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Carsten Henn ist Weinjournalist, Autor diverser Weinsachbücher und -krimis, hat Weinbau studiert, die besten Weine der Welt verkostet – und ist doch beim Versuch gescheitert, selbst Winzer zu werden. In einem Weinberg an der Mosel versuchte er sich am Riesling, dem heiligen Gral des deutschen Weinbaus. Doch seinem Tropfen fehlte einfach das gewisse Etwas. In diesem Buch geht er der Frage nach, woran es gelegen hat, dass er sein Wissen nicht in die Praxis umsetzen konnte. Er trifft Winzer mit unterschiedlichsten Philosophien, vom Verfechter der Devise des kontrollierten Nichtstuns bis hin zum Spiritualisten. Er macht Blindproben mit seinen biertrinkenden Freunden und besucht Deutschlands kundigsten Altweinhändler. Nach und nach entdeckt Carsten Henn Wein als Mittel der Wahl auf dem Weg zur Achtsamkeit. Doch was bedeutet das für ihn und sein Leben? Auf seiner Reise lernt er viel über Demut, Toleranz, Geduld, Lebensfreude – die Zutaten für einen guten Wein und für ein erfülltes Leben. Mit viel Selbstironie und Freude am Genuss beschreibt er dieses ganz besondere Jahr in seiner Weinbiografie.

autor

© Frederick Henn

Carsten Henn ist Kulinariker durch und durch. Er hält Hühner und Bienen, studierte Weinbau in Adelaide (Australien), besitzt einen Steilstweinberg an der Terrassenmosel, ist ausgebildeter Barista und neben seiner Arbeit als Schriftsteller einer der renommiertesten Restaurantkritiker und Weinjournalisten Deutschlands. Seine Romane und Sachbücher haben eine Gesamtauflage von über einer halben Million Exemplare und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Mit ›Der Buchspazierer‹ stand er über ein Jahr lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Bei DuMont erschienen zuletzt ›Der Gin des Lebens‹ (2020) und ›Rum oder Ehre‹ (2021).

Carsten Henn

DER MANN,

DER AUF EINEN

HÜGEL STIEG

UND VON EINEM

WEINBERG

HERUNTERKAM

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Als ich gerade volljährig war, begannen meine Reisen mit einem altersschwachen VW Käfer in die deutschen Weinbauregionen. Ich klingelte bei jedem Weingut, das mir von irgendwem empfohlen worden war. Obwohl ich mir damals kaum den Sprit für die Fahrten leisten konnte und nicht danach aussah, als ob ich auch nur eine einzige Flasche kaufen würde, öffnete man mir überall freundlich die Tür und ließ mich die Weine des Gutes verkosten.

Dieses Buch widme ich all den Winzerinnen und Winzern, die sich damals Zeit für den langhaarigen, schüchternen Jungen aus Köln mit dem großen Weindurst genommen haben!

 

»Yesterday’s wine

We’re yesterday’s wine

Aging with time

Like yesterday’s wine«

Willie Nelson

Weinblätter

1. Wie ich in Deutschlands wertvollstem Weinberg dilettierte

(Rebschnitt beim Weingut Keller)

Es ist der 8. März, und ich stehe im wertvollsten Weinberg Deutschlands.

Vielleicht.

Denn wo die Rebstöcke stehen, aus deren Trauben Klaus Peter Keller seinen legendären Riesling gewinnt, hat er offiziell nie bekannt gegeben. Sein »G-Max« ist eine Ikone, der einzige deutsche trockene Riesling, der international Kultcharakter besitzt und zu Höchstpreisen verkauft wird. Man bekommt ihn nur, wenn man eine sogenannte Keller-Kiste mit insgesamt zwölf Weinen kauft, die um die tausendsechshundert Euro kostet. Das heißt: wenn man überhaupt eine der begehrten Kisten zugeteilt bekommt. Versucht man eine Flasche »G-Max« einzeln zu kaufen, ist man schnell über tausend Euro los. Übrigens: Der Name klingt zwar nach Raketenstart ins All, ist aber im Grunde bodenständig. Das »G« steht für einen Vorfahren namens Georg, der sich um den Hausberg der Familie, den Hubacker, verdient gemacht hat, das »Max« für Klaus Peters zweiten Sohn Maximilian. Also ein Wein, der Vergangenheit und Zukunft des Weingutes verbindet.

