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Ein unzufriedener Mann, ohne Arbeit, von seiner tüchtigen Frau zur Selbsterforschung ermutigt: So einer ist Toru Okada. In sein fades Dasein brechen plötzlich Unbekannte mit ihren Geschichten ein und verunsichern ihn in seinen Gewissheiten. Und selbst seine Frau erscheint ihm plötzlich fremd. Unter dem Alltagsleben der Großstadtgesellschaft wirken noch andere Kräfte: geheime Begierden, die Historie des japanisch-chinesischen Krieges oder gar so etwas Altmodisches wie das Schicksal.

autor

© Markus Tedeskino/Ag. Focus

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte über längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung im DuMont Buchverlag. Zuletzt erschien der Roman ›Die Ermordung des Commendatore‹, Bd. 1 + 2 (2018).

URSULA GRÄFE, geboren 1956, hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. den Nobelpreisträger Kenzaburo Oe, außerdem Yoko Ogawa und Hiromi Kawakami. Für DuMont überträgt sie die Romane Haruki Murakamis ins Deutsche.

HARUKI MURAKAMI

DIE CHRONIKEN
DES AUFZIEHVOGELS

Roman

Aus dem Japanischen
von Ursula Gräfe

ERSTES BUCH

DIE DIEBISCHE ELSTER

JUNI–JULI 1984

1.AUFZIEHVOGEL AM DIENSTAG

SECHS FINGER UND VIER BRÜSTE

Als das Telefon klingelte, stand ich in der Küche und kochte Spaghetti. Dabei pfiff ich die Ouvertüre zu Die diebische Elster von Rossini mit, die aus dem Radio ertönte. Die allerbeste Musik zum Spaghettikochen.

Um ein Haar hätte ich das Klingeln ignoriert. Meine Spaghetti waren fast gar, und das Londoner Symphonieorchester unter der Leitung von Claudio Abbado strebte einem musikalischen Höhepunkt entgegen. Dennoch drehte ich das Gas herunter, ging ins Wohnzimmer und hob den Hörer ab. Womöglich war es ein Bekannter, der mir eine neue Stelle anbot.

»Schenk mir zehn Minuten deiner Zeit«, sagte übergangslos eine Frauenstimme.

Ich bilde mir ein, ein ziemlich gutes Gedächtnis für Stimmen zu haben, aber diese war mir unbekannt. »Verzeihung, wen möchten Sie sprechen?«, erkundigte ich mich höflich.

»Dich natürlich. In nur zehn Minuten können wir einander näherkommen«, raunte die dunkle, weiche Frauenstimme.

»Näherkommen? Wie meinen Sie das?«

»Gefühlsmäßig.«

Ich reckte den Hals und spähte durch die Küchentür. Aus dem Spaghettitopf stieg weißer Dampf auf, und Abbado dirigierte noch immer Die diebische Elster.

»Tut mir leid, aber ich bin gerade dabei, Spaghetti zu kochen. Könnten Sie später noch einmal anrufen?«

»Spaghetti?«, sagte die Frau erstaunt. »Du kochst vormittags um halb elf Spaghetti?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Was ich um wie viel Uhr esse, ist allein meine Angelegenheit«, entgegnete ich verärgert.

»Stimmt auch wieder«, sagte die Frau trocken und ausdruckslos. Dennoch fiel mir eine leichte Veränderung in ihrem Tonfall auf. »Also gut, ich rufe später noch mal an.«

»Moment mal«, sagte ich hastig. »Falls Sie etwas verkaufen wollen, sind Sie an der falschen Adresse. Bei mir gibt es nichts zu holen. Da können Sie noch so oft anrufen. Ich bin arbeitslos.«

»Keine Angst, ich weiß schon.«

»Was wissen Sie?«

»Dass du arbeitslos bist. Also geh schon zu deinen geliebten Spaghetti.«

»Was fällt Ihnen –«, setzte ich an, aber sie legte auf. Einfach so.

Vor den Kopf gestoßen starrte ich einen Moment den Hörer an, aber dann fielen mir meine Spaghetti ein, und ich eilte in die Küche. Ich schaltete das Gas aus und goss sie in ein Sieb. Wegen des Anrufs waren sie nicht mehr ganz al dente, aber es ging noch.

Während ich meine Spaghetti aß, dachte ich über die seltsame Äußerung der Frau nach. Einander in zehn Minuten gefühlsmäßig näherkommen? Was sollte das heißen? Vielleicht war es ein Telefonstreich gewesen? Oder eine neuartige Verkaufsmasche? Weder das eine noch das andere hätte etwas mit mir persönlich zu tun.

Doch als ich später im Wohnzimmer auf dem Sofa lag und einen Roman aus der Bibliothek las, schweifte mein Blick immer wieder zum Telefon. Was konnte die Frau gemeint haben? Wie sollte man sich in zehn Minuten überhaupt näherkommen? Im Nachhinein fragte ich mich, warum sie die Zeitspanne ausgerechnet auf zehn Minuten begrenzt hatte. Aber offenbar mussten es genau zehn Minuten sein. Neun Minuten waren zu kurz und elf zu lang. Wie bei Spaghetti al dente.

Von der ganzen Grübelei verging mir die Lust am Lesen. Also beschloss ich, ein paar Hemden zu bügeln. Das tue ich immer, wenn ich durcheinander bin, schon seit ewigen Zeiten. Dabei teile ich den Vorgang des Bügelns in zwölf Schritte ein. Mit dem Kragen (1) fange ich an und mit der linken Manschette (12) höre ich auf. Ich halte mich strikt an die Reihenfolge und zähle sogar die einzelnen Schritte mit. Sonst wird das nichts.

Nachdem ich drei Hemden gebügelt und mich ihrer Faltenlosigkeit vergewissert hatte, hängte ich sie auf und schaltete das Bügeleisen aus. Als ich es mit dem Bügelbrett im Wandschrank verstaute, war mein Kopf um einiges klarer. Ich wollte gerade in die Küche gehen, um ein Glas Wasser zu trinken, als erneut das Telefon klingelte. Ich zögerte kurz, entschied mich jedoch abzuheben. Falls es die Frau von vorhin war, wollte ich sagen, ich sei gerade beim Bügeln, und auflegen.

Doch es war Kumiko. Die Uhr zeigte halb zwölf. »Alles klar bei dir?«, fragte sie.

»Ja, alles gut«, sagte ich.

»Was machst du?«

»Bis eben habe ich gebügelt.«

»War irgendwas?«, fragte sie mit leicht beunruhigtem Unterton. Sie wusste, dass ich immer bügele, wenn ich verstört bin.

»Nein, nichts. Ich habe einfach nur ein paar Hemden gebügelt.« Ich setzte mich und wechselte den Hörer von der linken in die rechte Hand. »Was gibt es denn?«

»Kannst du Gedichte schreiben?«

»Gedichte?«, fragte ich verblüfft. Wovon redete sie?

