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MADELEINE ALBRIGHTS MUT ZUM EIGENEN WEG – IN JEDEM ALTER

Als Madeleine Albrights Amtszeit als Außenministerin der USA 2001 zu Ende ging, sprühte die 63-Jährige vor Ideen. Sie gründete ein politisches Beratungsunternehmen, lehrte an der Universität, unterstützte Hillary Clinton bei den Vorwahlen, schrieb Bücher und hielt viele aufsehenerregende Reden.

In ›Die Hölle und andere Reiseziele‹ erzählt sie von ihrer persönlichen Entwicklung, aber auch von den politischen Ereignissen jener Jahre: von den Anschlägen des 11. Septembers, der Rolle der USA in der Golfregion, von der Finanzkrise, den Vereidigungen dreier sehr unterschiedlicher Präsidenten und dem Erstarken antidemokratischer Tendenzen in zahlreichen Ländern, auch in den USA.

Ihr Blick zurück liest sich zudem als Geschichte einer Selbstermächtigung: Bis 1982 unterstützte die promovierte Politik- und Rechtswissenschaftlerin und Mutter von drei Töchtern vor allem die Karriere ihres Mannes, des Journalisten Joseph Medill Patterson Albright, und engagierte sich nur im Hintergrund bei den Demokraten. Erst nach der Scheidung startete sie beruflich richtig durch und fand den Mut zur eigenen, manchmal auch unpopulären Stimme.

»Madeleine Albrights Stimme ist mächtig in diesen Zeiten!« Barbra Streisand

MADELEINE ALBRIGHT wurde 1937 als Marie Jana Korbelová in Prag geboren. Ihre Familie emigrierte 1948 in die USA. Sie war von 1997 bis 2001 unter Präsident Bill Clinton Außenministerin der USA. Seit den Siebzigerjahren prägte Albright die amerikanische Innen- und Außenpolitik als Mitglied der Demokratischen Partei. Von 1978 bis 1981 war sie Mitglied des US-amerikanischen Nationalen Sicherheitsrats und ab 1993 US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Seit 2001 ist sie als Universitätsdozentin tätig und leitet eine Consulting-Firma in Washington. Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt ist Albright weiterhin eine wichtige Stimme der internationalen Politik. 2018 erschien ihr Buch ›Faschismus. Eine Warnung‹ bei DuMont.

BERNHARD JENDRICKE arbeitet seit mehr als dreißig Jahren beim Übersetzerkollektiv Druck-Reif. Er übersetzte u. a. Texte von Clare Clark, Frank Stella, Gore Vidal, Adam Grant, Hillary Clinton und Christopher Wylie.

THOMAS WOLLERMANN ist ebenfalls Mitglied des Übersetzerkollektivs Druck-Reif. Gemeinsam mit Bernhard Jendricke übersetzte er Texte von Noam Chomsky, Peter Heather und Christopher Wylie.

MADELEINE
ALBRIGHT

Zusammen mit Bill Woodward

DIE HÖLLE UND ANDERE REISEZIELE

Eine Autobiografie im 21. Jahrhundert

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann

Imagepub

 

An das Leben

 

Im Theater liebe ich den Auftritt, den Abgang und die Wiederkehr, das Hinein- und Heraustreten aus den Kulissen auf die Bühne und von der Bühne in die Kulissen, die Sprünge von einer Welt in die andere. Und auf der Bühne Tore, Zäune, Mauern, Fenster und selbstverständlich Türen. Das sind die Grenzen der Welten, Schnitte durch Raum und Zeit, Nachrichten über ihre Krümmung, Anfänge und Enden. Jede Wand oder Tür sagt uns, dass etwas dahinter ist. Sie erinnern uns daran, dass hinter jedem Dahinter immer noch ein weiteres Dahinter ist. Indirekt fragen sie eigentlich, was hinter dem letzten Dahinter ist, womit sie im Grunde das Thema des Geheimnisses des Alls und des Seins überhaupt ansprechen. Glaube ich zumindest.

Václav Havel, Abgang. Schauspiel in fünf Akten1

INHALT

Vorwort

1   Nachleben

2   Sprechübungen

3   Von Grund auf

4   »Schreibe nicht im Zorn«

5   Treibsand

6   Willkommen im Club

7   Professorin Maddy

8   Unter Bullen und Bären

9   Wege zur Demokratie

10   Erste Schritte aus der Armut

11   Unergründliche Dinge

12   Ratschläge und Einwände

13   Gefährten

14   Diplomatie auf Sparflamme

15   Duell bei der Präsidentschaftsvorwahl 2008

16   Ein neuer Anfang

17   Denken und Handeln

18   Aus dem Schmuckkästchen geplaudert

19   Eine Allianz fürs Leben

20   Starke Frauen, starke Zukunft

21   Problemlösungen

22   Inferno

23   R-E-S-P-E-C-T

24   »Du bist genau wie deine Großmutter«

25   Abgang

26   Die Wiege der Zivilisation

27   Außer Atem

28   Mitternacht

29   Eine Warnung

30   Unberechenbar

31   Erneuerung

32   Licht und Schatten

Tagebuch der Růžena Spieglová

Dank

Anmerkungen

Register

VORWORT

Von alters her wissen wir Menschen viel über die Hölle zu erzählen. Die zwölfte Arbeit des Herkules bestand darin, den mehrköpfigen Höllenhund Zerberus zu bezwingen, der den Eingang zur Unterwelt bewachte. Dante wählte die Hölle als Ausgangspunkt für eine der abenteuerlichsten Reisen in der Literatur. Mark Twain riet, des Klimas wegen das Paradies aufzusuchen; doch die interessantere Gesellschaft sei in der Hölle zu finden. Wir verwenden das Wort »Hölle«, wenn wir fluchen und schimpfen. Dinge tun höllisch weh, und manchmal muss man höllisch aufpassen. Im US-Bundesstaat Michigan gibt es einen Ort namens Hell, ironischerweise ist es dort im Winter eiskalt.2 Aber um nicht abzuschweifen: Den Satz »Die Hölle hält ein Plätzchen für Frauen bereit, die anderen Frauen nicht helfen«, habe ich so oft wiederholt, dass Starbucks ihn auf einen Kaffeebecher drucken ließ. Daher der Titel dieses Buches.

Wir müssen unweigerlich sterben, doch nicht jedes Reiseziel ist das endgültige. Wir verbringen unsere Zeit mit großen und kleinen Projekten, die stets in unterschiedlichen Stadien sind. Die Tatsache, dass wir sie in gestundeter Zeit verfolgen, steigert nur unser Bestreben, rasch voranzukommen. Wir trachten danach, viel zu vollbringen, das lobenswert ist und Beifall findet; und seit dem Tag, als unsere urzeitlichen Vorfahren damit begannen, Bilder auf Höhlenwände zu malen, drängt es uns, ein Zeugnis unseres Denkens, Handelns und Fühlens zu hinterlassen.