Sie werden sich fragen, warum Klaus Peter so ein Geheimnis um seinen Wein macht? Nun ja, leider kommt es immer wieder vor, dass nachts Weinberge abgeerntet und Trauben gestohlen werden. Oder Weinberge verwüstet. Auch dass Weingüter erpresst werden, indem gedroht wird, ihre Rebstöcke zu vergiften. Manchmal stecken Kollegen dahinter, denn Neid ist auch in der vermeintlich idyllischen Welt des Weins keine Seltenheit.

Ich stehe in einem Weinberg, eher einem Hügel, im Anbaugebiet Rheinhessen, das sich im Dreieck Bingen-Mainz-Worms erstreckt. Deutschlands größtes Weinbaugebiet war früher für Massenwein wie Liebfrauenmilch verschrien, heute sind hier einige der besten Winzer der Nation ansässig.

Der Himmel ist bewölkt, es ist acht Grad kalt, meine Füße stecken in zu engen Wanderschuhen, die ich ewig nicht mehr getragen habe. Sie hatten im Keller schon Spinnweben angesetzt. Mein Blaumann war nicht mehr zu finden, hat sich vermutlich selbstständig gemacht und ist in eine Schreinerei ausgewandert. Und was meinen Fitnessgrad betrifft, der gleicht dem eines ausgebeulten Sofakissens. Kein Wunder, ist meine Tätigkeit doch eine schreibende. Und daher auch eine sitzende. Im ersten Lockdown bin ich noch häufig raus in die Natur, die einzige Freiheit, die blieb, genießend, aber schon bei Lockdown zwei habe ich mich in aller Schlaffheit der heimischen Isolation ergeben. Dumme Idee. Denn mein Stresslevel haben die Ausflüge in die Natur immer gesenkt. Bei VINUM, dem Weinmagazin, dessen Chefredakteur ich bin, gibt es im Januar und Februar immer sehr viel zu tun, weil alles für das Jahr aufgegleist werden muss. Mit anderen Worten: Ich starte gleichermaßen unfit wie gestresst ins Jahr. Ein frohes neues auch!

Ehrlich gesagt bete ich, dass wir nicht im »G-Max«-Weinberg stehen.

Ausgerechnet der Rebschnitt steht heute an, die erste Arbeit im Winzerjahr. Mir zittern die Hände, wenn ich daran denke, dass ich einen Rebstock dieses Edelrieslings verhunzen könnte. Jeder Stock erbringt ungefähr eine Flasche Wein. Ein falscher Schnipp, und mehrere Hundert Euro sind vernichtet. Ganz ehrlich: ein bisschen viel Verantwortung. Vor allem, weil es einige Jahre her ist, dass ich diese Arbeit in meinen eigenen Weinbergen an der Mosel ausgeführt habe. Und die sind auch der Grund, warum ich hier bin: Mein Weinprojekt ist damals krachend gescheitert. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, selbst einen Riesling herzustellen, noch dazu einen großen, trockenen. Absolut vermessen. Die Frage, was ich damals genau falsch gemacht habe, lässt mich einfach nicht los.

Und ich werde immer wieder an mein Scheitern erinnert. Nicht nur, weil ich als Weinjournalist regelmäßig Rieslinge verkoste, sondern auch im Privaten.

An Weihnachten machen wir in der Familie immer ein paar Flaschen Wein auf. Beim letzten Mal war eine davon ein Riesling Marke Henn, ein anderer Riesling stammte vom Weinberg Clemens Busch. Selber Jahrgang, die Weinberge liegen nicht allzu weit auseinander.

Der Unterschied zwischen beiden traf mich wie ein rechter Haken.

Und ich starrte lange auf die beiden Gläser vor mir. Probierte immer wieder. Schenkte mir nach.

Es gab schon Weihnachtsabende, an denen ich geselliger war.

»Mein« Wein war nicht Meilen, sondern Welten vom anderen entfernt. Eigentlich nicht überraschend, ich wusste, dass es bessere Weine gibt, aber es an diesem Abend zu schmecken, mein Scheitern so ungeschminkt an einem Abend der familiären Harmonie vor Augen geführt zu bekommen, das machte etwas mit mir.

Es war ja kein einfaches Scheitern. Es war ein jahrelanges Scheitern. Jedes Jahr aufs Neue. Insgesamt fast zehn Jahre lang.

Sie kennen sicher den Spruch: Scheitern, wieder aufstehen, besser scheitern.

