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Auf der Insel Pate, vor der Küste Kenias, lebt die eigensinnige Ayaana mit ihrer Mutter Munira. Als ein Matrose namens Muhidin in ihr Leben tritt, findet Ayaana etwas, wonach sie sich immer gesehnt hat: einen Vater. Doch als Ayaana erwachsen wird, muss sie mit einschneidenden Ereignissen zurechtkommen, die nicht nur sie selbst, sondern auch das Leben auf Pate tiefgreifend verändern: Fremde mit zweifelhafter Vergangenheit tauchen auf, religiöse Extremisten suchen Zuflucht auf der Insel, China streckt seine Fühler nach Afrika aus und mit einem Tsunami fordert die Natur ihren Tribut. So beschließt Ayaana, in der Ferne ihr Glück zu suchen und ein Studium in China zu beginnen. Sie begibt sich auf eine gefährliche Schiffsreise, die letztlich vor allem eines ist – eine Reise zu sich selbst.

Nach ihrem gefeierten Debütroman ›Der Ort, an dem die Reise endet‹ legt Yvonne Adhiambo Owuor einen kraftvoll erzählten Roman über eine junge Frau vor, die darum kämpft, ihren Platz in der Welt zu finden – eine ergreifende Geschichte über Schicksal, Tod, Liebe und Verlust.

autor

© Maurice Weiss/OSTKREUZ

YVONNE ADHIAMBO OWUOR wurde 1968 in Kenia geboren. Ihre Kurzgeschichten erschienen in internationalen Literaturmagazinen. 2003 wurde sie mit dem Caine Prize for African Writing ausgezeichnet. Ihr Debütroman ›Der Ort, an dem die Reise endet‹ (DuMont 2016) stand auf der Shortlist für den Folio Prize, außerdem erhielt sie dafür den Jomo Kenyatta Prize for Literature. ›Das Meer der Libellen‹ ist ihr zweiter Roman. Yvonne Adhiambo Owuor lebt in Nairobi.

SIMONE JAKOB lebt und arbeitet in Mühlheim a. d. R. und übersetzt englischsprachige Literatur ins Deutsche, u. a. David Nicholls, Philip Kerr und Sefi Atta.

Yvonne Adhiambo Owuor

DAS MEER
DER LIBELLEN

Roman

Aus dem Englischen
von Simone Jakob

Libelle

www.dumont-buchverlag.de

 

 

 

 

 

Für dich, La Soledad.

&

Wie immer,

für die Matriarchin

der Familie, Mary Sero Owuor

&

den Vater, der uns so schmerzlich fehlt.

&

Für meine Geschwister

&

die strahlendsten Lichter von allen:

Hera, Hawi, Gweth, Sungu, Diju, Detta und Sero.

Anmerkung der Autorin

Im Jahr 2005, in dem das sechshundertste Jubiläum der ersten Reise über den Indischen Ozean des großen Admiral (Haddschi Mahmud Schams) Zheng He (1371  1435) gefeiert wurde, der in der Ming-Dynastie lebte, erhielt eine junge Frau von der kenianischen Insel Pate ein Stipendium für ein Studium in China. Familienüberlieferungen und DNA-Tests belegten, dass sie die Nachfahrin eines Seefahrers aus der Ming-Dynastie war, der, zusammen mit einigen anderen Männern, einen Schiffbruch überlebt und auf Pate Zuflucht und eine neue Heimat gefunden hatte. »Das Meer der Libellen« ist zwar von dieser historischen Begebenheit inspiriert, es muss jedoch betont werden, dass es sich bei dem vorliegenden Roman nicht um die Geschichte dieser jungen Frau handelt, damit ihr Leben nicht mit der fiktiven Erzählung verwechselt wird. Obwohl im vorliegenden Buch aktuelle Nachrichten und wahre Begebenheiten vorkommen, handelt es sich um ein Werk der Fiktion. Die Chronologie des Geschehens wurde in mehreren Fällen verändert. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen und noch lebenden oder verstorbenen Personen sind somit rein zufällig.

 

Nimm dies Amulett, Kind,

Sichere es mit Band und Ehre.

Ich schenke dir eine Kette

Aus glänzenden Perlen und Korallen.

Dazu eine Schließe, schön und makellos,

Damit du sie um den Hals tragen kannst …

Reinige und parfümier dich, flechte dein Haar;

Pflücke Jasmin und lege ihn auf dein Bett.

Schmücke dich wie eine Braut,

Mit Fußkettchen und Armbändern …

Besprenkle dich mit Rosenwasser.

Habe stets Ringe an den Fingern

und Henna auf den Händen …

Mwana Kupona binti Msham

»Gedicht für ihre Tochter«,

aus dem Swahili von J. W. Allen,

ins Deutsche übertragen von Simone Jakob

Robo ni mgeni.

Die Seele ist nur ein Besucher,
ein Fremder.

1

Die Vorfahren der Libellen, die über das Wasser jagten, stammten aus Nordindien und hatten sich von einem milden frühmorgendlichen Wind, dem Matlai – ein Vorbote des Monsuns – über den riesigen Ozean im Süden tragen lassen. Heute, vier Generationen später, an einem Tag des Jahres 1992, ließen sich diese unbeständigen Wesen unter einem mit dunkelvioletten Wolken verhangenen Himmel an der mangrovengesäumten Südwestküste der Insel nieder, auf der ein kleines Mädchen lebte. Der Matlai hatte sich mit dem schimmernden Vollmond verschworen, um die Insel und ihre Bewohner – Fischer, Propheten, Händler, Seemänner, Heiler, Schiffsbauer, Träumer, Schneider, Verrückte, Lehrer, Mütter und Väter – mit einer Unrast zu plagen, die sich in der des aufgewühlten türkisblauen Meeres widerspiegelte.

Die Abenddämmerung pirschte sich an die größte und trübsinnigste Insel des Lamu-Archipels heran, wanderte über Siyu an der Nordküste über die Fangflotten von Kizingitini nach Südwesten und erreichte schließlich Pate Town, das in unerfüllter Sehnsucht dahinsiechte. Von endlosen Hinterhalten, Belagerungen, Kriegen und Verlockungen zermürbt, zeigte die Stadt – ebenso wie die Insel, auf der sie sich befand – alle Anzeichen von Melancholie. Stumpfrotes Licht ergoss sich durch die dunkle Wolkendecke auf ihre launischen Geister, ihre schwelenden Fehden, ihre verlorenen Ehren, ihre unsichtbaren Pfade und ihre sich im Laufe der Jahrtausende verfestigten Verschwörungen. Blasse Lichtstrahlen fielen in uralte Felsspalten, auf Gräber und Ruinen, die den Bewohnern der Insel, die schicksalsergeben Tür an Tür mit Tragödien lebten, die Hoffnung gaben, man könne darauf bauen, dass die Zeit selbst die größten Katastrophen in ferne Echos zu verwandeln vermochte.

