cover

Das Jahr 1984 hat gerade begonnen, die Proteste gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen hören nicht auf, im Radio läuft Joy Division. Nick Marzek, 43, gebürtiger Berliner, ist seit Kurzem Kriminalkommissar bei der Münchner Polizei. Nach dem Tod seiner Frau versucht er sich im Reich von Franz Josef Strauß und dessen CSU ein neues Leben aufzubauen. Mit bescheidenem Erfolg.

Da ereignet sich ein verheerender Brandanschlag auf die Diskothek Liverpool im Bahnhofsviertel. Es gibt zahlreiche Verletzte, und der Druck auf die ermittelnden Beamten ist groß. Alles deutet auf Revierkämpfe im Rotlichtmilieu hin. Doch der Fall nimmt eine unerwartete Wendung: Von der italienischen Polizei wird den Ermittlern ein Bekennerschreiben zugeschickt, und Nick bleibt nichts anderes übrig, als dem Hinweis nachzugehen. Er muss nach Italien. Hilfe bekommt er dabei von Graziella Altieri, die bei der Mordkommission eigentlich als Reinigungskraft arbeitet, nun aber als Übersetzerin einspringt. Nick und Graziella beginnen in Mailand mit ihren Nachforschungen – und müssen erkennen, dass der Fall eine politische Dimension hat …

»Einer der besten und atemraubendsten deutschen Thriller seit Jahren.«

Jüdische Zeitung über ›Terror‹

autor

© Oliver Geissler

Martin Maurer wurde 1968 in Konstanz am Bodensee geboren. Er studierte Dramaturgie und Drehbuch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg und arbeitet als Drehbuchautor. Bei DuMont erschien bislang sein Thriller ›Terror‹ (2011). Martin Maurer lebt in Berlin.

MARTIN MAURER

DIE KRIEGER

Ein Fall
für Nick Marzek

 

www.dumont-buchverlag.de

 

 

 

 

 

Für Kristin

 

 

 

 

 

Nach einer wahren Begebenheit.

 

 

 

 

 

»Beyond all this good is the terror«

Joy Division,
»Heart and Soul«

I.  DAS LOCH

Der Eingang befand sich zwischen Kofferbasar und Bosporus. Im Treppenhaus die vertraute Melange aus Fäkalien, Bratfett und Bier. Auf dem ersten Absatz konnte Nick, wenn er sich ein bisschen konzentrierte, in der Maserung des Steinfußbodens das Konterfei des bayrischen Ministerpräsidenten erkennen. Gruber hatte ihm die Stelle gezeigt. »Nach zwei Maß entdeckst du ihn sofort, nach vieren steht er auf und beschimpft dich.«

Irgendwer hatte das Bürogebäude Goethe-, Ecke Bayerstraße für geeignet befunden. Im Nachhinein wollte es natürlich keiner gewesen sein. Die sechs Mann von der 3 bildeten die Vorhut, bevor die anderen Mordkommissionen und die Kollegen von der Vermisstenstelle sowie die Brandermittler folgen sollten. Seit sie in dem heruntergekommenen Bau aus der Nachkriegszeit saßen, verfluchten sie den namenlosen Verantwortlichen jeden Tag. Sie fühlten sich in den viel zu großen Büroräumen mit den flackernden Neonröhren wie auf einem riesigen havarierten Raumschiff. Nichts funktionierte. Nie herrschte Ruhe. Um den Einsturz des Hauses zu verhindern, wurden ständig irgendwo Wartungsarbeiten durchgeführt.

Nick nahm zwei Stufen auf einmal. Die Metalltür im ersten Stock war verbogen und schwer zu öffnen, irgendwer hatte »Südkurve« hineingeritzt. Dahinter der lange, kahle Flur, an dessen Ende der Getränkeautomat stand.

Davor hatte sich eine Menschentraube gebildet.

Graziella, Hakan, der Geschäftsführer des Bosporus, und sein Bruder Mehmet, der Hakan zum Verwechseln ähnlich sah und die Bosporus-Spielhalle in der Goethe 7 betrieb. Mittendrin: Gruber. Die Stimmung war aufgeheizt, alle redeten durcheinander, keiner war zu verstehen, Gruber, der aus Niederbayern kam, am allerwenigsten.

Es war Dienstag, der 27. Dezember. Die Tür zum Besprechungszimmer stand offen. Hinter den drei grauen Schreibtischen, die in der Mitte des Raumes eine Insel bildeten, lehnte Aki am Fenster, rauchte und betrachtete die Lichter der Stadt.

Nick klopfte zur Begrüßung gegen den Türrahmen. »Was ist denn los?«

»Servus!« Aki wandte sich zu ihm um und drückte die Zigarette aus. »Es geht ums Loch.«

Das Loch befand sich im Boden neben dem Getränkeautomaten, hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Zentimetern und war von Anfang an da gewesen. Als Aki sich bei der Verwaltung erkundigt hatte, war ihm mitgeteilt worden, dass mit dem Loch alles seine Richtigkeit habe, die Baufirma nur noch ein paar Kabel verlegen müsse und das Loch dann geschlossen werden würde. Das war im November gewesen. Seither hatten sich Handwerker aller Couleur die Klinke in die Hand gegeben, aber für das Loch fühlte sich keiner zuständig. Mittlerweile hatten sich die Polizisten damit arrangiert, denn es hatte durchaus Vorteile. So konnten sie Hakan ihre Bestellungen bequem zurufen, ohne erst nach unten gehen zu müssen. Hakan schickte dann jemanden mit dem Essen hoch. Inzwischen riefen die Kollegen von der Sitte oder von der Drogenfahndung auf der Suche nach ihren Stammkunden routinemäßig bei der Mordkommission 3 an und baten sie, gelegentlich einen Blick durchs Loch zu werfen, denn früher oder später tauchten die gesuchten Zuhälter und Dealer ganz sicher im Bosporus auf. Der Laden war ein beliebter Szenetreff.

»Es hat wohl einen Vorfall gegeben«, sagte Aki.

»Mach’s nicht so spannend.«

»Verkürzt gesagt, beschuldigen Hakan und Mehmet unsere Graziella, den Dreck beim Putzen einfach durchs Loch ins Bosporus zu kippen.«

Nick hatte sich inzwischen an die diversen Eigenheiten der Mordkommission 3 gewöhnt, aber die Personalie Graziella war ihm noch immer rätselhaft. Sie hatte einen gewissen Charme, das ja, kam ihm aber ziemlich schlicht vor, und bei Licht betrachtet war sie als Putzfrau völlig ungeeignet. Feste Arbeitszeiten kannte sie nicht; plötzlich tauchte sie auf, stürmte wie ein Berserker durch die Gänge des Raumschiffes und veranstaltete ein ungeheures Chaos. Sie schien den Staub nicht wegzuwischen, sondern totzuschlagen. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie eine Ladung Dreck durchs Loch in den Tod gestürzt hatte, auf den Grund des Bosporus. Sie war zu grell geschminkt und trug die dunklen Haare immer auf die gleiche Weise in die Höhe toupiert. Aber die Kollegen liebten sie. Warum auch immer. Und wer sich mit ihr anlegte, legte sich automatisch mit der gesamten Mordkommission 3 an. Allerdings hatte Hakan als heimlicher Kantinenwirt einen ähnlichen Stand, und das machte einen Streit zwischen den beiden brisant.

