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Langsam wird es Winter in Cornwall. Doch nachdem der letzte Heiligabend mit der Enthüllung eines schrecklichen Familiengeheimnisses einherging, sind Scarlett und ihre Schwester Ellie alles andere als in festlicher Stimmung. Das Einzige, was sie sich zu Weihnachten wünschen, ist ein wenig Ruhe vor all den Problemen.

Während Ellie sich von ihrem neuen Nachbarn Aaron trösten lässt, landet Scarlett auf ihrer Suche nach sich selbst in den Armen von Jude, der äußerst charmant ist und dafür sorgt, dass ihre Gefühle Kopf stehen. Doch schnell stellt sich heraus: Zwischen ihnen beiden wird es kompliziert. Als wäre das nicht genug der Aufregung, steht auch noch Porthmellows großes Wintersonnwend-Festival kurz bevor …

Wird Weihnachten ein Fest der Liebe für die beiden Schwestern? Und wird ihre Familie wieder zusammenfinden? Eines ist sicher: Nirgendwo weihnachtet es schöner als in Porthmellow!

Phillipa Ashley studierte Anglistik und arbeitete als Werbetexterin und Journalistin. Seit 2005 veröffentlicht sie Romane und wurde dafür mit dem ›Romantic Novelists Association New Writers‹-Award ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in Staffordshire. Bei DuMont erschienen die Romantrilogie ›Hinter dem Café das Meer‹, ›Weihnachten im Café am Meer‹ (beide 2017) und ›Hochzeit im Café am Meer‹ (2018) sowie zuletzt ›Ein Sommer in Porthmellow‹ und ›Weihnachten in Porthmellow‹ (beide 2020).

Phillipa Ashley

Weihnachten in
Porthmellow

Roman

Aus dem Englischen
von Sibylle Schmidt

Hinter dem Café das Meer

www.dumont-buchverlag.de

 

Für John, Charlotte und James

1

Weihnachten 2018
Smuggler’s Inn

InitialIm Schneegestöber las Scarlett Latham blinzelnd den Aushang an der Tür des Pubs am Hafen.

An Weihnachten einsam und alleine?

Komm einfach rein,

hier gibt es ein schönes Festmahl gratis.

Keine Reservierung nötig,

JEDER ist willkommen!

Zähneklappernd schlang Scarlett die Arme um sich. Sie trug nur ein dünnes Partykleid und fror entsetzlich.

Die Straßen des kornischen Fischerdörfchens Porthmellow waren wie ausgestorben an diesem Tag, an dem alle Einwohner mit Freunden und Familien Weihnachten feierten.

Behagliches warmes Licht drang aus den Fenstern des Smuggler’s Inn, Musik und Gelächter waren zu hören. Zögernd starrte Scarlett auf das einladende Plakat. Sollte sie wirklich da reingehen? Tränen strömten ihr übers Gesicht, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.

… einsam und alleine?

Scarlett schluchzte auf. Noch vor zwei Stunden war alles wunderbar gewesen, doch jetzt fühlte sie sich tatsächlich so mutterseelenallein wie noch nie zuvor in ihrem Leben … Sie betrachtete ihr Spiegelbild im dunklen Glasfenster der Tür. Schwarze Mascara-Bäche rannen über ihre Wangen. Was würden die Leute denken, wenn sie am helllichten Tag in diesem Zustand in den Pub kam?

Scarlett wischte sich über die Augen und las die letzten Worte noch einmal.

Keine Reservierung nötig,

JEDER ist willkommen!

Zwar war es irgendwie absurd, den Weihnachtstag mit wildfremden Menschen zu verbringen, aber das Fest bei ihrer Familie war schrecklich schiefgelaufen. Dabei sollte Weihnachten doch ein Anlass sein, bei dem die Menschen zumindest für ein paar Stunden ihre Probleme vergaßen und das Zusammensein genossen.

Doch Scarlett fürchtete allmählich, hier draußen zu erfrieren, und sie wollte nun wahrhaftig nicht am verschneiten Hafen tot neben Hummerreusen aufgefunden werden. Entschlossen fasste sie sich ein Herz und schob die schwere knarrende Eichentür auf.

Als sie das Lokal betrat, fand sie sich in einer behaglichen Welt voller Licht und Wärme wieder. Menschen mit Partyhütchen und Tröten feierten ausgelassen. Die Tische waren festlich gedeckt, Lametta glitzerte im Feuerschein. Aus den Lautsprechern war die schmeichelnde Stimme von Michael Bublé zu hören, das Weihnachtsalbum.

Eine heftige Windböe schlug mit lautem Knall die Tür hinter Scarlett zu, worauf sich die Blicke aller Gäste auf sie richteten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Man würde ihr bestimmt Fragen stellen. Was um alles in der Welt sollte sie antworten?

Ein älterer Mann, der eine mit Glitzergirlanden verzierte Fischermütze trug, trat zu ihr. »Guten Tag, junge Frau. Willkommen zum Weihnachtsessen im Smuggler’s Inn. Auch wenn Ihr Schuhwerk ein bisschen eigenartig ist.« Er lachte gackernd und wies auf ihre Füße.

Scarlett blickte an sich herunter. Ihre neuen Hasenpantoffeln, ein Geschenk von ihrer Schwester Ellie, waren ein so erbärmlicher Anblick, als hätten die bedauernswerten Häschen im Schnee ein übles Ende genommen. Die rotgrüne Strumpfhose hatte ein riesiges Loch am Knie, und der mit Pailletten bestickte Saum ihres Kleids hing tropfnass herunter.

»Ihnen muss doch eiskalt sein«, sagte der Mann freundlich. »Hier, ziehen Sie meine Strickjacke über.«

»Ich …« Scarlett wollte ablehnen, aber ihre Zähne klapperten so heftig, dass sie kaum sprechen konnte. »D-die … s-sieht so neu aus … Sie b-brauchen sie d-doch …«

Der Mann verzog das Gesicht, während er sich aus der Jacke schälte. »Nee, nee. Kann das Ding eh nicht ausstehen. Geschenk von meinem Cousin. Schenkt mir jedes Jahr die gleiche, und immer in der falschen Größe.«

Er legte ihr die beige Wolljacke mit Zopfmuster um die Schultern. Die Wärme war sofort spürbar, und einen Moment lang fühlte Scarlett sich getröstet. Doch dann fiel ihr auf, dass sowohl Tröten als auch Musik verstummt waren und sie nun komplett im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.

Ein Mann in ihrem Alter kam auf sie zu. Er war groß und trug einen grün schillernden Pulli und eine Elfenkappe mit spitzen Ohren. Auch eine junge Frau mit Weihnachtsmannschürze und eine ältere Frau mit Glitzerbluse und Rentiergeweih traten zu Scarlett und lächelten sie mitfühlend an. Die ältere Frau stützte sich auf einen mit bunten Girlanden umwickelten Stock.

