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Spanien, 1503: In der Festung La Mota soll Johanna von Kastilien endlich zur Vernunft kommen. Zu viel steht für ihre Mutter, Isabella die Katholische, auf dem Spiel. Die Königin regiert das Land mit unerbittlicher Härte, sie hat die Mauren vertrieben und lässt Tausende als Ungläubige auf den Scheiterhaufen der Inquisition verbrennen. Sie kann ihr Reich nicht in die Hände einer Tochter geben, die nicht betet, nicht beichtet und der Macht nichts bedeutet. Johanna will nicht über andere herrschen. Alles, was sie will, ist, über sich selbst zu bestimmen. Aber das scheint eine Freiheit zu sein, die nur Männern vorbehalten ist. Als sie mit Philipp dem Schönen ins ferne Flandern verheiratet wird, sieht es für einen Moment so aus, als sei das Unwahrscheinliche möglich: ein Leben in Liebe in einer Welt aus Verrat. Doch auch als sich diese Hoffnung nicht erfüllt, hält Johanna unbeirrbar an dem fest, was alle um sie herum für Wahnsinn halten – dem unerhörten Wunsch, dass die Welt anders sein könnte als sie ist. Vor dem historischen Hintergrund der Biografie von Johanna der Wahnsinnigen stellt Alexa Hennig von Lange eine sehr moderne Frage:

Wie können wir die werden, die wir sind, wenn das nicht für uns vorgesehen ist?

Autor

© Marie Haefner

ALEXA HENNIG VON LANGE, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman ›Relax‹ (1997) zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

Alexa Hennig von Lange

Die Wahnsinnige

 

 
 

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»Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und möchte mich verändern.«

Rumi

 

Tordesillas, 1525

Meine Tochter,

seitdem Du nicht mehr hier bist, höre ich nur den Wind, das trockene Blätterrascheln jenseits der Festungsmauern. Und mein Atmen. Ich bin gefangen in diesem mit Wunden übersäten Körper, der, dicht an die Mauer gedrückt, auf dem Boden kauert. Ich bin die Königin von Kastilien und León. Wie meine Mutter bin ich die Herrscherin über halb Europa und die westindischen Kolonien. Ich war die Gefangene meines Mannes. Ich war die Gefangene meines Vaters. Nun bin ich die Gefangene meines Sohnes. Seit meinem dreißigsten Lebensjahr darf ich mich nur noch unter strengster Bewachung den Gang hinunterbewegen, um für einen Moment aus den Fenstern hinunter auf den Fluss zu sehen. Ich darf nicht allein über den Hof und in die Halle gehen. Ich werde gefoltert, an Stricken aufgehängt, mit Gewichten an den Füßen, um aus mir den Wahnsinn hervorzulocken, der angeblich der Grund für meine Gefangenschaft ist. Sie haben meine Beine mit kochendem Wasser übergossen, sie haben meine Haut mit glühendem Metall verbrannt. Doch ich bin ruhig geblieben. Ruhe bei all dem Leid erscheint den Menschen nicht normal. Sie wollen sehen, dass ich tobe, dass ich mit Schüsseln und Tellern um mich werfe. Meine Ruhe macht ihnen Angst, meine Ruhe ist gefährlicher für sie als mein Wahnsinn. Für meinen Wahnsinn konnten sie mich einsperren, meine Ruhe muss ein Geheimnis bleiben. Katharina.

Meine Tochter, Du allein weißt, wie es ist, in sich den Frieden und die Freiheit zu finden, wenn die Welt dabei ist, sich selbst zu zerstören, und von Epidemien ergriffen wird. In unserem Gefängnis haben wir das grausige Wüten der Pest überlebt. Jahr für Jahr, wenn sie in Wellen kam und große Teile der Bevölkerung mit sich riss, blieben wir hier drinnen verschont. Aber die Pest ist das geringste Übel. Ist sie nicht vielmehr ein Zeichen dafür, wie verseucht wir in unserem Innersten sind? Ich habe sechs Kinder geboren, aus Euch sind längst Könige und Königinnen geworden, aus Deinem ältesten Bruder sogar ein Kaiser. Er regiert ein Reich, in dem die Sonne nie untergeht, aber verändert er deshalb ihren Lauf? Mich hält er hier gefangen, mit Blick auf die reich verzierte Begräbniskapelle Eures Vaters, aber bin ich deshalb weniger frei?

Die Menschen bekämpfen und ermorden sich in ihrem Streben nach Macht, Reichtum und Bedeutung. Ich habe nie jemanden getroffen, der dabei glücklich geworden wäre. Der Hunger bleibt, bis alles verzehrt und vernichtet ist. Aber das weißt Du ja, meine Tochter, Du hast mit mir hinter diesen Mauern gelebt und verstanden, dass das Himmelreich Gottes in Dir wohnt. Jetzt, wo Du der Welt als Königin von Portugal gegenübertrittst, erinnere Dich daran, wie nah wir Gott in unserer Gefangenschaft waren.