»Und was sagt Graziella dazu?«

»Graziella sagt: ›Scheißtürken‹, und Gruber hat jetzt alle Hände voll zu tun.«

»Das bringt doch nichts. Die verstehen doch den Gruber nicht.«

»Wer versteht schon den Gruber?«, seufzte Aki.

Aber irgendwie bekam es Gruber doch hin, und wenig später saßen sie alle einträchtig beisammen im Besprechungsraum und tranken Bier und Raki. »Du musst uns verstehen, Graziella, Mann«, sagte Hakan, »keiner will die Sackhaare von den Bullen im Döner haben.«

»Einmal mit alles!«, rief Graziella und prostete Hakan zu. Als der Anruf kam, waren sie bereits wieder Freunde.

Nick fuhr. Gruber lotste ihn stadtauswärts. Seine Weihnachtslieder steckten noch im Kassettendeck.

»Stille Nacht« also.

Das Licht am Himmel über Neuherberg war zwar kein Stern, führte sie aber dennoch ans Ziel. Gegenüber der Gesellschaft für Strahlenforschung standen zwei Fahrzeuge in Flammen. Nick bog von der Ingolstädter Straße ab und fuhr an den Wohnmobilen, Bullis und umgebauten Postautos vorbei.

Vierzehn stünden hier nachts, hatte Gruber berichtet, 18 seien es tagsüber. Ab morgens um zehn ging’s los. Alles war genau geregelt und zwischen zwei »Gas- & Schutzgesellschaften« aufgeteilt, zwei Zuhälterbanden, über die wenig bekannt war und an die die Mädels die Hälfte ihres Lohns als Standortmiete abdrückten. Fünfzig Mark pro Nummer, vier bis fünf Kunden die Stunde, Zehn-Stunden-Schichten. Ein Millionengeschäft. Vorausgesetzt natürlich, Nick hatte ihn richtig verstanden.

Haushohe Flammen. Funkengarben schossen in den Himmel. Gruber spähte nach draußen. »Die letzten beiden sind’s.«

Die Feuerwehr war schon da.

»Oh je«, stöhnte Gruber. Feuer aus – Spuren vernichtet. So lief’s meistens. Nick hielt an und versuchte die rotierenden Blaulichter zuzuordnen. Einmal Notarzt, einmal Krankenwagen, zwei Streifenwagen und natürlich der Löschzug. »Jingle Bells« hatte gerade begonnen, aber Gruber drückte auf Stopp und sagte: »Auf geht’s.«

Ein Menschenauflauf hatte sich gebildet. Die Damen trugen größtenteils Leggings und hatten sich eilig irgendwas übergeworfen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie die Aerobic-Abteilung vom TSV Neuherberg, auf den zweiten erkannte Nick verstörte Gesichter und zerflossenes Make-up. Sie hatten geweint oder taten es noch.

»’tschuldigung. Obacht.« Gruber bahnte sich einen Weg.

Als sie das Flatterband erreicht hatten, kam ihnen ein uniformierter Kollege entgegen. Während er sie auf den Stand der Dinge brachte, wandte sich Nick zu den Nutten um. Ihre Leggings und Paillettenoberteile reflektierten die Flammen und das zuckende Blaulicht. Sie glitzerten und funkelten.

Gruber hatte recht gehabt. Es waren die letzten beiden Fahrzeuge, die brannten. Ein Hymer und ein Ford Transit.

»Hier ist es.« Der Uniformierte richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf eine Stelle am Boden, etwa Höhe Vorderachse Transit. Die Hand eines Mannes lag dort, voller Blut, die Fingernägel zum Teil eingerissen. Sie war zehn Zentimeter oberhalb des Handgelenks abgetrennt worden. Sauberer Schnitt. Der Knochen wirkte im Licht der Taschenlampe, als wäre er aus Porzellan.

»Mehr haben wir nicht?«, fragte Gruber.

»Nein«, sagte der Uniformierte. »Bis jetzt nicht.«

»Irgendwo muss ja der Rest sein.«

»Ja. Irgendwo schon.«

»Obacht!«, schrie Gruber die Feuerwehrkollegen an, die mit ihrem Schlauch gefährlich nahe kamen. Nick bemerkte die beiden Sanitäter, die gerade eine Person auf einer Trage zum Krankenwagen brachten.

»Und da drüben?«, fragte er.

»Andere Baustelle.« Der Uniformierte winkte ab. Offenbar hatte sich ein Freier nicht unter Kontrolle gehabt. »Sieht übel aus, die Kleine, hat aber mit der Hand nix zu tun. Stand jetzt jedenfalls.« Es wurde dunkel, als würde jemand langsam das Licht herunterdrehen. »Feuer aus!«, rief der Brandmeister. Von den Wohnmobilen waren zwei rauchende Ruinen übrig geblieben.

»Da war keiner drin?«, fragte Nick.

»Nein«, sagte der Uniformierte. »Soweit wir das bis jetzt in Erfahrung bringen konnten, sind beide Wohnmobile zum Zeitpunkt des Brandanschlags unbesetzt gewesen. Aber es ist alles noch ein bisschen unübersichtlich … und die Damen haben …« Er brach ab, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Irgendwie ist alles noch völlig unklar.«

»Gut«, sagte Nick, »dann wollen wir mal.«

Eine große Brünette und eine kleine Blonde stellten ihre Wohnmobile zur Verfügung. So konnten Nick und Gruber die Aussagen der Mädels und der wenigen Freier, die nicht rechtzeitig geflüchtet waren, gleichzeitig aufnehmen. Die uniformierten Kollegen hatten davor Stellung bezogen und riefen einen Zeugen nach dem anderen auf. Alle waren noch ziemlich durch den Wind. »Aber keiner weiß irgendwas«, sagte Gruber, als sie wieder in den BMW stiegen. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen.

Den Brandanschlag selbst hatte niemand beobachtet, auch eine gewalttätige Auseinandersetzung nicht. Einige hatten von einem Audi 80 berichtet, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern in der Zufahrt der Gesellschaft für Strahlenforschung gestanden hatte. Manche hatten einen Mirko, andere einen Marko erwähnt, Jugo oder Grieche, der vor Ort für die Sicherheit der Nutten von Zigeuner-Heinz zuständig und nun spurlos verschwunden sei. Wer die anderen Standplätze kontrollierte, hatten sie nicht herausfinden können. Sobald es um die Zuhälter ging, wurden alle einsilbig. Keine schien zu wissen, an wen sie das Geld abdrückte. Weiß nicht. Kann ich nicht sagen. Nie gesehen.