Jetzt rückte der alte Knabe mit der Fischermütze an einem der Tische einen Stuhl zurecht. »Setzen Sie sich, Liebes«, sagte er. »Ich bin übrigens Troy.«

»Ja, und du solltest unbedingt einen Becher heißen Punsch trinken«, schlug die junge Frau vor, auf deren Schürze der Name »Sam« stand. »Ist übrigens alkoholfrei.«

Scarlett wurde schlagartig klar, dass man sie für betrunken hielt. »I-ich h-hab nur ein paar G-gläser Sekt getrunken«, stotterte sie. »Und b-bisschen Eierpunsch … aber d-der schmeckte wie K-kotze, hab ihn in die K-kamelien geschüttet.«

Die junge Frau grinste breit. »Wir beschaffen dir mal ein Paar trockene Schuhe, ja?«

Der Elfenmann hatte inzwischen eine Fleecedecke geholt und legte sie jetzt über Scarletts Beine, als sei sie eine gebrechliche alte Dame. »Auch ein überflüssiges Geschenk, die Decke«, erklärte er lächelnd und hielt Scarlett die Hand hin. »Ich bin Jude.«

»Ich …« Scarlett fühlte sich zu schwächlich für Antwort oder Händedruck.

Jude ließ die Hand sinken. »Ah, schlechter Zeitpunkt. Wir stellen uns später vor, wenn du dich ein bisschen aufgewärmt hast, ja?«

Scarlett nickte. Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und fühlte sich so benommen, dass sie kaum verstand, was die Leute sagten. Als sie den Mund aufmachte, brachte sie kein Wort hervor.

»Ich bin Sam«, sagte die liebenswürdig wirkende junge Frau und deutete lächelnd auf ihre Schürze. »Aber das hast du dir sicher schon gedacht.« Sam ging vor Scarlett in die Hocke. »Was ist dir denn zugestoßen?«

»K-kann i-ich jetzt nicht e-erzählen«, brachte Scarlett mühsam hervor. Auf keinen Fall wollte sie von dem grauenhaften Desaster berichten, das sich heute bei ihrer Familie abgespielt hatte.

»Vielleicht solltest du erst mal was essen«, sagte Jude sanft und setzte die Elfenkappe ab. Schulterlange blonde Haare, im Nacken zusammengebunden, kamen darunter zum Vorschein.

»Ja, Liebes, nimm mal was Warmes zu dir.« Die ältere Frau lächelte fürsorglich. »Ich bin Evie. Du musst nichts erzählen, was du nicht möchtest. Aber vielleicht kannst du uns sagen, wer du bist?«

Wer ich bin … eine Reihe von Bildern lief vor Scarletts innerem Auge ab wie ein Film. Ihre Mutter, die sich in der Speisekammer einschloss. Ihr Vater, der vor der Tür stand und lautstark zu wissen verlangte, was das alles zu bedeuten hatte. Ihr Bruder Marcus, der brüllte, sie und ihre Schwester Ellie hätten Weihnachten kaputt gemacht. Und Ellie, die normalerweise gelassen blieb, dann aber schrie, sie könnten doch nichts dafür. Geschrei, Tränen, Vorwürfe, Schuldzuweisungen … und mittendrin die beiden kleinen Söhne von Marcus, erschrocken und verstört.

Seine Frau Heidi verkündete, sie wolle die Jungs aus dieser »toxischen Situation« wegbringen, jammerte dann jedoch: »Aber ich hab zu viel Eierpunsch getrunken.«

»Der war so eklig«, erwiderte Scarlett.

Und dann ging zu allem Überfluss auch noch der Feuermelder los.

»Großer Gott, der Herd brennt!«, schrie Marcus. »Bringt die Jungs weg!«

Er stürmte in die Küche und riss die Backofentür auf. Schwarzer Qualm von den verkohlten Kartoffeln und Würstchen im Schlafrock quoll heraus.

Dann versuchte Ellie alle zu beruhigen, aber ihre Mutter wimmerte nur hinter der Tür.

Was Scarlett vollkommen gleichgültig war. Sollte ihre Mutter doch leiden. Wie hatte sie der Familie das nur antun können?

Scarlett verließ das Haus, kippte sich beim Rausgehen noch ein Glas Sekt in den Rachen. Was für ein grauenhaftes Desaster. Dabei hatte sie sich nach der Trennung von ihrem Freund Rafa in diesem Jahr ganz besonders auf das tröstliche Zusammensein mit Eltern und Geschwistern an Weihnachten gefreut. Und mit ihrem ganz besonderen Geschenk für alle hatte sie ihre Verbundenheit und Liebe zum Ausdruck bringen wollen.

Doch stattdessen hatte genau dieses Geschenk alles zerstört. Plötzlich waren Menschen, die Scarlett zu kennen geglaubt hatte, Fremde für sie. Und damit nicht genug – alle schienen ihr auch noch die Schuld an diesem Zerwürfnis zu geben. Als sei sie diejenige, die gelogen und betrogen hatte.

Während der Feuermelder lärmte und ihre Geschwister lautstark in der Küche stritten, hastete Scarlett durch die Terrassentür von Seaholly Manor in den Garten. Der eisige Wind peitschte ihr ins Gesicht, aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern rannte die Zufahrt entlang und flehte innerlich, dass niemand ihr folgen würde.

Binnen Minuten war ihr Kleid vom Schnee durchnässt, und als sie endlich die Straße erreichte, brannte ihre Lunge. Ein Pick-up fuhr zunächst langsamer, als wolle er sie mitnehmen, raste aber dann weiter. Wahrscheinlich hatte der Fahrer sie mit ihrem klatschnassen Partykleid und den durchweichten Hasenpantoffeln für eine Verrückte gehalten.

Als sie endlich den Hafen von Porthmellow erreichte, wo die funkelnden Weihnachtslichter gegen die Düsterkeit ankämpften, fühlte sie sich halb erfroren und völlig kraftlos.

Sie musste entweder in ein Lokal gehen oder Ellie anrufen, damit sie ihr trockene Sachen aus dem Haus brachte. Aber in der Hast hatte Scarlett weder Tasche noch Handy mitgenommen, war also darauf angewiesen, irgendwo ein Telefon zu finden. Mit ihrer Mutter wollte sie aber auf keinen Fall sprechen. Und dem Vater konnte sie wohl kaum noch unter die Augen treten.

»Wie fühlt sich denn das Knie an, Liebes?« Die sanfte mütterliche Stimme von Evie löste neuen Schmerz aus bei der Erinnerung an alles, was Scarlett nun verloren hatte. Sie schaute auf ihr Knie. Es war aufgeschürft und blutig.

Ach ja, vor dem Fischerhaus war sie auf dem Kopfsteinpflaster ausgerutscht und gestürzt. Wie in ihrer Kindheit spürte sie den Schmerz erst jetzt richtig, als jemand sich um die Wunde kümmern wollte. Das Knie pochte und tat gemein weh. Und plötzlich tat ihr auch alles andere weh, als ihr in vollem Ausmaß klar wurde, was zu Hause in Seaholly Manor geschehen war. Das Geschenk von Ellie und Scarlett, geplant als schöne Überraschung für die ganze Familie, hatte statt Freude und Begeisterung Wut und Schmerz ausgelöst.

Wortlos starrte Scarlett auf die Gesichter von Troy, Sam, Evie und Jude, die vor ihren Augen verschwammen.

Evie tätschelte ihr die Hand. »Wer bist du denn nun, Liebes?«

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete Scarlett.

2

Zwei Stunden vorher
Seaholly Manor, Porthmellow

InitialScarlett blickte sich im Wohnzimmer von Seaholly Manor um. Alles lief wie am Schnürchen. Der Boden war mit Geschenkpapier übersät, überall standen leere Kaffeebecher und Sektgläser herum.

Gleich würde die monatelange Vorarbeit belohnt werden.