»Eine Bekannte von mir arbeitet bei einer Literaturzeitschrift für junge Mädchen, und sie sucht jemanden, der ausgewählte Gedichtbeiträge redigieren kann. Zusätzlich müsstest du einmal im Monat ein kurzes Gedicht als Titel für die Rubrik schreiben. Der Job ist verhältnismäßig einfach und dafür ganz gut bezahlt. Du würdest natürlich nur auf Honorarbasis arbeiten, aber wenn es gut läuft, vielleicht regelmäßig.«

»Das findest du einfach?«, sagte ich. »Ich suche eine Juristenstelle, falls es dir entfallen ist. Und jetzt soll ich Gedichte redigieren?«

»Sagtest du nicht, du hättest in der Oberschule mal geschrieben?«

»Ja, für die Schülerzeitung! Irgendwelche stumpfsinnigen Artikel darüber, welche Klasse beim Fußball gewonnen hat und dass der Physiklehrer ins Krankenhaus musste, weil er die Treppe runtergefallen ist. Aber keine Gedichte. Gedichte kann ich nicht.«

»Es sind doch nur welche für Schülerinnen. Keine genialen Werke, die in die Literaturgeschichte eingehen sollen. Irgendwas Geeignetes würde dir schon einfallen, meinst du nicht?«

»Ich kann weder geeignete noch sonst irgendwelche Gedichte schreiben. Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich habe so was noch nie gemacht und habe auch nicht die Absicht, es je zu tun«, erklärte ich entschieden. Gedichte konnte ich wirklich nicht schreiben.

»Na gut, wenn du nicht willst«, sagte meine Frau enttäuscht. »Aber eine Stelle zu finden, die etwas mit Jura zu tun hat, könnte schwierig werden, oder?«

»Ich habe schon alle möglichen Bekannten angesprochen. Allmählich sollte ich Antwort bekommen, aber wenn sich nichts ergibt, lasse ich mir etwas einfallen.«

»Na schön, das war’s. Was ist heute für ein Wochentag?«

Ich musste kurz überlegen. »Dienstag«, sagte ich.

»Könntest du auf die Bank gehen und Gas und Telefon bezahlen?«

»Klar, wenn ich nachher fürs Abendessen einkaufe, gehe ich vorbei.«

»Was gibt es denn?«

»Weiß ich noch nicht. Das überlege ich mir beim Einkaufen.«

»Hör zu«, sagte meine Frau auf einmal betont ernst. »Ich habe nachgedacht. Eigentlich bräuchtest du dich bei deiner Stellensuche nicht zu beeilen.«

»Wieso nicht?«, fragte ich erstaunt. Hatten die Frauen der Welt sich verschworen, mich am Telefon zu verblüffen? »Irgendwann kürzen sie mir das Arbeitslosengeld. Ich kann nicht ewig nur rumhängen.«

»Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen. Mit ein paar lukrativen Gelegenheitsjobs und unseren Ersparnissen kämen wir gut über die Runden, auch wenn wir uns keinen Luxus leisten könnten. Wäre es dir zuwider, weiter zu Hause zu bleiben und den Haushalt zu übernehmen? Wie würde dir das gefallen?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß, denn ich wusste es wirklich nicht.

»Denk in Ruhe darüber nach«, sagte meine Frau. »Ist der Kater übrigens wieder da?«

Erst jetzt merkte ich, dass ich den ganzen Vormittag lang nicht an den Kater gedacht hatte. »Nein, noch nicht.«

»Könntest du vielleicht mal in der Nachbarschaft nach ihm suchen? Er ist jetzt schon über eine Woche weg.«

Ich brummte unverbindlich und nahm den Hörer wieder in die Linke.

»Bestimmt treibt er sich bei dem leerstehenden Haus in der Gasse herum. Ich habe ihn schon mehrmals in dem Garten mit der Vogelstatue gesehen.«

»In der Gasse?«, fragte ich erstaunt. »Ich wusste gar nicht, dass du da manchmal hingehst. Du hast es nie erwähnt.«

»Du, entschuldige, ich muss Schluss machen. Die Arbeit ruft. Also schau bitte nach dem Kater, ja?«

Sie legte auf. Wieder betrachtete ich kurz den Hörer, bevor ich auch auflegte.

Ich fragte mich, was Kumiko in der Gasse zu schaffen hatte. Um von unserem Garten hineinzugelangen, musste man über eine Mauer aus Hohlblocksteinen klettern. Warum sollte sie sich die Mühe machen? In dieser Gasse gab es nichts.

Ich ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Anschließend untersuchte ich den Fressnapf des Katers auf der Veranda. Die getrockneten Sardinen, die ich ihm am Abend hingestellt hatte, waren unberührt. Der Kater war offenbar nicht zurückgekommen. Ich betrachtete unseren von der frühsommerlichen Sonne beschienenen kleinen Garten, der allerdings nicht zu den Gärten gehörte, bei deren Anblick einem das Herz aufgeht. Die Sonne schien jeden Tag nur ganz kurz dort herein, weshalb die Erde immer dunkel und feucht war. Die einzigen Blumen waren ein paar kümmerliche Hortensien in einer Ecke. Erschwerend kam hinzu, dass ich keine Hortensien mochte. In einem benachbarten Hain mit Bäumen kreischte regelmäßig ein Vogel, den wir den »Aufziehvogel« nannten, weil er klang, als würde man eine Feder aufziehen. Den Namen hatte Kumiko ihm gegeben. Wie er wirklich hieß, wussten wir nicht. Auch nicht, wie er aussah. Dessen ungeachtet kam der Aufziehvogel jeden Tag in den Hain und zog die stille Welt auf, deren Teil wir waren.

Also musste ich mich wohl auf die Suche nach dem Kater begeben. Ich mochte Katzen, ich hatte sie schon immer gemocht. Und diesen Kater mochte ich besonders. Katzen haben ihre ganz eigene Art zu leben und sind wahrlich nicht dumm. Verschwindet eine Katze, tut sie das in einer bestimmten Absicht. Sobald sie Hunger hat oder müde wird, kommt sie von selbst zurück. Dennoch machte ich mich Kumiko zuliebe auf die Suche nach unserem Kater. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun.

Anfang April hatte ich ohne einen besonderen Grund meine langjährige Stelle in einer Anwaltskanzlei aufgegeben. Inhaltlich hatte mir die Arbeit nichts ausgemacht, verdient hatte ich auch nicht schlecht, und das Betriebsklima war geradezu freundschaftlich gewesen.

Meine Aufgaben waren, kurz gesagt, die eines Laufburschen mit Juraabschluss gewesen, doch ich glaube, ich erfüllte sie recht gut. Ohne mich loben zu wollen, kann ich sagen, dass ich über eine Begabung für derlei praktische Dienste verfüge. Ich besitze eine rasche Auffassungsgabe, erledige alles prompt, beklage mich nie und denke pragmatisch. Als ich sagte, ich wolle kündigen, bot mir der Seniorchef – die Kanzlei wurde von Vater und Sohn geführt – sogleich eine Gehaltserhöhung an, aber ich ließ mich nicht umstimmen. Nicht, dass ich nach meiner Kündigung etwas Bestimmtes vorgehabt hätte. Allein bei dem Gedanken, mich noch einmal zu Hause einzuschließen und für ein Staatsexamen zu büffeln, befiel mich Ermattung, und Anwalt wollte ich ohnehin nicht werden. Aber Laufbursche in dieser Kanzlei wollte ich auch nicht bis in alle Ewigkeit bleiben. Wenn kündigen, dann jetzt. Immerhin war ich schon dreißig.