»Müssen wir mal bei den Kollegen von der Sitte nachfragen«, sagte Gruber, »die wissen das.«

Sie vermuteten, dass Mirko/Marko ein und dieselbe Person war. Möglich, dass die Hand ihm gehörte. Auf jeden Fall hatte der Mann, der da draußen für Sicherheit sorgen sollte, heute Abend auf ganzer Linie versagt. Leopoldstraße. Schwabing. »Es ist ein Ros entsprungen«. Sie hatten das Raumschiff fast erreicht, als ihre Pager piepten. Gruber fluchte und schaltete beide aus. »Wart unten, ich schau, was los ist.«

Nick fand einen Parkplatz direkt vor dem Bosporus. Gruber hastete durch den Regen. Im Bosporus waren wenige Tische besetzt. Müde Gesichter. Neonlicht. Ein Junkie, auf einem Barhocker sitzend, war über einem Spielautomaten eingeschlafen. Sah aus, als klebte sein Gesicht daran fest. Stabil wirkte das nicht. Nick überlegte, ob er reingehen und Hakan Bescheid geben sollte. Dass er ihn runternahm, bevor er sich verletzte. Aber da kam Gruber schon wieder zurück. Er riss die Tür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Zwischen den Jahren drehen sie alle durch«, stöhnte er. »Auf geht’s.«

Die 56 war eines dieser Häuser, die, gerade gebaut, bereits verwahrlost wirkten. Das Blaulicht des Krankenwagens zuckte über den Beton und spiegelte sich in den Fensterscheiben des ersten Stocks. Auf der anderen Straßenseite ein Park. Aber kein freundlicher, sondern ein unheimlicher. Keine Ahnung, wo in dieser Stadt sie sich befanden. Nicht im besten Viertel jedenfalls.

Der uniformierte Kollege vor der Haustür nickte ihnen zu. »Vierter Stock.«

Nick war schon auf der Treppe, als er Gruber hinter sich rufen hörte: »Gibt an Aufzug.« Aber er kannte die Dinger. Die in den billigen Neubauten waren die schlimmsten.

Gruber folgte ihm über die Treppe. Es roch nach Essen. Im Zweiten links war die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Händels Messias bis ins Treppenhaus. Ein neugieriges Augenpaar. »Hams sich gegenseitig umbracht?«

»Grüß Gott«, sagte Gruber.

Im Vierten wies der nächste Uniformierte den Weg. Sie traten durch den kalten Rauch ins Wohnzimmer. Es stank bestialisch. Gruber presste sich die Hand vor Mund und Nase. Rechts ragte, wie der Bug eines Schiffes, ein Bett in den Raum. Weil Notarzt und Sanitäter ihm die Sicht versperrten, nahm Nick nur den Fuchsschwanz wahr, der neben dem Haltegriff vom Bettgalgen herunterbaumelte. Und den geplatzten Katheter an der Seite. Die Sanitäter standen im Urin. Am Fenster ein Tisch, drauf ein Plastik-Weihnachtsbaum mit bunten Glühbirnen, ein voller Aschenbecher und leere Flaschen. Auf einem Stuhl daneben der in sich zusammengesackte Körper eines Mannes im Unterhemd. Vom Kopf übrig geblieben war eine Ruine, der Rest hatte sich über Fensterscheibe und Wand verteilt. Ein Helnwein-Plakat hatte es besonders schlimm erwischt. Neben seinem rechten Fuß, der in einer löchrigen Tennissocke steckte, lag eine 9-mm-Beretta. Blitzlicht. Die Spurensicherung fotografierte.

Nick wandte sich um und beobachtete, wie die Sanitäter den anderen Mann vom Bett auf die Trage hievten.

Mit leiser Stimme sagte Gruber zum Arzt: »Was ist mit dem?«

»Völlig dehydriert.«

Die Sanitäter nahmen die Trage auf. Jetzt konnte Nick das Gesicht des Mannes sehen: um die fünfzig, eingefallene Wangen, aufgesprungene Lippen, weit aufgerissene Augen. Infusion am rechten Arm und ein silbernes Armband ums ausgemergelte Handgelenk. Indien oder so.

»Ansprechbar?«, fragte Gruber.

»Schauen Sie ihn doch an«, sagte der Arzt, und die Spurensicherung entdeckte Sägespäne an der Tennissocke.

Die Identität des Toten hatten sie schnell geklärt. Christoph Rechberg, 45 Jahre, gebürtig aus München, Schreinermeister mit eigenem Betrieb, vier Angestellte, keine Vorstrafen. Einfamilienhaus am Stadtrand.

Ein Fenster war noch erleuchtet. Sie mussten also niemanden wecken. Immerhin. Gruber drückte den Klingelknopf. Kurz darauf erschien ein Schatten hinter der Milchglasscheibe. Die Tür wurde so weit geöffnet, wie es die Sicherheitskette zuließ. Ein misstrauischer Blick unter zerzaustem Haar.

»Frau Rechberg?«

Das Überbringen der Todesnachricht war das Schlimmste am Job. Aber auch hier halfen Regeln. Erst einmal nur informieren, die Befragung erfolgt später. Genügend Zeit einkalkulieren. Darauf achten, dass die Leute sitzen und dass ein Glas Wasser bereitsteht. Manchmal gab es Haustiere oder, wie in diesem Fall, Kinder. Aber im Prinzip lief es immer gleich ab. Das Einzige, was in jeder Wohnung anders war, war der Geruch.

Ein paar Straßen weiter kannte Gruber eine Kneipe. Er bestellte zwei Bier und ging direkt durch zu den Toiletten. Nick holte eine HB aus der Packung und steckte sie sich in den Mund. Setzte sich an den Tisch, der am weitesten entfernt war von den anderen. Bullengespräche gehen keinen was an. Der Spielautomat orgelte blechern. Regen schlug gegen die Scheibe. Erst kam das Bier, dann Gruber, der sich gerade hingesetzt hatte, als es aus den Boxen dröhnte: »Polizisten fahren stets zu zweit um dunkle Ecken durch die Nacht …«

»Witzig!« Gruber prostete dem Wirt zu. »Aber bisschen leiser, bitte!« Der Wirt tippte sich grinsend an die Stirn und drehte die Musik leiser. Gruber wollte auch eine Zigarette und sagte, dass er drei Kreuze mache, wenn der Dienst rum sei, und dass er dann mit den Kindern zum Zirkus Krone gehe, wo sie diesmal sogar Artisten aus der DDR hätten und wo der Star des Abends Borra sei, der König der Taschendiebe.

»Weißt du, dass der eigentlich Borisav Milojkoirgendwas heißt und Kollegen in ganz Europa unterrichtet?«, sagte Nick.

»Was unterrichtet der?«

»Diebstahlsbekämpfung.«

Das hatte Gruber nicht gewusst. Fand es aber interessant, wollte es seinen Kindern berichten und erzählte noch ein paar andere Dinge, die jedoch nicht zu verstehen waren. Nick zog an der Zigarette. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab zur Hand auf dem Straßenstrich, zu den brennenden Wohnmobilen, zur Urinlache in der Wohnung über dem unheimlichen Park, dem Blut überall und dem besonderen Geruch im Haus der Familie Rechberg am Stadtrand.

Sie bestellten noch ein Bier und losten aus, wer den Bericht schreiben und wer zur Klinik fahren und die zusammengeschlagene Nutte befragen sollte, deren Aussage noch fehlte. Ihm war’s egal, aber weil er wusste, wie gerne Gruber zockte, machte er mit – und zog die Nutte.

»Viel Spaß!« Gruber grinste anzüglich und kramte ein paar Münzen aus seiner Tasche. »Zahlen!«

Vor dem Bosporus ließ Nick ihn aussteigen. Der Junkie war verschwunden. Irgendwer hatte ihn wohl vom Automaten geschält.