In meiner 2003 erschienenen Autobiografie Madam Secretary schreibe ich über meine mittleren Lebensjahre, vor allem über meinen Werdegang als Diplomatin im Dienst der Vereinigten Staaten – anfangs als Botschafterin bei den Vereinten Nationen und schließlich als Außenministerin. In dem jüngeren Erinnerungsbuch Winter in Prag beschäftige ich mich mit meiner Kindheit in Europa und den Prüfungen, denen die Generation meiner Eltern durch den Weltkrieg und den Holocaust ausgesetzt war. In Die Hölle und andere Reiseziele schildere ich nun meine Erfahrungen bei dem Versuch, durch den dritten Akt des Lebens zu steuern – um zugleich einen kurzen Blick in die Zukunft zu werfen.

Anfang 2001, als sich meine Amtszeit im Außenministerium dem Ende näherte, stellte ich mir oft die Frage: Was kommt danach? Ich war erst 63 Jahre alt und noch nicht bereit für den Schaukelstuhl. Wenn ich in Interviews gefragt wurde, wie ich den Menschen in Erinnerung bleiben wolle, entgegnete ich, dass das überhaupt kein Thema für mich sei. Schließlich gab es mich ja noch leibhaftig, und ich hatte mir auch noch eine ganze Menge vorgenommen.

Der erste Schritt war natürlich, eine Prioritätenliste aufzustellen, aber ich halte nichts davon, Dinge auszuschließen. Bei meiner Vorbereitung auf das, was ich als mein »Nachleben« im Anschluss an mein Regierungsamt bezeichnete, hielt ich mir daher alle Möglichkeiten offen – mit welchem Ergebnis, werde ich auf den folgenden Seiten schildern.

Es gibt viele Ratgeberfibeln, die uns sagen, wie wir am besten die uns zugewiesene Zeit auf Erden verbringen. Manche Experten raten uns, positiv zu denken, zu meditieren, fettes Essen zu meiden, sich nicht über Kleinigkeiten aufzuregen und niemals ohne Schusswaffe aus dem Haus zu gehen. Mein Buch gehört nicht zu diesen Selbsthilfe-Episteln. Es ist vielmehr eine Sammlung von Geschichten, geprägt von der Erkenntnis, dass wir alle viel voneinander lernen können, über einzigartige Eigenschaften verfügen und dafür keine perfekten Vorbilder sein müssen. Wie Sie feststellen werden, läuft mein innerer Motor auf Hochtouren; ich bin fast immer beschäftigt. Vielleicht ist das bei Ihnen ebenfalls so, vielleicht auch nicht. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Seien Sie aber gewarnt: Die Geschichten, die ich erzählen werde, sind Produkte meiner Erinnerung und daher ungebärdig; sie springen von einem Thema zum anderen, tauchen abwechselnd in Früheres und Späteres ein und wechseln abrupt zwischen Freude und Trauer. Es gibt einen guten Grund, warum die alten Griechen für das menschliche Drama zwei Masken verwendeten – die der Tragödie und die der Komödie.

Unser Streben speist sich natürlich aus unseren Interessen, in meinem Fall einer unermüdlichen Beschäftigung mit der Weltpolitik. In den Jahren, die im Zentrum dieses Buches stehen, erlebten wir die Schrecken des 11. Septembers, die US-Invasion im Irak, eine verheerende globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die Politik dreier sehr unterschiedlicher amerikanischer Präsidenten und das Wiedererstarken antidemokratischer Strömungen in zahlreichen Ländern einschließlich der Vereinigten Staaten. Diese Ereignisse bilden den Hintergrund der folgenden Geschichten, wobei sich manche im Licht der Weltöffentlichkeit abspielten, während andere persönlicherer Natur und einige sogar ein wenig peinlich sind.

Vor einigen Jahren hatte ich Ärger mit dem britischen Zoll. Völlig übermüdet nach einem langen Nachtflug, musste ich aus der Schlange heraustreten und warten. Dann befahl mir ein Beamter in schneidendem Kommandoton, meine Koffer sowie sämtliche kleineren Taschen zu öffnen, die sich darin befanden. Mir ist wie jedem sehr an Sicherheit gelegen, aber ich war fast 80 Jahre alt, gesegnet mit einem harmlosen, wenn auch faltigen Gesicht, hatte einen Termin und war bereits zu spät dran. »Warum ich?«, murmelte ich. Minuten verstrichen, während die Beamten einfach herumstanden und die Umstehenden miteinander tuschelten, auf mich deuteten und sich wohl ausmalten, was ich angestellt haben musste, um solch eine Behandlung zu verdienen. Schließlich hatte sich so viel Ärger in mir angestaut, dass ich mir nicht zu schade war, meine Prominenz gegenüber meinen wichtigtuerischen Quälgeistern herauszukehren: »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?«

So, dachte ich, das sollte genügen.

»Nein«, erwiderte der Beamte mitleidig, »aber wir haben hier Ärzte, die Ihnen helfen können, es herauszufinden.«

1

NACHLEBEN

Der Januar 2001 markierte den Beginn eines neuen Jahrhunderts und den Abschluss meiner Amtszeit als 64. Außenministerin der Vereinigten Staaten. Ich gebe selten zu, mich müde zu fühlen, aber damals war ich ein wenig ausgelaugt. Jahrelang hektische Flugreisen, zu wenig körperliche Bewegung, zu viele offizielle Diners und Schalen voller Taco-Salat auf dem Heimflug hatten meinem mitteleuropäischen Körper ihren Tribut abverlangt. Ich wuchs wie ein alter Baum: in die Breite, nicht in die Höhe. Ein Washingtoner Kolumnist verglich mich einmal scherzhaft mit einem Iglu.

Ein etwas entspannterer Terminkalender würde mir gewiss guttun, dennoch wollte ich nicht, dass mein Job endete. Ich genoss jede hektische Minute, den pausenlosen Beschuss mit Fragen, die ständig wechselnden Gruppen, mit denen ich Gedanken austauschte, und ganz besonders die Überzeugung, dass mein Reden und Handeln eine Bedeutung hatte, die über meinen eigenen Tellerrand hinausging.

Eine spannende Aufgabe gibt einem die Energie wieder, die sie verbraucht. Schon morgens beim Aufwachen lief mein Hirn auf Hochtouren. Bereits beim Kaffee führte ich Telefongespräche, machte mir Notizen und sog das berauschende Aroma der Eilmeldungen ein. Beim Aufwachen zu erfahren, dass gerade eine internationale Krise heraufzieht oder sich eine Chance für diplomatischen Einsatz abzeichnet, und zu wissen, dass man dabei mitentscheiden kann, macht süchtig – und wenn man Süchtigen ihre übliche Droge entzieht, suchen sie sich einen neuen Kick.