Im Landesinneren von Pate krähte ein Hahn, und aus dem Herzen des Landes erklang, lauter und lauter, der Adhan, der Gebetsruf des Muezzins. Meereswinde zupften am limettengrünen Kopftuch eines kleinen Mädchens und befreiten dichte schwarze Locken, die ihr in die Augen fielen. In ihrem Mangrovenversteck beobachtete die magere Siebenjährige, die ein übergroßes Kleid mit Blumenmuster trug, wie sich eine Gewitterfront landeinwärts schob. Das Wolkengebilde erinnerte sie an ein Ungeheuer, das mit Riesenschritten über den Himmel wanderte und rosafarbene Lichtspuren hinterließ. Meerwasser brandete um ihre Knie, ihre nackten Füße sanken im schwarzen Sand ein, und sie drückte ein ebenso mageres Wesen, ein schnurrendes schmutzig weißes Kätzchen an sich. Vermutlich würde der Gewittersturm – ihr Ungeheuer – noch vor der mit Passagieren überladenen Dau, die gerade langsam auf den ramponierten Anlegesteg zu ihrer Rechten zusteuerte, das Festland erreichen. Sie hielt den Atem an. Die Wajio – die Heimkehrer –, wie sie die Passagiere nannte, würden, wie sie aus Erfahrung wusste, schon beim geringsten bisschen Regen durchgeschüttelt werden wie Marionetten. Sie kicherte schadenfroh, während die Dau, auf der in abblätternder gelber Farbe der Name Bi Kidude geschrieben stand, langsam in die kleine Bucht manövrierte.

Einzelne sanfte Regentropfen fielen.

Ein markerschütternder Donnerschlag sorgte dafür, dass die Heimkehrer erschrocken den Blick gen Himmel richteten und kreischten wie Nashornvögel. Vor Vergnügen zwickte das Mädchen das Kätzchen unwillkürlich ins Fell, das empört maunzte. »Pst«, flüsterte das Mädchen und spähte zwischen den Mangrovenblättern hindurch, um die im Nieselregen nur verschwommen erkennbaren Gesichter der Heimkehrer besser sehen zu können. Es nahm Worte, Bilder, Geräusche, Stimmungen, Farben, Gespräche und Formen in sich auf, verstaute sie in den Schubladen seiner Erinnerung, damit es sie später wieder hervorholen und darüber nachdenken konnte.

Tag für Tag schlich das Kind zu den Pforten des Meeres, seines Meeres. Wartete auf jemanden.

Das Kind setzte sich das Kätzchen, dessen große blaue Augen wie gebannt den Tanz von acht schwebenden goldenen Libellen verfolgten, auf die Schulter. Wieder donnerte es. Die Dau befand sich jetzt parallel zu dem Mädchen, und es sah, wie ein Mann in einem cremefarbenen Anzug sich über den Schiffsrand beugte, um sich zu übergeben. Sie wollte ihn gerade auslachen, als eine hohe, gehetzt klingende Stimme rief:

»Ayaaaana!«

Ein Blitz, der den Himmel zerriss, lenkte sie von dem Mann ab.

»Ayaaaana!«

Es war ihre Mutter.

»Ayaaaana!«

Das kleine Mädchen erstarrte. Dann duckte es sich so tief, dass es fast im Wasser kniete, streichelte das Kätzchen und flüsterte: »Haidhuru« – Hör nicht hin. »Sie kann uns nicht sehen.«

Ayaana hatte am Vormittag einen Asthmaanfall gehabt und sollte sich eigentlich ausruhen. Bi Munira, ihre Mutter, hatte ihr die Brust mit Nelkenöl eingerieben und ihr Kalonji, Schwarzkümmelsamen, eingeflößt, die als Allheilmittel galten. Dann hatten sie zusammen nackt unter einem Laken gesessen und Dampf aus einem Topf mit Kräutersud eingeatmet, der unter anderem Eukalyptus und Minze enthielt und die Lungen frei machen sollte. Danach musste Ayaana die Luft anhalten, um sechs Löffel voll Dorschlebertran zu schlucken, gurgelte mit einem bitteren Gebräu und ließ sich vom »Do-do-do« ihrer Mutter einlullen. Als sie wieder erwachte, hörte sie das Klirren der Glas-, Messing- und Keramikgefäße und den melodischen Singsang der Frauenstimmen in dem rudimentären Schönheitssalon, den ihre Mutter zu Hause führte, und roch den Duft von Gewürznelken, Ylang-Ylang und Mondblumen.

Ayaana hatte sich wirklich bemüht. Hatte gedöst, bis ein pfeifender Seewind in ihre Träume drang und diese zerstreute. Als sie den noch weit entfernten Donner hörte, zwang sie sich, im Bett zu bleiben, bis sie der Versuchung nicht mehr widerstehen konnte. Sie verließ das Bett und arrangierte die Kissen so, als würde jemand unter den Laken liegen. Dann zwängte sie sich durch ein schmales, hoch gelegenes Fenster und kletterte an einer Regenrinne die zerbröckelnde Mauer aus Korallenkalk hinunter. Vor der Tür entdeckte sie das Kätzchen, das sie vor ein paar Tagen aus einem schlammigen Abflussrohr gerettet hatte, und setzte es auf ihre rechte Schulter. Dann rannte sie Richtung Norden zu einer von Mangroven gesäumten Bucht, aus der sie die Welt ungesehen bespitzeln konnte.

»Ayaaaana!«

Der Wind, der ihr ins Gesicht blies, war angenehm kühl. Das Kätzchen schnurrte. Sie richtete den Blick wieder auf die Dau. Der fremde ältere Mann im cremefarbenen Anzug hob den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. Sie duckte sich tiefer und zog sich mit klopfendem Herzen in den Schatten zwischen den Mangroven zurück.

»Ayaaaana!« Die Stimme ihrer Mutter kam immer näher. »Wo steckt das Kind bloß wieder? Ayaaaana?«

Erneut ließ Ayaana ihren Blick vom Schiff zu dem sich zunehmend dunkler färbenden Himmel wandern. Jetzt würde sie nie erfahren, wer das Festland zuerst erreichte – das Gewitter oder das Schiff. Ihr fiel der Mann ein, der sie angesehen hatte. Würde er sie verraten? Sie suchte die Umgebung nach ihm ab. Das Kätzchen auf ihrer Schulter rieb den Kopf an ihren Hals.

»Ayaaaana! Haki ya Mungu … aiee!« Die Stimme drang jetzt links von ihr aus den Büschen und klang bedrohlich nah. »Aii, mwanangu, mbona wanitesa?« Ayaana verließ ihr Versteck, watete durch das flache Wasser, um den Sandstrand zu erreichen, balancierte von Stein zu Stein, während sich das Kätzchen an ihren Hals klammerte, und rannte davon.

Der Fremde, der aus Nanjing stammte, sah, wie sich vor dem Hintergrund des schwarzen Himmels eine kleine Gestalt erhob, kurz verharrte und dann schlagartig wieder verschwand; er gluckste. Seine Mitreisenden, die ihn wegen seiner ständigen Übelkeit bemitleideten, warfen ihm unbehagliche Blicke zu. Es kam vor, dass selbst geistig gesunde Menschen von Seekrankheit in den Wahnsinn getrieben wurden. Der Mann spähte angestrengt zum Festland hinüber, und seine Augen waren das einzig Bewegliche in seinem reglosen Gesicht. Eine Linsentrübung in seinem rechten Auge ließ es aus der Entfernung wie einen hellen Fleck erscheinen; der kahle Kopf saß auf einem sehnigen Hals. Als er eine Frauenstimme »Ayaaaana!« rufen hörte, drehte er den Kopf. Erneut wurde ihm übel. Er sehnte sich danach, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und versuchte abzuschätzen, wie weit der Anlegesteg noch entfernt war.