Als ich Kumiko beim Abendessen erklärte, ich wolle kündigen, sagte sie nur »Aha«. Ich wusste nicht, was dieses »Aha« zu bedeuten hatte, aber da sie sich nicht weiter äußerte, schwieg ich ebenfalls.

»Wenn du kündigen willst, solltest du kündigen«, sagte sie schließlich. »Es ist dein Leben, also solltest du tun, was du für richtig hältst.« Geduldig pflückte sie mit ihren Stäbchen die Gräten aus dem Fisch und reihte sie am Tellerrand auf.

Meine Frau war Redakteurin bei einer Zeitschrift für Natur- und Gesundheitskost und verdiente nicht schlecht. Außerdem hatte sie bei einer anderen Zeitschrift eine Freundin, die ihr zusätzlich Aufträge für Illustrationen verschaffte (Kumiko hatte Grafikdesign studiert, mit dem ursprünglichen Ziel, freischaffende Illustratorin zu werden), was ein nicht zu verachtendes zusätzliches Einkommen bedeutete. Überdies würde ich nach meiner Kündigung eine Zeit lang Arbeitslosenunterstützung erhalten. So hätten wir, auch wenn ich daheimblieb und komplett die tägliche Hausarbeit übernahm, noch genug Geld übrig, um hin und wieder ins Restaurant zu gehen und Sachen in die Reinigung zu bringen, sodass sich an unserem Lebensstil so gut wie nichts ändern würde.

Also kündigte ich.

Als ich vom Einkaufen zurückkam und die Lebensmittel in den Kühlschrank räumte, läutete das Telefon. Es klang ungemein aufdringlich. Ich legte den halb ausgepackten Tofu auf den Tisch, ging ins Wohnzimmer und hob ab.

»Bist du fertig mit Spaghetti kochen?«, sagte die bewusste Frau.

»Ja, aber jetzt muss ich meinen Kater suchen gehen«, erwiderte ich.

»Das kann doch wohl zehn Minuten warten? Das ist schließlich etwas anderes als Spaghetti kochen.«

Ich weiß nicht, warum, aber ich schaffte es nicht, das Gespräch abzubrechen. Die Stimme der Frau hatte etwas an sich, das mich in seinen Bann schlug. »Na gut, solange es nur zehn Minuten sind«, sagte ich.

»Wir werden uns nun bestimmt sehr viel näher kommen«, raunte die Frau, als schlüge sie auf einem Sessel die Beine übereinander, um es sich bequem zu machen.

»Also, erklären Sie mir, worum es geht«, sagte ich. »Aber bitte wirklich in zehn Minuten.«

»Zehn Minuten sind womöglich länger, als du denkst.«

»Kennst du mich tatsächlich?«, fragte ich, jetzt auch zum Du übergehend.

»Natürlich. Wir sind uns schon mehrmals begegnet.«

»Ach? Wann und wo denn?«

»Irgendwann irgendwo«, sagte die Frau. »Wenn ich dir das jetzt erkläre, reichen die zehn Minuten nicht. Was zählt, ist die Gegenwart. Nicht wahr?«

»Aber kannst du mir nicht irgendeinen Beweis liefern? Einen Beweis dafür, dass wir uns kennen, meine ich.«

»Zum Beispiel?«

»Wie alt bin ich?«

»Dreißig«, antwortete sie prompt. »Dreißig Jahre und zwei Monate, habe ich recht?«

Ich schwieg. Es stimmte, die Frau kannte mich. Aber so sehr ich auch überlegte, ich konnte mich partout nicht erinnern, ihre Stimme schon einmal gehört zu haben.

»So, jetzt versuch mal, mich dir vorzustellen«, hauchte sie verführerisch. »Anhand meiner Stimme. Wie sehe ich aus? Wie alt bin ich, und wo wohne ich? Was habe ich an? So was eben.«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.

»Gib dir Mühe!«

Ich sah auf die Uhr. Es waren erst eine Minute und fünf Sekunden vergangen. »Keine Ahnung«, wiederholte ich.

»Gut, dann werde ich es dir sagen«, erwiderte die Frau. »Ich liege auf dem Bett. Ich habe geduscht und bin nackt.«

Mannomann. Lief das jetzt auf Telefonsex hinaus?

»Oder findest du Unterwäsche besser? Strümpfe? Was bevorzugst du?«

»Ist mir egal. Mach, was du willst. Zieh an, was dir gefällt, oder bleib nackt, ist mir egal. Tut mir leid, aber ich habe keinen Gefallen daran, am Telefon über so etwas zu reden. Außerdem habe ich zu tun –«

»Opfere mir nur zehn Minuten. Das wird dich schon nicht umbringen, oder? Beantworte also gefälligst meine Frage. Ist nackt in Ordnung? Oder soll ich lieber etwas anziehen? Ich habe alles Mögliche da. Schwarze Spitzenunterwäsche und so.«

»Bleib, wie du bist«, sagte ich.

»Also nackt?«

»Ja, genau, nackt«, sagte ich. Vier Minuten.

»Mein Schamhaar ist noch feucht«, sagte die Frau. »Ich habe mich nicht richtig abgetrocknet, deshalb ist es noch feucht. Warm und feucht. Mein Schamhaar ist sehr weich. Tiefschwarz und weich. Streichle es doch mal.«

»Entschuldige, aber …«

»Darunter ist es auch ganz warm. Wie warme Buttercreme, weißt du. Ganz ganz warm. Wirklich. Weißt du, was ich jetzt mache? Mein rechtes Knie ist angewinkelt, mein linkes Bein ausgestreckt. Meine Beine stehen auf etwa fünf nach zehn.«

An ihrer Stimme erkannte ich, dass sie nicht log. Ihre Beine waren wirklich auf fünf nach zehn geöffnet, und ihre Vagina war warm und feucht.

»Streichle meine Schamlippen. Ganz langsam. Öffne sie. Ganz langsam. Streich langsam mit der Fingerspitze darüber. So ist es gut, ganz langsam. Und nun leg deine andere Hand auf meine linke Brust. Liebkose sie sanft von unten nach oben, massiere die Brustwarze. Weiter. Mach weiter, bis ich beinahe komme.«

Wortlos drückte ich die Gabel herunter. Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich aufs Sofa sinken und sah auf die Uhr. Das Gespräch hatte fünf oder sechs Minuten gedauert.

Kaum zehn Minuten später klingelte das Telefon erneut, aber diesmal hob ich nicht ab. Nach dem fünfzehnten Mal hörte es auf, und eine tiefe, kalte Stille senkte sich über den Raum.

Kurz vor zwei stieg ich über die Mauer in die Gasse hinunter. Ich rede zwar immer von einer »Gasse«, aber im eigentlichen Sinn war es keine. Wahrscheinlich gibt es gar keine Bezeichnung für so etwas. Es handelte sich im Grunde nicht einmal um einen Weg. Ein Weg hat einen Ein- und einen Ausgang, und man benutzt ihn, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Aber die Gasse war zu beiden Seiten geschlossen. Damit war es nicht einmal eine Sackgasse, die ja zumindest an einem Ende offen ist. Den Namen Gasse hatten ihr die Leute im Viertel nur in Ermangelung eines besseren Begriffs gegeben. Diese sogenannte Gasse wand sich etwa zweihundert Meter zwischen den Gärten hinter den Häusern hindurch. Da sie nirgends mehr als einen Meter breit war und vielerorts Hecken in sie hineinragten oder alle möglichen Dinge in ihr abgestellt waren, konnte man sich an manchen Stellen nur seitwärts hindurchzwängen.