Die Nutte sei ins Schwabinger Krankenhaus gebracht worden, hatte der uniformierte Kollege gesagt. Nick holte den Stadtplan aus dem Handschuhfach, faltete ihn auseinander und drapierte ihn so auf dem Beifahrersitz, dass er die Innenstadt überblicken konnte. Trotzdem verfuhr er sich dreimal, bevor er endlich in die Leopoldstraße einbog. Von jetzt an ging es immer geradeaus. Die Lichter spiegelten sich im regennassen Asphalt. An einer roten Ampel öffnete er das Handschuhfach ein weiteres Mal und holte die Kassette heraus, die Jo ihm geschickt hatte. »Für Papa. Weihnachten 83« stand darauf. Immer noch dieselbe krakelige Jungenschrift. Er warf Grubers Weihnachtslieder raus und legte Jos Kassette ein. Joy Division. Die unverwechselbare Stimme von Ian Curtis: »Don’t walk away, in silence.« Er umklammerte das Lenkrad. »See the danger. Always danger.« Zwei Punks, an einen Verteilerkasten gelehnt, glotzten ihn an. Die Ampel schaltete auf Grün.

»Warten S’ bitte ein Moment«, sagte die Schwester am Empfang, nachdem Nick ihr seinen Dienstausweis gezeigt hatte. Also nahm er auf einem der Stühle Platz. Ein Mann im Bademantel kämpfte mit dem Getränkeautomaten. Sein rechter Arm steckte in einer Schiene. Nick überlegte kurz, ob er ihm helfen sollte, aber dann ließ er es bleiben. Ihm half auch keiner.

»Herr Kommissar?« Die Schwester sagte ihm, dass Frau Schmidl vor etwa einer Stunde auf eigenen Wunsch entlassen worden sei. Er musste dann noch mal warten, weil die Schwester erst klären wollte, ob sie befugt war, ihm die Wohnadresse von Frau Schmidl zu verraten. Sie war nicht nur befugt, sie war sogar verpflichtet, aber ihm glaubte sie nicht. Sie musste es noch mal von anderer Seite hören. Also setzte er sich wieder hin. Dem Mann im Bademantel war es inzwischen gelungen, sein Bier aus dem Automaten zu holen. Er sah es verliebt an, doch beim Versuch, es zu öffnen, rutschte es ihm aus der Hand. Die Flasche knallte zu Boden und zersplitterte in tausend Scherben. Der Mann sah aus, als wäre statt einer Flasche Bier sein ganzes Leben zu Bruch gegangen.

Die Schwester kam lächelnd zurück. »Ich darf!«

Na dann, dachte Nick.

Martina Schmidl wohnte in der Heigelstraße. Untergiesing, wie ihm sein Stadtplan verriet. Er musste also einmal quer durch die ganze Stadt. Ein Hin und Her. Den ganzen Abend schon.

Der Regen. Die Lichter. Joy Division. Das zweite Weihnachten ohne Susanne lag hinter ihm. Er hoffte, dass Jo klarkam, allein in Berlin. Nur noch ein paar Tage, dann würde er ihn wiedersehen. Er freute sich.

Schmidl stand ganz oben auf dem Klingelbrett. Er drückte den Knopf und wartete. Vorgarten. Vogelhäuschen. Gardinen an den erleuchteten Fenstern. Der Türsummer ging. Er drückte die Tür auf und ging hinauf in den dritten Stock. Im Türrahmen stand eine junge Frau im Schlafanzug. Um die zwanzig. Sie war verheult und sah ihn misstrauisch an. Er zeigte ihr seinen Ausweis. »Frau Schmidl?«

»Nein.«

»Dann bin ich hier …«

»Nein, Sie sind richtig. Nur bin ich nicht Frau Schmidl.«

»Wer sind Sie denn?«

»Geht Sie das was an?«

»Gut, also: Ich muss mit Frau Schmidl sprechen. Ich brauche ihre Zeugenaussage …«

»Die ist nicht hier.«

»Wo ist sie denn?«

»Woher soll ich das wissen?«

Eigentlich hätte er ihr jetzt gern die Waffe an die Schläfe gehalten und ihr klargemacht, dass man auch mit einem Bullen ganz normal sprechen konnte. Man musste nicht immer solche Nummern abziehen.

Er nahm aber nur die Hände aus den Taschen, trat einen Schritt vor und lehnte sich in den Türrahmen. »Wo ist Frau Schmidl?« Er konnte böse, das wusste er.

Das Mädchen wich ängstlich zurück. »Wahrscheinlich in ihrem Wohnwagen. Ingolstädter. Sie wissen schon. Da geht sie eigentlich immer hin, wenn sie Ruhe braucht.«

Nick bedankte sich für die Auskunft und wünschte eine gute Nacht. Noch während er zurück zum Wagen ging, beschloss er, morgen mit Martina Schmidl zu sprechen. Gleich morgen früh. Er würde nicht noch mal durch die ganze verdammte Stadt fahren. Es reichte jetzt.

Er war todmüde, als er auf die Brachfläche an der Senefelderstraße fuhr, die, von einer einzigen Laterne notdürftig beleuchtet, offiziell als Parkplatz, unter der Hand aber als Müllabladestelle für das gesamte Bahnhofsviertel diente. In den Ecken und Winkeln des weitläufigen Geländes stapelten sich kaputte Türen und rostige Abflussrohre, Teppiche moderten in Pfützen vor sich hin, tage- und wochenlang, und waren dann plötzlich verschwunden. Der Müll schien sich von selbst einzufinden und von selbst wieder zu gehen. Es war ein labyrinthartiges Gelände mit niedrigen Durchfahrten zu weiteren Hinterhöfen, die ebenfalls als Parkflächen vermietet wurden. Das Königreich des Krummen.

Der residierte in einem bunkerartigen Betonwürfel neben der Zufahrt, mit fünf zum Teil vergitterten Fenstern und mehreren Eisentüren, allesamt von unterschiedlicher Größe und derart willkürlich angeordnet, dass das Gebäude wie die missglückte Bastelarbeit eines Kindes wirkte. Eine Außentreppe mit rostigem Geländer führte zu einer Tür auf halber Höhe, darüber stand, mit weißer Farbe hingepinselt: »Parkwächter«. Über das gesamte Gelände verteilt unterhielt er Außenposten – ein Wachhäuschen mit zersprungenen Fensterscheiben, ein von Grünspan überzogener Wohnwagen und eine verwitterte Blockhütte –, in denen er nie zu sehen und deren Nutzung unklar war.

Nick verließ die Brache, von Brandmauern und Fünfzigerjahre-Wohnblocks umgeben, ohne dem Krummen zu begegnen, und ging vorbei an Sexkinos, Stripbars und türkischen Im- und Exportläden in Richtung Schwanthaler, wo er wohnte. Das Bahnhofsviertel war voller Menschen. Mittelalte Männer aus Stöcking, Rottbach oder Kopenhagen, große Abenteurer allesamt, wähnten sich auf der Jagd und waren doch nur Beute. Ein ganzer Stadtbezirk – 15 Etablissements allein in der Schillerstraße – lebte von ihnen und ihrer Selbstüberschätzung. Erst gegen fünf Uhr morgens kehrte, zusammen mit der Müllabfuhr, wieder Ruhe ein.