Wir waren sehr progressiv.

Wir wählten: Scheitern, wieder aufstehen, noch miserabler scheitern. Ich entschied, der Sache auf den Grund zu gehen. Und zwar so richtig.

Ich liebe Riesling, seine Fähigkeit, den Boden, das Kleinklima, das Wetter, die Handschrift des Winzers zu spiegeln, ich liebe seine Säurestruktur, seine Aromen, und ich liebe ihn, weil er wie Heimat schmeckt. Riesling war meine erste große Weinliebe. Die vergisst man nie.

Wenn einer weiß, was es mit dieser Liebe auf sich hat, dann natürlich Klaus Peter, der den anerkannt größten trockenen Riesling erzeugt. Nicht nur Deutschlands, sondern der ganzen Welt. Denn nirgendwo, so viel Nationalstolz darf sein und ist auch angemessen, wächst so großartiger Riesling wie bei uns.

Aus dem Elsass und Österreich kommen ebenfalls wundervolle Rieslinge, auch aus den USA und Australien, aber Deutschland ist für diese Rebsorte das Gelobte Land.

Neben mir klacken die Rebscheren in einem Walzertakt, alle außer mir sind schon einige Tage oder Wochen beim Schnitt, ich bin nur diesen einen zugigen Nachmittag dabei. Die Arbeit für den Auftakt dieses Buches könnte nicht passender gewählt sein. Beim Rebschnitt befreit man den Stock vom überschüssigen Holz des Vorjahres. Man formt und verjüngt ihn, schenkt ihm einen Neubeginn. Auch für mich soll es einer sein.

Hier und heute fängt meine Reise an.

Und ich hoffe sehr, dass ich mir mit der mörderisch scharfen Rebschere keine Fingerkuppe abschneide.

Warum tue ich mir das an? Warum lege ich es darauf an, mich – mit einer scharfen Klinge in der Hand – vor Klaus Peter Keller zu blamieren? Kurz gesagt: weil ich mich schon einmal blamiert habe. Und zwar über viele Jahre kontinuierlich.

Wenn ich aus meinen Romanen lese, die sich häufig um das Thema Genuss drehen, oftmals spielt Wein eine Rolle, werde ich zuverlässig auf folgende Art angekündigt:

»… und Herr Henn ist auch Winzer, er hat ein Weingut an der Mosel.«

Nein.

Egal, wie oft ich so anmoderiert werde: Ich bin kein Winzer und habe kein Weingut. War ich nie, hatte ich nie. Ich bin Weinjournalist, Chefredakteur der VINUM, habe in Australien Weinbau studiert, mehrere Sachbücher zum Thema Wein geschrieben, sitze in den Jurys renommierter Weinpreise, habe etliche weltberühmte Weine verkosten dürfen, aber ich bin kein Winzer. Irgendwer hat das mal geschrieben, und seitdem wird es ständig kolportiert. Folgendes steckt dahinter: Ich war Teil einer Gruppe, die drei Parzellen Weinberge in St. Aldegund an der Mosel gekauft hat. Fünf Jahre habe ich diese mit den anderen bewirtschaftet, alles händisch, ausgebaut (also im Keller aus den Trauben etwas Trinkbares werden lassen) hat den Wein dann einer, der es kann, nämlich Uli Stein, der Winzer, nicht der Zeichner. Wenn ich in dieser Zeit etwas war, dann höchstens Traubenproduzent, und ein hundsmiserabler noch dazu.

Dieses Weinprojekt an der Mosel ist gescheitert.

In Bausch und Bogen.

Eigentlich ist es nicht mein Weinbauprojekt gewesen, sondern – zu Beginn – das von vier Männern, die sich mit hehren Plänen zusammentaten. Einer davon war mein Bruder, einer ein geschätzter Weinjournalistenkollege und einer ein Kumpel von diesem. Ich erinnere mich noch, wie Letzterer mit seinem Wagen bei dem Weingut vorfuhr, das uns jahrelang betreute, und wir uns zum ersten Mal sahen. Von diesem Moment an existierte Antipathie, für die ich noch nicht mal einen Grund nennen konnte. Wir mochten uns nicht. Es wurde nicht besser, als er einige Wochen später ein großes Regelwerk für unser Projekt aufsetzte. Aber die Idee, endlich eigene Weinberge zu besitzen, war so verlockend, so schimmernd und sexy, dass ich all die Zweifel beiseiteschob. Wie ein entblößtes Frauenbein, das einen vergessen lässt, dass die Besitzerin des Beins einen irren Blick und ein scharfes Messer hat.