In einem Zusatzartikel der US-Verfassung ist festgelegt, dass die Amtseinführung des Präsidenten am 20. Januar stattfindet. Punkt zwölf Uhr mittags gelobt der neue Präsident, die Pflichten seines Amtes gewissenhaft zu erfüllen, und ab da erwartet sein Team, dass die Vorgänger ihren Platz geräumt haben. Als die Stunde des Aufbruchs näher rückte, tröstete mich der Gedanke, dass ich mich bei der Erfüllung meiner Pflichten noch nie wohler gefühlt hatte. Acht Jahre im Außenministerium hatten mir die denkbar beste Ausbildung in internationaler Politik verschafft. Mir war zumute wie einer Studienabsolventin, die lange Nächte am Schreibtisch bestens auf eine Karriere vorbereitet hatten, nicht wie einer grauhaarigen Schauspielerin, deren Zeit auf der Bühne sich dem Ende zuneigte. Während meiner Amtszeit hatte ich gelernt zu verhandeln, mit der Presse umzugehen, die Welt aus dem Blickwinkel des Auslands zu betrachten und unablässig über die Lösung globaler Probleme nachzudenken. Jeden Morgen, wenn ich aus dem Aufzug trat und meinen Schreibtisch ansteuerte, warteten bereits tatkräftige Kollegen darauf, mit mir zusammen entscheidende Aufgaben anzupacken.

Ich wollte mehr. Trotz meiner Erschöpfung wünschte ich, die Zeit würde langsamer vergehen, sodass ich das Maximum aus jeder Stunde und aus jedem Meeting schöpfen könnte. Im Weißen Haus erklärte Präsident Clinton ausländischen Staatschefs, deren Amtszeit die seine überdauerte, wie sehr er sie beneide. Auch er wollte so viel Produktivität wie möglich entfalten. Noch erwachten neue Tage mit Rosenfingern, doch dann zogen immer allzu schnell Dämmerung und Dunkelheit herauf.

Während die Ziellinie näher rückte, kamen mir Bilder aus der jüngeren Vergangenheit in den Sinn – die Außenminister Ungarns, Polens und Tschechiens, wie sie den Beitritt ihrer Länder zur NATO feierten; Zivilisten aus dem Kosovo, die uns für die Rettung ihrer Heimat vor den ethnischen Säuberungen und dem Terror dankten; der an Lymphdrüsenkrebs leidende, abgemagerte jordanische König, der kurz vor seinem Tod die Verhandlungsführer der Israelis und Palästinenser beschwor, die Chance auf einen Friedensschluss zwischen ihren Völkern nicht zu verspielen; Frauen in Saris, Burkas und anderen traditionellen Gewändern, die Gleichberechtigung forderten und schließlich allmählich Gehör fanden; und eine Feier am 4. Juli vor dem Portal von Monticello, wo ich frischgebackenen Mitbürgern ihre Einbürgerungsurkunden überreichte, Mitbürgern mit typisch amerikanischen Namen wie Martínez, Kim, Yang, Thieu, Hassan, Kabila, Waleski, O’Malley, Stern, Garcia und Marconi. Später hörte ich einen von ihnen zu seinen Angehörigen sagen: »Ist es denn zu glauben? Ich komme als Flüchtling in die Vereinigten Staaten, und jetzt überreicht mir die Außenministerin meine Einbürgerungsurkunde!« Ich trat zu ihm und sagte, auf meine tschechoslowakische Herkunft verweisend: »Ist es denn zu glauben? Die Außenministerin ist selbst ein Flüchtling!«

Mit dem zwölften Glockenschlag musste ich den Ball verlassen. Die Regeln waren klar, verankert in Dokumenten, die von allen demokratisch gesinnten Menschen geschätzt wurden. Meine Dankbarkeit gegenüber Präsident Clinton für das Vertrauen, das er in mich gesetzt hatte, ließ sich nicht mit Worten ausdrücken. Selbst in jenen Momenten, in denen die ganze Welt verrückt geworden schien, fesselte und faszinierte mich die Herausforderung. An jenem letzten Vormittag am Schreibtisch zog ich ein Blatt Briefpapier aus der oberen Schublade und hinterließ meinem Nachfolger Colin Powell eine Notiz:

Lieber Colin,

wir haben uns alle Mühe gegeben und hoffen, dass das Büro bei Ihrer Ankunft blitzblank ist. Es wird aber nach wie vor den Geist unserer Vorgänger beherbergen, die es allesamt als die größte Ehre ansahen, die Vereinigten Staaten zu repräsentieren. Somit gebe ich den besten Job der Welt an Sie weiter. Viel Glück und mit den besten Wünschen,

Madeleine

Wenn wir älter werden und die Vergangenheit immer länger wird, erinnern wir uns an die Stationen unseres Lebens: quäkendes Baby, quengelndes Kind, seufzende Liebende, Multitasking-Mutter, erfolgreiche Familienernährerin und so weiter. Die Erfahrung lehrt, dass der Wechsel von der einen Rolle zur nächsten nicht immer einfach ist. Ich war mir sicher, nach meinem Abschied aus dem Außenministerium würden sich sowohl mein Selbstgefühl als auch mein Ansehen bei anderen Menschen verändern.

Aber dieses Mal war ich zumindest auf den Übergang vorbereitet. Zwei Jahrzehnte zuvor war dies nicht der Fall gewesen. An einem verschneiten Morgen im Januar 1982 bat mich mein Mann Joe Albright ins Wohnzimmer. »Unsere Ehe ist tot«, eröffnete er mir, »und ich habe mich in jemand anderen verliebt.« Nur ein einziger Satz, ein Dutzend ruhig ausgesprochene Worte von einem Gewicht, das mich fast zermalmt hätte. Wir waren seit 23 Jahren verheiratet. In dieser Zeit war jeder meiner Gedanken von der Erwartung durchdrungen gewesen, dass uns nur der Tod scheiden konnte. Wie die meisten Ehen war auch die unsere nicht immer ein Märchentraum gewesen, aber ich hatte viele schöne Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit und keine Ahnung, dass Joe alles ganz anders sah. An ihm als Ehemann oder als Vater unserer drei Töchter gab es nichts auszusetzen; dass er eine andere Frau gefunden hatte, die er mir vorzog, war einfach nur schrecklich.

Die Ironie an der Geschichte: Wären wir nicht geschieden worden, wäre ich höchstwahrscheinlich niemals Außenministerin geworden. Sechs Jahre zuvor, 1976 mit 39, hatte ich im Mitarbeiterteam eines Senators meine erste Stelle in Washington angetreten. Von dort kam ich in den Stab des Nationalen Sicherheitsrats unter Präsident Jimmy Carter. Mir war daran gelegen, einen Beruf auszuüben, aber ich unterstützte auch Joes Ziele als Journalist. Ich sah mich selbst als versierte Zuarbeiterin und Stellvertreterin, aber nicht als Person mit starker, eigenständiger Stimme. Aufgrund meines späten Starts war ich auch älter als die meisten, die auf einer vergleichbaren Karrierestufe standen. In der Zeit, die mir noch blieb, konnte ich nicht erwarten, besonders weit aufzusteigen. Die Scheidung und ihre Folgen versetzten meinem ohnehin nicht sonderlich ausgeprägten Selbstvertrauen einen harten Schlag.

