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»Wir haben kein Unterschichten-, wir haben ein Oberschichtenproblem!« DANIEL GOEUDEVERT

Egal, welche Industrie – Wirtschaftsbosse, Lobbyisten und Politiker halten den am Gestern ausgerichteten Motor am Laufen. Sie ignorieren mit immer größerem Aufwand, dass das Industriezeitalter, das uns im Verlauf von gut 200 Jahren zu ungeahntem Reichtum geführt hat, zu Ende geht.

Wenn unsere Eliten weiterhin den Wandel verschlafen, dem Lobbyismus nicht Einhalt gebieten und kreative Lösungsansätze blockieren, steuern wir auf einen Crash zu.

»Ein lebenskluger Autor, der private Erfahrungen ebenso einbringt wie seine beruflichen als Topmanager der Automobilindustrie.« DIE ZEIT

autor

© Claus Sautter

DANIEL GOEUDEVERT, geboren 1942 in Reims, galt als »Paradiesvogel« unter den Topmanagern. Der Literaturwissenschaftler hat 25 Jahre lang in Deutschland gelebt und eine außergewöhnliche Karriere gemacht. Er war Vorsitzender der deutschen Vorstände von Citroën, Renault und Ford sowie Mitglied des Konzernvorstands von VW.

Er machte sich bereits Anfang der 1990er-Jahre für kleinere, umweltfreundlichere Autos stark und geriet deshalb in einen Machtkampf mit Ferdinand Piëch. Nach seinem Ausscheiden aus dem Management stand er dem Green Cross International als Vizepräsident vor und war Berater des Generaldirektors der UNESCO. Seine Bücher ›Wie ein Vogel im Aquarium‹, ›Mit Träumen beginnt die Realität‹ und ›Das Seerosen-Prinzip‹ waren Bestseller.

Daniel Goeudevert

SACKGASSE

Wie Wirtschaft und Politik den Wandel verschlafen

Mitarbeit
Rüdiger Dammann

 

Inhalt

Ökonomie in Zeiten der Corona-Pandemie

Prolog: Aller Anfang ist …

TEIL 1

Mit Vollgas in die Krise

Nichts ist so alt wie der Erfolg von gestern

Entscheidend ist, was hinten rauskommt

Schöne neue Elektro-Welt

Das Öl der Zukunft

Tödliche Hilfe

Profiteure und Hungerleider

TEIL 2

Vom Unbehagen an der Gegenwart

Ich, ich, ich: Die Authentizitätsfalle

Das Beschleunigungs- und Wachstumssyndrom

Der Fluch des Geldes

Das Effizienz-Paradox

Aus der Zeit gefallen

Menschmaschinen oder Maschinenmenschen

TEIL 3

Eine kopernikanische Wende ist möglich

Vom Skalen- zum Netzwerkeffekt

Abschied von der Dinglichkeit?

Die neue Kundenmacht

Mobilität 2.0 – die Stadt als Gamechanger

Ausfahrt Zukunft: Ein Weckruf

Epilog: Vielfalt als Chance

Anmerkungen

Quellennachweis

Daniel Goeudevert

Die Katastrophe als Lehrmeister?

Lässt sich der gerade grassierenden Pandemie irgendetwas Positives abgewinnen? Oder sind das neuartige Corona-Virus wie die schon heute verheerenden Folgen des fortschreitenden Klimawandels die buchstäblich »natürliche« Bestrafung für unsere Hybris im Umgang mit der Natur? Es wäre, das muss man demütig einräumen, eine wohl durchaus gerechte Strafe. Und wir sollten sie als vielleicht finale Warnung werten, als Mahnung, endlich einen grundlegenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Wandel einzuleiten.

Dass extreme Wetterlagen und das jetzige Infektionsgeschehen unabsehbar gewesen wären, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Seit Jahren, in Wahrheit schon seit Jahrzehnten, warnen Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen vor genau solchen Szenarien, die, hätte man die Vorhersagen ernst genommen, vielleicht nicht abwendbar, sicher aber anders beherrschbar gewesen wären. Eine in Routinen erstarrte Politik und eine wachstumsgetriebene, in Globalisierungsträumen verfangene Wirtschaft haben es aber allzu lange versäumt, entsprechende Vorsorge zu treffen. Man hat, wie ich es in diesem Buch beschreibe, den notwendigen Wandel verschlafen. Das war, von heute aus betrachtet, fahrlässig.