Lass sich die Welt in ihrer Verrücktheit selbst zugrunde richten. Mein Widerstand gegen ihren Wahnsinn hat mich hierhergebracht. Du kannst die Welt nicht verändern, aber Dich. Und bist Du nicht die Widerspiegelung des Friedens, mein geliebtes Kind? Ich wünschte, ich hätte damals, als ich in Deinem Alter war, schon diese Erkenntnis gehabt.

In Liebe, Deine Mutter.

Die Königin von Kastilien und León und Aragón und der westindischen Inseln und des Festlandes am Ozean

1

Medina del Campo, 1503

Beides war von gleicher grauenhafter Mächtigkeit: der schwer bewölkte Abendhimmel und die darunterliegende Festung. Johanna brachte ihr Pferd zum Stehen. Und damit ihr ganzes Gefolge. Sie sah hinauf in den Himmel aus rußigem Schwarz. Im Namen der katholischen Kirche ließ ihre Mutter Ungläubige auf Scheiterhaufen verbrennen und beraubte damit das gesamte Firmament des Lichtes. Diese Düsternis hing seit Johannas Geburt über dem Land – schwer und niederdrückend. Hoffnungslos und krank. Sie alle atmeten den Tod ein.

Dann wanderte ihr Blick über die Zugbrücke. Sollte sie tatsächlich den tiefen Burggraben überqueren und in die Kälte der Festung einreiten? Das Tor stand offen wie ein weit aufgerissenes Maul. Hungrig und bereit, sie mitsamt ihrem Pferd zu verschlucken. Ihre Mutter wollte, dass sie dort drinnen zur Vernunft kam, damit sie nicht noch mehr Unheil anrichtete. Hinter den dicken Mauern, die ihre Mutter wieder und wieder hatte verstärken lassen, sollte Johanna sich auf ihre religiösen Pflichten besinnen und warten, bis sie wieder gebraucht wurde. Auf La Mota, dem Fleck.

Johanna hob den Blick. In ihrem Augenwinkel schwamm ihr kümmerliches Gefolge. Ehrendamen, Höflinge, Schildknappen, ein paar Dominikanermönche und andere dienstbare Geister. Im Schneckentempo waren sie mit ihren Maultieren, Karren und Zelten von Segovia heraufgekommen, wo Johanna mit ihrer Mutter so sehr in Streit geraten war, dass die Königin von Spanien in ihrer eigenen Festung vor Entkräftung hatte zur Ader gelassen werden müssen. Und Johanna war umgehend nach La Mota geschickt worden.

Irgendwo im Getümmel schlief ihr kleiner Sohn im Arm seiner Amme. Johanna hatte gestern Abend sein Weinen gehört, als sie unterwegs die Zelte aufgebaut hatten. Oder war es erst heute Morgen gewesen, als sie die Zelte wieder abgebrochen hatten? Die Zeit schien auf der Stelle zu treten. Alles ging so furchtbar zögerlich. Johanna wollte nicht länger in dieser ewigen Fremdbestimmtheit gefangen sein, die sie ihr Leben nennen musste. Sie strich über den hellen Flecken Fell ihres weißen Araberhengstes. Ein Flecken Fell, den sie erst unter all den Stofflagen ihres schwarzen Kleides und ihrer Satteldecken freilegen musste, um sich ein wenig Helligkeit zu verschaffen. Statt in der Festung hätte sie heute Nacht lieber auf diesem weißen Flecken Fell ihr Lager aufgeschlagen, um auf ihrem Pferd in Bewegung zu bleiben und ihrem Ziel unaufhaltsam näher zu kommen. Sie wollte so schnell wie möglich weiter zur Küste, um sich von dort aus mit einer Schiffsflotte nach Antwerpen zu ihrem Mann und ihren drei kleinen Kindern aufzumachen. Doch wie sollte das klappen? Ihre Mutter wollte nicht, dass Johanna Spanien verließ. Weswegen jeder noch so geringfügige Selbstbehauptungsversuch von den eifrigen Helfern ihrer Mutter sofort zunichtegemacht wurde.

Johanna beugte sich herunter, soweit es in ihrem bestickten Kleid und dem schweren Umhang überhaupt möglich war. Sie lehnte sich über ihre Hände, die um die Zügel griffen, und flüsterte in das Ohr ihres Pferdes: »Schatten sind wir und Staub.« Und während sich die schwarzen Wolken über ihr noch heftiger ballten und vor ihrer eigenen grausigen Leichenfracht erschauderten, sich krampften und Schreckenstränen aus sich herauspressten, die auf Johanna herunterfielen, hob sie wieder ihr Gesicht in den Windhauch hinein.

