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Über die Bücher:

 

In ganz normalen Amsterdamer Wohngegenden kommt es zu grausamen Morden. Maud Mertens und Kyra Slagter ermitteln in zwei Fällen, die sie auf die Spuren eines noch viel größeren Verbrechens führen …

 

Band 1: Schwarzes Wasser

In direkter Nachbarschaft des Elternhauses von Kriminalistikstudentin Kyra Slagter wird ein grausiger Fund gemacht: die Schädelknochen eines verwesten Menschen. Stammen sie womöglich von ihrer spurlos verschwundenen Schwester? Während die Polizei versucht, die Identität des Leichnams zu ermitteln, werden weitere Schädel freigelegt – insgesamt zehn. Bei allen fehlt der Körper. Die leitende Kommissarin Maud Mertens steht vor einem Rätsel: Handelt es sich um einen Ritualmord aus der Vergangenheit? Lebt der Mörder noch und sucht schon nach seinem nächsten Opfer? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, der zu Schauplätzen in ganz Nordholland führt.

 

Band 2: Tödliche Gezeiten

In einer eigentlich ruhigen Gegend Amsterdams wird ein altes Paar brutal ermordet aufgefunden. Kommissarin Maud Mertens begibt sich auf die Jagd nach dem Schuldigen. Unterdessen zieht es die junge Kriminalistikstudentin Kyra Slagter nach London, wo sie hofft, endlich konkrete Hinweise auf den Verbleib ihrer verschwundenen Schwester zu finden. Doch schnell zeichnet sich ab – es geht um mehr. Die Spuren führen zu einem Netzwerk, in das diverse hochrangige Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft verstrickt zu sein scheinen … Wird Kyra Slagter ihre Schwester jemals wiedersehen? Und warum musste das alte Paar sterben?

Maud Mertens und Kyra Slagter – zwei starke Ermittlerinnen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und sich doch perfekt ergänzen.

Über die Autorin:

autor

© Y. Compier Ceejay

 

Isa Maron, geboren 1965, ist Autorin mehrerer erfolgreicher Kriminalromane und gilt in den Niederlanden als eine der Meisterinnen ihres Genres. Ihr Debüt ›Passiespel‹ wurde 2008 als bester Frauen-Thriller des Jahres ausgezeichnet.

Isa Maron

Schwarzes Wasser

 

Tödliche Gezeiten

Zwei Krimis in einem Band

ISA MARON

SCHWARZES

WASSER

DIE NORDSEE-MORDE

Ein neuer Fall für
Maud Mertens und Kyra Slagter

Aus dem Niederländischen
von Stefanie Schäfer

 

Schwarzes Wasser

1

 

Klonk.

Auch das noch. Simon hält inne und blickt hinunter auf die schwarze, feuchte Erde, in die er seine Schaufel gerammt hat. Mit klopfendem Herzen wartet er ab, rechnet jeden Moment mit einer Katastrophe, einer Wasserfontäne, knisternden Funken oder zischendem Gas, aber nichts passiert. Langsam atmet er aus und wischt sich mit dem groben Arbeitshandschuh die Nase ab.

Er steht im weitläufigen Garten einer stattlichen Villa unten am Nieuwendammerdijk. Sie liegt unmittelbar neben dem Jachthafen an einem Seitenarm des IJs, etwas abseits der Nachbarschaft, als wolle sie nichts mit ihr zu tun haben. Simon packt die Schaufel wieder am Griff und treibt sie nochmals in die Erde, stößt aber erneut auf Widerstand. Was immer dort auch steckt, er wird es ausbuddeln müssen, bevor er weitergraben kann. Noch etwa vier Meter, dann ist er endlich fertig. Schon seit Stunden steht er hier im Schlamm, um den neuen Teich ein wenig zu verbreitern.

Vorsichtig wackelt er mit dem Holzstiel der Schaufel hin und her, zieht sie heraus und sticht sie noch einmal in den Boden. Bisher war die Erde weich und geschmeidig wie frische Knete. Er hockt sich hin, aber im schwarz glänzenden Schlamm ist nichts zu sehen. Vielleicht ein Stein? Oder etwas Wertvolles, ein Schatz. Wer auch immer früher hier gewohnt hat, muss reich gewesen sein, davon zeugen die Elf-Zimmer-Villa und das zweitausend Quadratmeter große Grundstück in dieser Gegend von Amsterdam, am Deich, wo Schauspieler und Politiker in großen hölzernen Schifferhäusern wohnen, während sich in den kleinen Arbeiterhäuschen weiter hinten diejenigen drängen, die sich in ihrem Ruhm sonnen wollen.

Langsam richtet Simon sich auf.

»Wenn du fertig bist, kannst du die Schaufel einfach stehen lassen«, hat Jelmer gesagt. »Nur noch das kleine Stück. Ruf an, wenn etwas ist.«

Jelmer behandelt ihn wie einen Idioten, nur weil er eine Therapie hinter sich hat. Mit sechzehn, kurz nach dem Tod seines Vaters, ist Simon an einer Angststörung erkrankt, er wagte sich nicht mehr nach draußen. Jetzt, drei Jahre später, geht es ihm viel besser; er hat seine Krankheit gut im Griff.

Simon blickt zu dem Haus empor, das vor ihm aufragt, dann hinüber zur Straße. Dort, wo er steht, kann ihn niemand sehen. Er schluckt, atmet tief ein und schaufelt noch ein wenig von der schwarzen Erde beiseite.

Hab keine Angst. Sei stark, lass dich nicht von der Angst überwältigen.

Er erschrickt, als etwas Dunkelbraunes zum Vorschein kommt. Der Gegenstand gleicht einem Fußball. So einem ledernen antiken Teil – nur scheint dieses Leder versteinert zu sein, als hätte es sich im Laufe der Zeit gegen Angriffe gewappnet. Also keine Schatzkiste, denkt er und ist ein wenig enttäuscht. Er hätte mal ein bisschen Glück gebrauchen können.

Mit seinen Händen und klopfendem Herzen schaufelt Simon die Erde rings um den Gegenstand beiseite. Die Arbeitshandschuhe zieht er aus, weil er die Finger in den steifen Dingern nicht richtig bewegen kann. Schwarzer, teerartiger Schlamm klebt an seinen Händen, und plötzlich erkennt er, worauf er gestoßen ist. Es ist ein Schädel! Ein menschlicher Schädel! Die Nasenöffnung ist mit Erde gefüllt, und über den größtenteils zahnlosen Oberkiefer windet sich in einer pulsierenden Bewegung ein rosafarbener Regenwurm ins Innere. Simon sieht verklebte Haarbüschel und Hautreste seitlich am Kopf. Er keucht, atmet stoßweise aus. Ihm ist schwindelig. Er hat den ganzen Nachmittag auf einem Friedhof gearbeitet!

2

 

»Es gab keinen Speck heute Morgen.«

Die alte Frau runzelt ihre faltige Stirn und schwenkt den dünnen Zeigefinger hin und her.

»Kein Stückchen!«

»Wie ärgerlich, Mama«, erwidert Maud Mertens geduldig. Sie kann noch immer nicht fassen, wie klein die Welt ihrer Mutter geworden ist. Seit fast fünf Jahren kreist sie ausschließlich um das Frühstück. Sie sitzt vor ihr, das graue Haar dünn, der Hals so schmal, als könne er den Kopf kaum noch tragen. Mit einem gurgelnden Geräusch betont sie ihren Unmut über das Essen.