Eine Viertelstunde später ging der Besucher in dem schlecht sitzenden Anzug, der um seinen Körper schlotterte, von Bord und watete durch das flache Wasser zu dem schwarzen Sandstrand. Trotz Unterstützung durch fremde Hände strauchelte er. Er fiel hin, griff in den Sand, holte tief Luft. Glaubte, das Raunen einsamer Geister zu vernehmen, das Wispern derer, die fern der Heimat gestorben waren und an die sich zu lange niemand erinnert hatte, nach denen niemand suchte. Eine braune Hand tauchte in seinem Blickfeld auf, und er ergriff sie. Einer der Seemänner half ihm auf, ehe er ihm seine graue Tasche reichte. Der Mann stimmte ein Lied an, dann lachte er wie über einen geheimen Scherz.

Blinzelnd stand der Reisende in der von Wohlgerüchen gesättigten Abendluft. Er roch bittere Orange, süßen Balsam, den Odem der See und atmete tief ein. Dann senkte er den Kopf und lauschte dem Stimmengewirr der Neuankömmlinge und der Melodie der Brandung. Betrachtete den Gewittersturm, der sich am Horizont zusammenbraute. Was für ein Ort ist das? Abrupt marschierte er los, die Fußspitzen auswärts gedreht, als hätten sie Augen und wollten möglichst viel von der Umgebung in sich aufnehmen. Plötzlich fiel ein blasser Lichtstrahl auf ein rosafarbenes Blütenblatt, das von einem einsamen zierlichen Wildrosenbusch fiel, und ließ es aufleuchten. Der Mann blieb stehen, wartete, bis es schwebend zu Boden fiel. Dann hob er es auf, führte es an die Lippen und umschloss es mit einer Hand, während er mit der anderen die Leinentasche zurechtrückte, die er über der Schulter trug und die ein kondensiertes Leben enthielt.

Mwenda Pate harudi,
Kijacho ni kilio
.

Wer nach Pate kommt, kehrt nie zurück,
nur ein Klageruf hallt wider.

2

An dem Tag, als ein Mann aus China zum ersten Mal einen Fuß auf kenianischen Boden setzte, träumte – im geräumigen weiß getünchten Schlafzimmer eines zweistöckigen Hauses aus Korallenkalk und Holz, das Teil eines aus zwölf Häusern bestehenden Labyrinths in Pate Town war, die fortwährend von Passatwinden namens Kusi, Matlai, Malelezi und Kaskazi geformt wurden – ein alternder Seemann namens Muhidin Khamis Mlingoti wa Baadawi zum wiederholten Mal, er würde auf einem Schiff einen riesigen saphirblauen Berg mitten im Meer umfahren. Im Traum konsultierte er eine Seekarte in einem dunkelbraunen Buch mit obskuren Schriftzeichen, die aufleuchteten wie von einem inneren Feuer erhellt. Die reale Version dieser Karte bewahrte er, eingewickelt in dunkelgrünes Tuch, in einer kunstvoll verzierten Lamu-Truhe aus Mahagoni unter seinem Bett auf.

Fünf Jahre zuvor hatte Muhidin, ein von Sonne und Salzwasser gegerbter, glupschäugiger, sehniger Nachkomme einheimischer Fischer und Schiffsbauer, ein Buch aus der Tausende von Bänden umfassenden Privatbibliothek eines Kriegs- und Seebeute-Sammlers aus Dubai gestohlen, dem er manchmal geschmuggelte Artefakte verkaufte. Zwischen den Buchseiten hatte er ein faszinierendes vergilbtes Pergament mit kartenähnlichen Abbildungen, kryptischen Schriftzeichen und der symbolischen Darstellung eines archaischen Kompasses entdeckt, in dem der Osten als Ausgangspunkt einer Reise markiert war. Anfangs glaubte er, es handle sich um Notenschrift. Später, als er es im Licht der Abenddämmerung eingehender betrachtete, entdeckte er, dass von dem Pergament ein moschusartiger, sandelholzähnlicher Geruch ausging. Handelte es sich um die olfaktorische Abbildung einer Hymne auf Passatwinde, Häfen und Reisende? Oder gar um ein aromatisiertes Fragment jenes närrischen Märchens Alfa Lela Ulela – Tausendundeine Nacht? Es ist nichts, sagte sich Muhidin in dem Versuch, seinen Wissensdurst zu zügeln. Doch immer, wenn er in die gequälten Winkel seines Herzens vordrang, griff er unwillkürlich nach dem Buch unter seinem Bett und strich über das Pergament, um sich zu beruhigen.

Vor vielen Jahren, als Muhidin noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte ihn eine wilde Musik heimgesucht wie ein auf Erden gestrandetes Gespenst, und sie verfolgte ihn bis in seine Träume, aus denen er voller Sehnsucht nach unnennbaren Dingen erwachte. Ein geheimnisvolles Lied, das aus dem unwissenden Inseljungen einen Suchenden, einen Reisenden, einen Leser, einen Detektiv und einen Wahrheitsjäger gemacht hatte. Als Muhidin noch ein Kind war, kamen seine Eltern und seine fünf Geschwister bei einem Fährunglück ums Leben. Diese Tragödie verschaffte seinen kinderlosen Verwandten – dem Onkel Hamid, der die Zumari-Flöte spielte und ein meisterhafter Bootsführer war, und dessen Frau Zainab – einen Prügelknaben und Schuldknecht. Doch dann, bei einem Angelausflug mit seinem Onkel, mitten in einem kräftezehrenden, erbitterten Kampf mit einem riesigen Schwarzen Marlin, eingeschüchtert von den unheilvollen Drohungen seines Onkels – »Wag es ja nicht, meinen Fisch zu verlieren« –, war der völlig verängstigte Vierzehnjährige unvermittelt in einen Zustand höchster Konzentration eingetaucht, in dem er die Quelle des Lebens zu vernehmen glaubte, das zeitlose Lied des Meeres, das von seiner Seele Besitz ergriff. Es durchdrang sein Herz, das in tausend Stücke zersprang, die wie die Splitter einer unendlichen Sonne auf eisige Welten regnete. Von da an wurde Muhidin von Heimweh nach einem unbekannten Ort verzehrt.

Im selben Moment gab der Marlin, plötzlich fügsam, den Kampf und sein Leben auf.

Es war totenstill an Bord. Dann taumelte Muhidin umher, und ein lauter, lang gezogener Klagelaut entfuhr ihm. Onkel Hamid erstarrte und musterte ihn mit sehr alten, sehr dunklen, sehr freudlosen Augen. »Es ist nichts«, knurrte der Onkel. »Nur ein verwirrter Wind.« Doch von diesem Moment an legten weder sein Onkel noch seine Tante je wieder Hand an Muhidin.

