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Andrea Heuser

AUGUSTAS GARTEN

Roman

 

Für meine Mutter

»The ball I threw while playing in the park
has not yet reached the ground«
 
Dylan Thomas

 

 

Als Augusta fünf Jahre alt war, schaute sie zum ersten Mal zurück. Die Straße lag in gleißender Hitze, von Schatten unberührt. Das Leben hatte sich matt in die umliegenden Wohnungen und, wo beweglicher, in Cafés, Parks und Freibäder zurückgezogen. Augusta aber saß zwischen Staubsauger, Stehlampe und Wäschekörben auf dem Autorücksitz. Die Mutter war mit verschränkten Armen über das Lenkrad gebeugt, ein wartender Rücken. Augusta drehte sich um – und sah einen Mann auf der Straße stehen. Der Mann hatte seine Hände vor das Gesicht geschlagen, er bewegte sich nicht. Ein Ruck ging durch den Wagen. Der Mann wurde klein und kleiner, und Augusta, die längst wieder nach vorn blickte, bemerkte nicht mehr, wie er schließlich verschwand …

I

BALD

Augusta liegt auf dem Rücken. Sie ist schon eine ganze Weile wach. Im Zimmer ist es noch ziemlich dunkel, aber die Rollläden haben Ritzen, durch die blinzelt jetzt das Licht herein.

Leider hat das Licht keinen Mund. Es kann also nichts sagen. Guten Morgen zum Beispiel. Oder: Alles wird wieder gut.

»Morgen«, sagt Augusta. Sie weiß eigentlich nicht so genau, zu wem sie das sagt. Es ist ja niemand da.

Der Morgen streut jetzt Körnchen auf den Teppich. Körnchen aus Licht. Sie stellt sich vor, wie eins nach dem anderen im Bauch vom Zimmer verschwindet. So lange, bis das Zimmer satt ist.

In ihrem Bauch beginnt es zu grummeln. Ja, sie hat Hunger, aber sie will nicht aufstehen. Außerdem ist es Sonntag, da macht Aufstehen erst recht keinen Spaß. Sie weiß natürlich, dass sie bald sowieso aufstehen muss.

»Du musst. Du musst. Du musst«, murmelt Augusta und zieht die Bettdecke ein Stückchen höher. Normalerweise steht sie gerne auf, und frühstücken, das tut sie auch sehr gerne. Normalerweise.

Hier aber, da schmeckt ihr nichts so richtig. Vielleicht weil – also, das Brot. Das fühlt sich so hart an im Mund, und irgendwie bitter. Deswegen heißt es auch Schwarz-Brot. Die anderen Sachen, die es dazu gibt, die kennt sie alle von daheim: Marmelade und Honig und Butter. Manchmal auch Käse. Oder Leberwurst. Dazu ein Glas Milch.

Die Leberwurst ist gut. Wenn es die gibt, dann schmiert sie davon so viel sie kann auf das Schwarzbrot, damit es mehr nach Wurst schmeckt als nach dem Schwarz. Wenn es aber keine Leberwurst gibt, dann tut sie sich eben Marmelade oder Käse drauf und schluckt ganz schnell alles runter. Der Käse und die Marmelade schützen nämlich nicht so gut vor dem Harten und Bitteren. Nicht so gut wie die Leberwurst. Ein bisschen was von dem Schwarzbrot, nein, eigentlich so viel wie möglich, lässt sie außerdem in Krümeln und kleinen Stückchen unterm Tisch verschwinden, wenn Eduard gerade mal nicht hinsieht. Die Mama sieht hin, aber sie tut so, als merkt sie es nicht.

»Schwarzbrot ist sehr gesund«, sagt Eduard. Eduard ist der Besuch. Nein, falsch. Sie sind der Besuch. Sie sind zu Besuch bei Eduard.

Eine Fliege wacht auf. Augusta hört sie summen, dann ist es eine Weile still. Wahrscheinlich krabbelt sie jetzt über die Fensterscheibe. Das Fenster ist aber zu. Und die Rollläden sind auch noch davor. Da kommt zwar Licht durch, aber die Fliege natürlich nicht. Das Summen beginnt wieder.

Soll sie das Fenster aufmachen, damit die Fliege rausfliegen kann? Aber dafür muss sie aufstehen, und das will sie nicht. Und außerdem muss sie dann auch die Rollläden hochziehen, und das ist ganz schön schwer. Das Summen wird lauter. Augusta zieht sich die Bettdecke über den Kopf. Krabbelt die Fliege jetzt etwa auf dem Bett herum? Augusta versucht sehr leise zu atmen. Das ist gar nicht so einfach. Unter der Decke kriegt man nämlich schnell keine Luft mehr, so als ob einem jemand die Nase zuhält oder den Mund. SSSSS… Die Fliege ist jetzt sehr nah. So nah und so laut, als ist sie in ihrem Kopf drin. Augusta kommt wieder unter der Decke hervor. Sie atmet hastig und ganz tief, bis wieder genügend Luft in ihr drinnen ist. SSSS… Augusta wedelt mit der Hand nach dem Summen.

»Sei still«, sagt sie.

Die Fliege ist tatsächlich still. Vielleicht ruht sie sich aus. Oder vielleicht wartet sie. Darauf, dass das Fenster aufgeht zum Beispiel. Vielleicht sucht sie auch nach einem anderen Weg ins Freie. Dumme Fliege. Das Zimmer ist zu.