Sie schnalzte leise, zog kurz die schweren Zügel an und ihr Körper schwang jetzt im Trab ihres Pferdes. Auch ihr Gefolge setzte sich wieder träge in Bewegung. Die rot-gelben Flaggen über dem Tor flatterten in dämlicher Aufregung, als würden sie Johannas Erscheinen direkt auf sich beziehen. Als wollten sie Johanna schmeicheln. Tochter der spanischen Könige. Erbin eines immensen Reiches. Doch Johanna würdigte diese lächerlichen Stofffetzen kaum eines Blickes. Glaubten sie mit ihrem unruhigen Flattern jeden Betrachter, der über weniger Bedeutung verfügte, augenblicklich einschüchtern zu können? Diese Flaggen mit den Wappen von Kastilien, León und Aragón waren für Johanna nicht Symbol ihrer stolzen Herkunft, sondern Symbol für die Machtbesessenheit und Grausamkeit ihrer Eltern.

Johanna wollte nicht Königin werden und sie war auch nie dafür vorgesehen gewesen. Es war reiner Zufall, dass es sie getroffen hatte. Oder ein Fluch. Weshalb sonst waren alle, die in der Thronfolge vor ihr standen, gestorben? Ihr Bruder, ihre Schwester, ihr zweijähriger Neffe Miguel, sodass nur noch sie übrig blieb? Ausgerechnet Johanna, die sich weigerte, nach den strengen Glaubensregeln ihrer Mutter zu leben. Eine zukünftige Monarchin, die nicht beten und nicht beichten wollte und nur selten im Alten Testament las, war ein Problem. Für weit weniger als das wurden tausende Ketzer auf Befehl ihrer Mutter, der Gläubigsten aller Gläubigen, bei Schauprozessen kreischend vor Schmerz und Entsetzen in den Städten zu Asche verbrannt. Wie sollte das Volk in Schach gehalten werden, wenn selbst die Kronprinzessin sich den Maßgaben ihrer Mutter nicht verpflichtet fühlte?

Johanna saß aufrecht. Je näher sie mit ihrem Gefolge dem Festungstor kam, desto mächtiger baute sich der von Mauern umgebene Turm vor ihr auf. Um die Burg herum zog sich der dunkelgrüne Wald aus niedrigen Korkeichen, unter denen Schafe weideten und Schweine wühlten. Sie hörte das Getrappel der Pferde auf den Holzplanken der Zugbrücke, die unruhigen Stimmen ihrer Begleiter. Irgendwo in der kalten Dämmerung erklang das flehende Rufen ihres Sohnes. Dann das Geratter der Karren. Ratta-tatam. Und unter ihnen schimmerte das schwarze, morastige Wasser des Burggrabens.

Nichts und niemand würde Johanna an ihrer geplanten Reise nach Antwerpen hindern. Weder die zu dieser Jahreszeit matschigen Straßen oder die stürmische See noch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Frankreich. Und erst recht nicht das Verbot ihrer Mutter. Hier auf La Mota würde Johanna alle Vorkehrungen treffen, um so schnell wie möglich nach Flandern zu kommen. Um von nun an ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Johanna war kein Kind mehr. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Ihr Mann hatte endlich aus der Ferne nach ihr gerufen. Und sie würde kommen.

Sie ritt in den äußeren Burgring hinein, die breite Holzschräge aus dicken Bohlen hinunter. Ihr Pferd setzte tastend einen Huf vor den anderen. Jetzt war sie drinnen. Das Abendlicht brach in einem kräftigen Rotviolett hinter den dunklen Wolken hervor. Leuchtendes Purpur durchtränkte ihre Kleiderschichten, als würde dieses plötzliche Licht, dieses überirdische Abendleuchten, Johanna den Beweis liefern, dass ihr Vorhaben ganz wunderbar und richtig war. Dass ihre Zeit als unmündige Tochter endgültig vorbei war. Aufrecht ritt sie den gepflasterten Pfad zwischen den hohen Mauern entlang, bis schattenhafte Gestalten auf sie zugeeilt kamen, um sie vom Sattel zu heben. Am liebsten hätte sie ihrem Pferd gleich noch einmal die Sporen gegeben. Einfach nur, um die Schatten springen zu sehen.