Die Gefühle, die der Vorfall in Muhidin freigesetzt hatte, trieben ihn aufs Meer hinaus, zum Dienst an der See, und er schuftete ununterbrochen, wie ein Leibeigener unter einem Zauberbann. Wenn es ihn aufs Festland verschlug, jagte er Illusionen nach, als seien es Glühwürmchen, durchkämmte die dunklen Winkel der Hafenstädte, kaufte, tauschte, stahl und ergaunerte Seekarten und Rätsel. Er durchforstete geheimnisvolle Aufzeichnungen, in der Hoffnung, Wegweiser zum Leben zu finden. Sein Reiseziel: Sicherheit. Auf seiner Suche geriet Muhidin mit Mensch und Materie aneinander, und am Ende waren sie es, die das Gewebe seines Lebens zerrissen, nicht das Meer.

Viele Jahre auf See später sollte der Nachhall jenes merkwürdigen Tages den von der Welt gezeichneten, unendlich einsamen Muhidin einholen. Er war an Bord seines Handelsschiffes auf dem eisigen, übellaunigen nachtschwarzen Atlantik unterwegs und hatte wie üblich die Sturmwache übernommen, als plötzlich aus der schäumenden Tiefe des Meeres blaue Lichtkugeln aufstiegen, die auf dem Wasser tanzten. Er blinzelte, als sie sich auflösten und zu Fragmenten des geisterhaften Liedes wurden, das er am Tag des Angelausflugs vernommen hatte. Er beugte sich über die Reling und rief: »Wer bist du?« Eine Welle, groß wie ein zweistöckiges Haus, überschwemmte das Deck und durchnässte ihn bis auf die Knochen. Unvermittelt wurde er von Sehnsucht nach der Heimatinsel überfallen, die er hinter sich gelassen hatte. Bis jetzt hatte er überall nur Hinweise darauf gefunden, was das formlose Lied des Ozeans nicht war. Er hatte auch das Vertrauen verloren, im Glauben Zuflucht zu finden. Bei einem Landgang in Ägypten, in einem Suk in Alexandria, war er vom Glauben abgefallen, als ein alabasterhäutiger, hakennasiger Verkäufer, der mit allem handelte, jeglichen Kontakt mit Muhidins schwarzer Haut tunlichst vermied.

Der Suk.

Der Gebetsruf hallte durch die Stadt, eine warmherzige Einladung an die Menschen, sich zu versammeln, die im völligen Widerspruch zu der engherzigen, abweisenden Haltung der Menschen stand. Ein Händler, dessen Waren Muhidin verschmähte, hatte ihm das Wort »Abd« – Sklave – nachgerufen. Daraufhin war etwas in seinem Inneren explodiert, Muhidin knirschte mit den Zähnen und zischte: »Blutrünstiger Dschinn! Henker! Seelenfresser!«

Der Händler lächelte mit glasigem Blick und stotterte erschrocken: »Abd … aber mein Freund, mein Bruder, du weißt doch, das bedeutet nur: Ich bin dein Sklave, ich bin dir zu Diensten …«

Muhidin hatte gebrüllt: »Schweig, du Dieb! Büßen sollst du! Du Verwesungsgestank in weißen Roben, du wandelnder Friedhof! Mtu mwovu! Reptil! Blutsauger … Büße! Parasit! Du weigerst dich, meine Hand zu berühren? Meine schwarze Haut widert dich an? Büßen sollst du, du Dieb von Land und Seelen! Büße!«

Das Gesicht des Händlers war angstverzerrt. Er leckte sich über die Lippen, deutete in die andere Richtung und sagte hektisch: »Sieh nur! Dort drüben!« Dann zog er sich hastig zurück, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Stand zu schließen. Alle Umstehenden stellten sich blind und taub, senkten die Köpfe, um Muhidins vor Zorn sprühendem Blick auszuweichen. Dann war er davongestapft, und sein zitternder Körper hatte die letzten Überreste seines Glaubens abgeschüttelt, an die er sich bis jetzt geklammert hatte.

Abd.

Ein Name, der ihm seit seiner Kindheit auf der Insel vertraut war. So hatte Muhidins Onkel ihn vor dem Tag des Angelausflugs ständig genannt. Auf der Insel galten gesprochene Worte und Namen als Schwur, Verpflichtung und Verheißung. Auch »Kafir« Ungläubiger – hatte sein Onkel ihn genannt. Seine Stimme war auch dann sanft geblieben, wenn er Muhidin verprügelte, bis er blutete, während Tante Zainab zuschaute und überzuckerten Ingwerkaffee trank. Dies war das Gesicht seiner damaligen Einsamkeit und der Grund für seine gegenwärtige Unrast: Onkel Hamid, der musisch begabte Fischer mit dem Gebetsfleck auf der Stirn, der sich – in dem Versuch, seine Grausamkeit zu verschleiern – in weißen Gewändern auf den Boden warf und betete.

Abd.

Muhidin war durch den Suk davongestapft, einen Schwur auf den Lippen: Von heute an soll zwischen meiner schwarzen Haut und dem Glauben ein himmelweiter Abstand liegen, bis ich den Ruf nach Buße vernehme. Danach fühlte er sich seltsam schwerelos. Rastlos begann er, auf- und abzugehen wie der schwarze Leopard im Privatzoo eines katarischen Ölmagnaten, den er einmal gesehen hatte. Er war weder glücklich noch traurig. Ob er ein Schiff entlud oder den Anker lichtete, er beobachtete sich wie aus weiter Ferne und fragte sich, warum er tat, was er tat. Beladen, sichern, verstauen, entladen. Er versuchte seine Gedanken im Zaum zu halten und weigerte sich, über den Sinn der Dinge nachzudenken. Entfesselt berauschte er seine Sinne mit unbegrenzten Genüssen: Wein, Frauen, Worte, Drogen in allen Geschmacksrichtungen und endlose politische Diskussionen. Er entwickelte eine Meinung zu allem und jedem. So bemühte er sich, sein Unbehagen zu überspielen, bis zu jenem ganz gewöhnlichen schwülen Junimorgen im Jahr 1992, als er nach achtundzwanzig Jahren, drei Monaten, acht Tagen und sieben Stunden treuem Lehensdienst an der See, auf einem in Panama registrierten Schiff in den Hafen von Sansibar einfuhr.

Die goldene Morgensonne über Unguja brannte unerbittlich, sodass Muhidin gezwungen war, die Hand über die Augen zu legen. Als er schließlich den Blick auf die Insel richtete, war es, als würde er sie mit neuen Augen sehen. Auf den Docks unter ihm stromerten an die zwanzig ausgemergelte Hafenkatzen herum, während die hauchfeinen Schleier zwischen den Welten die Zeit durchlässig machten. Krähenkolonien, Winde, Wärme und Stimmen. Muhidin erhaschte einen Blick auf ein vergessenes Ich unter all jenen, die er in seinem Leben verkörpert hatte: Fischer, Hafenarbeiter, Matrose, Aushilfsmaschinist, zeitweiliger Ehemann, Heimatloser ohne Zuflucht. Er spürte das Salz auf seinem Gesicht, atmete die ostafrikanische Luft ein. Vor ihm jagten zwei durchscheinende Insekten dem Licht nach, und ein namenloser Händler, in dessen Gesicht sich die Geschichten unzähliger Welten eingegraben hatten, deutete auf ihn und winkte.