Eduard hat ihr dieses Zimmer gegeben. »Das ist jetzt deins«, hat er gesagt. Außer dem Bett, in dem sie gerade liegt, stehen ein Stuhl und ein Tisch darin, und auch ein Schrank ist hier und eine Tafel mit bunter Kreide. Ihres daheim ist aber viel schöner. Es ist nämlich ein richtiges Kinderzimmer, mit all ihren Sachen darin. Daheim – Augusta will an ihr Kinderzimmer denken, und gleichzeitig will sie es auch nicht. Etwas schiebt sich dazwischen; so wie eine Scheibe, die man nicht gleich sieht, aber spürt, wenn man dagegenrennt.

Schritte, ganz nah. Eine Tür geht auf und zu, Wasser läuft und steht wieder still, ein helles Husten. Mama – Augusta schließt die Augen, als würde sie dadurch unsichtbar.

Sie will nicht, dass gleich die Tür aufgeht, sie will nicht, dass die Mama ihr die Bettdecke wegzieht, dass ihre Stimme das schöne warme Dunkel verjagt und sie da rausgeschickt wird. In den langen Flur, in die Küche, an den hohen strengen Tisch, zum Schwarzbrot, zu Eduard, zum Waschbecken, zum Haarekämmen, vor die Tür, auf die Straße, zu den Bordsteinkanten, Hecken, Garagen, Mauern, zu den lauten Glocken, den Stufen, in die Reihen voller fremder Beine, Schultern, Rücken, in die harten Sitzbänke. Aufstehen, hinsetzen, murmeln, schweigen, hingucken, weggucken. Sie will nicht aufstehen, sich bewegen, angeguckt werden, sprechen, schweigen, stehen, niederknien auf Kommando. Sie will nicht in die Kirche gehen.

Die Mama sagt, sie muss nicht, wenn sie wirklich nicht will. Aber Augusta weiß, dass sie eigentlich doch muss, weil Eduard in die Kirche geht und weil Eduard will, dass sie mitgeht, und weil die Mama will, dass sie »etwas mit Eduard unternimmt«, wie sie sagt. Die Mama geht nicht mit, sie ist noch nie in die Kirche gegangen. Augusta kann sich jedenfalls nicht daran erinnern.

»Früher, aber dann nie wieder«, sagt die Mama, als Augusta sie danach fragt. Augusta fragt warum, und die Mama sagt, sie glaubt nicht mehr daran.

»Woran?«

»An die Kirche. Aber wenn du mitgehst, dann freut sich Eduard.«

»Und wann gehen wir wieder nach Hause?«

Die Mama zögert.

»Bald.«

»Wann ist ›bald‹?«

»Bald ist bald. Jetzt sind wir erst einmal hier.«

 

 

»Da, da und da.« – Eduard kommt nicht ins Zimmer hinein. Seine Stimme aber schon. Und sein Finger zeigt Augusta ganz genau die Stellen auf dem Teppich, die sie mit Kreide besudelt hat.

Besudelt – wieder so ein Wort, das sie gar nicht kennt. Aber so, wie Eduard das zu ihr sagt, muss es etwas Schlechtes sein, das sie getan hat.

Dafür gibt es jetzt aber ein schönes blaues Haus, will sie ihm sagen. Dort auf der Tafel. Mit einem Garten aus lila und rosa Blumen. Und sie hat ihren Namen mit großen Buchstaben darübergeschrieben, genauso wie sie es im Vorschulkindergarten gelernt hat. Da hängt also ihr Name über dem blauen Dach in der Luft, und es sieht so aus, als ob er gleich herunterfällt.

Aber Augusta sagt nichts. Sie hockt sich auf den Teppich und betupft einen der Kreideflecken vorsichtig mit dem nassen Lappen, den Eduard ihr gegeben hat. Die Kreide geht auch gut weg, aber zu Augustas Schreck ist nun da, wo eben noch der bunte Fleck gewesen ist, ein neuer, dunkler Fleck. Der neue Fleck ist größer als der alte und mächtiger. Weil sie den Lappen ja schon benutzt hat, und jetzt ist nichts anderes mehr da, um ihn zu vertreiben. Augusta berührt den Fleck vorsichtig mit dem Finger. Sie zögert. Soll sie jetzt alle Flecken in so dunkle verwandeln? Warum soll das besser sein?

Es kann deswegen besser sein, weil Eduard es besser findet. Ja, Eduard muss diese dunklen Flecken besser finden als die bunten, denn Eduard hat ihr schließlich den Lappen gegeben. Und er hat auf die hellen Flecken gezeigt und gesagt, die müssen weg. Vielleicht will Eduard auch, dass sie einen neuen Teppich kauft, es ist ja Eduards Teppich, der jetzt kaputt ist, aber dazu braucht man Geld, und Geld hat sie keins, außer den fünfzig Pfennig, die ihr die Mama in der Woche für ein Eis oder andere Süßigkeiten gibt. Manchmal gibt sie ihr auch eine Mark, dann kann sie sich Brause, Weingummi und das Eis kaufen. Aber ein Eis wird Eduard nicht wollen, und das Eis kann schließlich auch Flecken auf den Teppich machen, und die Flecken müssen weg.