Eine Zeit lang konnte ich weder mich selbst klar sehen noch erkennen, welche Richtung ich einschlagen sollte. Ich wusste nicht, wie sich das Leben als alleinstehende erwachsene Frau anfühlte, weil ich nie in dieser Lage gewesen war. Joe und ich hatten nur drei Tage nach meinem Studienabschluss am Wellesley College geheiratet. Jetzt, nach mehr als 20 Jahren, gab es plötzlich kein »wir« mehr, an das man denken und für das man planen konnte.

Dann geschah etwas, das ich nicht vorhergesehen hatte: Das Wort »ich« begann eine tiefere, stärkere Bedeutung zu gewinnen. Dieser Wandel vollzog sich langsam, denn es dauert Monate und länger, bis jahrelange Gewohnheiten verblassen. Aber schließlich lernte ich den Geschmack der Freiheit kennen, was für mich eine völlig neue Erfahrung war. Nun musste ich meine Termine, das Einkaufen, Kochen oder meine Gemütslage nicht mehr auf meinen Mann hin ausrichten. Im Laufe der Zeit machte ich mich frei von dem Bedürfnis, bei einer anderen Person Bestätigung zu suchen. Unterstützt von meiner Familie und Freunden löste ich mich von dem Gefühl der Unzulänglichkeit, das mich zuvor niedergedrückt hatte. Stattdessen entwickelte ich meinen eigenen Maßstab dessen, was ich konnte und sollte.

Da meine Kinder fast schon erwachsen waren und Joe nun meiner Vergangenheit angehörte, stürzte ich mich ohne Schuldgefühle in Aktivitäten, die mir jetzt genau das Richtige für mich schienen. Schon bald begann ich eine Lehrtätigkeit an der Georgetown University und beriet Kandidaten der Demokratischen Partei im Wahlkampf. 1984 wurde ich Vizevorsitzende des neu gegründeten National Democratic Institute und einige Jahre später Leiterin einer Denkfabrik. Im Jahr 1993, nach der Wahl Bill Clintons, folgte der große Sprung in die Regierung als Botschafterin der USA bei den Vereinten Nationen; dann, vier Jahre später, das Amt als Außenministerin. Im Januar 2001, als ich im Alter von 63 Jahren ausschied, stand ich an der Schwelle zu einem weiteren Übergang: Ich musste mir einen neuen Arbeitsbereich suchen.

Inmitten aller Unsicherheiten war eines klar: Es hatte eine lange Zeit gebraucht, bis ich meine Stimme gefunden hatte; und nachdem ich das geschafft hatte, wollte ich sie auch nutzen. Aber wie verschaffte man sich am besten Gehör? Was blieb einer ehemaligen Außenministerin noch zu tun?

In den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Vereinigten Staaten war die Position des Chefdiplomaten ein Sprungbrett ins Weiße Haus gewesen. Angefangen mit Thomas Jefferson waren fünf der ersten zehn Außenminister später Präsident geworden. Zwischen den 1850er-Jahren und 2000 gelang dies jedoch lediglich James Buchanan, einem Befürworter der Sklaverei aus Pennsylvania, und er hatte miserabel regiert. Ein halbes Dutzend andere hatten vergeblich versucht, ins Oval Office einzuziehen. Der ehemalige Außenminister Edward Everett kandidierte für das Amt des Vizepräsidenten, unterlag aber dem von Abraham Lincoln favorisierten Bewerber. Drei Jahre später war der hochgebildete Everett Hauptredner bei der Einweihung eines Soldatenfriedhofs auf dem Bürgerkriegsschlachtfeld von Gettysburg; Präsident Lincoln sprach erst nach ihm. Später bekannte Everett freimütig, er habe in zwei Stunden nicht das sagen können, wofür Lincoln zwei Minuten gebraucht habe.

Wie mein Vorgänger Henry Kissinger bin ich im Ausland geboren und kann mich deshalb laut Verfassung nicht um das Präsidentenamt bewerben, zumindest nicht in den Vereinigten Staaten. Václav Havel schlug mir vor, meine vor langer Zeit erfolgte Reise über den Atlantik noch einmal in umgekehrter Richtung anzutreten und ihm als Präsident der Tschechischen Republik nachzufolgen. Das schmeichelte mir, und die Vorstellung, in der berühmten Burg über Prag zu residieren, war äußerst reizvoll, doch ich konnte nicht glauben, dass das tschechische Volk mich haben wollte. Außerdem war ich schon seit Langem amerikanische Staatsbürgerin.

Natürlich gab es noch andere Optionen als nur die Präsidentschaft. Bei William Jennings Bryan etwa folgte eine lange zweite Karriere als Verleger, Dozent und Immobilienhändler in Florida. Als Assistent des Staatsanwaltes stand er 1925 dem berühmten Anwalt Clarence Darrow gegenüber, der John Thomas Scopes gegen den Vorwurf verteidigte, Darwins Evolutionstheorie in der Schule gelehrt zu haben, was in Tennessee verboten war. In dieser viel beachteten Machtprobe zwischen Wissenschaft und presbyterianischem Fundamentalismus konnte Bryan zwar eine Verurteilung bewirken, aber um zu zeigen, dass er nicht nachtragend war, erklärte er sich dazu bereit, einen Teil des Bußgelds von 100 Dollar, zu dem Scopes verurteilt wurde, zu übernehmen.

Ebenso legendär ist die Spendenkampagne von William Maxwell Evarts, Außenminister von 1877 bis 1881, der eine Sammlung für den Sockel der Freiheitsstatue organisierte. Als sich die wohlhabende Bevölkerung eher zugeknöpft zeigte, wandten sich Evarts und der Zeitungsmogul Joseph Pulitzer an die Öffentlichkeit. Sie betonten, dass die Statue vom französischen Volk finanziert worden sei, »von Arbeitern, Händlern, Ladenmädchen, Handwerkern … Sie ist kein Geschenk der französischen Millionäre an die amerikanischen Millionäre, sondern ein Geschenk des gesamten französischen Volks an das gesamte amerikanische Volk.«3 Auf diesen Aufruf hin schickten mehr als 125 000 Bürger, darunter viele Schulkinder, ihre pennies und dimes und retteten damit das Projekt, durch das die Welt eines ihrer überzeugendsten Freiheitssymbole erhielt.