Tränen flossen über Muhidins bärtige Wangen und tropften in das ölschlierige Wasser des Hafens von Sansibar. Er umklammerte die Reling, und eine unerklärliche Trostlosigkeit machte sich in ihm breit. Eine Sekunde später schepperte irgendein Maschinenteil. Seine Mannschaftskameraden riefen nach ihm. Der Erste Offizier brüllte ihm von oben etwas zu. Muhidin drehte sich um und griff nach dem nächstbesten Gegenstand, einem halb leeren Wasserbehälter, um sein Gesicht dahinter zu verstecken.

Doch später, in der obsidianschwarzen Nacht, traf Muhidin heimlich Vorkehrungen, um sein Leben auf See hinter sich zu lassen. Er bestach zwei »Hafenratten« –, Jungen unbestimmten Alters, die sich durchs Leben schnorrten und den Hafen heimsuchten wie an einen bestimmten Ort gebannte Dschinn – die ihm helfen sollten, die fünf Jutesäcke, die die Sammelsurien seines Meeres-Exils enthielten, von Bord zu schaffen: Bücher, Karten, Flaschen mit Blütenessenzen, Kalligraphie-Tinten und -Pinsel, Räucherstäbchen, getrocknetes parfümiertes Blut, getrocknete Kräuter, Baumharze, darunter Weihrauch, zwei Hemden, eine kurze Hose, ein Hut und ein weiter Mantel. Sein Geld befand sich in einem Portemonnaie aus dickem Leder, das er sich an den Körper gebunden hatte. Muhidin und seine Helfer krochen durch ein Loch im Zaun des neuen Hafens und begaben sich nach Stone Town. Sie schlichen an Korallenkalkwänden entlang und betraten Labyrinthe aus Zwischenwelten, in denen algerische Raï-Musik erklang. Er erinnerte sich an die parfümierten, großäugigen Frauen in schwarzen Buibuis. Sie glitten mit flüchtigen Blicken, klirrenden Armreifen und ihren hier besonders perfektionierten Verführungskünsten an ihm vorbei. Es roch nach Biryani, Pilau, Kokosnuss, Chutney, Essiggurken, Joghurt, Chilischoten, Mbaazi und Mahamri; ein milchgesichtiger Händler bot Netzannonen und Avocadosaft feil. »Shikamoo«, grüßte ein Mädchen mit Pferdeschwanz einen älteren rundlichen Herrn in einer leuchtend weißen Kanzu; Muhidin hörte Brocken von Kiswahili, das allgegenwärtige Flüstern, Reggae von Bob Marley und Peter Tosh, sah halbdunkle Türeingänge, die von dem Labyrinth abzweigten. Unvermittelt lachte er auf; es klang wie ein Bellen. Sie erreichten den alten Dau-Hafen und blieben vor einer uralten schiefen Steinmauer stehen, die das Land vom Meer trennte.

Unweit der Docks lag ein von Laternen erleuchtetes mittelgroßes Schiff vor Anker – ein trister, verbeulter Kahn, der aussah, als hätte man ihn besser schon vor hundert Jahren in einem Akt der Gnade versenkt, und doch trug er den glückverheißenden Namen der ägyptischen Sängerin und Musikerin Umm Kulthum. Der Nahodha – der Kapitän – stand an Deck, als wäre er mit seinem Schiff verwachsen. »Masalkheri!« – Guten Abend, rief Muhidin, und seine Stimme klang rau, als hätte er sie lange nicht benutzt.

Der Nahodha, ein wahrer Hüne, löste sich von seinem Schiff, sprang ins Wasser, das ihm bis zu den Oberschenkeln reichte, watete zu Muhidin hinüber und fragte in wohlklingendem Singsang: »Nani mwenzangu?« – Wer ist mein Gefährte?

»Muhidin Khamis Mlingoti wa Baadawi.«

»Welch ein Name! Was ist dein Begehr?«

»Na, unter dem Sternenzelt Gedichte mit dir zu rezitieren. Was glaubst du denn, Mann? Ich will abhauen.«

»Was ist dein Problem? Wohin?«

Pate. Ein Name, der Geister heraufbeschwor. Erinnerungen überfielen Muhidin wie Spinnen, die aus einem vergessenen Grab krochen. »Nach Pate.« Er schauderte. Wellen brandeten ans Ufer, Wasser füllte Löcher voll uralter Stille, weißfleckige Gischt leuchtete in der Dunkelheit.

»Nur Verrückte oder Kriminelle überqueren in dieser Jahreszeit das Meer«, grummelte der Kapitän.

Der Steuermann knurrte: »Stimmt. Welchen Preis zahlst du?«

»Jeden.«

»Ausweis?«

»Brauchst du einen?«, entgegnete Muhidin.

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

»Was hast du bei dir?«

»Nur das Nötigste.«

»Ich will keinen Ärger.«

»Mit mir kriegst du keinen.«

»Bei Sonnenaufgang legen wir ab.« Der Kapitän drehte sich wieder um und watete auf die schaukelnde Umm Kulthum zu.

Muhidin rief: »Warte auf mich. Ich komme mit.«

»Du bist verrückt, Mann.«

»Kann sein.«

Muhidin und die Straßenjungen hievten seine Besitztümer auf die Dau. Vor Sonnenaufgang gesellten sich noch sechs weitere Reisende und drei Deckarbeiter zu ihnen. Mit der morgendlichen Flut liefen sie aus.

***

Einige Passagiere gingen in kleinen, kaum noch belebten Häfen – wie Tumbatu, Pemba, Kilifi und Shimoni – von Bord, aber in den sechs Tagen, die es brauchte, durch wechselhafte Strömungen und Gezeiten zu manövrieren und, auf die Winde vertrauend, nordkenianische Gewässer zu erreichen, halfen sie der Mannschaft dabei, das Schiff auszubalancieren und auszubessern oder Wasser zu schöpfen. Am sechsten Tag gegen vierzehn Uhr ließ der Nahodha die Umm Kulthum auf ein altes Schild zusteuern, das auf einem vorstehenden Felsen stand und ihnen den Weg nach Pate wies. Es markierte auch die Wasserstraße, die die Elefanten früher genutzt hatten, um bei Ebbe von einer Insel zur nächsten zu gelangen. Das Schiff fuhr in den Mkanda-Kanal ein, um die riskantere Hochseeroute zu vermeiden. Als sie das mächtige Mangrovendickicht erreichten, verspürte Muhidin ein Ziehen im Herzen. Weiße Sandbänke ragten aus dem Wasser. Faza, eine vom Feuer geformte Siedlung, Ndau und bald darauf, die schwarze Sandküste von Ras Mtangawanda. Kurze Zeit später war Muhidin einer der wenigen, die in Pate an Land gingen. Eine Rückkehr, aber wohin? Er hatte weiche Knie, als er die unsichtbare Grenze zur Vergangenheit überschritt – seiner und die der Insel. Dann lachte er unbekümmert: Wie relativ die Zeit doch war. Er ging, sah eingefasste, zerfallende Grabmale, Schreine der Gelehrsamkeit, Überreste von Werften, Heiligengräber, die synkretistischen Zeichen vormals stolzer Götter; eine robuste Moschee, die sich den Platz mit allen möglichen anderen Orten der Gottesverehrung teilte. Diese Leute waren seine Leute. Ein vertrautes Gesicht, ein alter Bekannter lief ihm über den Weg. Sein Herz drohte zu bersten, und er schrie vor Freude auf. Kinder, die in der Nähe spielten, hielten inne. Drei tapfere Jungen rannten zu ihm, um nach dem Rechten zu sehen, und entdeckten einen Mann auf Knien, dem gerade bewusst geworden war, dass seine lange, über viele Umwege führende Reise in weit entfernte Welten ihn geradewegs zurück nach Hause geführt hatte.