Schwarz gekleidete Dienerinnen kreiselten flüsternd und knicksend um sie herum, legten ihr einen schweren Mantel auf die Schultern, den sie sofort wieder abwarf. Ihr war heiß. Diese Mädchen mit ihren Flechtfrisuren sollten verschwinden. Sie machte eine heftige Handbewegung. »Ksch! Ksch!« Die Dienerinnen stoben wie riesige Nachtfalter auseinander und machten den Weg frei für den Geistlichen, der offenbar schon auf Johanna gewartet hatte. Er trat aus einer Nische hervor, wie es für Geistliche typisch war. Jedenfalls in Johannas Gegenwart. Immerzu traten sie plötzlich aus irgendwelchen dunklen Nischen hervor, um ihr gut zuzureden. Um sie zur Beichte zu bewegen. Dass diese von ihrer Mutter Gesandten niemals aufgaben, dafür empfand Johanna eine gewisse Anerkennung. Der hier, in seinem hellen Gewand und furchigen Gesicht, wagte sich im Fackelschein dicht an sie heran, so, als wären sie längst Vertraute. Er nannte seinen Namen: »Juan Rodriguez de Fonseca.«

Kurz meinte sie, seinen Namen schon einmal von ihrer Mutter gehört zu haben, war er nicht einer ihrer engsten Berater? Er lenkte sie zwischen den hohen Steinwänden hindurch, an Wachen vorbei, direkt ins Innere der Burg. Ein einziges Mal war sie als Kind hier gewesen. Aber daran konnte sie sich kaum noch erinnern, nur an die hohe Treppe, die sie jetzt neben dem fremden grauhaarigen Mann hinaufeilte. Dann ging es den mit Fackeln erhellten Säulengang hinunter und quer über den Innenhof. Schon war der Himmel über ihnen nur noch schwarz. Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster. Überall Fackeln und Schatten. Johannas Knie waren weich, seit heute früh hatte sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen gehabt. Aber der Geistliche lief und redete ununterbrochen auf sie ein. Wie es ihr gehe, ob die Reise beschwerlich gewesen sei? Er habe gehört, es habe bei ihrer Mutter in Segovia heftige Auseinandersetzungen gegeben. »Königliche Hoheit?«

Johanna hatte überhaupt keine Lust, darauf zu antworten. Aber bevor daraus wieder neuer Stoff für die alte Geschichte wurde, dass sie verstockt sei und keinen Respekt vor Geistlichen habe, sagte sie: »Für meine Mutter zählt eben nur das Prinzip des Machterhalts.«

Der Bischof wandte sich ihr zu, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Wie meinen Sie das?«

Johanna lief neben ihm, trotz schmerzender Knie erfreut darüber, dass dieser Geistliche sich ausnahmsweise mal zügig bewegte. Sie mochte seine Geschwindigkeit. Also war sie sogar bereit, mit ihm ein paar Worte mehr zu wechseln. »Für meine Mutter ist das Durchsetzen ihrer Interessen das Allerschönste. Auch wenn sie dabei die Rechte anderer verletzt. Bei ihr heiligt der Zweck immer die Mittel.«

»Die Königin ist nur besorgt.«

»Ja, um ihre Macht und ihre heilige Inquisition. Als gäbe es nichts anderes auf der Welt.«

Juan Rodriguez führte Johanna eine schmale Treppe hinunter, direkt in die Kapelle. Nun wusste er offenbar auch nichts mehr zu sagen. So, als gäbe es auch für ihn nichts anderes auf der Welt. Bevor Johanna sich überhaupt in diesem langgezogenen Raum orientiert hatte, führte der Geistliche sie schon weiter über den glatten Steinboden, an den Holzbänken und der Heiligen Mutter Gottes vorbei, die still und andächtig mit ihrem Neugeborenen in ihrer Nische stand. Johanna warf der Holzfigur einen kurzen Blick zu. Maria war eine vorbildliche Mutter gewesen. Geduldig, sanftmütig, frei von gebieterischen Anwandlungen. Und voller Verständnis für die Eigenwilligkeiten ihres Sohnes. Wieso konnte sich Johannas Mutter Isabella, die sich »die Katholische« nennen durfte, kein Beispiel an Maria nehmen? Warum hatte Marias großzügiges Wesen nur so wenig Einfluss auf Johannas Mutter und ihren unbarmherzigen Blick auf ihre eigenwillige Tochter?

Johanna und Juan Rodriguez näherten sich dem Altar, um vor dem gekreuzigten Jesus niederzuknien, auf dessen blutigem Haupt ein Dornenkranz saß. Johanna war voller Ehrfurcht und Mitgefühl für den Heiland und gleichzeitig erkannte sie sich auch in ihm und seinem Leiden. Er war bereit gewesen, die Folgen seines Handelns allein zu tragen. Auch wenn das seinen irdischen Untergang bedeutet hatte. Aber hatte Jesus, von einer höheren Warte aus betrachtet, nicht Freiheit und Ewigkeit dafür gewonnen? Johanna sah ihn fragend an. War es nicht so? Doch Jesus’ Blick war Richtung Himmel gerichtet. Wieso war Johannas Weg des Kreuzes nur so viel länger als der von Gottes Sohn? Weil es für sie keine Erlösung gab? Und dann musste sie dem Geistlichen schon wieder folgen, unter einer Fackel hindurch, zum Beichtstuhl.