Laut meinem Onkel, der uns das Haus zu einem unschlagbar günstigen Preis vermietete, hatte die Gasse früher zwei Zugänge gehabt und als Abkürzung zwischen zwei Straßen gedient. Als während des starken Wirtschaftswachstums immer mehr neue Häuser auf den Brachen entstanden, wurde die Gasse von ihnen fast verdrängt. Und um zu verhindern, dass fremde Leute an ihren Gärten vorbeigingen, blockierten die Bewohner sie irgendwann. Anfangs war es nur eine als Sichtschutz dienende Hecke, doch bald kam einer der Nachbarn auf die Idee, einen der Zugänge mit der Hohlblocksteinmauer zu verschließen. Nachfolgend wurde dann auch die andere Seite mit einem Stacheldrahtzaun gesichert, damit keine Hunde hindurchkamen. Da die Anwohner die Gasse ohnehin nicht mehr als Durchgang benutzten, beschwerte sich niemand darüber, ja man empfand sie nun sogar als zusätzlichen Schutz gegen Einbrecher. Sonst hatte die Gasse keine Funktion mehr, sie war wie ein stillgelegter Kanal und diente lediglich als Puffer zwischen den Häusern. Sie war von Unkraut überwuchert, und überall woben Spinnen ihre klebrigen Netze.

Es war mir ein Rätsel, aus welchem Grund meine Frau sich dort aufhalten sollte. Ich selbst war bisher nur zweimal dort gewesen, außerdem ekelte Kumiko sich vor Spinnen. Aber egal. Wenn sie wollte, dass ich den Kater dort suchte, dann tat ich es eben. Im Freien herumzuspazieren war auf jeden Fall besser, als zu Hause darauf zu warten, dass das Telefon klingelte.

Im grellen frühsommerlichen Licht warfen die Äste über mir ihre Schatten in die Gasse. Da kein Wind wehte, wirkten sie starr, wie ominöse in den Boden geritzte Zeichen. Um mich herum herrschte völlige Stille, sodass ich beinahe die in der Sonne glänzenden Grashalme atmen hörte. Am Himmel schwebten kleine Wolken, scharf umrissen wie auf mittelalterlichen Holzschnitten. Weil alles so seltsam schemenhaft war, fühlte mein Körper sich entgrenzt und verschwommen an. Außerdem war mir heiß.

Obwohl ich nur ein T-Shirt, eine leichte Baumwollhose und Turnschuhe trug, strömte mir der Schweiß unter den Achseln hervor, und auch meine Brust war schweißnass. T-Shirt und Hose hatte ich erst am Morgen aus einem Karton mit Sommersachen geholt, weshalb mir nun der scharfe Geruch von Mottenpulver in die Nase stach.

Bei den umliegenden Häusern ließen sich die älteren mühelos von denen unterscheiden, die in jüngerer Zeit gebaut worden waren. Die neuen waren insgesamt kleiner, auch die Gärten. Mitunter ragten ihre Wäschestangen in die Gasse, sodass ich mich unter Handtüchern, Hemden und Laken hindurchbücken musste. Aus den Häusern ertönte Fernsehlärm oder das Rauschen von Toilettenspülungen, und es roch nach einem Currygericht, das bei jemandem auf dem Herd stand.

Den älteren Häusern hingegen merkte man kaum an, dass sie bewohnt waren. Hecken und Sträucher wie chinesischer Wacholder schirmten sie wirkungsvoll ab, und man konnte nur durch gelegentliche Lücken einen Blick auf ihre gepflegten weitläufigen Gärten werfen. Irgendwo sah ich einen vertrockneten braunen Weihnachtsbaum in einer Ecke stehen.

In einem der Gärten lag eine Menge Kinderspielzeug herum, so als hätte jemand Überbleibsel aus der Kindheit mehrerer Jungen dort versammelt. Ein Dreirad, Wurfringe, Plastikschwerter, Gummibälle, eine Stoffschildkröte und kleine Baseballschläger. In einem anderen hing ein Basketballkorb, und in einem dritten stand ein hübscher Keramiktisch, den der Regen mit violetten Magnolienblüten dekoriert hatte. Die einst weißen, nun völlig verdreckten Gartenstühle schienen seit Monaten (oder sogar Jahren) nicht benutzt worden zu sein.

Ein anderes Haus gewährte mir durch eine aluminiumgerahmte Glastür freien Blick in sein Wohnzimmer mit einer Ledergarnitur, einem enormen Fernseher, einem Regal (das ein Aquarium mit tropischen Fischen und zwei Pokale zierten) und einer eleganten Stehlampe. Es wirkte ein wenig wie die Kulisse einer Fernsehserie. Im Garten stand mit weit geöffnetem Türchen eine große Hundehütte, wenngleich von einem Hund nichts zu sehen war. Der Maschendrahtzaun war ausgebeult, als hätte sich monatelang jemand von innen dagegengelehnt.

Das leerstehende Haus, von dem Kumiko gesprochen hatte, kam ein Stück hinter dem mit der Hundehütte. Man erkannte auf den ersten Blick, dass es unbewohnt war. Und nicht erst seit zwei oder drei Monaten. Die geschlossenen Läden des verhältnismäßig neuen einstöckigen Gebäudes waren verwittert und die Geländer der Fenster im ersten Stock von Rost überzogen. In dem kleinen, aber feinen Garten breitete die besagte Vogelstatue auf einem brusthohen, von Unkraut umwucherten Sockel ihre Flügel aus. Hohe Goldrauten reichten bis an die Füße des Vogels, der keiner bestimmten Art zuzuordnen war. Seine ausgebreiteten Flügel erweckten den Eindruck, er wolle dem unwirtlichen Ambiente möglichst schnell entfliehen. Der steinerne Vogel war das einzige künstlerische Element in dem Garten. Unter dem Vordach stapelten sich einige arg mitgenommene Plastikstühle, neben denen die leuchtend roten Blüten eines Azaleenbusches sich seltsam unwirklich ausnahmen. Ansonsten gab es nur auffällig viel Unkraut.

Gegen den Drahtzaun gelehnt, betrachtete ich eine Zeit lang den Garten, der sich bei Katzen gewiss großer Beliebtheit erfreute, wobei im Augenblick keine zu sehen war. Auf der Dachantenne hockte eine Taube, deren eintöniges Gurren das einzige Geräusch in der Umgebung darstellte. Der Schatten des steinernen Vogels brach sich im Gestrüpp des ihn umwuchernden Unkrauts. Ich nahm ein Zitronenbonbon aus meiner Tasche, wickelte es aus und steckte es in den Mund. Zum Anlass meiner Kündigung hatte ich das Rauchen aufgegeben, doch nun kam ich nicht mehr von den Zitronenbonbons los.