Ellie erschien mit dem Laptop neben Scarlett und murmelte: »Tante Joan hätte es doch bestimmt gut gefunden, oder?«

»Auf jeden Fall«, antwortete Scarlett.

»Ich hol uns noch einen Drink, während du alles vorbereitest«, sagte Ellie.

Als Scarlett den Laptop einschaltete, spürte sie einen Anflug gespannter Vorfreude. Dieses Geschenk würde die Krönung des Weihnachtsfests sein, und Joan wäre sicher stolz gewesen auf ihre beiden Großnichten. Leider war sie im Sommer verstorben, aber die Lathams erwiesen ihrem Andenken größte Ehre, indem sie sich an Weihnachten hier in Seaholly Manor, Joans einstigem Anwesen, versammelten.

Joan war eine glamouröse Bestsellerautorin gewesen, deren Liebesromane sich so gut verkauft hatten, dass sie sich in den sechziger Jahren dieses Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert hatte leisten können. Sie hatte gerne Menschen um sich versammelt, und ihre Feste in den prachtvollen Gärten oder am Privatstrand waren noch heute legendär. Nach Joans Tod hatte Anna, Scarletts Mutter, das Haus geerbt.

Die gesamte Familie Latham lebte im Umkreis von Birmingham, aber alle waren ständig so eingespannt, dass man sich nicht oft sah. Scarletts Vater Roger war zwar nicht sonderlich erpicht auf Festivitäten, verbrachte aber Weihnachten gerne mit der Großfamilie in Cornwall.

Scarlett freute sich immer besonders auf ihre sechs Jahre ältere Schwester Ellie. Sie war achtunddreißig und jahrelang durch die Welt gereist, wobei sie sich durch Jobs in Cafés und Bars finanziert hatte. Im Frühherbst war sie, sozusagen als Verwalterin des Anwesens, in Seaholly Manor eingezogen.

Scarlett fand es erstaunlich, wie schnell sich Ellie nach ihrem Globetrotter-Dasein in Porthmellow eingelebt hatte. Sie arbeitete im Hafencafé und als Köchin auf einem historischen Ausflugsschiff für den Segelverein.

Dieses Jahr war für Scarlett bislang sehr unerfreulich verlaufen. Seit der Trennung von ihrem Freund Rafa war ihr Selbstvertrauen erschüttert. Damit nicht genug, hatte sie als freiberufliche Werbetexterin auch noch einen wichtigen Kunden verloren. Seit einigen Jahren hatte sie regelmäßig für ein großes Unternehmen gearbeitet, das Schrauben herstellte.

Die Arbeit war nicht besonders spannend gewesen, aber Scarlett hatte regelmäßig Aufträge bekommen, von der Gestaltung der Website bis zu Pressetexten. Doch dann war die Firma von einem amerikanischen Konzern übernommen worden, der viele Angestellte entließ und das Budget drastisch kürzte. Weshalb Scarlett nun in wirtschaftlich unsicheren Zeiten nach neuen Kunden Ausschau halten musste.

Sie hatte sich aber fest vorgenommen, zuversichtlich ins neue Jahr zu gehen. Und ein schönes Weihnachtsfest mit ihren Lieben war bestimmt eine gute Voraussetzung dafür.

Ellie kehrte aus der Küche zurück, ein breites Grinsen auf dem sommersprossigen Gesicht. »Überraschung!«, verkündete sie schwungvoll und reichte Scarlett ein Glas mit einer quietschgelben Flüssigkeit.

Scarlett beschnüffelte skeptisch die zweifelhafte Substanz und verzog das Gesicht. »Was ist das denn?«

»Heidis selbst gemachter Eierpunsch.«

»Heidi hat Eierpunsch fabriziert?«, rief Scarlett verblüfft aus.

»Pst, sie könnte dich hören«, sagte Ellie kichernd.

»Ich wundere mich nur, dass die Gesundheitsfanatikerin überhaupt irgendwas mit Alkohol anrührt, von Eiern ganz zu schweigen.«

»Sie meint, ihr Eierpunsch sei besonders gesund und proteinreich. Und sie hat wohl ein paar geheime Zutaten reingemixt.«

»Was denn zum Beispiel?«, fragte Scarlett argwöhnisch und probierte vorsichtig.

»Braunalgenpulver.«

»Igitt!«, rief Scarlett angewidert aus.

Ellie trank auch einen Schluck und schüttelte sich. »Gott, schmeckt das eklig.«

»Kann man wohl sagen. Aber wir sollten Heidi nicht kränken. Komm, schütten wir das Zeug in einen Pflanzentopf.« Scarlett steuerte auf eine große Schusterpalme in der Ecke zu.

»Nein, lass das lieber«, sagte Ellie warnend. »Am Ende versickert es nicht richtig. Und die Palme welkt garantiert sofort. Lieber in den Garten damit.«

Ellie riss die Verandatür auf, und Scarlett trat mit beiden Gläsern in den Garten. Es war eisig kalt draußen, und auf der Terrasse lag Schnee. Scarlett ging ein paar Schritte, kippte das Gebräu rasch in ein Beet und lief ins Haus zurück.

»Brr. Von wegen kornische Riviera. Schau mal, meine armen Häschen.« Scarlett hob einen Fuß an.

Ellie lachte. »Gib her, ich stell sie ans Feuer, während du den Laptop vorbereitest.«

»Danke. Muss gestehen, dass ich in jeder Hinsicht ein bisschen kalte Füße kriege, jetzt, wo’s gleich losgeht.«

»Bestimmt wird alles super«, sagte Ellie beruhigend und stellte die tropfnassen Pantoffeln vor den offenen Kamin.

Scarlett dachte an die Bescherung zurück. Obwohl alle drei Kinder der Lathams über dreißig waren, bekamen sie von den Eltern noch traditionelle Weihnachtsstrümpfe. Die Geschenke passten allerdings schon lange nicht mehr in die Socken – Parfums, Bücher, Pralinen und immer auch irgendwas Witziges. In diesem Jahr hatten alle Tierhausschuhe bekommen. Marcus hatte gequält aufgestöhnt, als er Dachspantoffeln in Größe 44 auspackte.

Ellie tappte in Alpakas umher, Scarlett mit ihren Hasen. Die Teile waren furchtbar unpraktisch und auf dem polierten Parkett wahrscheinlich lebensgefährlich. Aber die Hausschuhe waren immer noch um Längen besser als die Gaben von Marcus und Heidi: ein Abo für eine Fitness-App und eine Fitness-Zeitschrift.