Roos blickt Maud an, verdreht die Augen und schüttelt leicht den Kopf. Sie kennt ihre Großmutter als demente alte Frau. Dass sie als kleines Kind ein so enges Verhältnis zu ihr hatte, weiß Roos nicht mehr. Manchmal versucht Maud, sie an die frühere Großmutter zu erinnern, die schließlich noch immer in der Frau steckt, zu der sie geworden ist. Aber Roos ist dafür nicht empfänglich. sie reagiert mit der typischen Ungeduld einer Siebzehnjährigen, die das Alter als eine Krankheit betrachtet, die sie niemals bekommen wird.

»Es gab Joghurt«, fährt Mauds Mutter mit angewidertem Gesichtsausdruck fort. »Mit so widerlichem süßem Zeugs drin.«

Maud blickt sich um. Schwere Kiefernstühle stehen an ebenso schweren, mit Plastiktopfpflanzen dekorierten Holztischen. An der Wand hängen Bilder und andere Kunstwerke, die die Bewohner des Pflegeheims angefertigt haben.

Ihr Handy klingelt. Sie zieht es aus der Jackentasche und schaut auf das Display.

»Arbeit«, sagt sie fast unhörbar leise zu Roos und nimmt das Gespräch an. Konzentriert hört sie ihrem Kollegen Niels Bingsten zu, während ihre Tochter sie hoffnungsvoll ansieht und ihre Mutter mit glasigem Blick zum Fenster hinausstarrt.

»Ich muss los«, sagt Maud, als sie das Gespräch beendet hat.

Roos springt auf, räumt die Teetassen ab und bringt sie in die Küche. Zwei Damen mit identischer Frisur gaffen das ganz in Schwarz gekleidete junge Mädchen misstrauisch an. Roos’ schwere schwarze Springerstiefel poltern über den Boden. Seit einer Woche trägt sie ein paar neonblaue Strähnen im schwarzen Haar – um ihre Erscheinung ein wenig aufzupeppen, oder um durch den Kontrast das Düstere daran noch betonen? Wenn Maud es doch nur wüsste. Wenn sie es nur verstehen könnte.

Mauds Mutter ist aufgestanden.

»Gehen wir nach Hause?«, fragt sie. »Endlich. Mir gefällt es hier nicht.«

Maud sieht das hoffnungsvolle Leuchten in ihren Augen. Sie wendet den Blick ab und betrachtet die Hände ihrer Mutter, die wie knorrige Baumwurzeln auf dem Tisch liegen.

»Vielleicht gibt es morgen wieder Speck, Oma«, tröstet Roos ihre Großmutter und umarmt sie. »Das wäre doch schön, oder?«

Maud beugt sich nach vorn und küsst ihre Mutter auf die faltige Wange. »Ich muss gehen, Mama. Die Arbeit. Ich komme bald wieder.«

»Sei nur vorsichtig, Schatz.« Ihre Mutter lächelt traurig, und ihre Stimme klingt auf einmal sanfter als seit Monaten. Langsam lässt sie sich wieder auf den Stuhl sinken. Sie sucht den Tisch ab, und da es keine Teetasse mehr gibt, an die sie sich klammern könnte, zieht sie eine Plastikpflanze zu sich heran.

»Immer dieses Theater um das Frühstück«, bemerkt Roos abfällig, während sie mit großen Schritten auf die Beifahrerseite des Autos zueilt.

Maud steigt ein, schnallt sich an und startet den Wagen. Schweigend stellt sie das Navi ein, obwohl sie den Weg kennt.

»Es ist schade, dass du das Café von Opa und Oma nicht mehr gekannt hast«, erwidert sie, wirft einen Blick auf die lange Schlange vor der Ampel und schert aus auf die Straßenbahnspur. Als die Ampel auf Grün springt, ist sie die Erste in der Schlange. »Dort gab es das beste Frühstück am ganzen Dappermarkt. Jeder, der einen guten Start in den Tag wollte, ging dorthin. Gebratene Eier mit dicken Scheiben Weißbrot. Und Speck. Dafür waren sie berühmt, für den guten Speck. Den besten Speck von Amsterdam.«

Einen Augenblick lang herrscht Stille im Auto.

»Was ist eigentlich los?«, fragt Roos. »Wo fahren wir hin?«

Maud zuckt mit den Schultern. »In einem Garten in Amsterdam-Nord hat jemand einen halb verwesten Kopf ausgegraben.«

»Wo treffen wir uns?« Kyra Slagter stellt ihr Handy auf Lautsprecher und strafft den Rücken. Je weiter sie sich von ihrem Zeichentablet entfernt, desto besser gefällt ihr das in graublauen Tönen gehaltene Bild. Vor allem die Brandung ist ihr gut gelungen. Die verschwommene Gestalt am Strand – im Wind flatterndes Cape, langer Stab mit funkelndem Stein am Knauf – verleiht ihm Tiefe und etwas Rätselhaftes. In der Ferne, am dunstigen Horizont, ist ein kleines Segelschiff zu sehen. Kyra reckt sich.

»Okay«, sagt sie zu Antoine. »In der Brauerei, um sieben. Bis nachher!«

Mist, schon fünf Uhr! Sie muss noch duschen, ihre Klamotten in den Trockner stecken und mit dem Hund gehen.

Sie steht auf, nimmt ihren Pulli vom Stuhl und bleibt einen Moment still stehen. Sarina lacht sie vom Achtersteven eines Segelboots aus an, die Nase ein wenig verbrannt, vom Wind zerzauste blonde Strähnen im Gesicht. Dave hat den Arm um sie gelegt. Sie muss glücklich gewesen sein.

Kyra hat das Foto an die Wand geheftet, mit einer rosafarbenen Reißzwecke aus der Schachtel mit Schreibutensilien, die sie in der letzten Grundschulklasse von ihrer Großmutter bekommen hat. Sie enthielt Stifte in allen Farben, rosa Klebeband mit roten Herzen, ein rosa Etui mit Glitzer, sogar rosafarbene Büroklammern. Dieses Jahr hat sie ein sündhaft teures Zeichentablet bekommen, für ihr Studium. Sarina wüsste nicht mal, was das ist und wozu man es braucht. Wäre sie in ein Zeitloch gefallen und würde plötzlich wieder auftauchen, würde sie ihre Schwester fragen, warum sie nicht auf Papier male. Digitale Kunst, DeviantArt, das würden für Sarina böhmische Dörfer sein. So lange ist sie schon weg.

Kyra hält den Atem an. Sie hört die Wanduhr im Erdgeschoss ticken.

Tut mir leid.

Tränen steigen ihr in die Augen und kullern über ihre Wangen.

Vielleicht sollte sie die Fotos abhängen, und auch die Nordsee-Karte mit der eingezeichneten Route, die Sarina mit Dave zurückgelegt hat, oder allein, oder gar nicht – sie hat keine Ahnung – und dazu auch alle anderen Aufzeichnungen, die Pfeile, die von Mensch zu Information zu Ort führen. Sie sollte alles überstreichen.

Als sie Grigor traf, Daves Vater, hoffte sie, die Suche nach ihrer Schwester würde einen entscheidenden Impuls erhalten, doch stattdessen verwandelte sich der ganze Fall erneut in eine stehende, stinkende Pfütze. Sie stöpselt ihre Ohrhörer ein und schaltet Musik an. George Ezra singt fröhlich, man dürfe ihm die Schuld an allem geben. What are you waiting for?, fragt er mit seiner rauen Stimme. Ja, denkt Kyra, worauf warte ich eigentlich?