»Die sind Gift für die Zähne«, sagte meine Frau. »Bald kriegst du Karies.« Aber ich konnte nicht anders, ich musste Zitronenbonbons lutschen. Während ich den Garten betrachtete, blieb die Taube auf der Antenne sitzen und gurrte mit einer Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit, die einem Finanzbeamten alle Ehre gemacht hätte. Ich weiß nicht, wie lange ich so an den Zaun gelehnt dastand. Irgendwann spuckte ich das halb gelutschte Zitronenbonbon auf die Erde, weil es mir zu süß wurde. Als ich den Blick wieder auf den Schatten der Vogelstatue richtete, sprach jemand mich von hinten an.

Ich drehte mich um und sah im Garten gegenüber ein zierliches Mädchen. Sie hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug eine sehr dunkle Sonnenbrille mit bernsteinfarbenem Gestell und ein ärmelloses hellblaues T-Shirt. Ihre schlanken Arme waren gleichmäßig gebräunt, obwohl noch Regenzeit herrschte. Eine Hand steckte in der Tasche ihrer Shorts, mit der anderen stützte sie sich auf ein hüfthohes wackliges Bambustor. Wir standen nicht viel mehr als etwa einen Meter voneinander entfernt.

»Heiß, was?«, sagte das Mädchen.

»Stimmt«, sagte ich.

Nach diesem kurzen Austausch musterte sie mich einen Augenblick lang, ohne ihre Haltung zu verändern. Dann zog sie ein Päckchen filterlose Hope aus ihren Shorts, nahm eine heraus und steckte sie sich in den Mund. Er war klein, mit leicht aufgeworfener Oberlippe. Mit einer routinierten Bewegung entflammte sie ein Papierstreichholz und zündete die Zigarette an. Als sie dabei den Kopf neigte, konnte ich ihr Ohr sehen. Es war so glatt und sauber, als wäre es ihr eben erst gewachsen. Um die zierliche Silhouette schimmerte ein kurzer zarter Flaum.

Das Mädchen warf das Streichholz auf den Boden und rauchte mit gespitzten Lippen, während sie zu mir aufsah, als wäre ihr meine Anwesenheit eben erst wieder in den Sinn gekommen. Ihre Augen konnte ich nicht sehen, weil die dunklen Gläser ihrer Brille so spiegelten. »Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragte sie.

»Ja.« Ich wollte in Richtung unseres Hauses deuten, aber weil ich im Zickzack gegangen war, wusste ich auf einmal nicht mehr genau, wo es lag. Also zeigte ich aufs Geratewohl in die Richtung, in der ich es vermutete.

»Ich bin auf der Suche nach meiner Katze«, erklärte ich, wie um mich zu rechtfertigen, während ich mir die vom Schweiß feuchten Hände an der Hose abwischte. »Sie ist schon seit einer Woche nicht nach Hause gekommen, aber angeblich wurde sie hier gesehen.«

»Wie sieht sie denn aus?«

»Es ist ein großer Kater. Braun gestreift, mit leicht nach oben abgeknickter Schwanzspitze.«

»Wie heißt er?«

»Noboru«, antwortete ich. »Noboru Wataya.«

»Ziemlich pompös für eine Katze.«

»Der ältere Bruder meiner Frau heißt so. Der Kater hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm, also haben wir ihn zum Spaß nach ihm benannt.«

»Inwiefern ist er ihm ähnlich?«

»Er hat einen ähnlichen Gang und den gleichen abwesenden Blick, so was eben.«

Sie lächelte zum ersten Mal. Dabei wirkte sie viel kindlicher auf mich als zu Anfang. Sie musste fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. Ihre leicht aufgeworfene Oberlippe bog sich in einem ungewöhnlichen Schwung nach oben. Mir war, als hörte ich die Stimme der Frau am Telefon. Streich mit der Fingerspitze darüber. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

»Ein braun gestreifter Kater mit abgeknicktem Schwanz also«, vergewisserte sich das Mädchen. »Trägt er ein Halsband oder so was?«

»Ja, ein schwarzes Flohhalsband«, sagte ich.

Die Hand auf dem Tor, überlegte das Mädchen einige Sekunden lang. Dann ließ sie die fast aufgerauchte Zigarette fallen und trat sie mit ihrer Sandale aus.

»Ich glaube, ich habe Ihren Kater gesehen«, sagte sie. »Ob er einen Knick im Schwanz hatte, weiß ich nicht genau. Aber eine große braun getigerte Katze mit Halsband ist hier rumgeschlichen.«

»Wann war das?«

»Tja, wann war das? Vielleicht vor drei oder vier Tagen. Viele Katzen aus der Nachbarschaft streunen durch unseren Garten, es ist ein einziges Kommen und Gehen. Sie kommen vom Haus der Takitanis und gehen in den Garten von den Miyawakis.« Sie deutete auf das leerstehende Haus, wo der steinerne Vogel unverändert seine Flügel ausbreitete, die Goldrauten im frühsommerlichen Sonnenschein glänzten und die Taube auf der Antenne ihr monotones Gurren von sich gab.

»Wie wäre es, wenn wir einfach in unserem Garten warten? Da kommen alle Katzen irgendwann durch. Außerdem ruft womöglich jemand die Polizei, wenn Sie hier so herumlungern, weil man Sie für einen Einbrecher hält. Das ist schon ein paar Mal passiert.«

Ich zögerte.

»Das geht schon in Ordnung. Außer mir ist niemand zu Hause, und wir können uns im Garten sonnen, während wir auf Ihren Kater warten. Ich habe gute Augen, vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

Ich schaute auf meine Armbanduhr. 14.36 Uhr. Bis zum Sonnenuntergang musste ich noch die Wäsche hereinholen und Abendessen vorbereiten, mehr hatte ich den ganzen Tag nicht zu tun.

Das Mädchen öffnete das Tor, und als ich ihr über den Rasen folgte, fiel mir auf, dass sie das rechte Bein leicht nachzog. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen und wandte sich zu mir um.

»Ich wurde vom Rücksitz eines Motorrads geschleudert«, sagte sie beiläufig. »Ist schon eine Weile her.«

Wo der Rasen zu Ende war, standen unter einer großen Eiche nebeneinander zwei mit Canvasstoff bezogene Liegestühle. Den einen bedeckte ein großes blaues Handtuch, auf dem anderen lagen eine Schachtel filterlose Hope, ein Aschenbecher, ein Feuerzeug und eine Zeitschrift. Aus einem großen Kassettenrekorder tönte leiser Hard Rock. Das Mädchen nahm die Sachen, ließ sie auf den Rasen fallen und bot mir einen Platz an. Den Kassettenrekorder schaltete sie aus. Von meinem Liegestuhl aus konnte ich durch die Bäume das leerstehende Haus auf der anderen Seite der Gasse sehen. Auch die Vogelstatue, die Goldrauten und den Maschendrahtzaun sah ich. Bestimmt hatte mich das Mädchen die ganze Zeit von hier aus beobachtet.