II.  DIE GEFÄHRTEN

Es war noch dunkel, als Nick aus unruhigem Schlaf erwachte. Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte, wahrscheinlich ein Geräusch von der Straße, die Wohnung war hellhörig. Von seiner Matratze aus sah er auf den gegenüberliegenden Wohnblock. Zwei Fenster waren erleuchtet. Ein prüfender Blick auf den Pager: nichts. Gut so. Er stand auf, drückte den Lichtschalter und schloss sofort wieder geblendet die Augen. Das Licht der nackten Glühbirne war viel zu hell. Er musste Lampenschirme besorgen. Während er durch den Flur in die Küche schlurfte, nahm er sich fest vor, die Wohnung endlich einzurichten. Jo wollte über Silvester zu Besuch kommen, bis dahin musste sie halbwegs gemütlich sein. Der An- und Verkauf zwei Häuser weiter fiel ihm ein, gehörte einem Jugo. Dort gab es Möbel. War einen Versuch wert. Er setzte den Wasserkessel auf den Herd, füllte den Filter mit Kaffeepulver und setzte ihn der Kanne auf wie eine Krone. Dann ging er ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Während das Wasser über seinen Körper lief, lauschte er dem Knacken und Rattern in der Wand. Die alten Leitungen stöhnten vor Erschöpfung.

Wenig später stand Nick mit Kaffeetasse am Küchenfenster und sah einem trüben Tag beim Heraufdämmern zu. Die Birke und die Wäschespinne, die nebeneinander im Hof standen wie zwei alte Gefährten, schälten sich aus der Dunkelheit. Ein paar Krähen zeterten, und die Wäschespinne streckte ihre rostigen Metallfinger aus, als wollte sie von der Birke an die Hand genommen werden. Nick trank aus und stellte die Tasse in die Spüle. Jacke an. Treppe runter. Wo gestern noch ein Stapel Teppiche vor sich hin gemodert hatte, stand heute ein Sofa. Der Krumme, einen Plastikeimer in der Hand, verschwand im Labyrinth. Nick schloss den Wagen auf und holte den Stadtplan aus dem Handschuhfach.

Der hintere Teil des Straßenstrichs mit den beiden Brandruinen war abgesperrt. Dort und im Gelände ringsum war die Spurensicherung im Gange. In den anderen Wohnmobilen herrschte schon wieder Normalbetrieb. Nick stellte den BMW ab und wechselte ein paar Worte mit den Kollegen. Bis jetzt kaum Verwertbares. Der Regen, der Depp. Wir bleiben dran. Frohes Schaffen.

Nick machte sich auf die Suche nach Martina Schmidl. Wenn er sich recht erinnerte, hatten die Sanitäter sie aus einem der vorderen Wohnmobile geholt. Auf dem Weg sah er eine Frau vor einem Chevy-Van stehen. Schirm in der einen Hand, Zigarette in der anderen, blonde Haare, weiße Stiefel und ein Ganzkörpertrikot aus Kunstfaser. Er hielt ihr den Ausweis vor die Nase. »Martina Schmidl?«

»Die Post.« Sie deutete auf den gelben Mercedes-Bus, der ein paar Meter vor ihrem Chevy stand. »Aber der geht’s nicht gut.«

Er nickte ihr zu, ging zum Postauto und klopfte an die Tür. »Frau Schmidl? Polizei.« Neben der Tür ein quadratisches Fenster, etwa vierzig mal vierzig Zentimeter groß, nachträglich eingebaut. Die Gardine wurde beiseitegeschoben und gab, für Sekundenbruchteile nur, den Blick frei – auf ein zertrümmertes Gesicht. Dann fiel die Gardine zurück. Nichts war mehr zu sehen.

»Ich bin nicht von der Sitte, Frau Schmidl. Ich bin von der Mordkommission und habe ein paar Fragen an Sie. Als Zeugin.«

Keine Reaktion.

»Ich kann Sie aber auch vorladen lassen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Fast lautlos glitt die Schiebetür auf.

Bis auf das Quadrat mit der Gardine waren alle Fenster verhängt. Nick schloss die Tür hinter sich und hörte Frau Schmidl an irgendwas herumfummeln. Dann tauchte eine rote Lichterkette mit herzförmigen Lämpchen das Wageninnere in schummriges Licht. Die Ladefläche des ehemaligen Postautos war zu einer Miniaturwohnung umgebaut worden. Eine Puppenstube. Es gab eine Sitzecke mit Klapptisch – Tischdecke und Weihnachtsstern darauf –, eine Kochnische, Kühlschrank und in der Mitte, alles beherrschend, das Bett, auf dem sie saß, mit dem Rücken zu ihm, die Knie angewinkelt. Eine zierliche Frau. Ihre Füße steckten in dicken Wollsocken. Er setzte sich an den Klapptisch, versuchte, einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen. Vergeblich. »Ich bin Hauptkommissar Marzek«, begann er. »Es geht um die abgetrennte Hand und den Brandanschlag auf die Wohnmobile.«

»Sie sind nicht von hier.« Eher Feststellung als Frage.

»Ich bin aus Berlin.«

»Berlin«, wiederholte sie. Ob es abschätzig oder andächtig gemeint war, blieb unklar. »Und warum sind Sie jetzt hier?«

»Ich brauche Ihre Zeugenaussage.«

»Hier in München, meine ich.«

»Wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Da redet es sich gleich viel besser.«

Sie antwortete nicht.

»Ich würde gern Ihr Gesicht sehen, Frau Schmidl …«

»Sind Sie Bulle oder Arzt?«

»Ich bin kein Arzt, aber …«

»Die haben mich durchgecheckt. Das Jochbein ist am Arsch. Kannst eh nix machen.«

»Haben Sie Anzeige erstattet?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, und er entdeckte das Kruzifix über dem Bett. Tannengrün und ein Zweig mit roten Beeren darunter. Gott beschütze Martina Schmidl. Nick holte Kugelschreiber und Papier hervor.

»Bitte schildern Sie mir, was an dem Abend passiert ist, Frau Schmidl.«

Stockend begann sie zu erzählen, dass der Typ, dieses Schwein, gegen halb neun zu ihr ins Postauto gestiegen sei. Sie hatten sich über den Preis verständigt, alles war okay gewesen. Und dann hatte er sich aus irgendeinem Grund plötzlich betrogen gefühlt und war völlig ausgerastet. Sie hatte nicht mal mehr Mirko um Hilfe rufen können, so schnell war alles gegangen.

»Können Sie mir zu diesem Mirko noch etwas mehr sagen? Nachname? Alter?«

Konnte sie nicht. Leider. Immerhin hatte auch sie den Audi beobachtet, der in der Einfahrt der Gesellschaft für Strahlenforschung gestanden hatte.