Ich wollte endlich das, was ich so verehre, mit der eigenen Hände Arbeit herstellen. Davon träumte ich schon seit Langem, und über die Jahrzehnte war die Liebe zum Wein und damit auch dieser Wunsch immer größer geworden. Ich wusste um die harte Arbeit, die das Verfolgen dieses Traums bedeuten würde, aber ich stellte mir die Schufterei auch befriedigend vor. Mich körperlich zu verausgaben in der schönen Natur. Und irgendwann einen Wein in der Hand zu halten, den ich wirklich von Anfang bis Ende geschaffen hatte.

Also mit den anderen zusammen.

Es war von Anfang an der Wurm drin. Eines der Grundprobleme: Drei von vier hatten klare Vorstellungen, wie »ihr« Projekt laufen sollte, aber es war eben ein Gemeinschaftsprojekt. Die Arbeitsteilung war ein Riesenthema, ständig dachte jemand, die anderen machten zu wenig oder die Arbeit falsch (Rebschnitt! Lese! In einem Jahrgang hat einer von uns etliche reife Reben auf den Boden geschnitten – Uli Stein schlug die Hände über dem Kopf zusammen). Immer wieder ging es auch ums Geld, weil Zusatzkosten auf uns zurollten und unsere Ersteinlage nicht reichte.

Aber das Grundproblem war wohl die Antipathie.

Später holten wir einen fünften Mann in die Gruppe, auch in der Hoffnung, er würde der Kleber sein, der uns zusammenbrachte. Um die Pointe vorwegzunehmen: Es klappte nicht. Jetzt gab es noch jemanden mit sehr klaren Vorstellungen, und in dem fragilen demokratischen Gebilde namens Gruppendynamik wurde ständig eine Drei-Fünftel-Mehrheit gesucht.

Es war, auch das ein grundlegendes Problem, zudem völliger Schwachsinn, Weinberge in St. Aldegund zu kaufen. Alle aus der Gruppe lebten ziemlich weit weg, ich zum Beispiel wohne im Speckgürtel Kölns. Für eine Fahrt zu unseren Reben brauchte ich knapp zwei Stunden. Sich Parzellen an der Ahr zuzulegen wäre sinnvoll gewesen, aber da konnten wir uns keine Weinberge leisten, oder am Mittelrhein bei Leutesdorf, aber da wollten uns die Winzer Flächen nicht verkaufen, sondern nur verpachten (hätten wir das mal gemacht, wir hätten viel Geld gespart!). Jedenfalls erreichte uns irgendwann ein Schreiben von Moselwinzer Uli Stein mit dem Angebot für die Parzellen in St. Aldegund. Uli, eigentlich Dr. rer. nat. Ulrich Stein, ist Traditionalist in Sachen Moselwein und gleichzeitig Modernisierer. Da er jahrelang keine Weine zur Bewertung bei den wichtigen Guides einreichte, kennen ihn viele nicht, für mich gehört er zu den großen Winzern der Mosel, was seine Weine betrifft, und menschlich sowieso. Uli lebt mit seiner Frau in einer alten Villa hoch über der Mosel, mitten in den Weinbergen. Er ist ein großartiger, herzlicher Kerl, so ansteckend in seiner Begeisterung, dass er uns alle vom ersten Moment an mitriss.

Außerdem war da noch die Sache mit meinem Großvater: Mit Mitte dreißig hatte ich durch Zufall erfahren, dass meine Familie Wurzeln an der Mosel hat. Verwandte meines Großvaters mütterlicherseits besaßen in Zeltingen-Rachtig ein Weingut. Ich bin natürlich direkt hingefahren. Zu dem Zeitpunkt war der Betrieb aber leider schon eingestellt. Als ich am Wohnhaus klingelte, verkaufte man mir immerhin noch ein paar alte Flaschen. Kein Rabatt für Verwandtschaft!

Mein Großvater erhielt den Wein zu einem runden Geburtstag. Wir stießen damit an. Ein dünner Tropfen, die Säure mit Süße übertönt. Aber wir genossen jeden Schluck dieser flüssigen Familiengeschichte.

Als das Angebot von der Mosel kam, hielt ich es natürlich für einen Wink des Schicksals.