Es war ein großer Garten. Die ausgedehnte Rasenfläche war abschüssig, und hier und da standen mehrere Bäume zusammen. Links von unseren Liegestühlen lag ein ziemlich großer ausbetonierter Teich, aber anscheinend hatte man ihn schon vor langer Zeit trockengelegt, und der einst hellgrüne Boden war schon ewig der Sonne ausgesetzt. Jenseits der Bäume dahinter stand ein älteres Haus im westlichen Stil, aber es war nicht besonders imposant, keinesfalls eine Luxusvilla. Nur der Garten war groß und außerordentlich gepflegt.

»Es ist bestimmt viel Arbeit, einen so großen Garten in Schuss zu halten«, sagte ich, als ich mich umsah.

»Bestimmt«, sagte das Mädchen.

»Früher habe ich bei einer Firma für Rasenpflege gejobbt«, erzählte ich ihr.

»Echt?« Es klang desinteressiert.

»Bist du immer allein?«, fragte ich.

»Ja, zumindest die meiste Zeit. Morgens und abends kommt eine Haushaltshilfe, aber sonst bin ich allein. Möchten Sie vielleicht etwas Kaltes trinken? Es ist auch Bier da.«

»Nein, danke.«

»Wirklich nicht? Nur keine Hemmungen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Gehst du nicht zur Schule?«

»Gehen Sie nicht arbeiten?«

»Ich würde ja, aber ich habe keine Arbeit.«

»Haben Sie Ihre Stelle verloren?«

»So ähnlich. Ich habe vor Kurzem gekündigt.«

»Und was haben Sie vorher gemacht?«

»Ich war Bote in einer Anwaltskanzlei«, sagte ich. »Ich musste Unterlagen bei Ämtern und Behörden holen, Papiere sortieren, Präzedenzfälle prüfen, Sachen bei Gericht erledigen und dergleichen.«

»Aber Sie haben aufgehört?«

»Ja.«

»Ist Ihre Frau berufstätig?«

»Ja, sie arbeitet«, sagte ich.

Die Taube, die auf dem Dach gegenüber gegurrt hatte, war davongeflogen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Unversehens herrschte tiefe Stille.

»Die Katzen kommen immer von dort.« Das Mädchen zeigte auf die andere Seite des Rasens. »Sehen Sie den Verbrennungsofen hinter der Hecke von den Takitanis? Dort schlüpfen sie unter dem Tor durch in den Garten gegenüber. Immer auf demselben Weg. Herr Takitani ist übrigens ein berühmter Illustrator. Er heißt Toni Takitani. Kennen Sie ihn?«

»Toni Takitani? Nein, wer ist das?«

Sie erzählte mir, dass Toni Takitani tatsächlich der richtige Name des Mannes sei. Dass er auf besonders präzise technische Zeichnungen spezialisiert sei, vor Kurzem bei einem Autounfall seine Frau verloren habe und allein in dem großen Haus lebe, es jedoch kaum verlasse und keinen Kontakt zu den Nachbarn pflege.

»Er scheint kein übler Kerl zu sein«, sagte das Mädchen. »Aber ich habe ihn noch nie sprechen gehört.«

Sie schob ihre Sonnenbrille auf die Stirn, sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, ließ die Sonnenbrille wieder herunter und stieß eine kleine Rauchwolke aus. Sie hatte eine etwa zwei Zentimeter lange tiefe Narbe am linken Auge, die sie wahrscheinlich ihr Leben lang behalten würde. Vielleicht trug sie die Sonnenbrille, um sie zu verbergen. Sie hatte kein ausgesprochen hübsches Gesicht, aber es war etwas Berührendes daran, was an den lebhaften Augen oder der eigentümlichen Form ihrer Lippen liegen mochte.

»Kennen Sie die Miyawakis?«

»Nein«, sagte ich.

»Das sind die, die in dem leeren Haus gewohnt haben. Sogenannte bessere Leute. Sie haben zwei Töchter, und beide waren auf einer renommierten Privatschule für Mädchen. Der Vater hatte zwei oder drei Imbissrestaurants.«

»Warum sind sie nicht mehr da?«

Sie schürzte die Lippen, was wohl heißen sollte, sie wisse es nicht.

»Irgendwas von wegen Schulden. Sie sind bei Nacht und Nebel abgehauen. Schon vor einem Jahr oder so. Meine Mutter beschwert sich ständig über das viele Unkraut, dass alles so vernachlässigt aussieht und die Katzen immer mehr werden.«

»Sind es denn so viele?«

Die Zigarette im Mund, verdrehte das Mädchen die Augen.

»Ja, Massen. Auch räudige und einäugige … Die einäugige hat nur noch so einen Fleischklumpen, wo das Auge war. Wahnsinn.«

Ich nickte.

»Eine Verwandte von uns hat sechs Finger an jeder Hand. Sie ist nicht viel älter als ich. Da, wo der kleine Finger ist, hat sie noch so einen Fortsatz, der aussieht wie der Finger von einem Baby. Aber sie kann ihn umklappen, also sieht man ihn nicht. Sie ist sehr hübsch.«

»Aha.«

»Meinen Sie, so was vererbt sich? Dass es im Blut liegt oder so?«

Ich sagte, ich hätte keine Ahnung von Vererbungslehre.

Eine Zeit lang schwieg sie. Ich lutschte mein Zitronenbonbon und ließ dabei den Katzenpfad nicht aus den Augen. Aber es ließ sich keine blicken.

»Wollen Sie wirklich nichts trinken? Ich hole mir jetzt eine Cola«, sagte das Mädchen.

Nein, danke, antwortete ich wieder. Sie stand auf, und als sie leicht hinkend hinter den Bäumen verschwunden war, hob ich die Zeitschrift vom Boden auf und blätterte darin. Entgegen meiner Erwartung war es ein Herrenmagazin. Auf einer Doppelseite in der Mitte saß in dünner durchsichtiger Unterwäsche, unter der man ihr Geschlechtsteil und die Schamhaare sehen konnte, eine Frau mit unnatürlich weit gespreizten Beinen auf einem Hocker. Junge, Junge, dachte ich. Ich legte die Zeitschrift zurück, verschränkte die Arme und richtete mein Augenmerk wieder auf den Katzenpfad.

Nach einer halben Ewigkeit kam das Mädchen mit einem Glas Cola in der Hand zurück. Es war wirklich ein heißer Nachmittag. Reglos auf dem Liegestuhl in der Sonne ausgestreckt, wurde ich so benommen im Kopf, dass mir das Denken immer schwerer fiel.

»Wenn Sie herausfänden, dass das Mädchen, in das Sie verliebt sind, sechs Finger hat, was würden Sie machen?«, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Sie an einen Zirkus verkaufen«, erwiderte ich.

»Echt?«

»Das war ein Witz.« Ich lachte. »Wahrscheinlich wäre es mir egal.«

»Auch wenn Ihre Kinder das womöglich erben?«

Ich dachte nach.

»Ich glaube, das wäre mir auch egal. Ein Finger zu viel stört nicht besonders.«

»Und wenn sie vier Brüste hätte?«

Auch darüber dachte ich kurz nach.

»Weiß ich nicht«, sagte ich.

Vier Brüste? Würde das jetzt ewig so weitergehen? Ich beschloss, der Sache ein Ende zu machen.