Auf Neuigkeiten, eine Nachricht, den Durchbruch. Was sagt es über Sarina, wenn sie die Suche aufgibt? Was sagt es über sie? Wann schlägt sture Dickköpfigkeit in armseliges Klammern um?

Kyra zieht sich den Pulli ungeduldig über den Kopf und bläst die statisch aufgeladenen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Vielleicht solltest du sie loslassen«, hat Antoine ihr diese Woche einmal mitfühlend geraten. Schau nach vorn, wollte er wohl damit sagen, und er hat recht.

Maud parkt ihr Auto oben auf dem Deich, an der Ecke einer Seitenstraße, wo sie nicht den Verkehr behindert. Es ist ein sonniger Tag, der Wind rauscht sanft im Laub der Bäume und unten am Deich schlagen sich ein paar schneeweiße Ziegen mit dem saftigen Gras und dem zarten Weißklee den Bauch voll. Idyllisch, könnte man denken, wenn nicht ein paar Meter weiter eine Leiche im Garten läge.

»Du kannst nicht mitkommen«, sagt Maud zu Roos, die ihr folgt.

Roos sieht sie schweigend an.

»Das ist ein Tatort«, fügt Maud hinzu, als ihre Tochter nicht reagiert.

»Ich warte hier auf dich«, erwidert Roos und lehnt sich entspannt gegen einen Pfeiler neben dem Zugangstor. »Wenn es mir zu lange dauert, gehe ich einfach zu Fuß nach Hause.«

Maud nickt und dreht sich um. In Gedanken geht sie die Liste der Punkte durch, die abgehakt werden müssen. Fundort untersuchen, Rechtsmediziner und Forensisches Institut kontaktieren, Nachbarn befragen.

»Liegt offensichtlich schon eine ganze Weile da«, verkündet Mauds Kollege Niels Bingsten zur Begrüßung. Der große, magere Mann kommt mit langen, schlenkernden Gliedern auf sie zu. Sein Gesicht ist vom jahrelangen starken Rauchen gezeichnet, obwohl er vor ein paar Monaten aufgehört hat.

»Jahre?«, fragt Maud, als Niels sie erreicht hat. »Oder Monate?«

»Ich würde sagen Jahre«, antwortet er. »Aber das ist nur meine Vermutung. Die Kollegen fangen gerade an, weiterzugraben.«

Maud nickt. Das Grundstück ist weitläufig; eine große Villa ragt auf einer Art Steinsockel empor. Sie ist auf drei Seiten von einer schmalen Terrasse umgeben, deren verschnörkeltes weißes gusseisernes Geländer frisch gestrichen zu sein scheint.

»Wer wohnt hier?«, fragt Maud.

»Dieser Typ aus dem Fernsehen, dieser Edward Narcing. Er hat das Haus erst vor Kurzem gekauft und von Grund auf renovieren lassen.«

»Wer, hast du gesagt?«

»Dieser Survival-Spezialist. Er veranstaltet Expeditionen in unwegsame Gebiete und gibt Tipps, wie man dort überleben kann. Er leitet auch die Kampagne für den WWF

»Ach, der. Ich weiß, wenn du meinst.«

»Er ist im Ausland, und seine Frau ist nicht zu Hause.«

»Weiß man, wo sie ist?«

»Keine Ahnung. Wir versuchen, über die Leitstelle ihre Nummer zu ermitteln.«

»Keine Kinder?«

»Doch, zwei, im Teenageralter. Sind auch nicht zu Hause.«

»Und sie sind gerade erst eingezogen? Wer hat vorher hier gewohnt?«

»Das ermitteln gerade die Kollegen im Präsidium.«

Maud geht zum Zelt, das die Kriminaltechniker inzwischen aufgeschlagen haben, und begrüßt die dort beschäftigten Kollegen.

»Der Gärtner hat die Leiche gefunden«, erklärt ihr Niels. »Ein junger Typ, der den Teich erweitern sollte. Er sitzt da drüben, auf der Treppe vor der Tür.«

»Ich rede gleich mit ihm«, sagt Maud und nähert sich dem Fundort.

»Habt ihr sonst noch etwas gefunden?«, fragt Niels die Kollegen in den weißen Plastikoveralls. Wie immer haben sie sich in großen konzentrischen Kreisen auf den Schädel zu gearbeitet und dabei die Umgebung gründlich nach Spuren und Beweismitteln abgesucht. Jetzt arbeiten sie dicht am Kopf.

»Nichts«, antwortet einer von ihnen und deutet auf die Grube. »Wir fangen jetzt damit an, weiterzugraben.«

Maud hockt sich hin, um den teilweise freigelegten Schädel besser betrachten zu können. Er sieht von dieser Seite ziemlich unversehrt aus, abgesehen von einem klaffenden Riss, der wahrscheinlich von der Schaufel des Gärtners stammt. Der Kopf liegt in einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad da, das Kinn auf der Brust – wenn man den Rest der Leiche sehen könnte. Vom Unterkiefer ragt nur ein kleines Stück über die schwarze Erde hinaus. Dieser Kopf hat geredet, geweint, gelacht, sich über Schularbeiten gebeugt und sich gesorgt, und jetzt liegen hier die Reste dieses denkenden, atmenden Menschen. Maud steht auf und kehrt zu den Kollegen zurück. Jetzt muss erst die SpuSi ihre Arbeit tun, und dann gleich der Rechtsmediziner. So lange kann sie dem jungen Mann schon einmal ein paar Fragen stellen.

Bei der Villa tut sich irgendetwas. Schon seit Monaten wird dort umgebaut, aber diesmal scheint es etwas anderes zu sein. Kyra zieht Lot etwas näher zu sich hin und überquert die kleine Brücke zum geschlossenen Zugangstor. Ein Mädchen mit schwarzblauem Haar und Gothic-Klamotten lehnt an einem der Pfeiler. Sie tippt ununterbrochen auf ihrem Handy herum. Lot wedelt mit dem Schwanz, aber das Mädchen reagiert nicht auf den Hund.

»Was ist denn da los?«, fragt Kyra.

Das Mädchen blickt auf. »Eine Leiche im Garten«, antwortet sie.

»Eine Leiche?«

»Ja, eine Leiche, eine tote Person, ein Skelett, ein Gerippe.« Das Mädchen sieht sie mit dunkelbraunen Augen spöttisch an. Im rechten Ohr trägt sie vier kleine Ringe und ihre Augen sind dunkel geschminkt. Viel älter als sechzehn, siebzehn wird sie nicht sein. Kyra nickt. Wie zum Teufel kommt eine Leiche in den Garten von Familie Narcing? Ihr läuft es kalt den Rücken hinunter.

Nein!

Unmöglich! Wie kann Sarina auf der Nordsee verschwinden und dann hier im Garten eines Nachbarhauses auftauchen? Das kann wirklich nicht sein.

Kyra greift sofort zum Handy und versucht Maud Mertens zu erreichen, aber sie meldet sich nicht. Soll sie ihre Eltern benachrichtigen? Müssen sie Bescheid wissen? Mein Gott, wenn es ihre Schwester ist, wenn …

Nein, das kann nicht sein. Sie weiß genau, dass Sarina von einer Segeljacht irgendwo im Norden des deutschen Wattenmeers verschwunden ist, vielleicht in Dänemark.

