielleicht einzige Veränderung in seinem Leben zu, er, der Bibliothekar, er wusste mehr über das Lieben, als man ihm ansah. Jelena würde es wittern. Die Tasten treffen, sagte er sich in der Sprache des Pianisten, die Tasten treffen kann jeder. Aber dass es Musik wird? Er sah Jelena die Nase in seine Richtung heben.

»Ja, ich komme.« Fast hätte er gejubelt. Stattdessen trat er die Tür. Er würde sich die Freiheit nehmen, sie zu lieben, wie er die Woche über sich die Freiheit genommen hatte, an sie zu denken. Das war ein fester Satz. Der Satz straffte ihm die Schultern. Die Tür schwang zurück.

»Vorsicht Stufe«, sagte das Fräulein hinter der Kuchentheke.

Heute hatte sie ein Spray benutzt, bevor sie auf die Bühne ging. Die war leicht erhöht. Heute waren mehr Männer in der Show. Sie zählte vierzehn. Die saßen zu ihren Füßen. Gefiel es ihnen, klatschten sie am Ende der Musik eifrig. Dankbar, dachte Jelena manchmal. Das gefiel ihr. Sie lächelte zufrieden in die Kamera. Sie war achtundzwanzig. Argusaugen an der Kasse überwachten die Mädchen per Videokamera, um zu wissen, warum bei manchen so viele Kunden hinausliefen.

Doch nicht bei ihr.

Hans-Ullrich bog in die Joachimsthaler Straße ein. Inzwischen kannte er manchen, der sich hier herumtrieb. Jetzt war er auch so einer, besser angezogen, aber in den Taschen schon Dreck. Er blieb stehen. Die Passanten gingen eilig an ihm vorbei. Alles Menschen. Alle einsam. Ein junger Mann mit geöltem Haar und dunklem Anzug fegte Glassplitter im Foyer der Live-Show auf.

Sie war die Nummer vier auf der Tafel in der Garderobe. Ihr Licht leuchtete auf, rief sie in die Solokabine. Sie musste nie lange in der Garderobe warten, und zum Stricken, wie die anderen, kam sie gar nicht erst. Sie versteckte ihre Tasche mit dem Geld unter der Eckbank. Heute hatte sie noch einmal ein Spray benutzt, bevor sie sich im Dunkeln hinter dem Gitter aufstellte. Ein Mann mit Brille fand den Schlitz für das Geld nicht, ein Mann mit feuchten Händen, nahm sie an. Wenn sie überhaupt etwas annahm außer Geld. Der Mann schämte sich vor einer abwesenden Familie. Geben Sie her, sagte sie und warf fünf Mark für ihn ein. Wie lange habe ich Zeit, fragte er schüchtern. Sie lachte, sagte, Drei-Minuten-Takt, und fing an zu tanzen. Da hatte der Scheinwerfer die Kabine bereits rot aufgerissen.

Hans-Ullrich war über den Besen des Putzmanns gesprungen und sich sofort albern vorgekommen. Seine Großmutter, die hätte diese Situation zu nehmen gewusst. Drei Tage, bevor sie starb, hatte sie im Garten einen Baum gefällt. Das ganze Dorf hatte zugeschaut. Die Mutter vom Pfarrer mit der Axt! Sie hatte täglich mehrere Auslandsreisen unternommen, mit dem Finger auf dem Globus. In den letzten Jahren hatte sie dabei eine Perücke getragen. Mit brennendem Gesicht hatte sie Hans mitgeteilt, was alles der Alltag freiwillig nicht hergab. Er war klein gewesen.

Hans-Ullrich hatte sich im Foyer noch einmal zur Straße umgedreht und die Fenster oberhalb der erleuchteten Geschäfte wahrgenommen. Da wohnen ja welche, dachte er und ging blind einen Schritt vor, stolperte über die erste Stufe und war schneller danach gelaufen. Die Großmutter? Die musste draußen bleiben.

Jelena tanzte, sie redete beim Tanzen. Na, die meisten hatten wirklich Familie und nicht so große Ansprüche. Wenn sie redete, fiel es ihnen leichter zu onanieren. Der jetzt hier stand mit Brille und hängenden Armen, griff weder nach ihr noch nach sich selbst. Das war nicht normal. Und was nicht normal war, war gefährlich. Deshalb fragte sie bald. »Sie waren schon mal hier?«

»Vielen Dank«, sagte Hans-Ullrich, »vielen Dank, dass Sie mich erkannt haben.«

Jelena baute einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr in den Tanz ein. Sie fragte, ob er nicht mit ihr ins Séparée wolle.

Was das sei, fragte er. Sie sagte, ein Sofa, und eine halbe Stunde Zeit. Er murmelte etwas. Er sagte, so geht das nicht.