»Hoheit, Sie sollten Ihre Sünden beichten.«

»Sollte ich das?« Johannas Stimme klang gereizt. Woher wollte dieser Juan Rodriguez de Fonseca überhaupt wissen, dass sie gesündigt hatte? Vielleicht hatte sie ja gar nicht gesündigt! Die Folterungen und Verbrennungen, die Kriege, die Beutezüge und der Machthunger ihrer Mutter waren Berge von nicht mehr zu vergebenden Sünden! Warum zählte das nicht? Nur, weil ihre Mutter eine Krone auf dem Kopf hatte und behauptete, all das geschehe aus Liebe zu Jesus Christus?

Der Geistliche verschwand eilig hinter dem schweren, dunklen Vorhang. Sicherlich war er hier, um jeden ihrer Schritte direkt an ihre Mutter weiterzumelden. In den letzten Jahren hatten immer wieder irgendwelche Beichtväter fleißig notiert, wie sie Johannas Geisteszustand einschätzten. Wort für Wort hatten sie aufgeschrieben, was sie gesagt haben sollte, dass sie nichts gegessen, sich zurückgezogen habe, dass sie melancholisch sei. Eifersüchtig sollte sie sein. Uneinsichtig, nicht steuerbar. Geisteskrank. Ihrem Mann verfallen. Wahnsinnig! Zu jeder Theorie gab es alle erdenklichen Beweise. Doch genauso gut konnte alles ganz anders sein. Es interessierte nur niemanden, was Johanna dachte, wie sie fühlte, wogegen sie sich wehrte. Sie hatte als Tochter zu funktionieren. Also kniete sie widerwillig auf der schmalen Holzbank nieder. In ihrem Kleid hockte sie da wie in einer riesigen schwarzen Blüte. Wütend und müde. Dann machte sie eben mit. Nichts sollte ihre Rückreise nach Flandern verzögern. Schon gar nicht eine alarmierte Mutter, die für die öffentliche Wirkung eine gehorsame Thronfolgerin im Beichtstuhl brauchte. Johanna hörte den Geistlichen durch das Gitterfenster wispern: »Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.«

Sie sagte etwas zu laut: »Ausgezeichnet und höchst ehrwürdig. Ich habe nichts zu beichten. Mein Geist ist Teil von Gottes Geist. Amen.«

Damit erhob sie sich schon wieder, während sie es flüstern hörte: »Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden …«

Johanna verschwand zwischen den flackernden Kerzen und den Holzbänken hindurch in die kühle Nacht hinaus. Sie holte tief Luft. Sie hatte diesem Geistlichen schon mehr gegeben als seinen ratlosen Vorgängern, die regelrecht an ihrer sturen Verschlossenheit verzweifelt waren. Sie war keine Sünderin. Niemals würde sie sich gegen Gott und seinen Willen wenden. Ihre Liebe zu ihm war rein. Ihre Nähe zu ihm ungebrochen. Dafür musste sie nicht beten und auch nicht beichten. Das würde ihre Mutter leider nur nie verstehen. Sie hatte eben kein Empfinden für Gottes wahres Wesen.

Kurz vor Mitternacht saß Johanna bei Kerzenschein im Turmzimmer, das für sie hergerichtet worden war. In den Raumecken flackerten Kerzen auf hohen Ständern. Über die Tischplatte gebeugt versuchte sie, einen klaren Kopf oder ein klares Herz für den Antwortbrief an ihren Mann zu bekommen. Nach über einem Jahr hatte Philipp ihr geschrieben und tatsächlich gefragt, wann sie zu ihm und ihren Kindern nach Brüssel zurückkommen würde. Nach einem Jahr fragte er das! Als wäre sie ihm gerade erst wieder eingefallen! Gleichzeitig war es so typisch für ihn. Er entledigte sich ihrer, wann immer er genug von ihr hatte, und holte sie wieder heran, wenn ihm danach war. Jetzt kam es darauf an, die richtigen Worte zu finden, den richtigen Ton anzuschlagen. Wenn Johanna nur wüsste, welcher das war! Auf keinen Fall wollte sie zu wütend oder feurig klingen. Eher gemäßigt, geduldig. Verständnisvoll und erwachsen, sodass Philipp denken würde, seine Frau sei während des Jahres ihrer Trennung zu einer ganz anderen geworden. Zu der Frau, die er sich als Erzherzog von Burgund für sein Leben schon immer gewünscht hatte. Anspruchslos, leicht lenkbar und überhaupt nicht tobsüchtig. Philipp sollte Johannas Ankunft in Brüssel herbeisehnen! Sicher, der Wunsch nach Zuneigung war ungewöhnlich für eine Frau, deren Ehe aus machtpolitischen Gründen geschlossen worden war. Aber doch nicht vollkommen unangemessen, oder?