»Wie alt bist du?«

»Sechzehn«, sagte das Mädchen. »Vor Kurzem geworden. Ich bin in der zehnten.«

»Und du gehst die ganze Zeit nicht zur Schule?«

»Das Bein tut noch immer weh, wenn ich länger laufe. Außerdem hatte ich eine Verletzung am Auge. Meine Schule ist streng. Die dürfen nicht erfahren, dass ich vom Motorrad gestürzt bin. Also fehle ich wegen Krankheit. Ich würde gern ein Jahr aussetzen. Ich will gar nicht so schnell in die Elfte.«

»Aha«, sagte ich.

»Aber zurück zum Thema. Sie hätten also nichts dagegen, eine Frau mit sechs Fingern zu heiraten, aber vier Brüste wären Ihnen zu viel, ja?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, ich weiß es nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich es mir nicht richtig vorstellen kann.«

»Aber sechs Finger können Sie sich vorstellen?«

»Irgendwie schon.«

»Aber wo ist der Unterschied? Ich meine, der Unterschied zwischen sechs Fingern und vier Brüsten?«

Ich dachte noch einmal nach, aber mir fiel keine Erklärung ein.

»Frage ich zu viel?«

»Das bekommst du wohl öfter zu hören?«

»Ab und zu.«

Ich richtete meinen Blick wieder auf den Katzenpfad. Was in aller Welt machte ich hier eigentlich? Nicht eine Katze hatte sich bisher blicken lassen. Mit verschränkten Armen schloss ich zwanzig oder dreißig Sekunden lang die Augen. Ich spürte, wie mir am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Das Sonnenlicht lastete seltsam schwer und drückend auf mir. Das Mädchen schwenkte ihr Glas, und die Eiswürfel darin klangen wie Kuhglocken.

»Schlafen Sie doch ein bisschen, wenn Sie müde sind. Ich wecke Sie, sobald der Kater auftaucht«, sagte sie leise.

Ich nickte stumm und mit geschlossenen Augen.

Es war windstill, um mich herum kein Laut. Die Taube war bestimmt schon weit fort. Ich dachte an die Frau am Telefon. Ob ich sie wirklich kannte? Ich erinnerte mich weder an ihre Stimme noch an ihre Art zu sprechen, doch offenbar kannte sie mich. Wie in einer Szene auf einem Bild von Giorgio de Chirico fiel nur ihr Schatten quer über den Weg und ragte in meine Richtung. Doch ihre Substanz stand weit vor den Grenzen meines Bewusstseins. Unentwegt läutete eine Glocke in meinem Ohr.

»Schlafen Sie?«, fragte das Mädchen mit kaum hörbarer Stimme, sodass ich nicht sicher war, ob sie tatsächlich etwas gesagt hatte.

»Nein.«

»Darf ich etwas näher kommen? Wenn ich so leise spreche, ist das bequemer.«

»Mach nur«, sagte ich mit geschlossenen Augen.

Das Mädchen rückte ihren Liegestuhl näher an meinen heran. Als die Holzrahmen sich berührten, entstand ein trockenes Klacken.

Wie seltsam, die Stimme des Mädchens variierte, je nachdem, ob ich sie mit offenen oder geschlossenen Augen hörte.

»Darf ich mit Ihnen reden?«, sagte das Mädchen. »Ich rede ganz leise, Sie brauchen nicht zu antworten, und es macht auch nichts, wenn Sie dabei einschlafen.«

»In Ordnung.«

»Ich finde es cool, wenn Leute sterben«, sagte sie so dicht an meinem Ohr, dass die Worte mit ihrem warmen feuchten Atem sanft in mich eindrangen.

»Warum?«, fragte ich.

Das Mädchen legte mir einen Finger auf die Lippen, um sie zu verschließen.

»Stellen Sie keine Fragen«, sagte sie. »Und öffnen Sie auch nicht die Augen. In Ordnung?«

Mein Nicken war so sanft wie ihre Stimme.

Sie nahm den Finger von meinen Lippen und legte ihn auf mein Handgelenk.

»Ich würde gern einmal einen Toten mit einem Skalpell aufschneiden. Es geht mir gar nicht darum, zu sehen, wie eine Leiche von innen aussieht. Eher hätte ich gern so etwas wie ein Segment des Todes. So etwas gibt es doch vielleicht. Etwas, was sich anfühlt wie ein Softball, elastisch und weich, die Nerven taub. Das würde ich gern mal aus einem Verstorbenen herausnehmen und aufschneiden. Ich denke immer darüber nach, wie so etwas wohl ist. Vielleicht ist was Hartes drin, so wie getrocknete Zahnpasta in einer Tube. Was meinen Sie? Egal, antworten Sie nicht. Außen ist es schwammig, und nach innen zu wird es immer härter. Also schneide ich zuerst die äußere Haut auf, nehme das schwammige Innere heraus und zerteile es mit dem Skalpell und so einer Art Spatel. Je näher ich der Mitte komme, desto fester wird die Konsistenz, bis ich am Ende auf einen kleinen Kern stoße. Rund wie eine Kugel aus einem Kugellager, klein und ganz hart.«

Das Mädchen räusperte sich einige Male.

»In letzter Zeit denke ich ständig darüber nach. Bestimmt weil ich jeden Tag freihabe. Wenn man nichts zu tun hat, kommen einem irgendwelche weit hergeholten Gedanken. Zu weit hergeholt, die sind so weit weg, dass man gar nicht hinterherkommt.«

Sie nahm ihren Finger von meinem Handgelenk und trank den Rest Cola aus. Am Klang der Eiswürfel hörte ich, dass das Glas leer war.

»Keine Sorge, ich halte Ausschau nach Ihrem Kater und sage Ihnen Bescheid, sobald ich Noboru Wataya entdecke. Also lassen Sie die Augen zu. Noboru Wataya streunt bestimmt irgendwo hier rum. Er wird gleich auftauchen. Er schleicht durchs Gras, schlüpft unter einer Hecke durch, bleibt stehen, schnuppert an irgendwelchen Blumen und kommt nach und nach näher. Rufen Sie sich das mal vor Augen.«

Aber alles, was ich mir vor Augen rufen konnte, war der verschwommene Umriss einer Katze, wie auf einer Gegenlichtaufnahme. Sonnenlicht drang durch meine Lider und zerstreute die Dunkelheit dahinter. So sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht, mir den Kater genau ins Gedächtnis zu rufen. Was ich in Erinnerung hatte, war wie ein missglücktes Porträt, verschwommen und unnatürlich. Bestimmte Merkmale hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Kater, aber das Entscheidende fehlte. Nicht einmal an seinen Gang konnte ich mich erinnern.

Das Mädchen legte noch einmal den Finger auf mein Handgelenk und beschrieb seltsame unbestimmte Linien. Wie als Reaktion darauf drang eine neue Art der Dunkelheit in mein Bewusstsein ein. Wahrscheinlich war ich kurz davor, einzuschlafen. Ich wollte nicht, aber ich konnte nicht anders. Schwer und träge lag mein Körper auf der Stoffbahn des Liegestuhls und fühlte sich an wie der Leichnam eines anderen Menschen.

In meinem Dämmerzustand war ich lediglich imstande, mir Noboru Watayas kurze Beine vorzustellen. Die Ballen seiner vier gummiweichen elastischen Pfoten. Irgendwo schritt er damit lautlos über den Boden.

Welchen Boden?