Nachdem die Gruppe sich aufgespalten hat, bin ich nie wieder zu dem Weinberg. Ja, ich habe sogar einen weiten Bogen darum gemacht, um nicht die Verpflichtung zu spüren, Angelina und Kilian Franzen zu besuchen, die den steilsten unserer drei Weinberge seitdem für mich nach meinen Wünschen bewirtschaften. Ab und an tauschen wir uns darüber aus, wie es den Rebstöcken geht, und den Wein verkaufe ich über meine Homepage. Er ist übrigens feinherb, nicht trocken.

Das Piratenstück ist ein Stück persönlichen Scheiterns. Dabei waren wir mit so vielen Träumen und Hoffnungen gestartet, die jetzt gesplittert im Schiefer des verrückten Weinbergs liegen.

Und sosehr ich den Wein liebe, den Franzens dort erzeugen, so sehr schmerzt es doch, dass wir nie auch nur ansatzweise das erreicht haben, was uns vorschwebte. Die Erntemenge war nie so groß wie erhofft, manchmal kaum hundert Liter. Wir haben Flaschen an Freunde verschenkt, einige verkauft, aber viele lagern noch in irgendeinem Keller und warten darauf, getrunken zu werden. Wie der Tropfen, den ich Weihnachten aufgemacht habe …

Klar, wir haben viel gelernt, vor allem Demut, Respekt vor der Arbeit der Winzer. Aber von wahrer Größe waren wir ebenso weit entfernt wie Dieter Bohlen von einer Symphonie. »Größe« – schon in diesem Wort blitzt die Arroganz unseres Vorhabens auf. Im Zusammenhang mit Wein ist das aber eine ganz gängige Vokabel, »Größe« steht hier nicht für Vermessenheit, sondern für Klasse, Komplexität, Faszination.

Seit Franzens meinen Weinberg betreuen, war ich nicht mehr dort. Eigentlich war das anders geplant, ich wollte ab und an mit anpacken, vor allem bei der Lese. Aber ich habe mich gedrückt, hatte keine Lust, mich mit meinem Scheitern auseinanderzusetzen.

Während ich gebückt mit der Rebschere im Weinberg stehe und nachdenke, ploppen bei mir zuallererst Erinnerungen an all die haarsträubenden Anfängerfehler auf, die wir uns so geleistet haben. Ich schneide einen verholzten Trieb ab, und in meinem Kopf formiert sich eine persönliche Hitliste der Fehler dieses Projekts:

DIE TOP 3

UNSERER DENKWÜRDIGSTEN FEHLER

FEHLER 1

Am heißesten Tag des Jahres ohne Wasserflaschen in den Weinberg gehen, um Unkraut zu jäten.

Unkraut jäten oder grubbern, wie der Moselaner sagt, ist so ungefähr – ich bitte meinen Ausdruck zu entschuldigen, aber es ist so – die größte Scheißdrecksarbeit im Wingert (wie man einen Weinberg auch nennt). Ich hasste die Ackerwinde, ich hasste die Brombeersträucher, ich hasste, wie alles in meine Rebstöcke wuchs und die Trauben bedrängte. Sie sollten verdammt noch mal in Ruhe gelassen werden!

Ich habe wirklich gut auf das Unkraut eingeredet. Habe ihm erklärt, dass ich es gar nicht als Unkraut sehe, sondern wirklich schätze wegen der Biodiversität. Und dass es auch sehr gerne im Weinberg wachsen darf. ABER VERDAMMT NOCH MAL NICHT IN MEINEN TRAUBEN!

Im ersten Jahr bin ich mit meinem Bruder und meinem Vater in unsere Wingerte zum Grubbern gefahren. Es war der heißeste Tag des Jahres, über vierzig Grad, im Weinberg mit all seinem Schiefer lagen die Temperaturen sogar noch höher. Und es ging kein Wind. Wir hatten kein Wasser. Nach kürzester Zeit arbeiteten wir nur noch im Schneckentempo, übertrafen uns im Ächzen, und dann fiel einer nach dem anderen aus, bis nur noch mein Bruder, der Fitteste in der Familie, weiterschuftete. Er macht auch Akrobatik und Tanz, aber selbst er brauchte Tage, um sich von dieser Anstrengung zu erholen.

Mein Vater kam danach nie wieder mit zur Weinbergsarbeit ins St. Aldegunder Himmelreich.