Plötzlich ging hinter Johanna die Tür auf. Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter und da stand diese fremde Person in der offenen Tür als lodernder Schatten, mit ausladendem Kleid. Johanna drehte sich langsam ganz zu ihr um. Im Laufe der Zeit hatte sie gelernt, sich möglichst nicht ruckartig zu bewegen. Die Leute bekamen ihrer Erfahrung nach sonst sofort Angst, sie könnte wieder einen ihrer Wutanfälle bekommen. Für die meisten Menschen, inklusive ihres Mannes und ihrer Mutter, waren diese Wutanfälle verstörend, geradezu unerklärlich, als wäre nicht offensichtlich, woraus sich Johannas zorniger Widerstand speiste! Johanna versuchte zu lächeln und wartete, was die Person im roten Kleid zu ihrem Erscheinen vorzubringen hatte.

»Ich bin Ihre engste Vertraute.«

»Ach ja?« Johanna stand von ihrem Stuhl auf und umklammerte die Lehne. Sie mochte eigentlich keine engsten Vertrauten. Genau genommen hatte sie noch nie so etwas wie eine engste Vertraute gehabt. Das konnte sie sich gar nicht leisten. Engste Vertraute stellten sich meist als die größten Verräter heraus.

»Ich wurde Ihrem Haushalt hinzugefügt.« Das junge Mädchen mit der hübschen roten Haube auf dem Kopf wirkte nicht sonderlich schüchtern. Es hatte dunkle Haare und ein zartes, offenes Gesicht. Im Grunde sehr sympathisch.

Gerade darum sagte Johanna kategorisch: »Ich rede nur mit älteren Frauen.«

»Ich verstehe.« Das junge Mädchen sah Johanna direkt an. So direkt, wie Johanna normalerweise diejenigen ansah, die sie bis tief in ihr Innerstes durchdringen wollte. Das Mädchen schien überhaupt keine Angst vor ihr zu haben. Entweder war sie ahnungslos, was ihr blühen konnte, wenn Johanna erst einmal in Rage geriet. Oder sie war dumm. »Darf ich trotzdem eintreten?«

»Nur zu. Wenn Sie gerne bei jemandem sind, der nur mit alten Frauen redet.« Johanna setzte sich wieder an den Tisch und schob den begonnenen Brief unter ihre Bibel.

Das Mädchen kam näher zu ihr heran, nun waren sie zu zweit. Zwei junge Frauen unter einem hohen Gewölbe aus Stein, mit flackernden Kerzen in den Zimmerecken. Vor Johanna auf dem Tisch stand das aufgeklappte Holztriptychon, das die Bilder ihrer drei älteren Kinder zeigte. Karl, Eleonore und Isabella. Das Mädchen blickte auf die kleinen Gesichter. »Ich wollte wissen, ob ich Ihnen etwas zu essen bringen kann?«

»Nein, danke.« Johanna klappte das Triptychon zu und legte es auf ihre Bibel. »Ich hungere.«

»Ich verstehe.« Diese Tatsache schien für das Mädchen in Ordnung zu sein. Was erstaunlich war. Normalerweise gerieten die Leute sofort in Aufruhr, wenn sie hörten, dass Johanna das Essen verweigerte. Tatsächlich machte das Verweigern ja nur darum Spaß! Je mehr die eifrigen Helfer ihrer Mutter sie bedrängten, doch etwas zu essen, desto mehr spürte Johanna, dass sie über diesen winzigen Teil ihres Lebens ganz allein die Kontrolle besaß. Ihr Körper war das letzte unbesetzte Gebiet. Wie Granada, bevor ihre Mutter gekommen war, die ungläubigen Mauren ermordet und es sich samt der Alhambra einverleibt hatte. Doch diesen unbeugsamen Teil von Johanna würde ihre Mutter niemals besetzen. Eher war Johanna bereit, zu verhungern. Sie drehte ihren Kopf leicht, sodass sie dem Mädchen ins bleiche Gesicht sehen konnte. »Hungern Sie auch?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Grund.«

»Haben Sie gar nichts zu verteidigen?«

»Nein.«

»Nicht einmal Ihre Würde?«

»Ist die nicht unantastbar?« Maria machte ein paar Schritte hinüber zum Fenster, hinter dem der schwarze, endlose Nachthimmel hing. Das Licht der Kerzen auf dem Sims schimmerte auf ihrer weißen Gesichtshaut.

Johanna begann, ihr geflochtenes Haar, das rechts und links an ihrem Kopf zu Schnecken gedreht war, zu lösen. »Meine Großmutter, Isabella von Avis, hat der Geliebten ihres Mannes mit dem Fächer das Gesicht zerschnitten. Und sie war eine Königin! Aber sie wollte nicht betrogen werden.«

Das Mädchen kam wieder näher heran. »Ja, das kann ich verstehen. Alles hat seine Grenzen.«

»Nun nennt man sie allerdings bis heute die Irre von Arévalo. Haben Sie auch schon einmal so etwas Unüberlegtes getan?« Johanna ließ ihr rotes Haar über ihre Schulter fallen.