So war es gewesen.

Heute gab es nur zwei Dinge, die er über das vergilbte Pergament unter seinem Bett mit Gewissheit sagen konnte: Er konnte nicht mehr damit anfangen, als es zu besitzen, und wie alles andere, was er berührte, würde es zerfallen – ehe er es entschlüsseln konnte.

***

»Allahu Akbar …«

Ein weiterer Tag brach an. Der Gebetsruf, ein Bote der Verheißung, der eine uralte brütende Insel wieder zum Leben erweckte.

»Allahu Akbar …«

Der Gesang schwoll an.

»Al-salaatu khayrun min al-nawm …«

Ein heulender Meereswind wirbelte Sandkörner auf. Hähne krähten. Die morgendlichen Geräusche rissen Muhidin aus seinem wiederkehrenden Traum von der Rückkehr nach Pate, der immer damit endete, dass er eine Frage stellen musste, die ihm nicht über die Lippen kommen wollte. Doch obwohl Muhidin Gott entsagt hatte, reagierte er auf den Ruf an das Leben immer noch mit dem Vergnügen des Ästheten.

»Allahu Akbar …«

Von der Galerie im obersten Stockwerk seines Korallenkalkhauses beobachtete Muhidin eine Flotte von Ngarawas. Frühe Fischer bückten sich und richteten sich auf, bückten sich und richteten sich auf, als sie im flirrenden Morgenlicht, das sich wie geschmolzenes Silber über das Wasser ergoss, lange Mangrovenholzstecken ins Meer tauchten. Muhidin rückte die bestickte Barghashia auf seinem Kopf zurecht und fragte sich, ob er die Fensterläden in seinem Geschäft »Vitabu na Kadhalika« – Bücher und mehr – öffnen sollte. Die Morgensonne auf seinen Händen, die das verblichene Balkongeländer umklammerten, fühlte sich an wie eine intime Berührung. Er lauschte dem tiefen, widerhallenden Tremolo der Sonnenaufgangshymne des Muezzins. Der Salzgeruch des Meeres war mit Gewürzen, Algen und unbekannten Meereskräutern durchsetzt.

»Allahu Akbar …«

Der Adhan wurde auf der Insel von zwei Männern ausgerufen – genauer gesagt, von Omar Abdulrauf und Abasi Rashid. Rivalen, die beide felsenfest von ihren stimmlichen Talenten überzeugt waren, während sie für die Bemühungen des jeweils anderen nur lauwarmes Lob übrig hatten. Hier auf der Insel wollte man von den abspielbaren präzisen, formelhaften Anrufungen nichts wissen, die man im strengen Saudi-Arabien benutzte und denen das Timbre der Wahrheit abging, das nur einer echten menschlichen Stimme zu eigen ist.

»Ash-hadu an-la ilaha illa llah …«

Als Muhidin die breite Treppe hinunterstieg, hatte er immer noch Omar Abdulraufs Aufruf in den Ohren: »As-salatu Khayrun Minan-nawm …«

Muhidin erwog, dem Ausrufer einen heilenden Honig-Nelken-Ingwer-Balsam zu schenken, denn dessen unheilschwangerer Countertenor erinnerte ihn mittlerweile an die Paarungsgesänge der Wale. Er eilte über den Innenhof, mit der Hand schirmte er die Augen vor der Sonne ab.

Er wartete.

Da war es wieder.

Schritte hinter dem Haus. Ein paar Augenblicke später sang eine Kinderstimme: »Kereng’ende … mavuvu na kereng’ende …«

Kereng’ende – die Jahreszeit der Libellen? Muhidin kratzte sich den Bart und schaute zum Himmel hinauf. Es stimmte, bald würden die kurzen Regenschauer kommen, es war stickig und schwül, die Wolken standen hoch am Himmel und die großen Fischschwärme kehrten aus ihren Laichgewässern zurück. Es gab neue Strömungen und Unterströmungen. Muhidin schaute zum Meer.

Platsch!

Das Kind prustete und lachte. Er lauschte eine Weile, dann kratzte er sich die Koteletten, begab sich in die Küche im Erdgeschoss und setzte den Wasserkessel auf. Er legte ein paar Stücke Honig-Halva und Mahamri auf ein verrostetes rundes Tablett, auf dem früher Bilder von Kätzchen geprangt hatten. Dann schüttete er heiße Milch in einen großen Becher, fügte einen Löffel Masala hinzu und hoffte, dass die Abend-Dau aus Lamu Mkate-wa-mofa-Brot an Bord haben würde, denn er brauchte dringend neues. Wieder hörte er das Lachen des Kindes, das im Meer badete. Es brachte ihn zum Lächeln, denn es erinnerte ihn an ihre Begegnungen, daran, dass man Geheimnisse allein durch Blicke teilen konnte. Ein Geheimnis entstand, wenn man Zeuge eines Freudentanzes wurde, den der Rest der Welt nie zu Gesicht bekam. Man entdeckte es im Anflug eines Lächelns, das kaum mehr war als ein Zucken der Lippen, oder im schimmernden Sternenlicht, das sich in den Augen eines kleinen Bastards spiegelte. Einmal hatte er dem Mädchen unbemerkt zugesehen, während es im flachen Meerwasser herumwirbelte und lauthals ein Kinderlied sang:

»Ukuti, Ukuti

Wa mnazi, wa mnazi

Ukipata Upepo

Watete … watete … watetemeka …«

Ein anderes Mal hatte er beobachtet, wie das Mädchen den Strand absuchte und Treibholz, tote Aale, tote Vögel, tote Seesterne, eine noch ungeöffnete Packung Nudeln, einen Hockeyschläger, einen Puppenkopf und eine blaue Plastikschildkröte zusammentrug. Eines Tages hatte das Mädchen bemerkt, dass er bei Sonnenaufgang auf dem Balkon stand. Und so sang es leiser, aber die Morgenbrise trug ihre Worte trotzdem zu ihm hinauf.

»Sisimizi mwaenda wapi?