Aber nichts ist unmöglich. Milly Boele wurde nach ihrem Verschwinden ebenfalls im Garten eines Nachbarn gefunden. Eines Polizisten sogar, jemanden, den man nie verdächtigt hätte, junge Mädchen zu töten.

Sie muss Sebastian Bescheid sagen. Sie schickt ihm eine SMS. Wo bist du? Er antwortet nicht. Die Familie wohnt erst seit ein paar Monaten hier. Kyra hat Sebastian beim Spazierengehen mit Lot kennengelernt, er hat auch einen Hund. Seine Zwillingsschwester und seine Eltern hat Kyra nur einmal gesehen.

»Du musst Kyra Slagter sein«, sagt das fremde Mädchen plötzlich zu ihr.

Kyra dreht sich zu ihr um. »Ja, und wer bist du?«

»Ich bin Roos, die Tochter von Maud Mertens«, antwortet sie. »Meine Mutter hat viel von dir erzählt. Du wohnst doch hier in der Nähe, oder? Und das muss der Hund eurer Nachbarinnen sein.«

»Ist deine Mutter hier?«, erwidert Kyra. Maud hat also zu Hause von ihr erzählt. »Ich wusste gar nicht, dass Maud Kinder hat. Ich muss sie unbedingt sprechen.«

»Ich bin ihre einzige Tochter«, entgegnet Roos, hält ihr Handy am ausgestreckten Arm von sich weg und macht ein paar Fotos. »Sie ist da drin.«

Kyra versucht das Tor zu öffnen, aber es ist abgeschlossen. Sie könnte darüberklettern, aber das ginge zu weit.

»Ich muss mit Mevrouw Mertens sprechen!«, ruft Kyra einem Polizisten zu, der vor der Garage steht. »Hauptkommissarin Maud Mertens!«

Der Mann gibt ihr zu verstehen, er würde gleich zu ihr kommen.

»Deine Mutter ist da drin?«, fragt Kyra das Mädchen. »Bist du ganz sicher?«

»Klar«, sagt das Mädchen, ohne aufzublicken. Wieder tippt sie eine Weile auf ihrem Handy herum und steckt es dann in ihre Jackentasche.

»Ist es eine Frauenleiche?«, fragt Kyra.

»Keine Ahnung.« Roos blickt hinüber zu dem geschäftigen Treiben im Garten des Hauses. »Der Gärtner hat einen Kopf gefunden. Die anderen Leichenteile müssen sie wohl noch ausgraben.«

Sarina mit ihren langen blonden Haaren und dem mageren Körper. Die Schwester, die nach jeder Klassenarbeit weinte, in der Überzeugung, sie hätte sie völlig verhauen, und die überglücklich war, als sie das Abi geschafft hatte. Von einem Ohr zum anderen grinsend war sie zu einem Mädelsurlaub mit Freundinnen nach Texel aufgebrochen und von dort nicht mehr zurückgekehrt.

Kyras Herzschlag beschleunigt sich, und sie versucht nochmals Maud zu erreichen, die sich immer noch nicht meldet. Es erscheint ihr plötzlich so logisch. So offensichtlich. Nein, reiß dich zusammen. Sie atmet tief ein und versucht sich einzureden, dass es sich bei der gefundenen Leiche nicht um Sarina handeln kann. Sarina ist irgendwo in Dänemark, Schweden, Norwegen oder auf dem Grund der Nordsee, aber nicht in Amsterdam. Kyra hat genügend Hinweise darauf, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen ist, aber nicht hier in der Nähe.

»Langweilig, diese Polizeiarbeit«, bemerkt Roos. »Ich stehe jetzt schon seit einer Viertelstunde hier, und nichts tut sich.«

»Bei Polizeiarbeit denken alle gleich an wilde Verfolgungsjagden«, erwidert Kyra. »Dabei besteht sie in Wirklichkeit hauptsächlich aus mühsamer Spurensuche und langwieriger Tüftelei.« Stundenlang hat sie mit ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen geübt, Spuren zu sichern und ohne den Tatort zu kontaminieren kleine Schilder neben Beweismaterial aufzustellen, endlose Reihen von Fotos zu machen, Fingerabdrücke aufzuspüren und zu dokumentieren. Alles zu Protokoll zu nehmen und anschließend digital zu verwalten, sodass alle Kollegen jederzeit darauf zurückgreifen konnten. Kriminalpolizeiliche Ermittlungen glichen dem Zusammensetzen eines Puzzles mit tausend blutigen Teilen. Wenn nicht noch mehr.

»Ich habe gehört, du studierst Kriminalistik und willst später auch zur Kripo«, bemerkt Roos.

Kyra nickt. »Zwei Semester habe ich schon fast hinter mir.«

»Und? Macht’s Spaß?«

»Klar. Und was willst du nach der Schule machen?« Kyra schaut Roos an und versucht sich einen Beruf vorzustellen, der zu ihrem Äußeren passt. Rausschmeißerin vielleicht. Tattookünstlerin. Wo bleibt Maud bloß? Kyra winkt dem Polizisten vor der Garage zu, der noch immer am Handy telefoniert. Er winkt zurück, rührt sich aber nicht von der Stelle.

»Keine Ahnung«, antwortet Roos. »Vielleicht auf die Kunstakademie gehen. Fotografie studieren.«

»Cool.«

»Da ist ja meine Mutter«, sagt Roos, als Maud Mertens an der Ecke der Villa erscheint. Kyra winkt ihr so hektisch zu, dass sie sie gar nicht übersehen kann. Mit hochgezogenen Augenbrauen kommt Maud zu ihr rüber. Kyras Handy meldet sich, und sie sieht, dass Sebastian online ist. Schnell schreibt sie ihm, er solle dringend nach Hause kommen und seine Eltern benachrichtigen.

Was ist denn los?, schreibt er zurück.

Gruseliger Fund in eurem Garten, antwortet Kyra. Komm her, so schnell du kannst.

»Hallo, Kyra«, begrüßt Maud sie und sagt dann zu Roos: »Es kann noch eine Weile dauern. Geh lieber schon mal ohne mich nach Hause.«

»Meinen Sie, es könnte …«, stottert Kyra. »Also, könnte es vielleicht sein, dass …«

»Ich weiß es nicht«, antwortet Maud, die sofort begreift, worauf Kyra hinaus will. »Ich halte es aber für sehr unwahrscheinlich«, fügt sie hinzu. »Sarinas Spur endet auf Norderney. Wie sollte sie von dort hierhergekommen sein? Und warum? Warum hätte der Täter in dem Fall nicht schon in Amsterdam zuschlagen sollen?«

Kyra schweigt.

»Sie hat recht«, sagt Roos. »Es wäre schon ziemlich verrückt, wenn das deine Schwester wäre.«

Maud schaut Roos an, sichtlich erstaunt über die Unterstützung von ihrer Seite.

»Ich muss mit der Familie reden«, fährt sie fort. »Aber es ist niemand zu Hause. Ich habe Mevrouw Narcing auf die Mailbox gesprochen, aber sie hat sich noch nicht gemeldet. Ihr Mann ist im Ausland, soweit ich weiß. Kennst du die Narcings?«

»Ich habe dem Sohn gerade eine SMS geschickt«, antwortet Kyra und wirft einen Blick auf ihr Handy. »Sebastian heißt er. Er ist unterwegs.«

Maud lacht. »Ich hätte es wissen müssen«, sagt sie kopfschüttelnd. »Warum habe ich dich nicht gleich angerufen?«

Kyra zuckt mit den Schultern. Lot zerrt ungeduldig an der Leine. Sie sollte den Hund besser nach Hause bringen.