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Mann.«

»Sie Glückliche.«

»Ja, das denke ich auch manchmal.«

Johanna erhob sich und kam noch näher heran. Ihr Blick wanderte über das lange Haar des Mädchens, das über seinen nackten Hals und den bestickten Ausschnitt des roten Kleides floss, den schmalen Körper. Johanna sah, was Philipp alles an diesem Wesen gefallen würde. Alles, was ihr auch gefiel. Es war schön, lieblich und irgendwie so ausgeglichen. Als würde es nichts geben, was dieses Mädchen aus der Ruhe bringen könnte. Johanna sagte: »Das bedeutet, so unverheiratet und frei, wie Sie sind, sind Sie meine größte Gefahr?«

Das Mädchen entgegnete freundlich: »Nicht solange Ihr Mann nicht hier ist.«

Johanna hob ihr Gesicht wieder an. Ihre Geste, um sich ihrer Würde zu vergewissern. Seit über einem Jahr war ihr Mann in seinem Schloss genau von solchen jungen Mädchen umgeben. Ohne dass Johanna etwas dagegen hätte tun können. Es kostete sie enorme Anstrengung, sich nicht ständig vorzustellen, was da auf den Fluren und in den Zimmern vor sich ging. Sie trat dicht an die junge Frau heran. Ihr Blick hing für einen Augenblick an ihren Lippen. Dann kniete Johanna plötzlich nieder, griff nach der kühlen Hand ihrer engsten Vertrauten und biss kräftig hinein. Das Mädchen zog erschrocken seine Hand weg. »Hoheit!«

Johanna warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Das war stellvertretend für alle jungen Frauen, mit denen mein Mann sich in Brüssel umgibt. Wer hat Sie zu mir geschickt?«

»Ihre Mutter.«

»Um mich zum Essen zu bringen?«

Das Mädchen hielt sich die schmerzende Hand. »Nein, um Sie zur Vernunft zu bringen.«

Johanna erhob sich wieder vom Boden. Es war schön, von der Verräterin offenbart zu bekommen, dass sie eine Verräterin war. Das war neu. »Wie heißen Sie?«

»Mein Name ist Maria de Salinas«, antwortete das Mädchen. »Die Tochter von Martín de Salinas und Josepha Gonzáles de Salas.« Sie sagte es so, als müsste man die beiden kennen. »Sie sind Neuchristen.«

»Aha.« War es ein geheimes Zeichen, dass Maria das Wort »Neuchristen« so betonte, dass es wie ein Witz klang? Wollte sie damit sagen, dass man in diesem Land doch heimlich seinem wahren Glauben nachgehen konnte, ohne von den Inquisitoren der Königin erwischt, gefoltert und vernichtet zu werden? Und dass sie, genau wie Johanna, nicht bereit war, sich bedingungslos und ergeben der Krone unterzuordnen?

Johanna sah Maria scharf an, aber das Gesicht des Mädchens war ernst, das Lächeln verschwunden. Sie sagte: »Eigentlich bin ich gekommen, um zu fragen, ob ich Ihnen Ihren Sohn bringen darf?«

»Meinen Sohn? Warum?«

Sie zuckte überrascht mit den Schultern. »Weil er Ihr Sohn ist.«

Jetzt standen sie beide vor der Tischplatte aus diesem feinen, hellen Holz, an dem noch nie zuvor jemand gesessen zu haben schien. Keine Wachsflecken. Keine Tinte. Keine dunklen Stellen von unruhigen Fingern. Gemeinsam blickten sie auf das zusammengeklappte Triptychon, dessen geschnitzter Holzdeckel von einem goldeingefassten Marienbild geschmückt war.

»Sind das darin die Bilder Ihrer Kinder?« Maria warf Johanna einen dunklen Blick zu. Und in diesem Blick spiegelte sich Johanna. Sie wollte jetzt nicht an ihre kleinen Kinder in Brüssel denken, die von unzähligen Kinderfrauen und anderen, ihr vollkommen fremden Menschen umsorgt wurden. Nur nicht von ihr! Wahrscheinlich war das auch besser so. Wie sollte sie eine gute Mutter sein, wenn sie kein geeignetes Vorbild dafür hatte? Würde sie eine gute Mutter sein können, wenn sie erst einmal dem Zugriff ihrer eigenen furchtbaren Mutter entkommen war?