Zehn Minuten genügen, sagte die Frau am Telefon. Aber manchmal waren zehn Minuten eben keine zehn Minuten. Sie konnten sich in die Länge ziehen oder zusammenschrumpfen. Das wusste ich.

Beim Aufwachen war ich allein. Das Mädchen lag nicht auf dem Liegestuhl, den sie dicht neben meinen gerückt hatte. Handtuch, Zigaretten und Zeitschrift waren noch da, aber Colaglas und Kassettenrekorder waren verschwunden.

Die Sonne neigte sich schon gen Westen, und die Schatten der Eichenäste reichten mir bereits bis zu den Knien. Laut meiner Armbanduhr war es Viertel nach vier. Ich richtete mich auf und ließ meinen Blick über den Rasen, den ausgetrockneten Teich, die Hecken, den steinernen Vogel, die Goldrauten und die Fernsehantenne schweifen. Keine Katze in Sicht. Und auch das Mädchen nicht.

Von meinem Liegestuhl aus beobachtete ich den Katzenpfad und wartete darauf, dass das Mädchen zurückkam. Aber auch nach zehn Minuten tauchten weder eine Katze noch das Mädchen auf. Nichts rührte sich. Ich hatte das Gefühl, im Schlaf schrecklich gealtert zu sein.

Ich stand auf und sah zum Haus. Doch auch dort war niemand. In der Scheibe eines Erkers spiegelte sich gleißend die westliche Sonne. Ratlos ging ich über den Rasen in die Gasse und nach Hause. Ich hatte den Kater zwar nicht gefunden, aber immerhin nach ihm gesucht.

Zu Hause nahm ich die Wäsche ab und machte mir eine Kleinigkeit zu essen. Um halb fünf läutete zwölf Mal das Telefon, aber ich hob nicht ab. Auch nachdem es aufgehört hatte, schwebte der Nachhall noch wie Staub im Halbdunkel des Zimmers. Die Standuhr tickte gleichsam mit harten Krallen auf ein unsichtbares Brett im Raum.

Wie wäre es, wenn ich ein Gedicht über Aufziehvögel schreiben würde?, dachte ich plötzlich. Leider wollte mir partout keine erste Zeile einfallen. Außerdem konnte ich mir kaum vorstellen, dass Oberschülerinnen Vergnügen an einem Gedicht über Aufziehvögel fänden.

Es war schon halb acht, als Kumiko nach Hause kam. Das geschah in den letzten Wochen immer häufiger. Nicht selten wurde es nach acht, mitunter sogar nach zehn. Was auch daran lag, dass sie sich nicht zu beeilen brauchte, weil ja ich zu Hause war und Essen zubereitete. Sie seien ohnehin knapp an Arbeitskräften, erklärte sie mir, und nun falle auch noch ein Kollege wegen Krankheit aus.

»Tut mir leid, wir sind einfach nicht fertig geworden«, sagte sie. »Und diese Aushilfe ist überhaupt keine Hilfe.«

Ich stand in der Küche, briet Fisch in Butter, machte Salat und Misosuppe, während meine Frau erschöpft am Tisch saß.

»Ich hatte gegen halb sechs einmal angerufen, um dir zu sagen, dass es später wird«, sagte sie. »Warst du unterwegs?«

»Wir hatten keine Butter, also habe ich welche geholt«, log ich.

»Warst du auch auf der Bank?«

»Natürlich«, sagte ich.

»Und der Kater?«

»Nicht gefunden. Ich habe in der Gasse vor dem leerstehenden Haus gesucht, wie du es mir geraten hattest. Aber keine Spur von ihm. Meinst du nicht, er treibt sich irgendwo weiter weg rum?«

Kumiko sagte nichts.

Als ich nach dem Essen aus dem Bad kam, saß sie im Dunkeln. Sie hatte alle Lichter im Wohnzimmer gelöscht. Wie sie so in ihrem grauen Hemd dort kauerte, wirkte sie wie ein am falschen Ort zurückgelassenes Gepäckstück.

Ich trocknete mir mit einem Badetuch die Haare und setzte mich ihr gegenüber aufs Sofa.

»Der Kater ist bestimmt tot«, sagte sie leise.

»Ach was«, erwiderte ich. »Der vergnügt sich irgendwo. Sobald er Hunger kriegt, kommt er wieder. Das war doch schon mal so. Weißt du noch? Damals, als wir noch in Koenji gewohnt haben …«

»Jetzt ist es anders. Diesmal geht es nicht gut aus. Das weiß ich. Der Kater ist tot und verwest irgendwo im Gebüsch. Hast du auch bei dem leerstehenden Haus im Gebüsch nachgesehen?«

»Na hör mal, das Haus steht zwar leer, aber es gehört jemandem. Ich kann da nicht einfach im Garten herumstöbern.«

»Aber wo hast du denn dann überhaupt gesucht?«, fragte meine Frau. »Bestimmt hast du gar nicht richtig gesucht. Und ihn deshalb nicht gefunden.«

Seufzend rubbelte ich mir weiter das Haar mit dem Handtuch. Ich wollte etwas sagen, ließ es aber, als ich merkte, dass Kumiko weinte. Da war nichts zu machen. Wir hatten den Kater seit unserer Hochzeit, und sie hing sehr an ihm. Ich warf das Handtuch in den Wäschekorb, ging in die Küche und holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Ein blöder Tag. Ein blöder Tag in einem blöden Monat in einem blöden Jahr.

Noboru Wataya, wo bist du? Hat der Aufziehvogel dich nicht aufgezogen?

Das eignete sich doch für ein Gedicht!

Wataya Noboru

Sag mir, wo bist du?

Hat der Aufziehvogel

Beim Aufziehen gemogelt?

Als ich mein Bier zur Hälfte ausgetrunken hatte, klingelte das Telefon.

»Geh du bitte dran!«, rief ich ins dunkle Wohnzimmer.

»Keine Lust. Mach du«, sagte Kumiko.

»Auch keine Lust.« Also klingelte das Telefon unentwegt weiter und wirbelte den Staub auf, der sich in der Dunkelheit abgelagert hatte. Weder Kumiko noch ich sagten ein Wort. Ich trank weiter mein Bier, Kumiko weinte lautlos weiter. Ich zählte zwanzig Klingeltöne, dann gab ich auf, es hatte ja keinen Sinn, bis in alle Ewigkeit weiterzuzählen.

2.VOLLMOND UND SONNENFINSTERNIS

VON PFERDEN, DIE IN STÄLLEN STERBEN

Ist es möglich, dass ein Mensch einen anderen ganz und gar versteht?

Anders gefragt: Wie nah können wir einer anderen Person kommen, wenn wir uns Zeit nehmen und uns ernsthaft bemühen? Wissen wir wirklich etwas Entscheidendes über die Menschen, die wir so gut zu kennen glauben?

Etwa eine Woche nachdem ich in der Kanzlei aufgehört hatte, begann ich intensiv über diese Frage nachzudenken. In meinem bisherigen Leben hatte ich mich nie mit derartigen Fragen beschäftigt. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich, weil ich alle Hände damit zu tun hatte, mein Leben zu organisieren. Vielleicht war ich auch zu beschäftigt damit gewesen, über mich selbst nachzudenken.