»Na gut, dann gehe ich jetzt.« Roos sieht ihre Mutter missmutig an und zückt wieder ihr Handy.

»Bis gleich«, erwidert Maud. »Sag Papa Bescheid, dass ich arbeiten muss.«

»Das weiß er auch, ohne dass ich es ihm sage«, antwortet Roos, wirft sich einen kleinen Rucksack über die Schulter und macht sich auf den Weg.

»Es macht übrigens ziemlich viel Spaß«, ruft Kyra ihr nach. »Das Studium, meine ich.«

Roos schaut sich grinsend um, hebt die Hand und geht weiter, ohne sich noch einmal nach ihrer Mutter umzusehen.

»Maud?« Der Rechtsmediziner ruft sie, und Maud nickt ihm zu.

»Was weißt du über die Familie?«, fragt sie Kyra.

»Ich bringe am besten erst mal den Hund weg«, erwidert Kyra. »Ich bin gleich wieder da, und dann erzähle ich, was ich weiß.«

»Einverstanden«, antwortet Maud.

Kyra dreht sich um und rennt los, wobei sie den Hund ermahnt, artig bei Fuß zu bleiben.

Maud schaut ihr nach. Irgendwie wundert sie sich gar nicht darüber, hier auf Kyra gestoßen zu sein. Die junge Frau taucht immer dann auf, wenn man nicht mir ihr rechnet. Obwohl: So abwegig ist ihre Anwesenheit auch wieder nicht, schließlich wohnt sie nur ein paar Häuser weiter am Deich. Auch der Gedanke, es könne sich um die Leiche Sarinas handeln, ist nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick scheint. Maud hat selbst bereits daran gedacht, aber die Möglichkeit schnell verworfen. Es gibt sehr deutliche Hinweise darauf, dass das Mädchen weit weg von hier verschwunden ist und sich unmittelbar zuvor in der Gesellschaft von Leuten befunden hat, die nicht das Geringste mit der Familie Narcing zu tun haben. Maud kehrt zu dem weißen Zelt zurück und meldet sich beim Rechtsmediziner.

»Ich muss dich enttäuschen«, verkündet dieser. »Oder vielleicht auch nicht.«

»Nämlich?«

»Es gibt keine Leiche. Hier liegt nur ein Kopf.«

3

 

Er ist gekommen, um es zu vollenden. Schon seit Monaten fiebert er dieser Phase entgegen. Dem Höhepunkt jedes Jahres. Danach zehrt er zunächst davon, dann träumt er schon vom nächsten Mal.

Ohne Eile geht er die Stufen hinunter. Den Weinkeller hinter der Glastür beachtet er nicht und öffnet stattdessen die gepanzerte und kaum sichtbare Pforte rechts davon, indem er einen Code auf dem Tastenfeld der Klimaanlage eingibt, die nicht nur für den Wein installiert wurde. Mit einem leisen Klicken springt das Schloss auf; dann schwenkt die dicke Metalltür geräuschlos nach innen. Als er den Raum betritt, leuchtet weiches gelbes Licht auf, das allmählich heller wird.

Der Raum ist quadratisch, makellos sauber und glänzend weiß gestrichen. Sofort steuert er auf die linke Ecke zu und bleibt dort stehen. Er zieht sich aus, faltet seine Kleidung sorgfältig zusammen, geht und legt sie auf einen schmalen Tisch an der Wand. Dann kehrt er in die Ecke zurück, wendet sich seinem Heiligtum zu und verharrt wie in Trance.

Nach einigen Minuten breitet er seine Arme in Schulterhöhe aus, die Handflächen geöffnet, die Finger gespreizt, und atmet mehrmals tief ein und aus. Er zittert, stöhnt, spürt das Leben in seinem Körper pulsieren. Dies ist seine Bestimmung, hierfür lebt er. Noch. Wieder.

Er spürt, dass sie da sind, dass er das Zentrum ist, der, auf den alle Blicke gerichtet sind. Das Zittern wird heftiger, doch er zwingt sich, stehen zu bleiben und seine Hände nicht zu gebrauchen. Doch er spannt die Gesäßmuskulatur an und stößt das Becken rhythmisch nach vorn, bis er den Kopf in den Nacken legt, alle Spannung aus sich herausfließen spürt und den tiefsten Seufzer seit langer Zeit ausstößt.

Dann zieht er sich wieder an, säubert gründlich den Fußboden und geht hinauf.

Er steigt ins Auto, fährt in die Stadt, lässt es dort in seiner Garage zurück und geht zu Fuß ins Zentrum.

Der Damm ist immer ein idealer Ausgangspunkt. Hier nimmt die Spannung wieder zu, Herzschlag und Atem beschleunigen sich, seine Geilheit wird stärker. Für einen kurzen Moment spürt er jenes Prickeln auf der Haut, das von der Gefahr ausgeht, von dem Bewusstsein, dass sein Vorhaben scheitern könnte, dass er einen fatalen Fehler begehen und in den Abgrund stürzen könnte, weil das Seil zu dünn oder zu schlaff ist und er – natürlich – ohne Netz balanciert. Aber was für einen Sinn hätte sein Unternehmen, wenn er dabei kein Risiko einginge?

Er schlendert scheinbar entspannt daher, doch all seine Sinne sind geschärft. Sein ganzer Körper ist angespannt, bereit, im Bruchteil einer Sekunde zuzuschlagen. Hier auf den breiten Stufen rund um den hohen Obelisken mit den Skulpturen, die Verzweiflung und Elend ausdrücken, geschützt von der halbrunden Gedenkmauer, sitzen so viele, dass er reichlich Auswahl hat.

Erde, durch Opfer geweiht …

Er hat weder Augen für die in Stein gemeißelten Worte, noch für die mit Erde gefüllten Urnen, sondern konzentriert sich auf die jungen Mädchen. Was ihn nicht interessiert, nimmt er kaum wahr. Da, eine Blondine auf zwei Uhr. Nein, zu dick. Eine andere direkt vor ihm. Interessant. Sie lacht. Doch ihre quietschende Stimme enttäuscht ihn, und er geht weiter. Eine halbe Stunde später wendet er sich in Richtung Straßenbahn, blickt sich um und überquert den Platz. Vor dem Palast stehen zahlreiche Touristengruppen. Keine Eile, er hat keine Eile, mehr noch, es ist das Spiel, die Jagd, die unberechenbare, unsichtbare Gefahr, die von ihm ausgeht, welche ihm Genuss bereitet. Dort, diese – die Große da. Er nähert sich dem Mädchen und lächelt ihm zu. Anmutig streicht es eine Locke hinter das Ohr.

Ein großer Typ mit dicken Muskeln wirft ihm einen misstrauischen Blick zu, und er setzt seinen Weg langsam fort. Aus ein paar Metern Entfernung betrachtet er das Mädchen eingehend, und je länger er es anblickt, desto länger verweilt er bei seinem Gesicht, desto stärker werden seine heißen, wilden Fantasien angefacht. Wundervoll. Es würde wundervoll mit ihr werden.