»Ein Typ hinterm Steuer. Hat geraucht. Schien auf irgendwas zu warten.«

Beschreiben konnte sie ihn nicht. »War nur ein Schatten.«

Weder wusste sie zu sagen, wie lange der Wagen dort gestanden hatte, noch hatte sie auf das Kennzeichen geachtet. »Ich hatte weiß Gott andere Probleme.«

»Gut.« Nick machte sich eine Notiz. »Der Freier hat Sie verprügelt. Was ist dann passiert?«

»Dann ist er abgehauen. Und ich war erst mal … ich war total weggetreten. Ich kann nicht sagen, wie lange. Ich bin erst wieder zu mir gekommen, als ich die Schreie gehört habe. Da haben die Wohnmobile schon gebrannt.«

Sie hatte nichts mitbekommen. Gar nichts. Trotzdem fragte Nick ordnungsgemäß weiter: »Haben Sie einen Verdacht, wem die Hand gehören könnte? Wird jemand vermisst, den Sie kennen?«

Zögernd sagte sie: »Wie lange sind Sie jetzt in München?«

»Knapp drei Monate.«

Schweigen. Sie schien nachzudenken. Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Könnten Sie mal nach Bigi schauen?«

»Wer ist Bigi?«

»Meine Mitbewohnerin. Mit der stimmt was nicht. Die dreht total durch. Ich hab Angst, dass sie Blödsinn macht.«

Den Eindruck, dass mit dem Mädel in der Heigelstraße was nicht stimmte, hatte Nick gestern auch gehabt. War aber nicht seine Baustelle. »Ich bin bei der Mordkommission. Aber ich kann veranlassen, dass jemand vom Sozialdienst nach ihr schaut.«

Sie wandte sich ihm zu. Ihre rechte Gesichtshälfte war dunkler Matsch, das Auge zugeschwollen. »Bitte gehen Sie zu ihr. Sie sagt, sie weiß … Dinge, aber sie traut sich nicht zur Polizei.« Sie schien plötzlich über sich selbst erschrocken. »Und bitte, sagen Sie ihr nicht, dass das von mir kommt … Ich musste ihr versprechen, dass ich es für mich behalte. Sie dreht total durch vor Angst. Deswegen habe ich es auch gestern nicht mehr ausgehalten in der Wohnung.«

»Haben Sie sich gestritten?«

»Ja.«

»Was weiß sie denn für Dinge?«

Martina Schmidl rang mit sich. »Bitte, das darf ich nicht … das muss sie Ihnen selbst erzählen.«

»Wenn ich noch mal nach Untergiesing fahre, dann will ich wissen, warum. Sonst schicke ich den Sozialdienst hin.«

Nach kurzem Zögern sagte sie leise: »Sie glaubt, sie weiß, wem die Hand gehört.« Sie sah ihn unsicher an. »Sie müssen mit ihr reden. Bitte.«

»Wie heißt die Bigi denn mit vollem Namen?«, fragte er.

»Angermaier. Birgit Angermaier.« Sie wirkte erleichtert.

Er betrachtete ihr zerstörtes Gesicht. »Sie müssen Strafanzeige erstatten, Frau Schmidl.«

Untergiesing war weit und der Verkehr zäh. Nick fragte sich, ob er jemals in München ankommen würde. Er wartete noch immer darauf, dass sich Gewöhnung einstellte, in welcher Form auch immer. Dass er Gebäude wiedererkannte oder Straßen, dass sich ihm die Topografie der Stadt endlich erschloss. Aber nichts dergleichen geschah. Jeden Tag kämpfte er sich erneut mithilfe des verdammten Stadtplans oder eines Kollegen durch Straßen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Nichts von dieser Stadt blieb haften, München perlte an ihm ab. Und allmählich wurde das anstrengend. Ein bisschen mehr Normalität wünschte er sich. Aber offenbar war er noch nicht so weit.

Den Vorgarten und das Vogelhäuschen allerdings erkannte er wieder. Und sie auch. Verheult. Im Schlafanzug. Im Türrahmen. Exakt wie letzte Nacht.

»Frau Angermaier?«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Darf ich reinkommen?«

»Nein.«

»Können wir diese Spielchen heute lassen? Ich muss mit Ihnen reden.«

»Aber ich nicht mit Ihnen.« Weiter kam sie nicht. Er schob sie zur Seite und trat ein. Die Wohnung war klein, aber sauber und gemütlich. Auffallend viele Teddybären. Bigi und Tina waren noch halbe Kinder.

»Ich will, dass Sie gehen!« Ihre Stimme drohte sich zu überschlagen.

»Setzen wir uns in die Küche, Frau Angermaier?«

»Raus!«

Nick wandte sich zu ihr um. Sie stand im Flur, ein Wurzelzwerg im Schlafanzug. Wütend und machtlos. Die Wohnungstür in ihrem Rücken stand noch immer offen.

»Ich erkläre Ihnen jetzt die Situation, Frau Angermaier. Hören Sie bitte gut zu.«

»Ich will nichts hören!«, schrie sie und hielt sich die Ohren zu. Mit ruhiger Stimme sprach Nick weiter: »Mein Name ist Nick Marzek. Ich bin Hauptkommissar bei der Münchner Mordkommission und ermittle zum Fund einer abgetrennten Hand am Straßenstrich Ingolstädter Straße …«

»Hat Tina sie zu mir geschickt?« Sie hatte die Hände von den Ohren genommen.

»Sie und Ihre Probleme«, fuhr Nick fort, »interessieren mich dabei überhaupt nicht. Oder nur, wenn sie im Zusammenhang mit der Hand stehen. Dazu möchte ich Sie als Zeugin vernehmen. Sie haben das Recht, das aktuell zu verweigern. Das heißt, Sie müssen jetzt nicht mit mir reden. Dann geht es den offiziellen Weg …«

Birgit Angermaier hörte inzwischen aufmerksam zu.

»… und Sie bekommen eine schriftliche Aufforderung und einen Termin, an dem Sie sich dann bitte bei der Mordkommission einfinden.«

»Und wenn ich nicht erscheine?«

»Dann geht es noch länger. Aber am Ende werden Sie eine Aussage gemacht haben. Sie dürfen jetzt entscheiden, ob Sie den offiziellen Weg gehen wollen oder ob wir uns in Ihre Küche setzen.«

Sie atmete tief durch und nickte schließlich. »Gehen Sie schon mal vor«, sagte sie leise und schloss die Wohnungstür. Als sie zu ihm in die Küche trat, fragte sie: »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gern.«

»Bitte nennen Sie mich Vanessa«, sagte sie, während sie den Kaffee aufsetzte.

»Mach ich«, sagte Nick. Er hätte sie auch »Nikolaus« oder »Weihnachtsmann« genannt, wenn das ihr Wunsch gewesen wäre. Manchmal konnte man Zugeständnisse machen, manchmal musste man hart bleiben. Sie schenkte den Kaffee ein und begann zu erzählen. Nick hatte Mühe, ihrem Redefluss zu folgen. Sätze und ganze Gedankengänge brach sie ab, verwarf sie und setzte neu an. Trotzdem war Nick schnell klar, dass er sie ernst nehmen musste. Vanessa arbeitete als Bardame in verschiedenen Etablissements im Bahnhofsviertel, die alle zum Imperium des Rotlichtkönigs Josef Preuss gehörten, in letzter Zeit hauptsächlich im Liverpool, Pornokino und Stripclub, den Gästen die Flasche Sekt für hundert Mark andrehen, das volle Programm. Dort hatte sie Pavel kennengelernt, Pavel Zelenka, wie sie zwanzig Jahre alt, aus der Tschechoslowakei. »Ostrau, aber er hat’s anders ausgesprochen.« Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund. Nick gab ihr Feuer. »Der ist Mädchen für alles, Getränkekisten schleppen, Altglas wegbringen, sauber machen, Geld eintreiben. Spricht schlecht Deutsch. Ich hab ihm geholfen, wenn er nicht weiterwusste.« Dabei hatten sie sich ineinander verliebt. War alles noch ganz frisch und Pavel sowieso eher schüchtern. Aber egal. Er war gerade in eine eigene Wohnung gezogen, ein Zimmer mit Kochnische und Klo auf dem Flur. Um das zu feiern, wollten sie den gestrigen Abend bei ihm verbringen, die neue Wohnung einweihen sozusagen. »Ich wollte gerade los, als er mich angerufen hat. Er muss noch was erledigen und meldet sich, sobald er wieder zu Hause ist, hat er gesagt.« Nervös stieß sie den Rauch aus. »Aber er hat sich nicht mehr gemeldet. Erst war ich sauer, dann hab ich mir Sorgen gemacht. Weil … das ist echt nicht seine Art. Ich bin dann mit dem Fahrrad ins Westend zu seiner Wohnung. Aber er war nicht da. Da war mir klar, dass was passiert ist. Und als mir Tina dann das von der Hand erzählt hat …« Wieder brach sie ab. Nick brachte den Satz für sie zu Ende: »Da dachten Sie, dass es Pavels Hand sein könnte.«

»Nein«, sagte sie. »Ich wusste, dass es Pavels Hand ist.«

»Woher wussten Sie das?«

»Weiß ich einfach.« Sie sah ihm direkt in die Augen, hatte die Scheu verloren.