Am 21. Januar 2001 endete meine Amtszeit, und ich war bereit, dem Beispiel meiner Vorgänger zu folgen – oder auch nicht. Gewiss, ich hatte Anspruch auf Sozialleistungen und Seniorenrabatt beim Kauf einer Eintrittskarte fürs Kino, aber ich war gesund und entschlossen, mich besser in Form zu bringen. Mein Haar hatte wieder seinen natürlichen Farbton angenommen, wenngleich mithilfe unnatürlicher Mittel; aber abgesehen davon war ich nicht an außergewöhnlichen Maßnahmen interessiert. Als mir eine Frau – halb Salonlöwin, halb Journalistin – auf einer Party erklärte, wie »tapfer« sie es finde, dass ich mich nicht hätte liften lassen, war ich versucht, sie meinerseits für den Mut zu loben, sich mit dem Ergebnis ihres Faceliftings in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Ich bin praktisch veranlagt; am besten gefällt es mir, wenn man mich als Problemlöserin oder Macherin beschreibt. Jeden Morgen durchstöbere ich die Zeitungen nach interessanten Themen und finde auf fast jeder Seite eines. Für mich besteht das Leben zu einem großen Teil daraus, Dinge zu durchschauen, und die Art Rätsel, die mich als Außenministerin beschäftigt hatte, gehört stets dazu. Manchmal begegne ich Menschen, die darüber klagen, dass ein Tag wie der andere sei. Wahrscheinlich kennen Sie selbst solches Gejammer zur Genüge, doch das ist nichts für mich. Selbst wenn nichts Dramatisches im Gange ist, gibt es immer eine kleine Verschiebung im Kaleidoskop. Wie kann man sich in einer Welt langweilen, in der man ständig eine Milliarde Beispiele von menschlichem Einfallsreichtum und Mitgefühl, von ebensolcher Eigenart und Sturheit vor Augen hat? Sich selbst ins Abseits stellen ist für mich keine Option. In meinem persönlichen Wörterbuch des Jahres 2001 war »Ruhestand« ein unanständiger Begriff.

Ich war immer noch in Eile. Nicht, dass ich über die Sterblichkeit nachgegrübelt hätte. Wenn dieses Thema zur Sprache kam, wurde ich oft dafür gerügt, dass ich »falls ich sterbe« sagte und nicht »wenn«. Aber mir waren die Gesetze der Biologie durchaus bewusst, und ich konnte rechnen. Ich wusste nicht, ob die Abenteuer, die mich in meinem »Nachleben« erwarteten, drei Jahre dauern würden oder fünf oder zehn oder gar noch länger. Was ich jedoch wusste, war: Je früher ich es anpackte und je schneller ich Fortschritte machte, desto mehr konnte ich schaffen.

Beim Nachdenken über die nächsten Schritte kamen mir Bedenken. Ich wollte dieselben Ziele verfolgen, die mir schon als Ministerin wichtig gewesen waren, einschließlich der Förderung der Demokratie und der Mitwirkungsmöglichkeiten von Frauen. Auch hoffte ich, den freundlichen Urteilen gerecht zu werden, die viele über mich geäußert hatten. Ich wollte sie zufriedenstellen, nicht enttäuschen. Ob dieses Bestreben zu gefallen Symptom meiner angeborenen Freundlichkeit oder meiner chronischen Unsicherheit war, mögen andere beurteilen.

Während meiner Amtszeit hatte mich das Gefühl beschlichen, dass ich einen Zwilling hatte – eine Doppelgängerin, die mir meinen Namen entwendet hatte und deren Reden und Handeln Menschen, denen ich nie begegnet bin, wichtig war. Diese andere Madeleine Albright war nicht die vertraute, die ich jeden Morgen meines Lebens im Spiegel sah; sie war ein eigenes Wesen mit dem gleichen Körper wie meinem, die man bat, Reden vor Universitätsabsolventen zu halten und ihren Namen für ehrenwerte Zwecke herzugeben. Auch wurden ihr Preise einfach schon dafür verliehen, dass sie auf dem Podium erschien. Dies war die hochherzige Doppelgängerin, von der die Leute sprachen, wenn sie mich auf einer Veranstaltung vorstellten, ein Ich, das ich in ruhigeren Momenten nicht immer wiedererkannte. Die öffentlichere Madeleine hätte zum Beispiel niemals zugegeben, dass es ihr Spaß gemacht hatte, in ihren Zwanzigern auf Wachteljagd zu gehen oder in ihren Dreißigern einen Pelzmantel zu tragen.

Während ich also Pläne schmiedete, war ich entschlossen, beiden Identitäten Raum zu geben: die Wiederherstellung des Privatlebens zu genießen und gleichzeitig zu versuchen, mich nützlich zu machen.

Zum Glück war ich in jenem Januar nicht die Einzige, die sich auf einen Neustart vorbereitete. Vielen Mitgliedern des Teams, das ich während meiner Zeit in der Regierung um mich versammelt hatte, ging es ebenso. Es waren Männer und Frauen, deren Können und Freundschaft ich schätzte und die ich nicht verlieren wollte. Ich hoffte eine Möglichkeit zu finden, wie wir zusammenbleiben konnten – und das bedeutete, Projekte zu entwickeln, in denen sie ihr Talent erproben könnten und die genügend Einnahmen abwerfen würden, damit sie nicht anderswohin abwanderten. Auch mit vielen Diplomatenkollegen im Ausland hatte ich Verbindungen geknüpft, die ich unbedingt aufrechterhalten wollte.

Welche Optionen gab es? Ich ging davon aus, dass ich Reden halten konnte, und war fest entschlossen, ein Erinnerungsbuch zu schreiben. Ich konnte an die Universität zurückkehren. Mit einigen Kollegen diskutierte ich die Idee, eine kleine, hauptsächlich von Frauen geleitete Beratungsfirma zu gründen. Von den Pflichten des öffentlichen Amtes befreit, hätte ich wieder in der Politik aktiv werden und die Kandidaten meiner Wahl unterstützen können. Es gab bereits Anfragen, ob ich vor dem Kongress zu Fragen der nationalen Sicherheit sprechen wolle, und ich konnte auch damit rechnen, dass mich die Medien als Kommentatorin zu den Entwicklungen im Weltgeschehen einladen würden. Ich hatte Bekannte im akademischen Bereich und in Thinktanks, die mich fragten, ob ich ihnen bei speziellen Projekten helfen wolle. Ich freute mich darauf, öfter mit alten Freunden und mit der Familie, die ich so lange vernachlässigt hatte, zusammenzukommen – mit meiner Schwester Kathy, meinem Bruder John, seiner Frau Pam und ihren beiden Söhnen, mit meinen Töchtern Anne, Alice und Katie und meinen fünf (bald darauf sechs) Enkelkindern. Außerdem besaß ich eine Farm in Virginia mit Rindern, um die ich mich kümmern musste.

Es war eine strapaziöse Liste. Der gesunde Menschenverstand und Versicherungsstatistiken sagten mir, dass ich mich bei meinen Vorhaben bremsen müsse. Doch ich war entschlossen, den nächsten Lebensabschnitt noch aufregender werden zu lassen als den vorherigen. Und so sagte ich bei allen Plänen: »Zur Hölle – ja doch.«

2

SPRECHÜBUNGEN

In der Woche nach meinem Ausscheiden aus dem Amt machte ich mit zwei alten Freundinnen Urlaub in einem Spa auf der mexikanischen Halbinsel Baja California. Wir wohnten in einer kleinen Lehmziegel-Villa und forderten unseren knirschenden Gelenken in Gruppenübungen mit Hüpfen, Strecken und Heben einiges ab. Dazu aßen wir viel Gemüse, tranken Kräutertee und folgten aufmerksam den Erklärungen unseres Wanderführers Noah, der uns auf Exkursionen ungewöhnliche geologische Formationen und Kojotenkot zeigte. Es waren nur ein paar Tage, aber ich nutzte sie, um einen klaren Kopf zu bekommen. Nur gelegentlich dachte ich an den neuen Präsidenten und die Mexiko-Politik der USA oder bedauerte, dass ich nie Spanisch gelernt hatte.