Während es den Verwaltungen und dem mittleren Management obliegt, den Ist-Zustand zu organisieren, besteht die Hauptaufgabe von Politikern und leitenden Managern meiner Auffassung nach darin, vorausschauend zu handeln, künftige Entwicklungen zu antizipieren und absehbare Schäden abzuwenden. An solcher Vorausschau aber mangelt es seit vielen Jahren – sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft. Manager und Politiker agieren fast nur noch im Hier und Jetzt und sind darüber gewissermaßen zukunftsblind geworden. Quartalsbilanzen und monatliche Meinungsumfragen bestimmen ihre »Führung« und machen sie damit oftmals zu bloßer Fassadenschieberei. Das rächt sich jetzt.

Schon oft habe ich beklagt, dass wir offenbar immer erst durch Schaden wach werden. Ob daraus dann auch Klugheit erwächst, ist schon deutlich weniger gewiss, wie die Finanzkrise von 2008 hinlänglich gezeigt hat. Nach einem kurzen Schreckmoment und den daraufhin leider zumeist nur angekündigten strengeren Regulierungen läuft inzwischen längst wieder alles wie zuvor. Der weltweite Schuldenstand ist seitdem rasant gewachsen, und im sogenannten Finanzmarkt kursieren täglich Werte, die das Umsatzvolumen sämtlicher nunmehr zur »Realwirtschaft« geschrumpften tatsächlichen ökonomischen Aktivitäten um ein Vielfaches übersteigen: 2016 betrug das Volumen aller gehandelten Derivate knapp 700 Billionen Dollar, während sich das globale Bruttoinlandsprodukt, also alles, was weltweit produziert wurde, auf gerade einmal 60 Billionen Dollar summierte. Beim Derivatehandel aber wird rein gar nichts geschaffen, auch keine »Werte«, sondern lediglich Vermögen hin und her transferiert. Einige gewinnen, andere verlieren, das ist alles; Ökonomie wird streng genommen nurmehr simuliert. Mit unserer Wirklichkeit, erst recht mit der durch die Covid-19-Pandemie verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krise hat all das nicht das Geringste zu tun – wie wir jetzt erleben.

Und dennoch drückt dieses gewissermaßen »schmarotzende« System der Realwirtschaft immer stärker seinen Stempel auf, wie sich beispielsweise in der Automobil- und der Nahrungsmittelindustrie besonders eindrücklich zeigen lässt. Anleger und Investoren haben hier zunehmend an Einfluss gewonnen. Dieses »Kapital« will aber keinen Bedarf decken und schon gar keine »Bedürfnisse« befriedigen. Es geht zuerst und zuletzt um Dividende, ganz gewiss nicht darum – diesen Zweck hatte Adam Smith noch der Wirtschaft zugesprochen –, den »Nutzen aller« zu mehren. Diese »Umdefinition« wird gerade in Echtzeit offenbar.

Mehr als 30 Millionen Amerikaner haben sich seit Beginn der Krise arbeitslos gemeldet; sowohl der Einzelhandelsumsatz wie auch die Industrieproduktion in den USA sind massiv eingebrochen, und an der Wall Street werden wahre Kursfeuerwerke gefeiert. Die sogenannte Finanzindustrie zeigt sich weitgehend unbeeindruckt, »Investoren« werden täglich reicher, während Millionen Menschen auf der Welt in Armut rutschen und um ihre Gesundheit wie um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten müssen. Ich kann diese Blase, die sich rund um das Börsengeschehen gebildet hat, daher nurmehr »monströs« und »obszön« nennen. Sie ist weit gefährlicher als das Virus – und gehört wie dieses bekämpft.

Aber dass solche Monstrosität, wie sie sich beispielsweise schon lange in milliardenschweren Wetten auf Nahrungsmittel- und Rohstoffpreise austobt, sehr zum Schaden von Verbrauchern und Herstellern, nun durch ein Virus bis zur Kenntlichkeit entlarvt wird, ist ein enormer Fortschritt. Denn erstmals, zumindest seit ich denken kann, folgt aus dieser Erkenntnis eine geradezu sensationelle Konsequenz: Plötzlich wird im Namen der Humanität dirigistisch durchgegriffen, werden die bisher ehernen »ökonomischen« Spielregeln außer Kraft gesetzt und wirtschaftliche Interessen dem Recht der Menschen auf Leben und Gesundheit nachgeordnet.