Also geht Augusta zur nächsten Stelle und dann zur nächsten und so weiter, bis alle Kreidestellen in nasse dunkle Flecken verwandelt sind und der hellgraue Teppich aussieht wie das Fell eines kranken Tieres. Augusta besieht sich dieses Teppich-Wesen, das da plötzlich einen Buckel macht, es ist ihr unheimlich. Das Wesen muss schon lange unsichtbar hier gewohnt haben. Und sie ist einfach so hierhergekommen in sein Heim, hat es gestört, und nun ist es krank. Vielleicht will es, dass sie fortgeht?

Augusta setzt sich auf die Bettkante. Nein, das ist nicht sicher genug. Lieber ganz aufs Bett. Sie wickelt sich in ihre Decke. Was soll sie tun? Sie kneift die Augen fest zu. Geh weg, geh weg, geh weg!

Als sie die Augen wieder öffnet, liegt das Wesen immer noch da. Aber sind die Flecken nicht schon ein klein wenig blasser geworden? Augusta ist sich nicht sicher. Sie kann natürlich aufstehen und nachsehen. Und was ist, wenn doch alles ganz unverändert ist? Vielleicht tut das Wesen ja auch nur so, als schläft es gerade ein, um sie dann erst recht zu erschrecken. Am besten, sie rührt sich nicht von der Stelle. Aber was ist, wenn sie mal dringend muss? Singen, die Mama singt ihr immer was vor, wenn sie Angst hat oder wenn sie nicht einschlafen kann.

»A-Be-Ce, die Katze lief im Schnee. Und als sie wieder nach Hause kam, da hat sie weiße Stiefel an, ojemine, ojemine, die Katze lief im Schnee …«

Hm. Nein, alles ist noch so wie vor dem Lied. Sie versucht es mit einem anderen, summt es sicherheitshalber leise, wie man es bei Schlafliedern tut, summt es wieder und wieder: »Summ, summ, summ, Bienchen summ herum. Ei, wir tun dir nichts zuleide, flieg’ nur aus in Wald und Heide, summ, summ, summ …« – Ihr Herz fängt wild an zu klopfen, es funktioniert! Ja, jetzt sieht sie es selbst von ihrer Bettenburg aus ganz deutlich: Die Flecken werden blasser, das Wesen schlummert ein. Auch Augusta ist jetzt müde. Sie streckt sich auf dem Bett aus und macht die Augen zu.

Die Tür geht auf, und Eduard schaut herein. »Na, dann ist ja alles wieder in Ordnung«, sagt er. Und tatsächlich, der Teppich liegt jetzt wieder still und ganz gleichgültig da, als wäre gar nichts gewesen.

»Was für ein schönes Haus«, sagt die Mama, als Augusta ihr später das Bild auf der Tafel zeigt. »Ach, und die Blumen sind ja noch viel schöner als echte Blumen. Da brauchen wir gar keine mehr kaufen gehen, im Laden.«

»Und wann gehen wir wieder nach Hause?«, fragt Augusta.

»Bald«, sagt die Mama.

 

 

Bald – Augusta mag das Wort. Es fühlt sich an wie der kleine Stein, den sie gerade in der Hand hält: rund und fest.

Augusta wirft den Stein vor sich auf den Gehweg. Gut! Sie hat fast die Mitte der Steinplatte getroffen, und das heißt: Sie kann ihren Fuß da draufsetzen, ohne die Ritze zu berühren. Wenn der Stein oder der Fuß die Ritze berühren, hat sie verloren. Augusta will aber gewinnen. Deshalb macht sie ganz langsam. Sie steht jetzt auf einem Bein, weil man das so machen muss in dem Spiel, damit es auch ein bisschen schwierig ist. Dann beugt sie sich vor, vorsichtig, um nicht zu fallen, und greift nach dem Stein. Erst als sie ihn wieder fest in der Hand hält, setzt sie auch den anderen Fuß auf. Für den Augenblick ist sie sicher. Die Gehwegplatte ist nur noch eine Gehwegplatte, der Weg ist wieder ein Weg und kein tiefer Fluss mehr, in den man hineinfallen kann, wenn man nicht aufpasst und übertritt. Die schmale wackelige Brücke stürzt ein, und alle Krokodile und Piranhas und Haifische schnappen zu.

Und warum soll man den Stein überhaupt werfen, der alles so gefährlich macht? Ganz einfach, wenn man sicher über die Brücke kommt, dann wartet auf der anderen Seite des Flusses eine Belohnung: Man darf sich was wünschen, und der Wunsch geht in Erfüllung. Das alles macht der Stein. Der Stein ist außerdem so etwas wie ein Freund. Er hilft, dass die Zeit vergeht. Die Zeit, die »bei Eduard« heißt.

Eduard wohnt in einer Bungalowsiedlung am Stadtrand. Augusta versteht nicht, was das heißt: Bungalowsiedlung. Aber die Mama sagt, so nennt man eine Ansammlung von Einfamilienbauten mit flachen Dächern und Vorgärten. »Einfamilienbauten«, sagt die Mama, »das sind Häuser mit Platz für je eine Familie.«

»Und wo ist Eduards Familie?«, fragt Augusta.