»Ihr wollt doch bestimmt im neuen Jahr richtig durchstarten«, hatte Heidi strahlend verkündet. »Aber an Weihnachten lassen wir’s mal ruhig angehen.« Sie klopfte sich auf den Bauch. »Heute genehmige sogar ich mir ein Stück Plumpudding. Morgen können wir ja einen schönen langen Lauf auf dem Küstenweg machen, um Fett und Zucker wieder abzutrainieren, nicht, Marcus?«

Der verschluckte sich beinahe an seinem Bailey’s. »Ähm … aber nicht damit, Heidi, ja?« Er hielt seine Dachsfüße hoch, und alle lachten, sogar seine Frau, bevor sie hinzufügte: »Aber deine neuen Laufschuhe solltest du morgen auf jeden Fall ausprobieren, Schatz.«

Während Marcus Zuflucht zu dem Bieratlas nahm, den Scarlett ihm geschenkt hatte, umarmte sie zum Dank ihre Schwägerin und wechselte dabei einen verständnisinnigen Blick mit ihrem Vater. Der Ärmste hatte einen Fitnesstracker bekommen. »Danke euch beiden«, sagte Scarlett. »Das Abo wird mir im neuen Jahr bestimmt gute Dienste leisten. Willst du deine Ferkelpantoffeln nicht anziehen, Heidi? Mum und Dad haben sich ewig den Kopf darüber zerbrochen, welches Tier zu wem passt. Ich hab das Ferkel vorgeschlagen. Sind die nicht süß?«

Heidi lächelte gezwungen. »Lustig … aber wieso Ferkel für mich?«

»Ähm, na ja … weil du so gar nicht rundlich und schweinchenartig bist … sondern so schlank und fit«, stotterte Scarlett, »und … weil Ferkel so niedlich und rosa sind.«

»Niedlich und rosa?« Heidi zog ihre perfekt gezupften Augenbrauen hoch.

Marcus blickte von seinem Buch auf. »Ich möchte ja mal wissen, wer bei mir auf den Dachs kam.«

»Dad, glaube ich«, sagte Scarlett und ließ sich auf der Armlehne des Sessels nieder, in dem ihr Vater saß.

»Du solltest nicht beleidigt sein, Heidi«, bemerkte Roger trocken und wackelte mit den Füßen. »Zumindest bist du kein Elefant wie ich.«

»Immerhin etwas«, murmelte Heidi mit pikiertem Blick auf ihre rosa Plüschgebilde.

Ellie hatte von ihren Eltern einen Spielzeugporsche bekommen, zusammen mit einer Geldsumme für die Reparatur ihres altersschwachen Autos. Und der neue Laptop, der jetzt neben dem Fernseher stand, war Scarletts Geschenk von ihren Eltern, das sie bereits vorab finanziert hatten.

Alle hatten ihre Gaben mit Sorgfalt ausgesucht – sogar Heidi, die wahrscheinlich hoffte, die Schwägerinnen von ihrer Vorliebe für guten Gin und Edelschokolade erlösen zu können.

Wahrscheinlich konnte sie von Glück sagen, dachte sich Scarlett, dass niemand ihr einen Beziehungsratgeber geschenkt hatte. Obwohl der womöglich hilfreich gewesen wäre, da sich seit ihrer Trennung von Rafa im vergangenen Jahr in Liebesdingen überhaupt nichts mehr tat. Wollte Heidi mit dem Abo etwa dezent zum Ausdruck bringen, dass Scarlett mehr Sport treiben sollte, als nur zweimal die Woche mit ihrer Schwimmgruppe ins Hallenbad zu gehen?

Eines stand jedenfalls fest: Unter keinen Umständen würde sie an dieser verrückten örtlichen Tradition teilnehmen, an Weihnachten ins eiskalte Meer zu springen. Wer das machte, musste doch wahnsinnig sein.

Jetzt öffnete Ellie die Flasche Karamelllikör, die sie von Scarlett bekommen hatte, und füllte die leeren Eierpunschgläser.

Als Scarlett den Laptop mit dem Fernseher verkabelte, merkte sie, dass ihre Hände ein bisschen zitterten. Von ihren Präsentationen vor Kunden war sie den Umgang mit der Technik gewöhnt, spürte jetzt aber ihre Nervosität. Das Päckchen mit den Ergebnissen des DNA-Tests hatte Scarlett zwei Monate lang ungeöffnet aufbewahrt und war jetzt irrsinnig gespannt.

Ihr Vater, Bauingenieur im Ruhestand, interessierte sich sehr für die Herkunftsgeschichte der Familie und sagte oft im Scherz, die Lathams hätten sicher Wikinger unter ihren Vorfahren. Auch Marcus wollte mehr über die Abstammung der Familie erfahren. Deshalb hatten Scarlett und Ellie heimlich den Test gemacht, der auf der Website der Firma als »ideales Weihnachtsgeschenk« beworben worden war.

Nachdem sie ihre Speichelprobe abgegeben hatten, waren vier Wochen später die Ergebnisse eingetroffen, die online abgerufen werden konnten. Und jetzt würden Ellie und Scarlett in wenigen Minuten erfahren, woher ihre Vorfahren stammten und wo sie auf der ganzen Welt weitere Verwandte finden konnten.

»Hey, ihr zwei.« Ihr Vater, der eine gestreifte Küchenschürze trug, kam hereinspaziert. »Ist die ›tolle Überraschung‹ jetzt bereit?«

Seine Frau folgte ihm, rot im Gesicht vom Kochen. »Wir sind ja schon so gespannt. In der Küche ist so weit alles unter Kontrolle, können wir loslegen?«

Ellie nickte. »Dad, kannst du noch die ganze Mannschaft zusammentrommeln?«

Er verdrehte die Augen. »Stressiger Job, aber ich werd’s versuchen. Die Jungs auch?«

»Ach, lass die ruhig weiterspielen«, warf Scarlett ein. Man würde die beiden sowieso nicht von ihrer Xbox weglocken können.

Wenige Minuten später saßen alle bis auf die Zwillinge mit einem Glas Sekt in der Hand im Wohnzimmer und blickten erwartungsvoll auf Scarlett, der ein wenig flau im Magen wurde. Wenn das Ergebnis nun nach dem ganzen Wirbel, den sie veranstaltet hatten, ganz uninteressant war?

»Dieses Geschenk«, begann sie, »ist vor allem für Mum, Dad und Marcus. Aber für dich, Heidi, könnte es auch interessant sein.«

Roger und Anna wechselten einen Blick.

»Du wirst es toll finden, Dad«, fuhr Scarlett fort. »Du hast doch immer behauptet, du hättest Wikingerblut in den Adern, nicht wahr?«

»Ähm … ja …«, antwortete Roger etwas verwundert. Er war seit jeher ein eher zurückhaltender Mann, der seine Gefühle nicht so deutlich zeigte.

Marcus schnaubte. »Ist das Geschenk ein Wikingerhelm, oder was?«

Heidi kicherte. »Hast du vielleicht vor, Porthmellow zu plündern, Roger?«

»Nein, kein Helm«, erklärte Scarlett. »Viel aufregender und für alle faszinierend. Denn gleich werden wir erfahren, ob du wirklich ein Wikinger bist, Dad. Bist du bereit, Ellie?«

»Jawoll.« Ellie hielt ihr Handy hoch, weil sie damit gleichzeitig die Ergebnisse aufmachen wollte.

Scarlett rief auf dem Laptop die Website der Firma auf, TreeFynder. Das Logo erschien, ein verästelter Baum und der Slogan: Finde deine Wurzeln mit TreeFynder.

Als Profi fand Scarlett die Texte und das ganze Design der Webseite ziemlich missglückt und hätte sie gerne umgestaltet. Doch das ging ihr häufig so.

Ihre Eltern starrten auf den Fernseher, und sogar Heidi schien gebannt.

Scarlett klickte weiter, und als Nächstes war zu lesen: Glückwunsch! Sie erhalten den Stammbaum der Familie Latham!