Aufgeräumt und ziemlich erholt kehrte ich nach Washington zurück, bereit, mich in ein neues Leben zu stürzen. Zusammen mit anderen ehemaligen Mitgliedern des Außenministeriums richtete ich mir fürs Erste ein Büro ein. Alles lief ziemlich gemächlich an. Vorbei waren die Tage, die mit dem CIA-Lagebericht und endlosen Telefonaten begannen. Ich saß nun nicht mehr an der Stirnseite eines großen ovalen Tischs, um Besprechungen auf höchster Ebene zu leiten, sondern an einem kleinen quadratischen mit wenigen, häufig leeren Stühlen. Wir hatten Planungssitzungen, aber alles verlief ganz entspannt, ohne den Druck, gleich zum nächsten Termin hetzen zu müssen. Das Tempo sollte sich bald erhöhen, doch anfangs gingen wir mittags gemeinsam essen und fuhren nach Hause, bevor es dunkel wurde, und das im Februar.

Zum ersten Mal seit 1993 saß ich selbst am Steuer eines Wagens auf dem Weg zum Büro und zurück. Ich zapfte sogar eigenhändig Benzin – inzwischen gab es ja nur noch Tankstellen mit Selbstbedienung. Nach einigen Monaten war ich auch in puncto Sicherheit auf mich allein gestellt. Zwar war ich so wenig kugelsicher wie eh und je, doch den bewaffneten Personenschützern, die mich acht Jahre lang begleitet hatten, wurden neue Aufgaben zugeteilt. Ich war nur noch eine »Ehemalige«, und der diplomatische Sicherheitsdienst4 hatte Wichtigeres zu tun, als »Pathfinder« (so mein Deckname) vor Unheil zu bewahren. Einerseits freute ich mich über meine zurückgewonnene Privatsphäre, andererseits fühlte ich mich plötzlich wie ein rohes Ei, wenn ich allein auf der Straße unterwegs war. Nie wusste ich, ob die Personen, die mir entgegenkamen, mich im nächsten Moment anlächeln, stutzen, irgendetwas Bedrohliches murmeln oder (wie die meisten) einfach mit starrem Blick an mir vorbeilaufen würden. Die Möglichkeit, immer und überall wiedererkannt zu werden, erzeugt eine gewisse Anspannung, die mich bis heute auf Reisen begleitet. Die meiste Zeit beachtet mich zwar niemand, doch bei anderen Gelegenheiten produziere ich einen kleinen Auflauf, und wenn ich mir nur bei Costco eine elektrische Zahnbürste kaufe.

Gleich nach meinem Ausscheiden aus dem Amt verpflichtete ich mich beim Washington Speakers Bureau (WSB) als Veranstaltungsrednerin für Jahrestagungen, Vorlesungsreihen und dergleichen mehr. Das schien eine sehr naheliegende Beschäftigung, aber als es dann tatsächlich losgehen sollte, wurde mir doch mulmig zumute. Allein die Vorstellung, vor Tausenden Fremden in aller Ausführlichkeit Geschichten aus meinem Leben zum Besten zu geben und dann noch einmal ebenso lange Fragen über meine Person zu beantworten! Als Ministerin hatte ich ständig öffentlich gesprochen – aber da äußerte ich mich zur Außenpolitik und zu meinem Job, nicht über mein Privatleben. Dabei machten mir weder Schüchternheit noch Bescheidenheit zu schaffen, dergleichen hat mich nie geplagt. Aber es liegt mir einfach nicht, meine Person in den Mittelpunkt zu stellen. Seit meiner Kindheit bin ich darauf getrimmt, mich im Gespräch mit anderen auf deren Wohlergehen und Tun zu konzentrieren. Das ist für mich das Natürlichste von der Welt und war mir bei meiner diplomatischen Karriere von großem Nutzen. Wenn es darauf ankommt, kann ich selbst mit einer Kartoffel angeregt plaudern. Aber nun erwartete man von mir, dass ich ein großes, zahlendes Publikum mit Geschichten über Madeleine unterhielt. Ich wandte mich hilfesuchend an das Speakers Bureau.

Das WSB schickte mir ein Video mit Colin Powell, einem seiner populärsten Redner, um mir eine Vorstellung davon zu geben, was auf mich zukam. Ich schob die DVD ins Gerät, drückte die erforderlichen Knöpfe und stellte kurz darauf fest: Das wird dir nicht weiterhelfen. Powell zog seine Zuhörerschaft vom ersten Wort an in seinen Bann. Er sprach ungezwungen und ohne Manuskript, gab die erbauliche Geschichte seiner Kindheit in der South Bronx zum Besten, schilderte seine Karriere in der Armee und seine Rolle als Vorsitzender der Joint Chiefs of Staff während der Operation Desert Storm und am Ende des Kalten Krieges. Er sprach viel davon, was es heißt, Führung zu übernehmen, und er machte den Zuhörern Mut. Das hörte sich von ihm alles ganz wunderbar an, aber mich verunsicherte es nur. Ich war nie gut darin gewesen, anderen Leuten kluge Ratschläge zu erteilen. Wenn ich das versuchte, verlor ich mich gewöhnlich in Phrasen, wie sie Polonius von sich gibt (»Kein Borger sei und auch Verleiher nicht«), bis ihm Hamlet den Garaus macht. Außerdem ist Powell ein Mann von eindrucksvoller Statur und verkörpert damit glaubhaft den großen Militärführer, der er tatsächlich war. Ich dagegen spiele von der Größe her eher in der Liga der sieben Zwerge.5

Doch Kneifen kam nicht infrage. Um das flaue Gefühl in meinem Magen loszuwerden, überlegte ich gründlich, was ich wie sagen konnte. Dabei versuchte ich, mich in mein Publikum hineinzuversetzen. Was war für sie am wichtigsten? Womit konnte ich sie zum Lachen, Weinen, Nachdenken, zu Applaus bewegen, und das am besten in dieser Reihenfolge? Das Schlimmste, was einem Redner passieren kann, ist, dass seine Zuhörer gleichgültig bleiben. Ich war fest entschlossen, sie nicht zu langweilen.