4

 

»Aber wo ist der Rest?«, fragt Niels Bingsten, der sich breitbeinig vor dem Rechtsmediziner aufgebaut hat, die Arme verschränkt. Er starrt sein Gegenüber an, als mache er es dafür verantwortlich, dass nur ein Kopf im Garten liegt, und keine Leiche.

»Wir müssen weitersuchen«, sagt einer der Männer in Weiß zu Maud. Seine Stirn ist schweißnass. »Wahrscheinlich liegt der übrige Teil an einer anderen Stelle im Garten.« Er deutet auf den Fundort. »Wir fangen mit der Rasenfläche vor dem Haus an.«

Maud nickt. Sie weiß, dass es keinen Sinn hat zu fragen, wie lange sie brauchen werden.

»Wie lange liegt der Kopf schon da, was würdest du sagen?«, fragt Maud, wieder an den Gerichtsmediziner gewandt, einen kleinen, ernsten Mann indonesischer Herkunft.

Er zuckt mit den Schultern und antwortet gedehnt: »Tja, eine ganze Weile. So auf den ersten Blick würde ich meinen, etwa zwei Jahre. Aber du weißt ja, wie das ist. Der Boden hier ist ziemlich feucht und enthält viele Kleinlebewesen. Einerseits kann das zu schnellerer Verwesung und Zersetzung führen, andererseits sorgt der torfartige Boden manchmal sogar für eine bessere Konservierung bestimmter Teile der Leiche. Wie du siehst, ist hier auf der Seite noch ziemlich viel Haut erhalten.«

»Ein Kopf in gutem Zustand«, bemerkt Niels. »Dank eines ausgiebigen Schlammbads.«

»Auf Anhieb kann ich auch das Alter des Opfers nicht bestimmen«, fährt der Arzt fort und übergeht Niels’ Einwurf. »Ich vermute jedoch, dass es sich um den Schädel einer Frau handelt, obwohl ich das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht mit Sicherheit sagen kann. Das Kopfhaar ist jedenfalls lang.«

»Wir sollten vorerst noch keine Schlüsse ziehen«, unterbricht ihn Maud.

»Falls es dich interessiert«, erwidert der Gerichtsmediziner kühl, »um den Hals des Opfers – oder besser dem, was davon übrig ist – liegt ein Stück Seil.«

»Erwürgt«, sagte Maud.

»Kann sein.« Und mit herablassendem Grinsen fügt er hinzu: »Wir sollten vorerst noch keine Schlüsse ziehen.«

Niels lacht leise in sich hinein, und Maud seufzt unauffällig. Nicht ablenken lassen. Es ist Freitagnachmittag, und eigentlich wollte sie schon mit einem Bierchen im Garten sitzen. Sie darf nicht vergessen, Edwin noch anzurufen. Bestimmt ist er schon dabei, das Abendessen zuzubereiten.

Die Kriminaltechniker beginnen mit der Absperrung der größeren Parzelle, die umgegraben werden soll.

»Und, was machen wir?«, fragt Niels, als sie zur Auffahrt vor der Garage zurückkehren, um nicht im Weg zu stehen.

»Ich möchte mit den Bewohnern des Hauses sprechen«, antwortet Maud. »Hat die Leitstelle sie schon erreicht? Ruf doch bitte mal im Präsidium an und erkundige dich, ob man schon weiß, wer der Vorbesitzer des Hauses ist.« Sie deutet mit dem Kinn zum Zugangstor. »Ich unterhalte mich solange mit Kyra, sie scheint die jetzigen Besitzer zu kennen.«

»Kyra Slagter«, sagt Niels, als er die junge Frau auf sich zukommen sieht. »Sieh mal einer an.«

»Sebastian Narcing ist unterwegs«, verkündet Kyra, als sie etwas außer Atem durch das Tor tritt. »Seine Mutter kommt auch gleich.«

»Was weißt du von der Familie?«

Kyra erzählt, dass das Haus monatelang umgebaut wurde.

»Aber kennengelernt habe ich bisher nur Sebastian«, fährt sie fort. Scheinbar hat sie die Befürchtung, sie könnten den Kopf Sarinas gefunden haben, bereits verdrängt.

»Er ist vierzehn«, fährt das Mädchen fort, »und er hat eine Zwillingsschwester, Jacomien. Seinen Vater habe ich nur mal von Weitem gesehen, und seiner Mutter Claire habe ich einmal die Hand geschüttelt, aber das war’s. Ich habe das Gefühl, dass die Leute ständig unterwegs sind. Der Vater wegen seiner Fernsehsendungen und Verpflichtungen als Moderator, die Mutter wegen ihres Online-Designermodeshops. Beide Eltern sind oft im Ausland.«

»Und was ist mit den Kindern?«

»Die sind in der Schule, beim Sport, beim Nachhilfeunterricht – das Übliche halt.«

»Ich meine, wenn die Eltern unterwegs sind.«

»Sie bleiben solange allein zu Haus. Alt genug sind sie.«

»Aber du hast doch gesagt, sie wären erst vierzehn?«

»Früher hatten sie Au-pair-Mädchen. Sogar zwei auf einmal. Sebastian sagt, er wäre heilfroh, dass sie die los seien.«

Einen Moment lang blicken beide gedankenverloren auf die Grabungsarbeiten im Garten. Niels gesellt sich wieder zu ihnen, und seine ganze Haltung drückt aus, dass er Neuigkeiten hat.

»Das Haus hat früher Ina Demsterwold gehört«, verkündet er atemlos. »Der Witwe von Ruud Demsterwold.«

»Das hätte ich Ihnen gleich sagen können«, erwidert Kyra, aber Niels und Maud achten nicht auf sie.

»Demsterwold?«, fragt Maud erstaunt. »Du meinst … Aber hat der denn nicht in Den Haag gewohnt?«

»Das dachte ich auch, aber seine Frau und seine Kinder haben hier gewohnt. Das hier war der Familiensitz, und die Wohnung war nur ein …«

Rasch schneidet ihm Maud mit einer Geste das Wort ab, damit Kyra nicht alles mit anhört. Wie bitte, Demsterwold könnte in diesen Fall verwickelt sein? Eine öffentliche Person mit zahlreichen Flecken auf der weißen Weste. Ein Mann, über den Niels seine ganz eigene Meinung hat, da sie bei einem früheren Fall schon einmal auf seinen Namen gestoßen sind.

»Verdammt!«, flucht Niels und läuft einmal hin und her. »Maud, du weißt, was das bedeutet … Verdammt!«

»Im Moment bedeutet das noch gar nichts, Niels.«

Kein Aufstand jetzt. Nicht hier, mitten in der Öffentlichkeit. Ruhe bewahren. Demsterwold ist vor zwei, drei Jahren verstorben, so lange liegt der Kopf hier noch nicht. Möglicherweise hat er gar nichts damit zu tun.

Nervös läuft Niels in Richtung des Fundorts und kehrt dann wieder zurück. Er atmet tief durch. »Das wird … interessant …«, sagt er schließlich. »Du hast recht. Wir reden gleich weiter.«

»Genau«, sagt Maud, und in ihrem Kopf hallt das Echo einer Frauenstimme wider: So viele blaue Flecken hatte sie nun auch wieder nicht.