»Vor drei Monaten haben Ellie und ich unsere DNA testen lassen«, erklärte Scarlett, »um zu erfahren, ob wir tatsächlich von Wikingern abstammen, wie Dad immer glaubt.«

Marcus pfiff anerkennend. »Hey, das wollte ich auch immer mal machen.«

»Na, dann passt das ja super«, erwiderte Scarlett. »So, und jetzt tief Luft holen. Ellie und ich kennen die Ergebnisse nämlich auch noch nicht, wir wollten uns zusammen mit euch überraschen lassen.«

»Mussten uns aber mühsam beherrschen«, warf Ellie ein.

»Und jetzt lernen wir unsere Ahnen kennen. Ta da!« Scarlett klickte weiter, und Ellie öffnete die Seite auf ihrem Handy.

Die Stille war nur kurz, erschien Scarlett aber viel länger, weil sie so aufgeregt war.

Ihre Mutter sprach als Erstes. »Ähm … das ist ja bestimmt sehr aufschlussreich … aber ich verstehe es nicht.«

Scarlett hatte sich bereits intensiv mit der Deutung von Ergebnissen beschäftigt und dabei aus den Augen verloren, dass andere sie nicht auf den ersten Blick interpretieren konnten.

»Also, aus der DNA von Ellie und mir kann man rückschließen auf unsere Herkunft und weitere Verwandte in aller Welt«, erklärte sie.

»Ah.« Marcus beugte sich vor.

»Toll«, murmelte Heidi und griff nach einer Zeitschrift.

»Das gilt natürlich nicht für Heidi, aber für eure Jungs schon«, fuhr Scarlett fort, womit sie Heidis Aufmerksamkeit zurückgewann.

»Bitte erklär doch mal alles haarklein für Menschen aus der Steinzeit«, verlangte Roger.

»Okay. Also, Ellie und ich haben eine Speichelprobe eingeschickt und dann diese Ergebnisse der Analyse erhalten. Man sieht hier die Regionen der Welt und die Herkunft unserer Ahnen. Ich habe demnach sechzig Prozent iberische Anteile, 20 Prozent irische und zwanzig Prozent andere ethnische Wurzeln. Also keine Wikinger …«

»Aber bei mir!« Ellie war auf ihrem Handy schon eine Seite weiter. »Ich hab siebzig Prozent skandinavische Wurzeln, fünfzehn Prozent irische und fünfzehn andere.«

»Komisch. Ihr habt doch die gleiche Herkunft, wie können die Wurzeln da verschieden sein?«, fragte Marcus.

»In den Hinweisen heißt es, dass Geschwister sehr unterschiedliche Gene haben können. Dad ist der Wikinger, Mum kommt aus dem Mittelmeerraum. Ich habe eben einen anderen Genmix als Ellie.«

»Du siehst Mum ja auch viel ähnlicher«, bemerkte Marcus.

»Und Mum fühlt sich bei Spanienreisen immer so wohl«, bemerkte Roger trocken. »Dann wissen wir jetzt, weshalb.«

Anna lächelte. »Was mich daran erinnert, dass ich mal nach den Kartoffeln schauen muss.«

Die Geschwister sahen sich verblüfft an, weil ihnen der Zusammenhang zwischen Kartoffeln und Spanien nicht einleuchtete. Als Anna aufstand, sagte Ellie: »Ach, komm schon, Mum. Die Kartoffeln können noch ein bisschen warten.«

»Wenn sie angebrannt sind, sagst du das bestimmt nicht mehr.«

»Ich geh schauen«, verkündete Heidi, sichtlich erleichtert, entkommen zu können.

»Bist du sicher?«, fragte Anna besorgt. »Sie werden in Gänsefett geröstet, weißt du …«

»Das kriege ich schon hin.« Heidi klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Genieß du dein Überraschungsgeschenk.«

Anna lehnte sich zurück und knetete das Geschirrtuch in ihren Händen.

»Und jetzt wird’s erst richtig spannend«, verkündete Scarlett und bewegte den Cursor zu dem Button Finde deine Verwandten. »Hier entdecken wir vielleicht noch entfernte Cousins und Cousinen. Womöglich gehören wir einer Königsfamilie an.«

»Gott, ich hoffe nicht«, stöhnte Marcus.

Roger lachte.

»Thronfolger sind wir bestimmt nicht, Dad«, witzelte Scarlett. »Ah, schau, eine direkte Verwandte. Das ist ja keine große Überraschung.«

»Na klar, das bin ich«, sagte Ellie und tippte auf ihr Handy. »Weil wir jetzt beide in deren Datenbank registriert sind. Schauen wir mal … oh … ah ja …« Sie verstummte.

»Was ist?«, fragte Scarlett.

»Ich helfe Heidi doch lieber mit den Kartoffeln.« Anna sprang auf und steuerte zur Tür.

»Mum! Bleib hier!«, rief Scarlett enttäuscht. Aber ihr Vater war immer schon mehr an Geschichte interessiert gewesen als ihre Mutter.

»Muss den Rosenkohl aufsetzen!«, rief Anna beim Rausgehen.

»Ist doch viel zu früh«, wandte Marcus ein. »Komm schon, Ellie, zeig uns die Seite.«

»Ist … irgendwie verschwunden.« Ellie warf Scarlett einen warnenden Blick zu.

»Macht nichts, ich hab das ja hier auch«, erwiderte sie munter.

»Warte!«

Doch Ellies Aufschrei kam zu spät. Auf dem großen Bildschirm erschien die Mitteilung:

Sie haben 1 Halbgeschwister bei TreeFynder.

Marcus beugte sich stirnrunzelnd vor. »Halbgeschwister? Was soll das bedeuten?«

»Das muss ein Irrtum sein«, antwortete Scarlett kopfschüttelnd. »Wir haben keine Halbgeschwister.«

»Das kann sich doch nur auf dich und Ellie beziehen«, bemerkte Roger.

Halbgeschwister. Halbschwester. Scarlett wurde eiskalt, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Ellie starrte sie mit zusammengepressten Lippen an.

»Ach, da ist sicher was schiefgelaufen.« Scarlett seufzte genervt und rief die Seite ein zweites Mal auf, obwohl sie schon ahnte, dass es nichts ändern würde. Und prompt erschien der schreckliche Satz ein zweites Mal.

Sie haben 1 Halbgeschwister bei TreeFynder.

Scarlett wurde flau im Magen. Ihr Vater starrte noch immer auf den Bildschirm. »Ich verstehe nicht …«

»Scarlett hat recht. Da muss was schiefgelaufen sein.« Entschlossen stand Ellie auf und schaltete den Fernseher aus. »Die haben sicher im Labor unsere DNA mit der von jemand anderem verwechselt. So was kommt leider vor.«

»Das bezweifle ich«, wandte Marcus ein. »Ich hab gehört, dass in diesen Laboren äußerst sorgfältig gearbeitet wird.«

»Ich hab gelesen, dass sehr häufig Fehler passieren«, widersprach Ellie. »Kommt sogar richtig oft vor.«

»Warum habt ihr das dann überhaupt gemacht?«, fragte Marcus scharf und sah seine Schwestern prüfend an.

»Weil wir dachten, das Ergebnis würde uns allen Spaß machen«, antwortete Scarlett. »Oder, Ellie? Und weil Dad immer diese Wikingergeschichte im Kopf hatte. Wir dachten, das sei ein tolles Geschenk für uns alle.«

»Offenbar nicht«, erwiderte Marcus finster.