»Wir sind doch jetzt hier«, sagt die Mama, und Augusta versteht nicht, was die Mama damit meint. Auch was »Ansammlung« meint, hat Augusta nicht ganz verstanden, aber »sammeln«, davon versteht sie was. Sie sammelt nämlich alles Mögliche. Knöpfe zum Beispiel. Und Pfennige, mit denen sie einen Porzellanfrosch füttert, der einen Schlitz im Kopf hat. Dass er aus Porzellan ist, weiß sie, weil die Mama ihr gesagt hat, sie soll vorsichtig sein, dass er nicht hinunterfällt und kaputtgeht. Porzellan ist nämlich zerbrechlich, genau wie Glas.

Manchmal, wenn sie keine Pfennige zum Füttern hat, wirft sie einen Knopf in den Frosch, weil das so lustig klingt und es Spaß macht, an ihm zu rappeln, wenn sein Bauch voll ist. Wenn nichts mehr in den Frosch hineinpasst, bringt sie ihn der Mama, und die macht den Frosch wieder leer.

»Du hast jetzt fünf Mark sechzig«, sagt die Mama dann, oder auch: »Du hast jetzt drei Mark«, wenn sie dem Frosch besonders viele Knöpfe zu essen gegeben hat. Mit dem Geld kann sie dann machen, was sie will. Augusta will viel. Einen größeren Frosch, zum Beispiel. »Dann dauert es aber länger, bis er voll ist«, sagt die Mama. »Egal«, sagt Augusta. »Dann tu ich eben mehr Knöpfe rein.«

Aber das Froschgeld und die Knöpfe sind noch längst nicht alles, was Augusta sammelt. Sie sammelt auch Knibbelbilder. Die heißen so, weil man sie bei den Cola- und Limoflaschen aus dem Verschluss herausknibbeln muss, und sie sind genauso klein und rund wie ein Kronkorken. Sie hat schon ganz viele gesammelt, vor allem viele Doppelte, die sie mit den Kindern im Kindergarten tauscht. Die Bilder sammelt Augusta in einer alten Dose, aber sie will ein richtiges Album haben, in das sie die Bilder einkleben kann. Ihre Freundin Claudia hat schon so ein Album. Und Maria und Christiane, ihre beiden anderen besten Freundinnen, auch. Weil der Bauch vom Frosch gerade ziemlich leer ist, hat sie sich das Album zum Geburtstag gewünscht. Das Album und eine gelbe Tasche mit Schnallen und einer grünen Schildkröte drauf; das ist nämlich die Tasche, die in ihrem Lieblingsladen ganz vorn im Fenster steht, neben den Schulranzen.

Einen Schulranzen bekommt sie jetzt auch bald. Aber das zählt nicht, der ist kein Geschenk. Den Schulranzen bekommt sie nämlich, weil sie nach den Ferien in die Schule kommt. Und eine Schultüte kriegt sie auch. Aber erst einmal ist ihr Geburtstag.

Augusta liebt es, Geburtstag zu haben. Am Geburtstag wird man älter. Älter werden heißt, dass man mehr darf. Zum Beispiel länger aufbleiben, Fernsehen gucken und auch mal Cola trinken wie die Erwachsenen. Und man bekommt Geschenke und darf sich was wünschen. Wenn sie gefragt wird, kann sie auch ganz genau sagen, wann ihr Geburtstag ist: am zweiten September. »Das ist dein Geburtsdatum«, hat ihr die Mama erklärt. »Jeder Mensch hat so ein Datum, das zu ihm gehört.«

Augusta hält noch immer den Stein in der Hand. Nun beugt sie sich vor und zielt auf die nächste Platte. Der Stein bleibt nah am Rand liegen. Puh, das war knapp. Augusta betritt vorsichtig die Brücke.

Sie hat schon ein großes Stück der Strecke geschafft, aber der Fluss zu ihren Füßen rauscht bedrohlich. Die Brücke ächzt und knarrt, als sie sich bückt. Augusta stützt sich vorsichtig mit der Hand ab. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie die Raubfische sich sammeln, als sie leicht zur Seite kippt. Der größte Hai reißt sein Maul ganz weit auf, Augusta kann seine spitzen Zähne sehen. Aber sie fängt sich wieder und greift nach dem Stein. Das große Maul verschwindet, und dann verschwindet der ganze Hai und mit ihm alle anderen Fische. Sie tauchen unter, tief in den Fluss, als wären sie niemals gewesen; und dann verschwindet auch der Fluss, und die Brücke hört auf zu wackeln und zu ächzen und ist wieder ein fester Weg. So fest wie der Stein in ihrer Hand.

Bald. Bald wird sie sechs Jahre alt werden. Sie wird das Album bekommen und hoffentlich auch die gelbe Tasche aus dem Lieblingsladen. Und einen Kuchen natürlich. Einen Schokoladenkuchen. Aber was sie sich am allermeisten wünscht, ist einfach nur Geburtstag zu haben. Geburtstage feiert man nämlich immer zu Hause, mit Mama und Papa. Das weiß sie genau, denn bisher war es jedes Mal so, wenn ihr Geburtstag war. Und der zweite September, das ist bald, hat die Mama gesagt. Bald gehen sie also wieder nach Hause, die Mama und sie. Bald.