»Gut«, sagte Nick. »Sie haben also geglaubt, dass Ihrem Freund etwas zugestoßen ist. Warum sind Sie dann nicht sofort zur Polizei gegangen? Oder spätestens als ich vor Ihrer Tür stand, da hätten Sie mir das doch …«

»Haben Sie immer noch nicht kapiert, dass ich Angst habe?«

»Aber vor wem denn? Vor der Polizei etwa?«

Sie atmete tief durch und fuhr mit leiser Stimme fort: »Ich glaube, mein Chef hat was damit zu tun.«

»Wenn Sie so einen Verdacht haben, können Sie den mir oder jedem anderen Kollegen mitteilen.«

Sie sah ihn ungläubig an. »Wie lange sind Sie jetzt in München?«

»Warum wollen das alle wissen?«

»Ich verrate Ihnen jetzt was: Ihre Kollegen arbeiten mit Josef Preuss zusammen. Wenn ich mit dem Falschen spreche, weiß Preuss sofort Bescheid. Und wenn der erfährt, dass ich ihm die Bullen auf den Hals hetze, dann …« Sie stockte. »Keine Ahnung, was der dann mit mir macht.« Trotziger Blick. »Sie müssen mir nicht glauben, aber bitte helfen Sie mir, okay? Und vor allem: Verraten Sie mich nicht.« Ängstlich sah sie ihn an.

Plötzlich Pieptöne in regelmäßiger Abfolge und nervenzerrend. Der Pager. Nick griff zum Gürtel und schaltete ihn aus.

»Helfen Sie mir?« Vanessa sah ihn bang an.

»Ich brauche die Adresse von Pavel Zelenkas Wohnung«, sagte Nick.

Erleichtert nannte sie ihm die Adresse. »Erster Stock links.«

Nick erhob sich. »Woher kennen Sie sich eigentlich, Sie und Martina Schmidl?«

»Wir sind zusammen aufgewachsen. Im selben Dorf. Und wir wollten beide da weg und was sehen von der Welt, was erleben.«

Hat ja funktioniert, dachte Nick und verabschiedete sich.

»Wo hast du gesteckt?« Aki knallte den Kaffeebecher auf den Tisch.

»Zeugenvernehmung«, sagte Nick. Was ja irgendwie stimmte. Trotzdem war er froh, dass Aki nicht nachfragte, sondern erzählte, dass den ganzen Morgen schon die Hölle los gewesen sei. Auf dem Gerüst am Justizpalast hatte jemand einen Obdachlosen angezündet. Niemeyer und Mercks kümmerten sich darum. Gruber war zu Frau Rechberg gefahren, und Löscher befragte die Angestellten der Schreinerei. »Und du fährst bitte nach Pasing ins Krankenhaus. Herr Schmitter ist wieder ansprechbar.«

»Schmitter?«

»Der Dehydrierte. Der muss ja von seinem Krankenbett aus mitgekriegt haben, was passiert ist. Wenn er nicht selbst geschossen hat.«

»Eher nicht. Die Pistole lag neben dem Toten. Ich denke, dass Herr Rechberg sich selbst … Was sagt denn die Kriminaltechnik?«

»Noch nichts.«

»Wie komm ich nach Pasing?«

»Am Bahnhof links, dann immer geradeaus.« Aki beugte sich über ein Schriftstück. Sein Haar begann sich am Hinterkopf zu lichten. Auch Aki wird älter, dachte Nick mit Wehmut.

Sein Freund Aki, den er vor Ewigkeiten auf einem Lehrgang kennengelernt hatte und der vor einem Jahr plötzlich in Nicks verwahrloster Wohnung in Reinickendorf aufgetaucht war. Wie ein Heiland. Aki hatte sich umgesehen und gesagt: »Nick, du brauchst Hilfe.« Dann hatte er die Flaschen weggeräumt und sich zu ihm aufs Bett gesetzt wie zu einem kranken Kind. Er hatte in seine fiebrigen Augen geschaut und seiner zitternden Stimme gelauscht, sich die ganze Geschichte angehört. Dann hatte er gesagt: »Du bist Polizist, das ist das Einzige, was von dir übrig geblieben ist. Daran musst du dich jetzt festhalten.« Nick erinnerte sich, dass er die Bedeutung seiner Worte zunächst gar nicht verstanden hatte, aber ihr Klang war ihm vorgekommen wie der Gesang eines Vogels über einem Schlachtfeld. Aki hatte geduldig weiter auf ihn eingeredet. Irgendwann war Nick wieder zu sich gekommen, und das Ende ihres Gesprächs hatte er noch so deutlich im Ohr, als wäre es gestern gewesen: »In Berlin kann ich nichts für dich tun«, hatte Aki gesagt, »aber ich weiß, dass unsere Mordkommissionen in München aufgestockt werden sollen. Du bist ein guter Ermittler, ich hätte dich gerne in meiner Truppe.«

»Ich kann hier nicht weg. Ich muss bei Jo bleiben. Der braucht mich jetzt«, hatte Nick gesagt.

Und Aki hatte geantwortet: »Jo ist erwachsen, und so bist du ihm keine Hilfe, schau dich an. Du musst erst wieder auf die Beine kommen. Und ich möchte dir dabei helfen. Aber das kann ich nur, wenn du nach München kommst. Ich spreche mit deiner Dienststelle, kümmere mich um alle Formalitäten, und ich besorge dir eine Dienstwohnung für den Anfang. Überleg es dir.«

Aki hatte ihn gerettet. Dafür würde er ihm ewig dankbar sein. So beiläufig wie möglich fragte er: »Wie gut kennst du eigentlich Josef Preuss, den Rotlichtkönig?«

Aki sah auf. »Gut genug. Warum?« Misstrauen in der Stimme.

»Ich versuche zu verstehen, wie München funktioniert«, sagte Nick. »Bei Preuss scheinen die Fäden zusammenzulaufen. Vielleicht hat er ja mitbekommen, was auf dem Straßenstrich passiert ist. Wir sollten mit ihm reden.«

Aki musterte ihn schweigend, dann sagte er: »Mit dem Straßenstrich hat der eigentlich nichts zu tun. Aber du hast recht, schaden kann’s nicht.« Und nach einer kurzen Pause: »Fahr nach Pasing. Am Bahnhof links.«

Aber so einfach war es nicht, und Nick musste mehrmals in den Stadtplan schauen, ehe er das Krankenhaus fand. Die Innere war im zweiten Stock.

»Einen Schluck Wasser, bitte.« Walter Schmitter fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Schon die Begrüßung hatte ihn angestrengt.