»Gut, lassen wir das jetzt«, sagte Ellie. »Nach Weihnachten machen wir der Firma Stress und verlangen unser Geld zurück.« Sie schnüffelte. »Mhm, was riecht hier so lecker? Das Essen ist bestimmt gleich fertig.«

»Mum hat doch grade erst den Rosenkohl aufgesetzt«, murmelte Marcus und starrte auf den Laptop.

»Ich hol uns noch eine Flasche Sekt, ja?«, flötete Scarlett, obwohl ihr speiübel war. Sie wollte keinen Sekt mehr und hatte keine Ahnung, wie sie auch nur einen einzigen Bissen runterkriegen sollte.

»Aber ich verstehe das nicht«, beharrte Roger, als Scarlett mit zitternden Händen ihren Laptop vom Tisch nahm, um ihn oben in ihrem Zimmer unterm Bett zu verstecken. Doch das würde nun wahrlich auch nichts mehr nützen. Die Katze war aus dem Sack, es gab kein Zurück.

»Wenn bei diesem DNA-Test rausgekommen ist, dass ihr Halbschwestern seid, du und Ellie, dann bedeutet das ja …« Ihr Vater schaute zwischen ihnen beiden hin und her.

Scarlett drückte ihren Laptop an die Brust. Oh Gott, plötzlich ergab alles Sinn. Das mangelnde Interesse ihrer Mutter, die Flucht in die Küche. Welches Unglück hatten die Schwestern nur über ihre Familie gebracht?

»Es bedeutet gar nichts, weil da irgendwo ein Fehler passiert ist, Dad«, wiederholte Ellie. »So eine elende Abzocke! Wahrscheinlich besteht TreeFynder aus einem Haufen Kids mit einem Chemiebaukasten. Lasst uns den ganzen Blödsinn vergessen und noch was trinken. Wer will was?«

Roger nickte stumm, wirkte aber bedrückt. Marcus dagegen war nicht zum Schweigen zu bringen.

»Ich weiß nicht, Ellie …«, beharrte er.

Scarlett liebte ihren Bruder zwar von Herzen, hätte ihn jedoch in diesem Moment gerne auf den Mond geschossen.

»Marcus, das bringt doch nichts«, erwiderte sie.

Doch als sie ihn jetzt ansah, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Marcus und Ellie hatten beide Rogers dichte dunkle Locken. Anna war brünett. Scarlett hatte als Einzige aus der Familie glatte blonde Haare, die im Sommer fast weißblond wurden. Und die Nase von Ellie und Marcus war markant, »römisch«, wie Tante Joan einmal bemerkt hatte. Marcus hatte das nicht witzig gefunden, vor allem als Ellie dann auch noch »Salve, mächtiger Cäsar« gekreischt hatte. Beide hatten Roger immer ähnlich gesehen, Scarlett jedoch kein bisschen.

Wenn der Test wirklich korrekt war … ihr stockte der Atem, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie musste unbedingt raus hier, aber Heidi stand jetzt in der Tür, die Hände in Kochhandschuhen. Und offenbar hatte sie schon eine ganze Weile zugehört, ohne dass jemand sie bemerkt hatte.

»Das ist ganz bestimmt ein Irrtum, Roger«, sagte sie und warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Denn wenn der Test nicht fehlerhaft ist, heißt das ja, dass Ellie und Scarlett unterschiedliche Väter haben. Dann wäre eine von den beiden nicht deine Tochter.«

3

Neun Monate später
1. Oktober 2019

Initial»Hey, Ellie, Marcus hier. Ich hab fünf Minuten Zeit zwischen zwei Sitzungen und dachte, ich ruf dich rechtzeitig an wegen Weihnachten. Damit du nicht schon Pläne machst.«

»Hi, Marcus.« Im Hintergrund hörte Ellie Telefone klingeln. Die Hektik im Büro ihres Bruders in Birmingham stand in krassem Gegensatz zur Stille von Seaholly Manor. Weihnachten. Beim Gedanken daran wurde ihr ganz anders.

»Ich weiß, es ist erst Oktober«, fuhr Marcus fort, »aber Scarlett plant ja immer frühzeitig. Spielt aber sowieso keine Rolle, denn wir werden in diesem Jahr auf keinen Fall dabei sein. Was du dir nach dem Desaster letztes Jahr sicher schon gedacht hast. Mum und Dad werden wohl auch nicht nach Cornwall kommen, vermute ich.«

Ellie hielt einen Moment den Hörer vom Ohr weg, um sich zu fassen. Die ganze Familie war erschüttert von den Ereignissen im vergangenen Jahr, aber Marcus schien es am schwersten zu nehmen. Dann sagte sie möglichst ruhig: »Ich weiß nicht, was die Eltern vorhaben.«

»Okay, also wir haben jedenfalls eine Skihütte in Courchevel in Frankreich gebucht, zusammen mit Freunden. Heidi findet, die Jungs sollten Sport machen an Weihnachten, anstatt nur rumzugammeln. Und die sind jetzt auch schon in einem Alter, in dem sie lieber mit Gleichaltrigen Zeit verbringen, als in einem zugigen alten Gemäuer mit der Familie festzusitzen. Außerdem … ganz ehrlich … Heidi hat diese Ereignisse vom letzten Jahr noch nicht verkraftet. Wir alle nicht.«

Marcus klang gereizt und angespannt, und Ellie sah unwillkürlich wieder Heidis Miene vor sich, als Scarlett ihr gesagt hatte, der Eierpunsch schmecke eklig.

»Ähm, Ellie …«, sprach Marcus mit weicherem Tonfall weiter, »hast du Mum in letzter Zeit mal gesehen? Ich mache mir Sorgen um sie.«

Marcus hatte ihrer Mutter immer sehr nahegestanden und war zutiefst schockiert darüber, dass sie eine Affäre gehabt hatte und es nicht einmal zugab.

Das ging Ellie nicht anders, aber sie versuchte dennoch, zu beiden Eltern zu halten, deren Ehe bis zum vergangenen Weihnachten ja offenbar glücklich gewesen war. Doch das Familienzerwürfnis bereitete Ellie oft schlaflose Nächte.

»Ellie?«

»Entschuldige, ich war in Gedanken woanders. Ich hab Mum zuletzt gesehen, als sie vor ein paar Wochen hier war. Aber ich hab öfter mit ihr telefoniert. Mit Dad auch.«

»Und? Haben sie irgendwelche Entscheidungen getroffen?«

»Scheinbar nicht«, antwortete Ellie. »Sie schlafen wohl immer noch in getrennten Zimmern. Scarlett hat die beiden vor ein paar Tagen besucht.«

»Wundert mich ja, dass die Eltern sie überhaupt ins Haus gelassen haben.«

Ellie musste sich beherrschen, um nicht die Geduld zu verlieren. »Dad hatte sie eingeladen. Aber Mum und sie reden immer noch nicht miteinander. Marcus, wie oft soll ich dir noch sagen, dass Scarlett nicht schuld ist an dieser ganzen Misere?«

»Schon klar, aber wenn sie nicht diesen verdammten DNA-Test gemacht hätte, wäre das alles nicht passiert«, wandte Marcus ein. »Sie hat schon als Kind immer irgendwie für Stress gesorgt.«

»Bitte gib nicht ihr die Schuld. Sie leidet am meisten unter allem. Außerdem haben wir den Test doch beide gemacht.«

Ihr Bruder schnaubte hörbar. »Ich glaub ja immer noch, dass irgendein Fehler vorlag.«

»Was denn, bei zwei Tests?« Zur Sicherheit hatten die Schwestern das Ganze wiederholt, doch das Ergebnis war gleich gewesen. Ellie war Scarletts Halbschwester, daran gab es keinerlei Zweifel. Dennoch behauptete ihre Mutter weiterhin hartnäckig, es müsse sich um einen Irrtum handeln.