Twaenda msibani

Aliyekufa ni nani

Sie war ihm schon aufgefallen, bevor ihre Abenteuer in der Morgendämmerung zu einem Teil seines Lebens geworden waren. Eines Tages hatte ein Fischer namens Yusuf Juma eine Tran absondernde lappige, schuppige Kreatur, mannsgroß und mit vier beinartigen Flossen, gefangen und auf den Anlegesteg gewuchtet. Rasch hatte sich eine Menschentraube um sie gebildet. Auch das kleine Mädchen war unter den Schaulustigen. Es schlüpfte zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch und hockte sich vor die Kreatur, die Arme um die Knie geschlungen. Dann kündigte sich Muhidin durch das Klapp-Klapp der verstärkten Absätze seiner Halbschuhe mit den stählernen Spitzen an. Er machte gerade seinen Abendspaziergang. »Ni kisukuku. Alieishi tangu enzi za dinasaria«, merkte er an – eine Kreatur so alt wie das Leben selbst – und zitierte damit eine Inschrift, die er einmal auf dem Poster von einem Quastenflosser gelesen hatte. »Hab auch mal einen gefangen, als ich noch zur See fuhr«, fügte er hinzu. »Die kann man nicht essen. Werft ihn zurück ins Meer. Die Haie werden sich freuen.« Sein Blick fiel auf das Mädchen in der zerlumpten, übergroßen Kleidung, das ihn mit großen Augen und offenem Mund anstarrte. Schließlich war er weitergegangen.

Der Kessel pfiff, bespuckte ihn mit Wassertropfen, und wieder hörte er die Stimme des Kindes:

»Sisimizi mwaenda wapi?

Twaenda msibani …«

Er gab dem Kessel einen Klaps, als wäre er ein ungehorsames Haustier, und schüttete dunklen, bitteren Kaffee in seinen Becher. Er kaute auf dem mit Kardamom, Nelken und Zimt gemischten Kaffeesatz herum, trug das Tablett in sein Schlafzimmer und trat auf den Balkon hinaus. Von dort blickte er aufs Meer und studierte die rot geränderten Wolken und das ungleichmäßige Blau der Wellen. Heute gewittert es über dem Meer, prophezeite er. Das Mädchen planschte im gischtweißen Wasser. Tauchte unter. Die Strömung, dachte Muhidin besorgt. Er zählte seine Herzschläge, suchte nach den verräterischen dunklen Anzeichen für Unterströmungen. Schließlich tauchte das Kind wieder auf. Es hatte seinen Zwei-Minuten-Rekord unter Wasser um siebzehn Sekunden verbessert. Muhidin fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase. Nicht, dass es für ihn irgendeine Rolle gespielt hätte, wenn ihr etwas zustieß. Nicht sein Problem. Seine Lippen zuckten. Zwei Minuten und siebzehn Sekunden!

Vor mehr als einem Jahr war Muhidin in den frühen Morgenstunden von einem Knarzen und Rascheln aus dem Schlaf gerissen worden. Im Dunkeln griff er nach der Uhr, die er aus alten Einzelteilen zusammengesetzt hatte. Sie zirpte wie eine Grille und gab alle drei Stunden ein »Ping« von sich. Dann ging er auf den Balkon, um auf den Sonnenaufgang zu warten. Ein flimmernder Lichtstreifen färbte den Horizont magentarot. Im schwachen Licht der Morgendämmerung erspähte er eine kleine Gestalt, die im Meer herumtollte, untertauchte und mehrere Meter entfernt wieder auftauchte wie ein Pomboo, ein Babydelfin. Nicht, dass Muhidin unbedingt an die Existenz von Dschinn glaubte, doch es wäre zumindest eine Erklärung für die Erscheinung im Meer gewesen, die zu dieser frühen Stunde wie ein Schatten auf der Leinwand seines Geistes aufgetaucht war. Er eilte nach unten durch einen Innenhof und seine Ladenräume und ging durch die Diele nach draußen und über den Pfad zum Strand. Und aus der Nähe erkannte er die kleine Streunerin.

Seine Enttäuschung überraschte ihn. Verzweifelt auf der Suche nach Geistern, Muhidin?, schalt er sich. Kweli avumaye baharini papa kumbe wengi wapo – Es gibt viele Arten von Fischen im Meer. Er runzelte die Stirn, während er mit sich rang. Sollte er das Kind aus dem Meer holen? Es gab unausgesprochene Regeln, wer im Meer schwimmen durfte und wer nicht. Ein Kind: nicht ohne Aufsicht. Ein Mädchen: eigentlich nie. Aber: Er wusste auch, welche Wirkung das Meer auf manche Menschen hatte, wusste, dass sie es brauchten und umgekehrt. So wie bei ihm, auch wenn es in seinem Fall nicht anders zu erwarten gewesen war. Sein verstorbener Vater und dessen Vater waren beide Seegänger gewesen – das heißt, sie konnten das Verhalten des Meeres zu jeder Jahreszeit vorhersagen und zelebrierten seine Riten und Rituale. Und obwohl beide gestorben waren, ehe sie ihr Wissen an ihn weitergeben konnten, folgte er instinktiv seiner Bestimmung. In seiner Jugend war er einer von nur sieben Männern gewesen, die, mit den Laternen auf den Booten als einziger Beleuchtung, mitten in der Nacht im Meer nach Fischen, Austern und Krabben tauchen konnten. Er war von Quallen gestochen worden, hatte von Zitteraalen elektrische Schläge bekommen und beides überlebt. Er konnte Dünungen, Gezeiten und Strömungen unterscheiden und benennen. Als er einmal von einer Brandungsrückströmung in die Tiefe gerissen worden war, hatte er keine Angst, sondern nur Neugier verspürt. Seit seiner Rückkehr nach Pate war er drei Mal nachts im flachen Wasser aufgewacht, ohne sich zu erinnern, wie er dorthin gelangt war.

3

Das schmutzig weiße Kätzchen schmiegte sich an die schmale Schulter des Mädchens, das wieder einmal beobachtete, wie die Passagierschiffe anlegten. Ayaana wartete auf ihren Vater, den sie noch nie gesehen hatte und von dem sie nicht wusste, wie er aussah. Alles, was sie über ihn zu wissen glaubte, entsprang ihrer Fantasie. Trotzdem verlangte sie in Gedanken von ihm, dass er sich ihr an diesem Tag endlich in Fleisch und Blut zeigen sollte.

Genau wie am Tag zuvor.

Und davor.

Rauschende Winde, das Murmeln der Gezeiten.

Doch ihr Vater war weder an diesem Morgen unter den Passagieren gewesen, die von Bord gingen, noch unter den Heimkehrern, die am Abend von der Dau taumelten. Er war auch keinem der beiden Matatus entstiegen, die über die gesamte Insel fuhren. Ayaana wartete, bis die Grillen zu zirpen begannen und abrupt Stille eintrat, als würde die Welt den Atem anhalten und darauf warten, dass sie etwas sagte. Dann flüsterte sie ihrem Kätzchen zu, dass sie ihrem Vater noch eine Chance geben würde. Am nächsten Tag würde er seine letzte Chance bekommen. Das Kätzchen spielte mit den Haaren des Mädchens und schnurrte.

4

Sie driftete dahin, und jegliches Zeitgefühl löste sich auf. Einsamkeit, Stille; alles strebte auf unbekannte Verlockungen zu. Auch sie. Unter Wasser brauchte sie die Dinge nicht zu benennen, um sie zu kontrollieren. Spüren, empfinden, erfahren – das war Wissen genug. Das Meer hatte viele Augen, zu denen auch ihre jetzt gehörten. Ein vorbeischwimmender Fisch glotzte. Ein Mensch starrte zurück. Sie ließ sich mit der Strömung treiben, weiter und immer weiter, bis sie auftauchen musste, um Luft zu holen.