»Ein Schritt nach dem anderen«, sagt sie, ebenso zu sich selbst wie zu Niels. »Erst die Fakten, nur die reinen Fakten. Wir sollten uns auf das konzentrieren, was wir bis jetzt haben.«

Sie entfernt sich von Niels und Kyra. »Ich muss ein paar Leute anrufen«, sagt sie über die Schulter hinweg. »Bin gleich zurück.«

Sie muss sich überlegen, wie sie an den Fall herangehen soll. Sie muss Niels in der Spur halten. Die Presse auf Abstand. Ihre Vorgesetzten bei Laune. Das hier ist die Gelegenheit, alles richtig, alles perfekt zu machen. Sie ruft ihren Chef an, Erik Tijssen, hinterlässt ihm eine Nachricht, in wessen Garten sie steht und warum, legt auf und kehrt zurück. Er wird die Nachricht auch über andere Kanäle erhalten, aber es ist sinnvoll, ihn selbst zu informiert.

»Wie lange hat die Familie Demsterwold hier gewohnt?«, fragt sie Niels, während sie an der Hauswand entlangschreitet und versucht, sich eine Vorstellung vom Inneren des Hauses zu machen.

»Der Kopf muss zu der Zeit hier vergraben worden sein, als sie noch hier wohnten«, antwortet Niels. Noch immer aufgeregt läuft er neben ihr her. »Kyra«, sagt Maud. »Wir müssen hier jetzt unsere Arbeit tun, also vielleicht könntest du …« Nach Hause gehen, will sie fortfahren, wartet aber erst, ob Kyra es von selbst begreift.

»Ich will die Narcings sprechen«, sagt Maud. »Ich will mehr über die Demsterwolds und über dieses Haus wissen.«

»Du willst vieles wissen«, sagt Niels verbissen, »von vielen Leuten.«

Kyra bleibt einfach stehen, und Maud ist beinahe belustigt. Die junge Frau handelt noch genauso dreist und beharrlich wie vor einem Jahr, als sie als eine der Ersten bei der Leiche von Marc Gaullier gewesen ist. Sie steckt noch immer ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen, doch sie scheint Gott sei Dank wesentlich ruhiger und vernünftiger geworden zu sein. Gleich wird sie wieder fragen, wie es um die Ermittlungen im Fall ihrer verschwundenen Schwester bestellt ist.

»Kyra«, sagt Maud. »Du musst jetzt wirklich gehen.«

Die junge Frau holt Luft, um etwas zu erwidern, doch da ruft einer von Mauds Kollegen: »Maud!«

Der weiß gekleidete Techniker winkt ihr zu. Maud eilt zur Grabungsstelle.

»Noch ein Kopf«, verkündet der Gerichtsmediziner und deutet auf einen Schädel, der gut einen Meter vom Fundort des ersten entfernt liegt.

5

Letztes Jahr im Dezember

Sie haben sich im »Stork« verabredet, dem Fischrestaurant am IJ. Intim genug, um in Ruhe miteinander reden zu können, und groß genug, um ein ungestörtes Eckchen zu finden. Sie sitzen an einem großen Tisch, Kyra, Jarno, ihre Eltern und Daves Vater, der aus den USA angereist ist.

»Wir wissen nicht, an welchem Tag genau Dave verschwunden ist«, sagt er, nachdem er einen Schluck von seinem Wasser getrunken hat. »Aber nachdem wir gut eine Woche lang vergeblich versucht hatten, ihn zu erreichen, wussten wir, dass etwas passiert sein musste.«

Daves Vater Grigor Kowzinsky spricht amerikanisches Englisch mit einem leichten slawischen Akzent. Er ist ein großer, athletisch gebauter und außergewöhnlich attraktiver Mann, obwohl sein Gesicht und seine Haltung Spuren eines harten Lebens und großer Sorgen zeigen. Er erzählt davon, dass er bereits seit vierzig Jahren in Amerika lebe und mit großem Erfolg eine Sicherheitsfirma aufgebaut habe – er installiere Alarmanlagen bei den Reichen und Berühmten –, sich aber seit Daves Verschwinden nicht mehr richtig auf die Arbeit konzentrieren könne.

»In den ersten Wochen habe ich praktisch rund um die Uhr nach ihm geforscht«, berichtet er. »Ich bin mit meiner Frau nach Deutschland geflogen, und wir haben auf Norderney nach Dave gesucht, weil wir wussten, dass er dorthin wollte. Von da aus sind wir seiner Spur in die Niederlande und dann nach Dänemark gefolgt, aber dort hat sie sich verloren. Handy, Funk, Post – er war nicht mehr zu erreichen. Die Jacht, mit der er unterwegs war, sollte noch in diesem Sommer in unserer Filiale in Monaco mit modernster Technik ausgerüstet werden, Antidiebstahlsystem, Ortungssystem, alles, was machbar war. Ich habe mich furchtbar mit dem Gedanken gequält, dass meine eigenen Anlagen das Unglück hätten verhindern können.«

Für einen Moment sagt niemand etwas.

»Und dann kam plötzlich die Nachricht, er sei gefunden worden. Nur er, nicht die Jacht.« Daves Vater schweigt einen Moment und blickt Kyras Mutter an. Kyra sieht, wie sie mit den Tränen kämpft.

»Nach der Beerdigung habe ich mich auf die Suche nach der Jacht konzentriert«, fährt Grigor fort. »Ich habe den Kontakt zu allen Häfen hergestellt, die er möglicherweise angelaufen hatte. Wir schickten eine Beschreibung und ein Foto des Schiffs, und natürlich von Dave, und wir setzten eine Belohnung für den entscheidenden Hinweis aus. Wir vermuten inzwischen, dass das Schiff in schwedischen und norwegischen Häfen angelegt hat, aber wir gehen auch davon aus, dass Dave da bereits nicht mehr an Bord war.«

Kowzinsky holt einen Stapel Fotos aus seiner Tasche, legt sie verdeckt auf den Tisch und breitet seine großen Händen darüber.

»Ich wusste nichts von eurer Tochter«, fährt er heiser fort. »Dave hat mir nicht erzählt, dass er einen Passagier an Bord genommen hatte. Dabei war es ganz untypisch für ihn, jemanden mitzunehmen und uns nichts davon zu erzählen. Das hatte er noch nie zuvor getan. Jedenfalls soweit ich weiß. Ich weiß inzwischen nicht mehr, was ich glauben soll. Ich muss etwas Entscheidendes übersehen haben, irgendein Zeichen, etwas, das ich als Vater …«

»Mit solchen Gedanken haben wir uns auch gequält, Grigor«, unterbricht ihn Kyras Mutter mit leiser Stimme. »Was geschehen ist … Man fällt und fällt, ohne je wieder festen Boden zu erreichen. Seitdem Sarina weg ist …« Sie schweigt und trinkt einen Schluck von ihrem Kaffee. »Aber eines kann ich dir versichern: Auch für uns ist es bis heute unbegreiflich, dass Sarina Hals über Kopf zu deinem Sohn an Bord gegangen ist. Ohne uns etwas davon zu sagen. Das lässt im Grunde nur zwei Schlüsse zu: Entweder waren unsere Kinder ganz anders, als wir geglaubt haben, und führten ein Leben, von dem wir nichts wussten. Und irgendwie sind sich diese beiden Geheimnistuer begegnet und zusammen durchgebrannt, mit welchem Ziel auch immer. Das wäre möglich. Oder aber unsere Kinder sind von einem Gefühl erfasst worden, das größer war als sie selbst und sie in einem herrlichen, schwindelerregenden Strudel mitgerissen hat. Und sie konnten sich nicht dagegen wehren, weder gegen die Anziehungskraft, die sie aufeinander ausübten, noch gegen ihre Gefühle, noch gegen das Schicksal.«

»Die Liebe«, flüstert Daves Vater und räuspert sich kopfschüttelnd. »Trotzdem erklärt das immer noch nicht, warum mein Sohn tot und eure Tochter spurlos verschwunden ist.«

Er dreht das oberste Foto um.