»Aber wenn es wirklich stimmen sollte«, fuhr Marcus aufgebracht fort, »also wenn Mum wirklich … was mit einem anderen Typen hatte … warum gibt sie es dann nicht zu, um Himmels willen?«

»Ich hab nicht die geringste Ahnung, Marcus. Vielleicht, weil es für sie noch viel schmerzhafter ist als für uns. Wir wissen doch nicht das Geringste über die Hintergründe.«

»Stimmt schon«, murmelte Marcus verdrossen. Er hatte nach der Enthüllung der Testergebnisse seiner Schwestern ebenfalls einen DNA-Test gemacht, der ergeben hatte, dass zumindest Ellie und er von denselben Eltern abstammten.

Als ältestes von den drei Geschwistern fühlte Ellie sich verpflichtet, für den Zusammenhalt der Familie zu sorgen. Ihre Erfahrungen bei ihren Reisen kamen ihr dabei zugute. Sie hatte in den vielen Jahren Abstand gewonnen von ihrer Verwandtschaft und ihren Horizont erweitert. Und hatte Probleme in anderen Familien erlebt, die ihr verdeutlicht hatten, dass es eine heile Welt nur in den seltensten Fällen gab.

Die alte Standuhr schlug, und Ellie zuckte unwillkürlich zusammen. »Marcus, hör mal, können wir ein andermal weiterreden? Ich muss los zur Arbeit. Im Café hat sich jemand krankgemeldet, die brauchen mich fürs Mittagsgeschäft.«

»Café? Ich dachte, du arbeitest auf einer Jacht.«

»Auf einem historischen Segelschiff, aber die Saison ist zu Ende, ich helfe beim Seglerverein nur zwei Tage die Woche im Büro aus. Deshalb arbeite ich zusätzlich im Hafencafé.«

»Klar, du brauchst ja auch Kohle, selbst wenn du in Seaholly Manor wohnst und keine Miete zahlen musst.« Sein Unterton war leicht vorwurfsvoll.

»Mum und Dad sind froh, dass ich auf das Haus aufpasse«, entgegnete Ellie. »Solche alten Gebäude sollten nicht leer stehen, schon gar nicht im Winter. Und um die Gärten kümmere ich mich auch.« Was viel Arbeit machte und viel Zeit kostete, aber für solche Dinge hatte Marcus überhaupt kein Gespür.

»Aber sollten die beiden sich scheiden lassen, müssen sie das Haus verkaufen, und du musst ausziehen.«

Plötzlich war Ellie stinksauer auf ihren Bruder. Er gab sich überhaupt keine Mühe, versöhnlich zu sein und gelassen zu bleiben.

»Wie war das? Hab dich nicht verstanden.« Sie hielt den Hörer von sich weg und rief: »Ganz schlechter Empfang gerade! Ich hör nichts mehr! Wir reden demnächst!« Dann unterbrach sie die Verbindung.

Ellie fluchte lautstark, schnappte sich ihre Autoschlüssel von der Ablage am Eingang und verließ das Haus.

Während der Fahrt zum Café kreisten ihre Gedanken um die verfahrene Situation. Für ihre Schwester war sie besonders übel, denn Scarlett hatte ja erfahren, dass ihr vermeintlicher Vater nicht ihr leiblicher Vater sein konnte. Und weil ihre Mutter sich weigerte, über das Thema zu sprechen, steckte Scarlett seither in Ungewissheit fest.

Als Ellie in dem geschäftigen Hafencafé ankam, war sie froh, eine Zeit lang von ihrem Familiendrama abgelenkt zu sein. An trüben Herbsttagen wie diesem, wenn der Kirchturm im Nebel verschwand und hohe Wellen an die Kaimauer donnerten, war es in dem Café mit den niedrigen Decken und Holzbalken besonders behaglich. Und durch die freundlichen Gäste und vor allem Tina, ihre nette Chefin, herrschte immer eine angenehme Atmosphäre. Sie stürzte sich in den Trubel und dachte für ein paar Stunden an nichts anderes mehr als Kaffee, Mince Pies und Ingwertee.

Es wurde schon dunkel, als Ellie abends das Café verließ und nach Hause fuhr. Die kahlen Äste der Bäume ragten wie knöcherne Finger vor dem finsteren Abendhimmel auf. Wahrscheinlich hätte so mancher auch Seaholly Manor als gruselig empfunden, aber Ellie hatte auf ihren Reisen so viel erlebt, dass sie sich nicht vor Geistern fürchtete. Weil sie die spannenden und witzigen Geschichten über berühmte Schriftsteller vermisste, hätte sie sogar gar zu gern einmal mit Tante Joans Geist geplaudert.

Ihre Großtante hatte einst keinerlei Hemmungen gehabt, sich über ihre zahlreichen Amouren auszulassen. Anna wäre entsetzt gewesen, hätte sie gewusst, welche pikanten Details ihre Töchter durch Joan erfahren hatten. Sie hatten sogar heimlich die erotischen Romane mit schwarzrotem Einband gelesen, die Joan unter Pseudonym geschrieben und in einer Truhe in ihrem Schlafzimmer versteckt hatte.

Ellie hatte so viele schöne Erinnerungen an ihre Aufenthalte in Seaholly Manor, dass sie sich in dem alten Haus niemals fürchten würde. Einbrecher würden es ohnehin kaum finden, weil es abgelegen und nicht ausgeschildert war. Und abgesehen von Büchern gab es dort ohnehin nichts zu klauen.

An finsteren Abenden wie diesem freute Ellie sich immer besonders darauf, gemütlich vor einem prasselnden Feuerchen am Kamin zu sitzen. Heute wollte sie später auch Scarlett anrufen, um zu hören, wie es ihr ging.

Kurz vor dem Abzweig zu Seaholly Manor wurde die Straße schmaler, und ganz plötzlich sauste pfeilschnell ein Schatten aus der Hecke. Ellie schrie auf und wich aus, um den Fuchs nicht zu überfahren, den sie im Scheinwerferlicht erkannte. Im nächsten Moment kollidierte der Wagen mit der Hecke.

Einen Moment lang hörte Ellie nur ihr eigenes Keuchen und ihren hämmernden Herzschlag. Als sie wieder Luft bekam, drehte sie vorsichtig den Kopf hin und her und bewegte Finger und Handgelenke. Dank des Sicherheitsgurts schien sie unverletzt zu sein. Aber das Auto war bestimmt beschädigt. Etwas hatte furchtbar geknirscht und geknallt. Hecken befanden sich in Cornwall meist auf einem mit Steinen verstärkten Erdwall.

Die Tür ließ sich zum Glück problemlos öffnen. Ellie ging nach vorne und beleuchtete mit ihrem Handy die Kühlerhaube. Die Stoßstange hing herunter, ein Kotflügel war völlig verbeult und drückte auf den Reifen.

»Oh nein!«, rief Ellie aus. Das sah übel aus, und womöglich würde die Versicherung die Reparatur nicht bezahlen. Außerdem musste sie den Wagen abschleppen lassen, er war eindeutig nicht manövrierfähig und versperrte die Straße. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, zu dem ganzen Familienchaos.