Nach wenigen Jahren, ich glaube, es waren zwei, haben wir dann doch Herbizide verwendet. Nur »unter dem Stock«, also direkt unter dem Rebstock, damit sich dort keine Feuchtigkeit fängt. Aber es war trotzdem eine Niederlage.

FEHLER 2

Als Gruppe von fünf Städtern den Traum ökologischen Weinbaus in einer Mosel-Steillage träumen.

Ha! Hahahahaha!

Genau, Ökoweinbau in einer Schiefersteillage. Wenn man nur ein paarmal im Jahr zu seinen Reben an die Mosel fährt. Was darf es denn als nächstes Projekt sein? Der Bau einer Mondrakete an zwei Wochenenden?

Vergiss es. Ökoweinbau ist aufwendig, in Steillagen noch mehr. Das muss man wollen und können. Bei uns haperte es im Endeffekt an beidem.

FEHLER 3

Mit fünf Leuten ein Weinprojekt starten, bei dem sich jeder verwirklichen will.

Fünf sind vier zu viel.

Drei Weinbergsparzellen und die Arbeit damit erfordern viel Absprache, viel Einsatz, Kooperation und guten Willen. Das Problem, wenn man zu fünft ist: Irgendwer denkt immer, die anderen erledigen die Arbeit schon, sollte es bei einem selbst gerade nicht so super in den Zeitplan passen. Ich nehme mich da überhaupt nicht aus. Ausdrücklich loben will ich an der Stelle aber Wolfgang Faßbender, der allein in den Wingerten geochst hat. Respekt! Und Schande über mich!

FEHLER 4

»Das Zeug wird uns aus den Händen gerissen!«

Wir sahen uns schon als echte Winzer an der Mosel, mit Weingut und allem Zipp und Zapp. Hybris in der freien Wildbahn. Zuerst machen wir nur einen Wein, aber dann mal sehen! Die Weinwelt wird uns zu Füßen liegen. Von wegen.

FEHLER 5

»Kronenerziehung? Klingt super, machen wir!«

Seit Jahrhunderten wird an der Mosel die Rundbogenerziehung praktiziert. Dabei werden zwei Bögen, einer nach links und einer nach rechts, rund gebogen und unten zusammengebunden, sodass ein Herz entsteht. Sieht gut aus und macht Sinn. Wir aber wollten die Kronenerziehung ausprobieren, weil die für uns Deppen einfacher umzusetzen war. Was Kronenerziehung heißt? Man schneidet drei Ruten kurz an, alle zeigen nach oben. Sieht im Idealfall aus wie eine Krone mit drei Zacken, und in unserem Fall wie ein geometrischer Unfall.

Okay, es ist eine Hitliste mit fünf Fehlern geworden.

Und das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Um herauszufinden, was wir noch alles falsch gemacht haben, hatte ich mir vorgenommen, ein Jahr lang Winzerinnen und Winzer zu besuchen, die große trockene Rieslinge erzeugen. Bei jedem dieser Weine will ich wissen: Was ist sein Geheimnis? Mein Plan ist, zu den Besten ihres Fachs in Weinberg und Keller zu gehen und Riesling zu trinken. Viel davon. Und je besser er ist, desto mehr Erkenntnis erhoffe ich mir. Die Möglichkeit des Rauschs ist dabei definitiv inbegriffen. Auch der soll ja manchmal zur Erkenntnis führen.

Und ich habe ganz oben angefangen, bei dem, der den legendärsten und teuersten Riesling auf die Flasche bringt.

Also zurück in den Weinberg zu Klaus Peter Keller nach Rheinhessen.

Keller-Weine stammen von der ganzen Familie Keller, also von Klaus Peter und seiner Frau Julia, Klaus Peters Vater und mittlerweile auch von Sohn Felix. Klaus Peter und Julia sind Menschen, die von innen strahlen, sie sind im Reinen mit sich und ihrer Arbeit. Sie machen genau das, was sie wollen. Diese Freiheit haben sie sich durch ihren Erfolg erarbeitet. Sie machen keine Kompromisse mehr bei der Umsetzung ihrer Vorstellungen. Obwohl sie das neben Egon Müller (Saar) angesehenste Weingut Deutschlands besitzen, haben sie auch einen sehr günstigen Wein im Programm, für all die alten Kunden, die ihnen seit Jahrzehnten treu sind und das Gut schon kannten, als alle Weine nur ein paar Kröten kosteten. Die Kellers verdienen sicher sehr gut, aber sie könnten mit ihrem Namen noch viel mehr Geld verdienen. Supermarktweine mit ihrem Namen vermarkten, die in irgendeiner Lohnkellerei zusammen gerührtwerden, oder noch größere Mengen Wein durch Traubenzukauf produzieren. So machen das andere, aber den Kellers geht es bei allem um das richtige Maß. Ein großes Unternehmen bedeutet immer mehr Verwaltung, weniger Zeit für den einzelnen Rebstock, Distanz zum Handwerk. Und darauf haben die Kellers einfach keine Lust. Sie leben ihr Leben nach ihren Regeln. Ein Leben, in dem die Familie und die Liebe zum Wein und zum guten Essen im Mittelpunkt stehen.