Ihr Lachen schallte durch die Luft.

Muhidin beugte sich über die Balkonbrüstung, um dem Mädchen und auch dem Meer zu lauschen. Wann würde sie lernen, dass das Meer, ebenso wie die Welt, unberechenbar war? Wie auch immer: nicht sein Problem. Und doch hielt er jeden Morgen Ausschau nach ihr. An einigen Tagen blieb sie fern. An anderen erschien sie noch vor dem ersten Hahnenschrei schimmernd in der Morgendämmerung, schlich zum Meer, sprang bei Ebbe durch das flache Wasser oder stürzte sich bei Flut in die Wellen. Einmal hatte sie auf dem Heimweg mit schräg gelegtem Kopf zu ihm aufgesehen, als wüsste sie, dass er da war, und er war von der Brüstung zurückgetreten. Nach einem weiteren Monat verlangsamte sie ihre Schritte, wenn sie an seinem Balkon vorbeiging, und senkte den Kopf. Tage später blieb sie stehen und schnappte nach Luft, erwiderte seinen Blick, zog an ihren Ohren, schielte und streckte die Zunge aus. Dann war sie fort, hinterließ nur kleine Spuren im Sand, die wie die einer winzigen Schopfantilope aussahen.

Als sie in der folgenden Woche wieder auftauchte, erwiderte Muhidin ihren Gruß und schnitt ebenfalls eine Grimasse. Sie machte große Augen, dann prustete sie los, hielt sich vor Lachen den Bauch, bevor sie die Hand auf ihren Mund legte. Sie schlug vor überschäumender Freude drei Räder und ließ sich erschöpft auf den Sandstrand fallen. Ihre Fröhlichkeit hatte Muhidin angesteckt, der sich an dem Balkongeländer festklammerte und ebenfalls schallend lachte. Dann war sie verschwunden, und nur ihre winzigen Spuren im dunkelbraunen Sand blieben zurück.

Ayaana.

Der Name des Kindes war auf Pate nicht allzu verbreitet. Ayaana bedeutete »Geschenk Gottes«. Muhidin kannte ihre Geschichte natürlich. Jeder kannte sie. Das Kind war vor sieben Jahren mit der Flut auf die Insel gekommen, in den Armen ihrer bis auf die Knochen abgemagerten skandalumwitterten Mutter Munira, Tochter einer angesehenen Familie. Munira hatte blasse Haut, mandelförmige Augen und war zierlich wie ein Vogelfuß. Ihre zuvor hochmütige, vorlaute, kantige, wilde Schönheit war von dem, was sie in den zweieinhalb Jahren fern der Heimat durchgemacht hatte, getrübt und abgeschliffen worden. Etwas hatte sie zurück nach Hause gezogen wie ein zerstörter rostiger Anker. »Ayaana«, war Muniras einzige Erklärung für das kleine Wesen mit der geröteten Haut in ihren Armen. Es schrie unablässig, als die Mutter vor dem Hintergrund eines feurig-gestreiften Sonnenuntergangs das undichte Ngarawa eines Fischers verließ, den sie auf Lamu mit ihren letzten beiden goldenen Armspangen angeheuert hatte, um sie herzubringen. »Ayaana«, wiederholte sie, ein ständiges Flehen um Gnade. Diejenigen, die ihrer Ankunft beiwohnten wie einem Trauerzug, ließen sich von diesem »Geschenk Gottes«, dem jammernden Beweis für die gescheiterten Träume dieser Frau, nicht erweichen.

»Wer ist der Vater?«

»…«

»Der Vater, Munira.«

»Der Wind!«, rief sie mit tonloser Stimme. »Der Schatten des Windes.«

Ihre Antwort hatte etwas Unheimliches, und so schmiedete die Familie Pläne, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Schnell hatten sie einen Bräutigam für Munira ausfindig gemacht: einen strengen Gelehrten mit dünnem Bart, der ihm bis auf die eingesunkene Brust reichte. Seine Versuche, diverse Ehen zu schließen, waren allesamt gescheitert – alle angehenden Bräute waren geflohen und nie wieder gesehen worden. Seine erste und einzige Frau war durch schiere Willenskraft verstummt. Doch der Mann war fest entschlossen, in Muniras noble Familie einzuheiraten, um in den Genuss ihrer uralten, weitverzweigten Geschäftskontakte zu kommen, die in fast jeden Hafen der Welt reichten. Er wollte sogar ihren Namen annehmen, was Teil des Tauschhandels war.

Daraufhin war Munira, das Kind an ihre Brust gepresst, zu einem Felsvorsprung gegangen und hatte gedroht, zu springen. Der Vorfall verursachte einen noch größeren Skandal und zementierte die Gewissheit, dass sie vollkommen verrückt, verflucht sein müsse. Viele Jahre später erzählte Munira Muhidin in einer ruhigen Minute von dieser Zeit: dass sie sich damals dem Nichts verschrieben, kein Vertrauen mehr zu den Menschen gehabt und nur dem Vollmond ihre Hoffnungen offenbart habe; dass sie ihre Tage anhand der Anzahl der Beleidigungen beurteilte, die man ihr an den Kopf geworfen hatte. »Aber seinem Schatten kann man nicht entkommen«, sagte sie dann zu Muhidin, der erwiderte: »Nein, aber ignorieren kann man ihn.« Sie höhnte: »Ach, hör doch auf. Wir beide kennen die Wahrheit, auch wenn wir lügen. Wir sprechen eher über den Tod als über unsere Einsamkeit.« Und sie fuhr fort: »Dua la kuku halimpati mwewe? – Was kümmert den Falken das Gebet eines Huhns? Aber immerhin bin ich noch am Leben. Nicht schlecht, oder?« Und sie lachte über sich selbst.

Nachdem Munira gedroht hatte, sich umzubringen, erklärte ihr über alles geliebter Vater sie zur Maharimu – zur Ausgestoßenen. Darüber hinaus stellte er ihrem Namen das Wort Mahua – die Verstorbene – voran und sagte ihr mit vor Trauer geröteten Augen: »Du, meine Erstgeborene, der ich alles gab, was dein Herz begehrte, hast meine heiligsten Träume entehrt. Du hast das Recht verwirkt, unseren Namen zu tragen.« Danach hatte Muniras Vater, sehr zum Verdruss der Inselbevölkerung, sein lukratives Geschäft mit Herbergen ins fünfhundert Kilometer entfernte Sansibar verlegt. Muniras verschmähter Bräutigam und seine Familie begleiteten ihn dorthin. »Tu uns allen einen Gefallen und stirb«, sagte ihre Stiefmutter beim Abschied zu Munira, »aber warte damit, bis wir weg sind.«

Munira blieb mit ihrem Kind auf Pate zurück.

Sie trauerte um ihre Familie. Sie mochte zwar noch am Leben sein, doch ihr Name wurde zu einem Synonym für Schande, zu einer Warnung an alle kühnen, rebellischen Mädchen, zu einem Anlass, sich daran zu erinnern, warum es auf der Insel kaum noch Arbeit gab. Sie war zu Kidonda geworden – einem wandelnden Geschwür, einer schwärenden Wunde.