Nick reichte ihm die Schnabeltasse mit Trinkhalm vom Nachttisch. Als Schmitter keine Anstalten machte, die Tasse in Empfang zu nehmen, begriff Nick, dass der Mann seine Arme nicht bewegen konnte. Er war vom Hals abwärts gelähmt. Wie ein Fisch öffnete er den Mund, und Nick führte ihm den Strohhalm zwischen die Lippen. Schmitter sog gierig daran. Als er genug hatte, stellte Nick die Tasse zurück und wusste plötzlich nicht mehr, wo er beginnen sollte. Er hatte die entsetzlichen Bilder aus der Wohnung wieder vor Augen, den Geruch in der Nase und fühlte sich an die Rätsel erinnert, die Jo als Kind so geliebt hatte. Romeo und Julia liegen tot auf dem Boden, neben ihnen Glasscherben und eine Wasserpfütze. Das Fenster steht offen. Was ist passiert? Durch gezieltes Nachfragen hatte man die rätselhafte Situation auflösen und herausfinden müssen, dass Romeo und Julia Goldfische waren, dass der Wind das unverschlossene Fenster aufgedrückt hatte, wodurch das Aquarium zu Boden gestürzt war. Christoph sitzt mit weggepustetem Gehirn auf einem Stuhl, eine Pistole liegt neben seinem rechten Fuß. Ihm gegenüber liegt Walter in seinem Pflegebett. Walter ist kurz vorm Verdursten, da er seit Tagen keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen hat. Welche Geschichte verbirgt sich dahinter? Vor dem Krankenzimmer befand sich ein Balkon, in dessen Fugen sich Moos gebildet hatte. Ein buntes Windrad, das sich nicht drehte, steckte in einem unbepflanzten Blumenkasten. Zigarettenrauch wehte vom Nachbarbalkon herüber, aber den Raucher selbst konnte Nick nicht sehen.

»Hallo? Herr Kommissar?« Schmitters brüchige Stimme. »Ich dachte, Sie wollten mit mir reden?«

Nick wandte sich ihm zu. »Was ist in Ihrer Wohnung passiert, Herr Schmitter?«

»Meine Stimme macht schnell schlapp«, sagte Schmitter, »setzen Sie sich.« Als Nick auf dem Stuhl Platz genommen hatte, erzählte Schmitter, dass er »Chris«, wie er ihn nannte, vor fünf Jahren auf dem Geburtstagsfest eines gemeinsamen Bekannten kennengelernt hatte. Sie hatten sich angeregt über alles Mögliche unterhalten, bis sie auf eine gemeinsame Leidenschaft gestoßen waren: Motorradfahren. Bald schon hatten sie sich für eine erste Tour verabredet, der schnell weitere folgten, in immer kürzeren Abständen. »Chris hat die Ausflüge genossen«, sagte Schmitter. »Sein Betrieb, die Kinder, er hatte immer viel um die Ohren, und der Fahrtwind hat alle Sorgen weggeblasen.«

Pause.

»Auf einer dieser Touren ist es dann passiert.«

Wieder eine Pause.

»Was ist passiert?«, fragte Nick.

»Wir haben uns verliebt.« Er sah Nick an, schien auf eine Reaktion zu warten. Als die nicht kam, fuhr er fort: »Das muss ein Schock für ihn gewesen sein. Wenn Sie bedenken, wo er herkam: ein Handwerker mit Frau, Kindern, Reihenhaus … Dabei hat er seine Familie geliebt, die Kinder hat er vergöttert.« Trotz dieser Zerrissenheit hatten sie drei glückliche Jahre miteinander. Bis zu der Tour nach Genua. Auf einer Serpentinenstraße, ziemlich genau an der Grenze zwischen Piemont und Ligurien, war Schmitter einem Tierkadaver ausgewichen und hatte die Kontrolle über seine Maschine verloren. »Das Ergebnis sehen Sie ja selbst«, sagte er mit bitterem Lächeln. »Ich war von einem Tag auf den anderen ein Pflegefall. Chris hat mir geholfen, so gut er konnte. Sie glauben nicht, was alles zu organisieren ist in so einem Fall, und ich konnte ja nichts selbst machen. Er hat sich um alles gekümmert. Dafür war ich ihm anfangs sehr dankbar. Inzwischen glaube ich aber, dass ihn die Verantwortung schlichtweg überfordert hat.«

Nach der Entlassung aus der Reha hatten sie gemeinsam entschieden, dass Schmitter zu Hause betreut werden sollte, mithilfe eines ambulanten Pflegedienstes und abwechselnden Hilfskräften. »Chris hat das fantastisch organisiert. Und ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um zu bemerken, dass etwas schiefläuft. Als ich es dann bemerkt habe, war es zu spät.« Schmitter brach ab. Fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Noch mal Wasser?«, fragte Nick.

Schmitter nickte. Nachdem er getrunken hatte, starrte er erschöpft an die Decke, und Nick überlegte fieberhaft, was er sonst noch für den Mann tun könnte, aber ihm fiel nichts ein. Also sagte er nur: »Was ist schiefgelaufen, Herr Schmitter?«

Stockend begann der Mann zu berichten, was im letzten halben Jahr passiert war. Dabei kämpfte er mit den Tränen und musste immer wieder pausieren. Hilflos hatte er mit ansehen müssen, wie sich Chris’ Persönlichkeit veränderte. Jeden Tag wirkte er ein bisschen verzweifelter, und er trank immer mehr. Er war äußerst reizbar, der kleinste Fehler eines Pflegers, ein Zuspätkommen, eine Ungeschicktheit, und Chris flippte aus. »Eigentlich hatte ich mich immer auf ihn gefreut, aber jetzt hatte ich jedes Mal Angst, wenn er durch die Tür kam. Angst vor seiner Verzweiflung, Angst, dass er betrunken sein und Streit mit einem Pfleger anfangen könnte. Ich war dauernd in Panik. Das Gewitter kam näher, die Donnerschläge wurden lauter, und ich wusste, dass früher oder später der Blitz einschlagen würde, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war hilflos. Er hat dann einen Pfleger verprügelt, weil der meine Windeln vergessen hatte. Natürlich hat der Pflegedienst den Vertrag sofort gekündigt. Chris hat mir versprochen, so schnell wie möglich einen neuen Pflegedienst zu organisieren. In der Zwischenzeit wollte er mich selbst versorgen …« Schmitters Stimme versagte. Eine Träne lief seine Wange hinunter. Nick überlegte kurz, ob er sie wegwischen sollte, aber er ließ es bleiben.

»Am Anfang hat er es noch versucht«, fuhr Schmitter fort, »aber irgendwann hatte er nicht mehr die Energie. Er war nicht mehr in der Verfassung, sich um mich zu kümmern. Am Schluss schien er mich einfach vergessen zu haben. Er hat nur noch am Tisch gesessen und getrunken. Und ich lag in meiner Scheiße und habe ihn angeschrien, aber er hat einfach nicht mehr reagiert. Irgendwann fehlte mir dann sogar zum Schreien die Kraft. Ich erspare Ihnen die Details, Sie können sich’s vielleicht ungefähr vorstellen.« Er verstummte. Kinderlachen vom Flur und das Fiepen irgendwelcher Geräte aus der Ferne.

»Bitte noch einen Schluck Wasser.« Die Stimme ganz schwach.