II

FENSTER

»Ich bin schon einmal gegangen.« – Barbara sieht dem Vernehmungsbeamten nicht ins Gesicht. Ihre Hände sind mit einer Kinderserviette beschäftigt. Zusammenlegen, auffalten, zusammenlegen. Noch mal von vorn. Zum Dreieck legen. Einmal falten, zweimal, dreimal, immer kleiner werden mit den Dreiecken, bis es nicht mehr geht. Alles wieder auffalten jetzt, glatt streichen. Clowngesicht, zusammenknüllen. Stücke herauszupfen, unter den Tisch rieseln lassen. Schnee. Bunter Schnee …

»… sie denn wieder hier sein?«

Der Beamte setzt sich zu ihr an den Tisch. Barbaras Hände arbeiten weiter.

»Und Ihr Lebensgefährte?«

»Eduard.« Barbara glättet die Tischdecke. »Wieso? Er ist unterwegs.«

»Aber Sie haben ihn doch verständigt, oder? Frau Kurowski?«

Barbara hebt den Kopf. Der Delfin. Warum hatte sie gleich einen so großen kaufen müssen? Und nun? Das Fenster schließen. Obwohl, der Ballon kann nicht davonfliegen. Sie hat ihn ordentlich gesichert. Mit einem Doppelknoten sogar. Dennoch.

»Es wäre so viel besser gewesen, damals, meine ich. Vom Zeitpunkt her. Dann hätte sie nämlich gar nicht erst …«

Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie dieser Polizist, wie sein Blick etwas notiert.

Zwei Gedecke. Ein Schokoladenkuchen, ein Strauß Sommerblumen, ein Holzkranz mit sechs Kerzen. Ein Luftballon, Delfinform, an den leeren Stuhl gebunden.

Die Kerzen, hat sie die Kerzen richtig festgesteckt? Soll sie vielleicht … Das Fenster, sie wollte doch das Fenster schließen.

»Über neunzig Prozent der Vermisstenfälle klären sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf. Und meistens entpuppt sich alles als völlig harmlos.« Er beugt sich zu ihr vor; sie aber steht im selben Moment auf, sodass sein Arm nur ihre Seite streift. Sie wird jetzt das Fenster schließen.

»…wahrscheinlich einfach nur die Zeit vergessen, beim Spielen. Das kommt in diesem Alter doch häufiger mal vor.« Der Polizist spricht nun zu ihrem Rücken, aber Barbara dreht sich nicht um. Sie steht am Küchenfenster, zögert. Was, wenn sie es zumacht und dann nichts hört? Rufe, zum Beispiel. Oder Schritte.

»Kann es sein, dass Ihre Tochter vielleicht gar nicht weiß, wie spät es ist?«, sagt die Stimme hinter ihr. Vielleicht sagt sie aber auch: Was ist denn das für ein Kind, das freiwillig den eigenen Geburtstag versäumt? Irgendetwas stimmt da nicht.

 

 

Augusta steht vor dem Spielplatz. Alles sieht so aus wie an jedem anderen Tag auch. Die Schaukeln, die Rutsche, der Kletterturm und der Sandkasten, in dem immer die ganz Kleinen mit ihren Müttern sitzen. Ach, und die Wippe. Die mag sie nicht. Da tut einem nämlich der Po weh, nach einer Weile. Aber das ist egal. Denn auf die Wippe, da wird sie nicht mehr draufgehen. Auch auf die Rutsche nicht oder den Kletterturm. Oder die Schaukel. Nie mehr!

Ein komisches Gefühl kriecht in ihren Bauch hinein. Denn: Der Spielplatz hat ihr ja gar nichts getan, eigentlich. Genau, der Spielplatz ist nicht schuld. Augusta zögert.

Ein kleiner Junge hält eine Schaufel hoch und zeigt sie seiner Mutter. Die beugt sich vor und sagt etwas. Augusta kann nicht verstehen, was sie sagt. Um was zu verstehen, muss sie auf den Spielplatz gehen, und das will sie nicht. Und sie will auch keine Mütter sehen. Jetzt nicht! Wenn sie sich umdreht, dann kann sie das Haus sehen. Eduards Haus, in dem die Mama gerade den Tisch deckt. Aber Augusta dreht sich nicht um. Ihr Herz klopft so laut, dass sie es bis zum Hals hinauf spüren kann. Bis hierher zum Spielplatz ist sie sehr schnell gegangen. Nun geht alles viel langsamer. Sie fasst nach den Riemen von ihrem Rucksack, dann setzt sie einen Fuß vor den anderen.

Jetzt kann sie den Spielplatz nicht mehr sehen. Aber hören kann sie ihn noch: Kinder und Mütter, die fröhlich sind. Auch ein Vogel ist dabei. Er singt. Oder ist das die Amsel, die da gerade an ihr vorbei und über den Busch fliegt? Augustas Herz klopft immer noch ganz laut. Sie geht weiter.

 

 

»Und auf dem Spielplatz haben Sie nachgesehen?«

»Wie? Ja, natürlich. Da sollte sie ja sein. Da war sie aber nicht!«

Du bist auf der Flucht zur Welt gekommen.

»Was mach ich denn jetzt nur?«

»Beruhigen Sie sich.«

Du bist auf der Flucht zur Welt gekommen.