Sie seufzte tief und begann im Handy nach der Nummer der Autowerkstatt zu suchen, als sie einen Wagen näher kommen hörte.

Es handelte sich um einen fensterlosen Kleintransporter von der Art, die Scarlett mit ihrer lebhaften Fantasie immer als »Kidnapper-Kutsche« bezeichnete. Ellie lief es kalt den Rücken hinunter. Sie überlegte gerade, ob sie sich in ihrem Wagen einschließen sollte, als das Fahrzeug auch schon anhielt und ein Mann ausstieg, der im Dunklen ausgesprochen bedrohlich wirkte. Er war an die eins neunzig groß, enorm breitschultrig und trug eine schwarze Lederjacke. Ellie stockte der Atem. Was hatte der hier auf dieser abgelegenen Straße verloren?

»Hallo? Ist alles okay mit ihnen?«, rief er und kam auf sie zu. Weil die Stimme besorgt klang, entspannte sich Ellie ein bisschen.

»Ja«, antwortete sie. »Aber mit meinem Auto nicht. Ich bin einem Fuchs ausgewichen und auf die Hecke geprallt.«

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht verletzt sind?«, fragte der Mann, als er bei ihr ankam. »Oder unter Schock stehen?«

»Nein, ich glaube, es ist alles okay.« Ellie betrachtete das Gesicht des Mannes. »Haben Sie sich verfahren? Diese Straße ist eine Sackgasse.«

Er lächelte. »Nein, ich wollte tatsächlich hierher. Ich bin gerade ins Cove Cottage gezogen. Aaron Carman mein Name.«

»Ach, im Ernst? Sie wohnen jetzt im Cove Cottage? Das wusste ich gar nicht.« Ellie fragte sich, weshalb sie noch nicht mitbekommen hatte, dass jemand in das einzige andere Haus im Umkreis von zwei Kilometern ziehen würde. Normalerweise sprach sich so etwas in Porthmellow im Nu herum, man erfuhr so gut wie alles äußerst verlässlich durch den Dorftratsch. »Ich bin Ellie Latham«, fügte sie hinzu. »Ich wohne in Seaholly Manor.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Ellie. Wenn auch die Umstände etwas merkwürdig sind. Ich bin übrigens gestern Abend erst eingezogen. Hatte meine ganzen Sachen in dem Wagen da. Ich besitze nicht viel.« Er ging um Ellies Ford Fiesta herum und beäugte den Schaden. »Oje, das sieht nicht gut aus.«

»Ich weiß«, sagte Ellie kläglich.

»Soll ich Sie abschleppen?«

Ellie sah auf die Uhr. In der Werkstatt würde sie wahrscheinlich niemanden mehr erreichen, es war schon nach Feierabend.

Ganz wohl fühlte sie sich nicht, aber eine andere Lösung, ihren Wagen nach Hause zu bekommen, fiel ihr auch nicht ein.

»Das wäre echt nett, danke.«

»Kein Problem.« Der Mann trat zu ihr und stützte eine Hand auf die Kühlerhaube.

Als Ellie ihn aus dieser Nähe ansah, ging ihr ein Licht auf. Das eindrucksvolle Gesicht, die hellbraune Haut, die aufrechte Haltung, die muskulöse Statur … »Hatten Sie gesagt, Sie heißen Aaron Carman

»Ja, warum? Ist mein schlechter Ruf mir bis hierher gefolgt?«

Ellie lachte. »Nein, ganz im Gegenteil. Dann sind Sie der Sohn von Troy und Evie Carman, oder? Ich dachte, Sie seien beim Militär.«

Aaron lächelte. »War ich, bin ich aber nicht mehr. Lange Geschichte. Also, sollen wir den Wagen dann mal in Bewegung versetzen?«

Da Ellie jetzt ziemlich sicher davon ausging, es nicht mit einem Serienkiller oder Entführer zu tun zu haben, entspannte sie sich. »Haben Sie so was schon mal gemacht?«

»Könnte man so sagen, ja. Ich habe bis vor Kurzem bei der Armee Panzermechaniker ausgebildet und Panzerfahrzeuge aus Gräben gehievt. Ich sollte schon imstande sein, Ihren Kleinwagen bis zum Haus zu ziehen.«

»Oh. Okay.« Ellie war es etwas peinlich, dass sie so zweifelnd geklungen hatte. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, sehr nett.«

Gemeinsam schoben sie den Wagen aus der Hecke, dann holte Aaron ein Seil aus seinem Wagen, und kurz darauf stand der demolierte Fiesta schon vor Seaholly Manor.

Ellie schloss die Haustür auf, und als sie beide im Vorraum standen, kam sie endlich dazu, Aaron eingehend zu betrachten. Er musste etwa Mitte vierzig sein, strahlte eine ruhige Gelassenheit aus und sah umwerfend aus. Jetzt bemerkte Ellie auch, wie sehr er seiner Mutter Evie ähnelte, die sie aus dem Ort kannte.

»Ich ruf dann morgen gleich die Werkstatt an«, sagte Ellie, etwas unsicher, wie sie sich jetzt verhalten sollte. Sie wollte sich gern erkenntlich zeigen für seine Hilfe. »Ähm, möchtest du vielleicht einen Kaffee?«

»Sehr gern. Aber vorher sollte ich mir die Hände waschen.«

»Ich wohl auch«, sagte Ellie lachend und hielt ihre schmutzigen Hände hoch. »Da vorne ist eine Toilette, und durch die Tür gegenüber geht’s zum Wohnzimmer. Mach’s dir schon mal bequem. Kaffee kommt sofort.«

In der Küche wusch sich Ellie die Hände und machte dann einen starken Kaffee. Dabei merkte sie, wie sie nach der ganzen Aufregung etwas ruhiger wurde. Eigentlich war ihr nach einem Whisky zumute, aber dann entschied sie sich doch dagegen.

Kurz darauf saßen Aaron und sie sich mit Kaffeebechern in den Händen auf den beiden Sofas gegenüber. Aaron hatte jede Menge heiße Milch und einen Löffel Zucker in seinen Kaffee gerührt.

Der muss sicher keine strenge Diät halten, so eindrucksvoll, wie er gebaut ist, dachte Ellie, die sich beherrschen musste, um ihr Gegenüber nicht förmlich mit Blicken zu verschlingen. Er war komplett durchtrainiert, und bei der kleinsten Bewegung gab es irgendwo ein imposantes Muskelspiel zu bewundern.

Aaron trank einen Schluck Kaffee und lächelte Ellie an. »Ehrlich gesagt, war ich mir etwas unsicher, ob ich da im Dunkeln wirklich anhalten und aussteigen sollte.«

»Wieso denn?« Ellie lachte ein bisschen peinlich berührt, als sie an ihre erste Reaktion dachte. »Dachtest du, ich sei gefährlich?«

Aaron grinste. »Nee, aber ich habe befürchtet, du könntest das von mir denken. Manche Leute haben Angst vor mir.«

Das konnte sich Ellie mühelos vorstellen. »Ich hätte eigentlich gleich bei deinem Namen schalten müssen«, sagte sie. »Deine Mum hat öfter mal von dir gesprochen. Aber ich war so durcheinander wegen dem Unfall. Seit wann bist du nicht mehr bei der Armee?«