KP ist sichtlich zu Hause im Weinberg und bewegt sich hier so selbstverständlich, wie andere in ihrem Wohnzimmer. Jede Rebzeile ist begrünt. Was andere Unkraut nennen, wächst hier und bildet Humus. Bei jedem Schritt sackt man ein klein wenig ein, der Weinberg ist weich wie ein Plumeau. Ich nehme die Rebstöcke in Augenschein, die ich gleich beschneiden werde. Manche haben viel Geäst, bei anderen sind es nur wenige Ruten, einige sind alt und stämmig, andere jung und dünn, jeder ist anders, jeder eine Persönlichkeit.

Neben mir steht Udo, der für den Außenbetrieb bei den Kellers zuständig ist, also die Reben. Ein muskulöser, wettergegerbter, wortkarger Bursche. Einer, dem man zutraut, sich nach der Zombie-Apokalypse von der Nordsee bis in die Alpen durchzuschlagen – nur bewaffnet mit einem stumpfen Bleistift und einem Springseil.

Zusammen mit Klaus Peter – wie immer freundlich, verständnisvoll und geduldig – erklärt er mir den sanften Rebschnitt nach Simonit & Sirch, zurzeit der große, neue Trend im Weinbau. Nachdem im Friaul, im Nordosten Italiens, in den Achtzigern großflächig Rebstöcke starben, schauten sich Marco Simonit und Pierpaolo Sirch eine Reihe uralter, vitaler Stöcke genau an und entwickelten daraus ihre Schnitttechnik, die es mittlerweile auch nach Deutschland geschafft hat. Dabei gingen sie eigentlich nur zurück zu dem, was schon ihre Großväter wussten. Es ist nicht sinnvoll, alle Stöcke nullachtfünfzehnmäßig zu beschneiden, der Saftfluss muss respektiert und das Entstehen von Schnittflächen verhindert werden (wie beim Menschen können hier Krankheitserreger eintreten). Zum Beispiel sollte man die Äste nicht direkt am Ursprung abschneiden, denn dann geht die Austrocknung in den Rebstock hinein und behindert den Saftfluss. Das herausstehende Stück trägt übrigens den schönen Namen Respektholz. Im Folgejahr, wenn es durchgetrocknet ist, kann man es abschneiden, dadurch wird der Rebstock nicht mehr beeinträchtigt. Klaus Peter fährt mit der Hand an einem Rebstock entlang, um mir zu zeigen, wo er unverletzt ist und der Saft problemlos fließen kann, das muss man im Auge behalten, wenn man das ganze Altholz, also die Ranken des Vorjahres, radikal abschneidet.

Klingt einfach, ist irre kompliziert.

Jeder Schnitt kann zu einer Verholzung führen, deren Effekt dem gleichkommt, was passiert, wenn man einen Strohhalm zusammendrückt. Gerade in heißen Jahren braucht ein Rebstock aber alles, was er bekommen kann. Und die Fehler, die ich jetzt mache, die bleiben, jahrelang. Man muss auch darauf achten, dass die neue Rute nicht zu sehr am Kopf liegt (dem oberen Ende des eigentlichen Rebstocks), nicht zu dünn und nicht zu dick ist. Noch was? Gerade Linien sind besser als abknickende. Schnell habe ich eine Blase am rechten Daumen, und mein Fingernagel ist merkwürdigerweise gebrochen. Oder eigentlich nicht merkwürdigerweise, denn ich stelle mich ziemlich dumm an. Fünf Jahre keine Rebschere mehr in der Hand und ich stümpere rum. Klaus Peter und Udo sind doppelt so schnell wie ich.