Als kleines Mädchen hatte sie auf ihren Befehl hin mit ansehen müssen, wie Ungläubige ohnmächtig vor Angst, mit einem Strick um den Hals und erloschenen Kerzen in Händen, durch die engen Gassen, vorbei am erschaudernden Volk, dem Tod entgegentaumelten. Barfuß, nur mit Büßerhemden bekleidet, verbrannten sie qualvoll auf riesigen Plätzen voller Scheiterhaufen, begleitet vom donnernden Klang der Pauken und Trompeten.

Maria streckte plötzlich ihre Hand mit dem Bissabdruck nach dem Triptychon aus. Sie nahm es einfach hoch und klappte es auf. »Was für hübsche Kinder.«

Johanna nahm es ihr gleich wieder ab und klappte es zu. »Ich will meinen Sohn nicht sehen.« Johanna ging zur Tür. Wie ein schwereloser Schatten glitt sie durch den Raum.

»Aber Ihr Sohn will Sie sehen.« Maria lächelte jetzt wieder. Sie glitt ebenfalls durch den Raum, so, als würden sie beide einen geheimen Tanz aufführen, ohne sich zu berühren. Ihre Schatten kreisten im flackernden Kerzenlicht umeinander und es war, als bewegten sie sich im Inneren eines düsteren Kaleidoskops, das von Gottes Hand gedreht wurde, bis jedes Teilchen an seinem ihm zugedachten Platz lag und in der Gesamtheit ein wunderschönes Bild ergab; bevor alles wieder durcheinandergeschüttelt wurde. Johanna öffnete die Tür hinaus zur Treppe. »Woher wollen Sie wissen, was ein Säugling will?«

»Will er nicht das, was wir alle wollen?«

»Ich habe Ferdinand nichts zu geben.«

»Wir werden sehen.« Maria verschwand aus dem Raum und schon war das Bild, der kurze Moment der Vollkommenheit, zerstört.

2

 

»Da ist er.«

Johanna öffnete die Augen. Ihr Kopf lag erhöht auf Kissen, der übrige Körper unter Stepp- und Leinendecken. Das Mädchen von gestern Abend, ihre engste Vertraute, stand schon wieder in der offenen Tür. Maria schien ihren kleinen Sohn im Arm zu halten. Johanna sah gar nicht genau hin. Sie wollte überhaupt nicht wissen, ob es wirklich so war. Über ihrem schläfrigen Blick schwebte ein himmelblauer Baldachin mit Fransen. All die Möbel, von denen sie sich vor ein paar Stunden in den Schlaf verabschiedet hatte, waren wieder da. Der Tisch, der Stuhl. Die Kerzenständer. Nur sie selbst war im Traum weit weg gewesen. Im grünen Dickicht des zwitschernden und flirrenden Urwalds, von dem sie als Dreizehnjährige den Seefahrer Kolumbus hatte erzählen hören. Im Traum war alles genau so gewesen, wie er es damals im Palast von Burgos ihren Eltern atemlos beschrieben hatte. Dabei hatte er unter den bewundernden Blicken ihrer Mutter mit seinen Armen weit ausgeholt, als würde er eine riesige Leinwand bemalen, während er von seinen Erlebnissen auf den Indischen Inseln berichtete. Von halbnackten Frauen, von verzierter Haut, exotischen Früchten und von unerschöpflichen Mengen an Gold. Seine Stimme war durch die Halle gedonnert und Johannas Mutter war verzückt gewesen, wie viele Indios sie zukünftig würde bekehren können. Nicht einmal vor diesen armen Eingeborenen machte sie Halt. Isabella die Katholische! Alles und jeden musste sie sich untertan machen. Und in diesem Zwang wurden die Menschen ausgeplündert, ausgeraubt, getötet und versklavt. Und jetzt war Johanna im Traum ganz alleine dorthin gereist. Sie hatte diese fremde Natur deutlich vor sich gesehen. Nichts als unendlich hohe Bäume, von denen es auf sie heruntertropfte. Blätter, überall Blätter, Farne, Kletterpflanzen. Bis zu den Knöcheln stand sie im morastigen Wasser. Doch vor ihr tauchte kein mit Pfeil und Bogen bewaffneter Indio mit goldenem Nasenschmuck auf, sondern Philipp in edlem Gewand. Sein langes Haar klebte ihm nass am Kopf. Sein Gesichtsausdruck war hart, sein Blick kühl. Sie war so glücklich, dass sie ihm endlich wieder gegenüberstand in der paradiesischen Hitze. In dieser unberührten Schönheit. Von oben brach das Sonnenlicht durch die Baumkronen. In dem aufsteigenden Nebel sah Philipp sie an und erklärte ihr knapp: »Ich liebe dich nicht mehr.« Dann drehte er sich einfach um und verschwand zwischen dem dunstigen Grün und den Baumstämmen. Obwohl Johanna, umschwirrt von tausenden Mücken, immer wieder seinen Namen rief, wandte er sich nicht noch einmal nach ihr um.