Barbara reibt sich die Stirn. Da kommt er auf einmal angeschwirrt, dieser Satz. Und mit diesem Satz die Kindheit. Wie ein Vogel, der gegen die Scheibe fliegt. Du bist auf der Flucht …

 

»Was heißt: Flucht?«

»Dass man fortmuss.«

»Warum?«

»Weil es dort, wo man ist, nicht mehr gut ist.«

»Warum?«

»Genug jetzt, Barbara!«

Barbara steht mit ihrer Mutter in der Küche. Jetzt in der Erinnerung hat auch diese Küche ein Fenster, zu dem die Mutter hinausblickt. Barbara steht neben ihr, aber ihr Blick reicht nur bis zur Mutter. Vielleicht kann sie sich deswegen nicht mehr richtig an das Fenster erinnern. Wie es genau ausgesehen hat, im Detail; ob es einladend war oder abweisend. Ob es Gardinen gab oder Blumen auf dem Fensterbrett, ob es geöffnet war. Aber es muss da gewesen sein. Es muss da gewesen sein, weil zu einer Küche immer ein Fenster gehört und weil zum Warten ein Fenster gehört. Ein Fenster, durch das man schauen kann, auch wenn man nichts sieht …

»Er kommt bald heim. Ganz bestimmt«, sagt die Mutter. Babara nickt, als ob das, was die Mutter sagt, dadurch wirklicher wird. Denn sie muss schon so lange warten. Sie muss warten, weil die Mutter wartet. Die anderen, ihre Brüder und die kleine Schwester, sind alle im Bett.

Barbara will der Mutter sagen, dass sie sehr müde ist und dass sie nicht mehr hier stehen mag. Dass auch die Mutter zu Bett gehen soll, jetzt gleich, dass sie, die Mutter, eine wärmere Decke braucht, weil sie nachts immer so lange und so laut hustet. Und sie will die Mutter fragen, wie sie das mit der Flucht gemeint hat. Die Lehrerin hatte ihnen das nämlich aufgetragen: nach ihrer Herkunft zu fragen, für einen Aufsatz.

»Ich komme von hier«, hatte sie gleich gesagt. Und das stimmt auch, denn sie kann sich an keinen anderen Ort in ihrem Leben erinnern. Aber die Lehrerin hatte nur den Kopf geschüttelt. »Frag deine Eltern.«

Als ob das so einfach wäre. Es gibt vieles, was sie die Mutter gerne fragen würde. Zum Beispiel, warum die kleine Sophia, die in einem Grab unter der Erde liegt, die Kerze sehen kann, die die Mutter jeden Sonntag für sie anzündet. Oder, wenn der Herrgott so mächtig ist, wie die Mutter immer sagt, warum gibt er dem Vater dann nicht mehr Geld? Warum wechseln sie immer wieder die Wohnung? Und warum macht er die Winter so kalt, dass sie kaum zu ertragen sind, die Winter nicht und auch die Menschen nicht, die Winter haben?

Und da ist dann noch die Stimme in ihrem Kopf, eine etwas leisere Stimme, die sagt: Ich will, dass du mich auch mal etwas fragst. Ob ich gerne in die Schule gehe und was ich einmal tun möchte, wenn ich groß bin. Ob ich Freunde habe oder was für ein Essen ich besonders gerne mag.

Die Mutter fragt aber nie.

Als sie noch kleiner war, hat sie sich gesagt, dass die Mutter einfach schon alles über sie weiß, so wie der Herrgott. Jetzt denkt sie, dass die Mutter wohl keine Zeit hat für Fragen. Die Mutter arbeitet, oder wartet. So wie jetzt. Barbara setzt sich auf einen Stuhl.

Die Mutter geht vor dem Fenster auf und ab. Dann bleibt sie stehen, glättet den Rock. Sie fasst sich ins Haar, steckt eine Strähne in den Knoten zurück und strafft die Schultern. Auf und ab gehen, stehen bleiben, Rock glätten, Haare richten, Schultern straffen, und wieder von vorn und immer weiter …

»… einen klaren Kopf zu behalten!«

Barbara rückt näher an das Fenster. Jetzt in der Erinnerung aber ist es diese Bewegung: auf und ab gehen, stehen bleiben, Rock glätten; eine unbewusste, nur dem Körper der Mutter verständliche Choreografie, der Barbara damals im Halbschlaf zusieht und die sich ihr doch tief einprägt, auch wenn sie sie in diesem Moment nicht beschreiben könnte. Sie weiß nur, dass die Mutter wartet. Und dieses Warten bedeutet: aufgeregt sein. Ihr eigenes Warten aber heißt: schrumpfen. Das Warten der Mutter abwarten. Müde sein, verfügbar. Dort, auf dem Beisitz unter dem Fenster.

»Er kommt bald heim. Ganz bestimmt …« – Die Mutter ist vor ihrem Stuhl stehen geblieben. Barbara nickt, so wie es die Mutter von ihr erwartet. Die nimmt ihren Gang wieder auf, hin und her, vor und zurück.

Als dann die Tür aufgeht, passiert alles sehr schnell. Der Ausruf der Mutter, ihre Hand, die die duldsame Stuhllehne umklammert. Barbara richtet sich auf und ist mit einem Schlag hellwach. Sie weiß, dass das Warten jetzt vorbei ist und dass sie nun ganz schnell unsichtbar werden muss. Vom Schlafzimmer aus, in das sie im Nu verschwunden ist, kann sie nichts mehr sehen. Sie kann ihn nicht mehr sehen. Den anderen Vater.