Mein Debüt gab ich dann am 24. März 2001 in San Diego auf der Jahreskonferenz der National School Boards Association. Die Veranstaltung war gut besucht, die Schulräte füllten dicht gedrängt eine Arena, die sonst für Basketballspiele und Rockkonzerte genutzt wurde. Während ich hinter den Kulissen auf meinen Auftritt wartete, rief ich mir die wichtigste Regel jedes Redners ins Gedächtnis, nämlich die, eine persönliche Verbindung zu den Zuhörern aufzubauen, den sprichwörtlichen »Handschlag« zu vollziehen. In diesem Sinn begann ich meine Rede mit einer Vorstellung meiner Erfolge als Studentin, Mutter, Großmutter und Professorin. Ich erwähnte auch, dass ich oft Schulklassen besucht und dazu stets einen Globus mitgebracht hatte, den ich in Drehung versetzte, um zu zeigen, wohin ich als Außenministerin überall gereist war. Die kleineren Schüler kamen dann prompt mit Fragen wie: »Hast du mal Santa Claus am Nordpol besucht?« oder: »Gehen die Australier auf den Händen?«

In den darauffolgenden Jahren half mir manchmal der Zufall, die Brücke zu meinem Publikum zu schlagen. Kurz vor einer Rede vor Anwälten war ich Geschworene gewesen, einige Tage vor einer Zahnärztekonferenz musste ich eine Wurzelbehandlung über mich ergehen lassen. Und ungefähr einen Monat vor meiner Rede auf einer Tagung der Versicherungswirtschaft war auf meiner Farm in Virginia eine Kuh vom Blitz getroffen worden. Das bot mir Gelegenheit zu einigen launigen Bemerkungen. Die Kuh wurde dadurch allerdings nicht wieder lebendig, und die Versicherung zahlte leider auch nicht.

Die Rede in San Diego war die erste, während der ich meine Lebensgeschichte erzählte, wenn auch in Kurzform. Ich bin zweieinhalb Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg in Prag zur Welt gekommen. Meine Eltern mussten mit mir vor den Nazis fliehen, die das Land besetzten. Die Kriegsjahre verbrachten wir in London, überstanden dort die Schlacht um England und unterstützten mit anderen Exilanten die Alliierten in ihrem Bemühen, Europa von Hitler zu befreien. Nach der Niederlage Deutschlands im Jahr 1945 kehrten wir in die Tschechoslowakei zurück, gingen aber von dort bald nach Belgrad, wo mein Vater den Posten des Botschafters bekleidete. Drei Jahre später, als die Kommunisten die Kontrolle in unserem Heimatland übernahmen, blieb uns erneut nur die Emigration übrig. Wir fanden Zuflucht in den Vereinigten Staaten, zunächst auf Long Island, dann in Denver. Damals hatte ich ein klares Ziel vor Augen: Ich wollte ein typischer amerikanischer Teenager werden.

Ich liebte meine Eltern, auch wenn sie sehr ernsthafte und korrekte Menschen waren, typische Vertreter des »alten Europas« eben. Bei der Eingewöhnung in die neue Heimat waren sie mir keine große Hilfe. Wenn ich eine Verabredung mit einem Jungen hatte, folgte mir mein stets wachsamer Vater im Auto und lud den armen Kerl später auf ein Glas Milch und Kekse ein. Zu einer zweiten Verabredung kam es daher nur selten. Meine Mutter spielte gerne die Wahrsagerin, dann las sie das Schicksal im Kaffeesatz oder den Leuten aus der Hand. Sie brachte es tatsächlich fertig, Männern im Beisein ihrer Gattin zu prophezeien, sie würden bald eine schöne und geheimnisvolle Frau kennenlernen. Auf ihre Weise schirmte mich meine Mutter sogar noch mehr ab als mein Vater. Wenn er streng zu mir war, lag das oft daran, dass sie sich Sorgen machte. Erst viel später wurde mir klar, wie viel Kummer sie in ihrem Leben erlitten hatte. Aber sie verdrängte ihre Gefühle und tat alles, um ihren Kindern ein normales Leben zu ermöglichen. Wie die meisten Frauen ihrer Zeit hatte sie nicht studiert, aber sie war warmherzig, liebevoll und eine große Menschenkennerin. Mit Dummköpfen hatte sie allerdings wenig Geduld.

Ich schrieb mich am Wellesley College ein, einer Hochschule für Frauen in Massachusetts, wo man von den neuen Studentinnen ein Oben-ohne-Foto machte, um zu prüfen, ob sie »eine natürliche und aufrechte Körperhaltung« hatten. Das College bewertete die Bilder und ließ die jungen Frauen Übungen machen, wenn sie den Anforderungen nicht genügten. Niemand wusste, was dann aus den Fotos wurde, bis sie irgendwann in einem Keller auftauchten – und zwar in Yale.

Nachdem ich meinem Publikum in San Diego erzählt hatte, woher ich kam und warum ich von dem überzeugt war, was ich tat, schilderte ich die Höhen und Tiefen meiner Jahre in der Regierung und lobte die versammelten Schulräte für ihr Engagement im öffentlichen Bildungswesen. Mit Colin Powell konnte ich mich zwar nicht messen, aber meine Rede kam gut an; die Leute applaudierten und gaben wohlwollende Kommentare ab. Obwohl das meine erste Veranstaltung gewesen war, verließ ich San Diego mit dem Gefühl, als Rednerin ganz gut bestehen zu können. Frohgemut machte ich mich auf den Weg zum Flughafen, um nach Washington zurückzukehren.

Ich saß in der Abflughalle und las Zeitung, als ein gut gekleideter grauhaariger Mann heranschlenderte und sich suchend umschaute. Es gab viele freie Plätze, doch er marschierte direkt auf mich zu und ließ sich neben mich in den Sitz plumpsen, nicht ohne mir seinen Aktenkoffer auf den Fuß zu stellen. Und wie ich befürchtet hatte, sprach er mich an:

»Sind Sie nicht Madeleine Albright?«

»Allerdings.«

»Ich habe eine Doku über Sie gesehen.«

»Aha.«

»Laut Michael Douglas flirten sie gern.«

»Nicht jeder ist Michael Douglas.«

»Sie haben Ihren Job und Ihre Macht verloren. Das muss sich doch schrecklich anfühlen.«

»So ist das nun mal in Amerika, das sind die Regeln. Mir geht’s blendend.«

»Nein, nein, nein. Ich habe früher für die Republikaner im Weißen Haus gearbeitet, und als wir unsere Jobs verloren, haben wir uns furchtbar gefühlt. Ihnen kann es nur schlecht gehen.«

Das war’s dann mit meiner guten Laune. Ich befreite meinen Fuß und verbrachte die restliche Wartezeit in der Damentoilette.

Seit diesem ersten Auftritt habe ich bei Hunderten von Veranstaltungen gesprochen. Es war mir ein Vergnügen, dabei mit Harry Rhoads, Christine Farrell und Kate Salter vom WSB zusammenzuarbeiten. So tauschte ich mich mit Lehrern, Buchhaltern, Reiseveranstalterinnen, Apothekern, Arbeiterinnen, Lebensmittelhändlern, Bankerinnen, Haushaltsgeräteverkäufern, Schrottverwertern und Krankenhausmitarbeitern, mit Mitgliedern der Junior League of Toledo und Vertretern der Düngemittelindustrie aus. Das Gespräch mit Letzteren stellte sich zudem als gute Gelegenheit heraus, mal wieder ein wenig über Kühe zu sprechen.