»Das Schiff hieß Den Schuymer. Weil der Name für uns zu schwer auszusprechen war, wollten wir es umtaufen.« Der große Mann mit den breiten Händen lacht wehmütig. »Aber auch dazu waren wir noch nicht gekommen. Ich habe im Laufe der Zeit immer wieder einmal Schiffe gekauft. Klassische Jachten, die ich restaurieren ließ. Manchmal habe ich sie weiterverkauft. Manchmal habe ich eine behalten. Inzwischen segle ich nicht mehr.«

Er lässt das Foto herumgehen und Kyra starrt auf ein schlankes weißes Schiff, das schräg auf den Wellen liegt.

»Sie war zwölf Meter lang und hatte drei Kabinen, eine im Bug und zwei in der Achterkajüte.«

Er nennt weitere Einzelheiten, Geschwindigkeit, Baujahr, Konstrukteur und ehemalige Eigner, aber Kyra hört kaum noch zu. Also das ist das Schiff, mit dem ihre Schwester abhauen wollte. Darauf hat sie gewohnt, jedenfalls ein paar Tage lang, aber geplant waren mehrere Monate, mit Dave, der Liebe ihres Lebens, bis irgendetwas oder irgendjemand ihren Traum brutal zerstörte.

»Wo ist die Jacht jetzt?«, fragt Kyra.

»Verkauft«, antwortet Grigor. »An einen Franzosen. Wahrscheinlich liegt sie jetzt irgendwo im Mittelmeer. Zwei Jahre nach Daves Tod erhielten wir die Nachricht, dass sie in Norwegen lag, in einem kleinen Fjordhafen. Die Liegegebühr war zwei Jahre im Voraus bezahlt worden, cash. Erst als die Miete wieder fällig wurde, machte man sich auf die Suche nach dem Besitzer.«

»Bestimmt waren keine Spuren mehr an Bord?«, fragt Kyra.

Grigor schüttelt den Kopf. »Nichts«, sagt er. »Wir haben jeden Zentimeter akribisch abgesucht, aber nichts gefunden, was auch nur den kleinsten Hinweis ergeben hätte.«

»Haare?«, fragt Kyra. »Hautschuppen? Blutspuren?«

Irgendetwas muss es doch gegeben haben!

»Nichts Brauchbares. Glaub mir.«

Grigor dreht das nächste Foto auf dem Stapel um. Eine strahlende Sarina und ein breit lächelnder Dave schauen in die Kamera.

6

 

»Das ändert die Sachlage«, sagt Niels und schüttelt den Kopf. Maud weiß, welchen massiven Widerwillen der Name Demsterwold bei ihrem Kollegen auslöst, aber in diesem Augenblick wirkt er eher fassungslos. Vor einigen Jahren hat er den Politiker verdächtigt, an dem Missbrauch und anschließenden Mord an einem kleinen Mädchen beteiligt gewesen zu sein, das in Einzelteilen über das ganze Land verteilt gefunden worden war. So viele blaue Flecken hatte sie nun auch wieder nicht … Maud hatte sich damals auf die Eltern konzentriert, vor allem die Mutter. War es nicht ihre Aufgabe gewesen, ihre Tochter zu beschützen? Gegen den Stiefvater, ja, egal gegen wen. Dass ein Pädophilennetzwerk dahintersteckte – ob mit oder ohne Demsterwold –, konnte nie bewiesen werden, und die Verdächtigungen hatten nach Mauds Geschmack zu sehr nach einer hysterischen Verschwörungstheorie geklungen.

»Wir werden den ganzen Garten umgraben müssen«, stellt Maud fest. »Wer weiß, was da sonst noch alles liegt.«

Vor dem Haus erstreckt sich ein ziemlich großer Rasen, und auch ringsum ist es von gepflegten Grünflächen umgeben. Maud starrt die Töpfe mit den Buxuskugeln an, die die Garage flankieren, den blühenden Flieder und den Grünstreifen, auf dem Enten watscheln. Zweitausend Quadratmeter, die auf der Suche nach Leichenteilen umgegraben werden müssen … Wieder geht ein Wochenende dahin, das sie eigentlich ihrer Familie versprochen hatte.

»Siehst du, dass es nicht Sarina sein kann?«, sagt Maud so entschieden wie möglich. Irgendwie neigt sie immer dazu, Kyra beruhigen zu wollen. »Wenn es eine einzige Leiche wäre«, fährt sie fort. »Aber zwei … Ihr Verschwinden wurde nie mit einem anderen Fall in Zusammenhang gebracht. Nur mit dem Tod von Dave, und seine Leiche wurde gefunden. Aber abgesehen davon …«

Kyra schweigt eine Weile. Sie ist eine hübsche junge Frau mit einem offenen, fröhlichen Gesicht, doch Maud hat in den letzten Jahren auch ihre ernste und verbissene Seite kennengelernt. Kyra sieht bleich und angespannt aus.

»Hi, Sebastian!«, ruft sie auf einmal einem dunkelblonden Jungen zu, der auf dem Fahrrad angeflitzt kommt. Er lehnt das Rad an die Garage und eilt mit großen Schritten auf Maud und Kyra zu. Auf den ersten Blick wirkt er sympathisch, groß und muskulös für sein Alter, wenn auch mit der leicht gebeugten Haltung des Halbwüchsigen, den seine neue Gestalt noch unsicher macht. Er lächelt Kyra freundlich und ein wenig verlegen an.

»Was ist denn passiert?«, fragt er aufgeregt.

»Kleines Geschenk vom Vorbesitzer«, antwortet Kyra, und als Maud sie verärgert ansieht, fährt sie rasch fort: »Könnte doch sein, oder vielleicht vom Vor-Vorbesitzer oder sonst wem.«

»Was haben Sie denn gefunden?«, fragt der Junge, an Maud gewandt. »Entschuldigung.« Er streckt ihr die Hand hin. »Ich bin Sebastian Narcing.«

»Wir haben menschliche Überreste in eurem Garten gefunden«, erwidert Maud und schüttelt ihm die Hand. »Genaueres kann ich augenblicklich leider noch nicht sagen.«

»Ich habe ihm schon gesagt, dass es ein Schädel ist«, gibt Kyra leise zu. »Als ich ihn gebeten habe, nach Hause zu kommen.«

Maud nickt schweigend. Jetzt muss sie Kyra wirklich wegschicken. Wenn es eines gibt, das im Umfeld kriminalpolizeilicher Ermittlungen absolut tabu ist, dann aus dem Nähkästchen zu plaudern.

»Ich hoffe, dir ist klar, wie heikel solche Informationen sind«, mahnt sie kurz angebunden.

»Natürlich«, antwortet Kyra. »Ich dachte nur …«

»Das wird meiner Mutter aber gar nicht gefallen«, bemerkt Sebastian mit einer Mischung aus Neugier und Angst. »Kein schöner Fund.«

»Wenn man vom Teufel spricht