Der normale Vater, der aufrecht sitzt, der an den besseren Abenden Geschichten erzählt, der ihre Schuhe flickt, der am Tisch herrscht und in der guten Stube, der die Rede bestimmt und das Schweigen, der die Blicke zuteilt und die Strafen, dieser Vater ist jetzt verschwunden. Der andere Vater ist heimgekehrt. Der, der komisch aussieht und riecht und auch nicht mehr richtig gehen oder sitzen kann. Aber jetzt ist die Tür zu, und sie kann ihn nicht mehr sehen. Nur hören kann sie ihn. Worte, die poltern, die greinen und bellen; und es dauert lange, bis sie eingeschlafen ist.

Barbara träumt. Es ist ein merkwürdiger Traum, denn meistens weiß sie im Schlaf nicht, dass sie gerade träumt. Erst hinterher, wenn sie sich daran erinnert, weiß sie: Das habe ich geträumt. Dieses Mal aber ist es anders. Barbara schwebt. Und sie weiß, dass sie träumt. Gleichzeitig fühlt sich alles so wirklich an. Nicht wahnsinnig hoch schwebt sie, nur ein kleines Stückchen über dem Boden. Da unten liegen ihre Füße. Sie hat also keine Füße mehr. Das ist ein schönes Gefühl, so leicht fühlt sich ihr Körper jetzt an. Und gleichzeitig ist ihr wunderbar warm, besonders im Kopf und im Bauch. Barbara will noch höher schweben, sie will fortfliegen, weg von den Beinen, den Füßen, der Erde. Einfach so dahinschweben, über die Erde, und dann höher steigen, bis zu den Wolken. Wolke sein, reisen. Ohne Körper, ohne Gewicht.

Etwas, das Kraft hat, fliegt gegen sie, greift in sie hinein. Krallen. Vögel, ein großer Vogel verfängt sich in ihr, Schreie, der Vogel, hör, hör, hör, schreit, verschwindet, Schmerz. Schmerz trifft sie … wo?

»Aufstehen!«

Barbara tastet in Richtung der Stimme, der Hand. Sie spürt nun, dass sie ein Gesicht hat, dort, wo die Hand sie getroffen hat, Ohren, Haut; ihr Kopf dreht sich, will fort.

»Lass«, murmelt sie. »Lass.«

»Los, hoch mit dir!«

Der Bruder.

»Wir müssen weiter, komm!«

»Diet.« Barbara will sich aufsetzen, dann, im Schwindel, auftreten. Aber ihre Beine knicken ein, sie kann sie nicht fühlen, ihr Kopf sackt vornüber.

»Nich kalt. Nur müd.«

»Komm schon!« Dieter greift Barbara unter die Schultern, schleift sie ein Stück über den harten, zugefrorenen Weg, rutscht, fängt sich wieder.

»Wir müssen heim, an den Ofen. Komm, die Mutti wartet sicher schon. Sie wird sich Sorgen machen. Hörst du? Los! Wir haben uns viel zu lange hier ausgeruht. Das war nicht gut. Du wirst noch …«

»Lass.« – Die Stimme des Bruders ist wie ein Rauschen, das einfach nicht aufhören will. Diet redet sonst nie so viel. Das ist seltsam. Sie will ihm sagen, dass alles gut ist. Dass sie nur noch ein Weilchen länger ausruhen will, nichts weiter. Er soll sie nur sitzen, er soll sie liegen lassen, da am Wegrand.

»Die Mutti wird uns eine heiße Suppe machen. Mit großen Fleischstücken drin, du wirst sehen.«

»Eisen, wir wollten doch Eisenstücke sammeln«, murmelt Barbara. »Wir können nicht heim.«

Diet sieht sie ganz merkwürdig an. Schließlich seufzt er und hievt sie mit einem Ächzen auf den Rücken. Eine Weile hört sie nur noch seinen schweren Atem, ihr Kopf liegt an seinem Hals, die Wolle vom Schal kratzt an der Wange. Sie hat auch so einen Schal und eine Mütze. Für den Schulweg.

»Nicht mal einen Mantel hat euer Vater. Damit das Geld für die Wolle reicht…« Die Stimme der Mutter dröhnt in ihren Ohren. Barbara wird übel. Vielleicht, weil ihr Kopf so hin und her schwingt wie eine große Glocke am Hals des Bruders.

Als der Weg hinter dem Wäldchen eine Biegung macht und leicht ansteigt, setzt Dieter sie keuchend ab. Barbara beißt sich auf die Lippe. Das tut sie immer, wenn sie sich besonders stark konzentriert. Ihre Beine wollen wieder nachgeben, und sie weiß, dass gleich der Schmerz kommt. Ein heftiges Stechen und Ziehen. Das Wasser tritt Barbara in die Augen, sie wischt es rasch weg, damit es nicht friert. Dieter kniet sich neben sie auf den harten eisigen Boden und massiert ihre Waden, einige ungelenke, aber kraftvolle Bewegungen. Dann steht er auf und klopft sich den Schnee von den Knien und den Schnürschuhen. Er hakt sie stramm unter, stützt und schleift sie weiter, immer weiter, die Biegung hoch und wieder hinunter, den lang gezogenen Pfad vorbei an der Ziegelei und der Fabrik, über den gefrorenen Schotter, entlang der Bahngleise runter, runter zur Ruhr, das vom Winter erstarrte Flussbett hinauf, heim.