Jelena blieb geduldig. Das lohnte sich fast immer. Für die Solokabine gab es 10 % Gewinnbeteiligung. Extraleistungen im Séparée handelte sie mit dem Kunden selbst aus.

»Zug um Zug eben«, sagte sie und hielt sich an seiner Gürtelschnalle fest. So kamen sie sich näher. Da ging das Rotlicht aus. Kurz erinnerte Hans sich im Dunkeln an jene Glasvitrinen im Kaufhauseingang, unter denen eine Kapelle von Stoffaffen hockte. »Was soll ich tun?«, fragte er leise. Sie nahm ein weiteres Fünfmarkstück aus seiner Hand und warf es für ihn ein.

Er griff nach ihr durch die Stäbe, öffnete die Hälften des Kimonos, berührte ihre Brust, deren Spitzen, drapierte den Stoff so, dass sie frei lag, und hielt inne.

»Das ist eigentlich nicht üblich«, sagte sie. »Gehen wir ins Séparée. Fünfzig Mark, und dann ist es gemütlicher. Den Rest machen wir beide miteinander aus.« Sie lehnte sich im Stehen leicht zurück, schlug die Beine übereinander, zögernd, abwehrend fast. Dagegen ihre Augen, ihre Brust, beide, tatsächlich beide schauten ihn an. Einladend, fand er.

Ob er eines Tages vor ihr stehen würde, um sie mit wenigen Schnitten zu entkleiden? Die kühnsten Träume, er lächelte, sind die Produkte der ängstlichen Menschen.

»Warum lächeln Sie so?«

»So«, sagte er, »tue ich das?«

Er ging nicht mit ihr ins Séparée und gab ihr trotzdem die fünfzig Mark. Als er das Geld herüberreichte, sah er seine Armbanduhr. Es gefiel ihm, sein Arm mit der Uhr so kalt, so unverbindlich nah ihrer Haut. Daran würde er morgen und all die anderen Tage denken, bei jedem Blick auf die Zeiger, bei jeder Frage seiner Kollegen nach der Zeit.

Wieder ging das Licht aus. Diesmal fand er den Schlitz allein.

»Sie sind mir ein verrücktes Pferd«, sagte sie, und sie dachte, beim nächsten Mal bringt er Parfum mit.

Jelena war, das wusste sie, in der Garderobe so unbeliebt, wie sie bei der Kundschaft gefragt war. Sie war das Mädchen, das das meiste Geld mit nach Hause nahm. Selten weniger als 800 Mark nach einem Wochenende. Ihr Haar war rot oder blond, ihre Augen grün oder blau, je nachdem, ihr Körper perfekt. Den Vergleich mit dem besten Pferd im Stall hatte sie sich untersagt. Eine Kollegin hatte neulich lange mit einer Rasierklinge gespielt, bevor sie sich die Haare von den Beinen geschabt hatte. Das sollte Jelena eine Warnung sein. Eines Tages würde sie so lange den Kurfürstendamm hinauf- und hinunterlaufen, bis sie einen anständigen Job hätte. Das nahm sie sich vor.

Sie legte ein Handtuch um den Hals, wie Boxer zwischen den Runden es tun, und tippte auf ihre Uhr.

»Ich muss«, sagte sie.

»Danke für alles«, sagte Hans-Ullrich.

»Hat es Ihnen gefallen?«

Er nickte.

»Dann kommen Sie morgen wieder.«

Er nickte. Sie ging.

Dreh dich um, befahl er sehr leise.

 

 

 

Aus dem Regal in der Diele hatte er einen Stapel Bücher gezogen und sie zu zwei gleich hohen Türmen auf dem Fußboden gestapelt, war in die Knie gegangen und hatte die Hände aufgelegt. Sieben, acht, neun, schon begann er zu schwitzen, seine Fußspitzen zitterten, dann die Arme. Bei elf brach er ab. Seine Hände klebten vor Anstrengung feucht auf dem Gesicht von Thomas Mann. Er schlug auf den Einband und meinte die Schulter, die Schulter von Thomas Mann.

Laut sagte er ihm: Der Bibliothekar liest nicht mehr. So wird er morgen fünfzehn Liegestütze auf seinen Büchern schaffen und dabei auch seine Brille abnehmen. Du wirst schon sehen, wie der Bibliothekar trainiert für Jelena. Das würdest du an meiner Stelle auch tun. Denk nur mal an …

Da fiel ihm bei Thomas Mann nichts ein, bei dem, nichts. Aber bei Heimito von Doderer. Morgen würde er den nach oben legen.

Hans-Ullrich stand auf und ging ins Bad. Sie könnten ein Paar werden. Ein normales Paar. Mit Kind.