Für mich ist es eine Art Weiterbildung. Ich lerne viel durch den Besuch von Städten, in die mich mein Weg sonst nie führen würde, und durch die Gespräche mit Männern und Frauen, die einen völlig anderen Lebenshintergrund und völlig andere Ansichten als ich haben. So kann ich etwas geben und bekomme etwas, das ist mir wichtig. Wenn ich von einer internationalen Krise lese, stelle ich mir noch heute automatisch vor, was ich anstelle des derzeitigen Außenministers oder der derzeitigen Außenministerin tun würde. Meine Reden vor Publikum bieten mir die Möglichkeit, diese Gedanken mitzuteilen und mich im Gedächtnis der Menschen lebendig zu halten.

Manche Leute finden es nicht richtig, wenn ehemalige Funktionsträger Geld für Reden nehmen, und ich kann das verstehen. Sie hören, dieser oder jener bekommt Geld für sein Erscheinen, und halten das für die einzige Motivation. Vielleicht ist das manchmal auch tatsächlich der Fall, ich weiß es nicht. Doch bei mir, und ich vermute, das gilt für viele, geht dieses Geld für eine Büromiete und Gehälter drauf. Man braucht jemanden, der Öffentlichkeitsarbeit macht, eine Assistentin, einen Autor und noch ein oder zwei weitere Mitarbeiter für die Korrespondenz und die Organisation. Ein ehemaliger Präsident hat Anrecht auf eine Pension, die ihn bei seiner Arbeit unterstützt, ein ehemaliges Kabinettsmitglied nicht. Ohne meine WSB-Engagements wäre ich nicht in der Lage, mehr als einen Bruchteil der Tausende von Briefen und Anfragen zu beantworten, die ich jedes Jahr erhalte. Ich würde auch nicht die Zeit finden, die vielen Reden vorzubereiten, die ich umsonst vor den unterschiedlichsten Interessengruppen halte. Niemand bezahlt mich fürs Singen oder Golfspielen, und so ermöglichen es mir die WSB-Veranstaltungen, öfter auch mal Ja zu sagen, wenn jemand mit einem wichtigen Anliegen an mich herantritt.

Honorierung hin oder her – ich rede einfach gerne vor und mit Menschen. Es gibt allerdings ein paar ganz praktische Probleme bei solchen Veranstaltungen, mit denen zurechtzukommen ich erst lernen musste.

Eines ist Zeit. Beim WSB erklärte man mir, üblich sei es, dass ein Redner mindestens 45 Minuten lang spreche und anschließend ein paar Fragen beantworte. Das habe ich versucht, habe aber bald festgestellt, dass 45 Minuten einfach zu lang sind. Aus meiner Lehrtätigkeit weiß ich, dass die Aufmerksamkeitsspanne von Zuhörern begrenzt ist. Daher meine Maxime: »Der Kopf kann nur so viel aufnehmen, wie auch der Hintern verträgt.« Die historischen Reden, an die man sich heute noch erinnert, waren alle kurz. Fast jede Zeile aus der Antrittsrede von John F. Kennedy hätte man zu einem Absatz oder einer ganzen Seite auswalzen können, doch das hätte nur ihre Wirkung geschwächt, ohne die Botschaft zu verstärken. Und je kürzer ich meine Reden fasse, desto mehr Zeit bleibt mir, Fragen zu beantworten. Das macht mir heute mehr Spaß als zu der Zeit, als ich noch Ministerin war, denn damals musste ich jedes Wort auf die Goldwaage legen. Jede falsche Bemerkung konnte meine Entlassung oder, viel schlimmer, einen Krieg zur Folge haben. Jetzt kann ich endlich einmal sagen, was ich denke.

Doch so offen ich heute reden kann, ein lebendiges Gespräch mit den Menschen gelingt nur, wenn ich sie sehe und sie mich. Bei meiner Körpergröße (knapp anderthalb Meter) würde ich hinter praktisch jedem Rednerpult verschwinden, hätte ich nicht ein hölzernes Podest dabei, das mich zehn Zentimeter größer erscheinen lässt. In Washington schleppen wir es immer mit uns herum, und wenn wir auf Tour sind, bitten wir darum, uns eines zur Verfügung zu stellen. Manchmal ist das dann ein Holzkistchen mit Spalten zwischen den Latten, eine Herausforderung für mich als Trägerin von High Heels. Bei anderen Gelegenheiten ist das Podest zu hoch, zu niedrig oder zu wacklig. Gewöhnlich komme ich damit klar, wenn ich mich auch manchmal regelrecht am Pult festkrallen muss, um nicht nach hinten zu kippen.

Manchmal halte ich keine Rede, sondern nehme an einem Podiumsgespräch teil. Das klappt in der Regel ganz gut, wenn der Moderator gut informiert und charmant ist. Günstig ist es auch, wenn mein Sessel nicht so groß ist, dass ich mich darin verliere, und die Beleuchtung nicht so gnadenlos, dass ich mir wie eine Kriminelle beim Verhör vorkomme. Es ist nicht einfach, einen Draht zu jemandem zu finden, dessen Fragen aus einem grellweißen Lichtfleck kommen.

Der Veranstaltungsort einer Rede kann ebenfalls zum Problem werden. Ich äußere meine Meinung überall gleich, setze aber in einem zutiefst konservativen Umfeld andere Akzente als in einem liberaleren. Ich gehe keiner Auseinandersetzung aus dem Weg, betrachte mich allerdings stets als Gast und fände es unhöflich, eine zu beginnen.

Als Außenministerin habe ich auch gelernt: Es ist ebenso wichtig zu wissen, was man nicht sagen soll, wie zu wissen, was man sagen soll. Das gilt besonders für Reden im Ausland. So ist man in arabischen Ländern gut beraten, den Persischen Golf als »Arabischen Golf« zu bezeichnen. Was Amerikaner das Südchinesische Meer nennen, hat in China, Indonesien, Vietnam und auf den Philippinen einen völlig anderen Namen. Wenn es um Entfernungen geht, denken viele Menschen außerhalb der USA in Kilometern, nicht in Meilen. In muslimischen Staaten kommt es nicht gut an, wenn man als Nichtmuslim zu ausführlich aus dem Koran zitiert oder muslimische Glaubenssätze interpretiert, auch wenn es in bester Absicht geschieht. In Ägypten könnte man auf die Idee kommen, an das Andenken des ermordeten Präsidenten und Friedensnobelpreisträgers Anwar el-Sadat zu appellieren, doch der steht dort seit Langem nicht mehr hoch im Kurs – er ist in Ägypten ebenso unpopulär wie Michail Gorbatschow und Boris Jelzin im heutigen Russland. Wenn US-Diplomaten auf dem amerikanischen Kontinent unterwegs sind, sind sie angehalten, daran zu denken, dass nicht nur ihr Land sich als »amerikanisch« betrachtet, sondern dass es in Nord-, Mittel- und Südamerika noch andere amerikanische Länder gibt.