Und wenn Barbara sich heute auf einmal an diesen Tag zurückerinnert, jetzt, wo sie weit fort ist, in einer großen Stadt, und darauf wartet, dass ihr Kind, dass Augusta zurückkehrt; wenn das Gesicht ihres ältesten Bruders vor ihrem inneren Auge längst verschwommen ist, dann scheint es ihr doch, als hätte das Leben seither seltsam stillgestanden. Als würde sie in Wirklichkeit noch immer dort unten, am Fluss entlang durch die erkaltete Landschaft stolpern wie durch ein fremdes Gedächtnis.

Barbara schließt das Fenster.

III

GELÜBDE

Augusta bleibt stehen. Hier muss sie über die Straße gehen. Sie schaut erst nach links, dann nach rechts, wie sie es gelernt hat. Es kommt kein Auto, auch kein Fahrradfahrer. Aber sie will trotzdem noch nicht hinübergehen. Sie muss erst ein wenig ausruhen. Außerdem ist ihr gerade ein bisschen schwindelig um den Magen herum, und auch in den Knien.

Sie hat gelogen. Lügen soll man nicht. Aber die Mama hat auch gelogen! Und das war schlimmer, viel schlimmer. Denn die Mama hat nicht einfach nur gelogen, so wie sie vorhin, die Mama hat sie auch reingelegt, und zwar ganz gemein.

Lügnerin. Ihre Beine rennen fast von selbst los, über die leere Straße. Das tun sie manchmal, ihre Beine. Die sind dann viel schneller als der ganze Rest von ihr. Aber das ist nicht schlimm, denn die Straße war ja leer. Und auch hier, auf der anderen Seite, ist niemand. Keine Erwachsenen, keine Kinder, keine alten Menschen, keine Hunde, Katzen oder Vögel. Komisch, denkt Augusta. Es ist überhaupt nichts zu sehen.

 

 

»… sicher, dass niemand Ihre Tochter gesehen hat? Haben Sie die Mütter auf dem Spielplatz befragt? Frau Kurowski?!«

Barbara steht immer noch am Fenster.

»Ist das nicht Ihre Aufgabe?« Sie dreht sich zu dem Polizeibeamten um, als nähme sie ihn in diesem Augenblick zum ersten Mal wahr. Wie er da an ihrem Küchentisch sitzt, als gehörte er dorthin, in Jeans und mit einem Hemd, das am Bauch leicht spannt. Ihr Blick streift über die ruhigen Hände, die leger geöffnete Jacke. Der Polizeibeamte sagt etwas, aber Barbara hört ihn kaum. Da ist noch etwas anderes, Undurchdringliches. Dieses Dienstgesicht, seine Haltung; alles so stabil. Als sei er lediglich ein Chronist, ein Spurenleser des Unabänderlichen. Sie verspürt den starken Drang, etwas zu zerschlagen.

»Kann sie nicht auf einen anderen Spielplatz gegangen sein?«

»Nein!« Barbara setzt sich an den Tisch und langt nach der Zuckerdose. »Augusta weiß, dass sie nur auf diesen Spielplatz gehen darf.« Die Dose dreht sich in ihren Händen. »Hier ums Eck. Und sonst nirgendwohin.«

»Sind Sie sicher?« Er greift nach dem Wasserglas, das sie ihm – anscheinend – hingestellt hat. »Und zu einem der Kinder nach Hause vielleicht?«

»Wir wohnen doch erst seit einigen Wochen hier.«

»Kann es sein, dass Augusta Ihnen nur nichts von anderen Kindern erzählt hat?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

Dieser schwüle Duft: Heckenrosen. Barbara runzelt die Stirn. Sie hat doch gerade eben erst das Fenster geschlossen.

»Keine Freunde?«

Gelbe Heckenrosen. Der Geruch dieses langen, ewig langen Sommers.

»Nachbarskinder? Frau Kurowski …«

Barbara hebt den Kopf.

»Meine Tochter erzählt mir immer alles.« Sie sieht ihm nun direkt ins Gesicht.

Die Undurchdringlichkeit ist fort. Sein Blick hält sie, hält ihre Handgelenke umklammert.

Sind Sie sicher?

Sind Sie sicher?

Sind Sie sicher?

 

 

Augusta überlegt. Das da rechts ist der Weg, den sie kennt. Sie ist ihn schon ein paarmal mit der Mama gegangen, wenn sie etwas beim Bäcker kaufen mussten oder in der Apotheke. Manchmal, da hat die Mama ihr auch noch ein Teilchen beim Bäcker gekauft, wenn sie den Erwachsenenkuchen nicht mochte, und … Nein, sie will jetzt nicht an die Mama denken. Außerdem ist das da auch der Weg, den sie sonntags immer mit dem Eduard läuft, weil der sonntags ja immer in die Kirche will. Nein, an Eduard will sie überhaupt gar nicht denken! Allein ist sie aber noch nie hier lang gelaufen. Sie ist hier überhaupt noch nirgends allein lang gelaufen. Immer nur bis zum Spielplatz und wieder zurück. Allein laufen, sagt sich Augusta, macht schnell müde.

Aber bei der Kirche, da kommt eine größere Straße. Wo viele Autos entlangfahren. Das muss der richtige Weg sein …