Wenn es uns jetzt gelingt, den weltweiten Infektionsausbruch nicht als isoliertes Ereignis zu betrachten, sondern als Teil eines Zusammenhangs einzuordnen, könnte sich die Katastrophe tatsächlich als Lehrmeister erweisen – in vielerlei Hinsicht: politisch, wirtschaftlich, sozial. Um das hier nur an einem Beispiel zu skizzieren: Nach studiengestützten Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben pro Jahr sieben Millionen Menschen durch verschmutzte Luft, 550 000 davon entfallen auf Europa, knapp 40 000 auf Deutschland. Sulfat, Nitrat, Ruß und Feinstaub, zu deren Hauptverursachern Industrie und Verkehr gehören, sind für einen Großteil dieser Todesfälle verantwortlich, ohne dass aus dieser Einsicht bislang eine vergleichbare Konsequenz, sich für das Leben und gegen kurzfristige wirtschaftliche Interessen zu entscheiden, gezogen worden wäre. Dabei dürfte unbestritten sein, dass Giftstoffe in der Luft die Gesundheit schädigen und die Immunabwehr schwächen. In der aktuellen Krise zeigt sich entsprechend, dass sich das neuartige Virus besonders stark in Regionen mit einer schlechten Luftqualität ausbreitet, wie jüngste Studien unter anderem aus Harvard nahelegen. Aber natürlich ist eine epidemische Dynamik spektakulärer als die Zahl der chronischen Umweltopfer, der Verkehrstoten (in Deutschland 2019: 3059) oder der alljährlich durch Krankenhauskeime verursachten Todesfälle (laut RKIw 20 000 pro Jahr). All diese Dinge müssten jedoch mit ähnlichem Maß gemessen werden.

Wir sollten also den humanitären Corona-Gestus zum Prinzip erweitern und dem Wohlbefinden möglichst aller Menschen das absolute Primat einräumen, statt immer wieder nur eine Minderheit zu hofieren, die ihr Vermögen zulasten der Mehrheit wachsen sehen will. Das ist meiner festen Überzeugung nach auch ganz und gar nicht wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil, es gibt viele Beispiele – von denen ich in meinen Büchern immer wieder berichte –, die belegen, dass verantwortliches, und das heißt stets auch gemeinwohlorientiertes und ökologisch nachhaltiges, Wirtschaften letzten Endes erfolgreicher ist als kurzfristiges Profitstreben. Notwendig ist es allemal, wie die gegenwärtige Krise beweist. Viele der jetzt der Corona-Pandemie zugeschriebenen Einbrüche sind in Wahrheit hausgemacht.

Bleibt das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Anbietern und Abnehmern vor allem durch Ferne und Anonymität gekennzeichnet, durch lange Lieferwege und zergliederte Wertschöpfungsketten, durch aberwitzige Wachstumsvorgaben und Profitziele, wie es für das globalisierte Industriezeitalter insgesamt typisch ist, kann ein mikromillimeterkleines Virus das ganze System zum Einsturz bringen. Dagegen schützt nur eine wohlüberlegte Diversifizierung und Regionalisierung eines Großteils des Wirtschaftslebens. Insbesondere basale Güter und Dienstleistungen – wie beispielsweise Elektrizität, Wasser, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung oder Bildung – dürfen nicht länger ausschließlich den Gesetzen des – wie ein Virus – grenzenlos agierenden Finanzkapitalismus unterworfen werden.

Diese Einsicht scheint sich jetzt, in der Krise, immerhin stärker durchzusetzen. Ausgerechnet ein Großindustrieller, Elon Musk, hat das schon sehr früh erkannt und mit seiner Firma Tesla nicht nur der potenziell umwelt- und klimafreundlichen Elektrifizierung des Verkehrs entscheidende Impulse gegeben und die dämmernden etablierten Branchenriesen aufgeschreckt, die ihr altes Erfolgsmodell – und sei es mit manipulierten Abgaswerten – gern noch eine Weile fortgeschrieben hätten. Er hat vielmehr gleich die ganze Globalisierung ein Stück weit rückabgewickelt, indem er fast alle relevanten Fertigungsabschnitte und Serviceleistungen am eigenen Produktionsstandort versammelt und auf ausländische Zulieferungen, soweit es irgend geht, verzichtet. Er hat sozusagen die modulare Computer-Architektur auf sein Unternehmen übertragen, was ihm größtmögliche Sicherheit und ein hohes Maß an Flexibilität ermöglicht.

Wenn solche Beispiele in der einen oder anderen Variante Schule machen würden, und das ist in Ansätzen etwa bei der Produktion von medizinischem Material und Medikamenten oder in der nun zwangsweise beschleunigten Einführung von Online-Methoden in der Bildung zu erkennen, und wenn die Politik ihr gerade wiedergefundenes Primat nachhaltig verteidigt, könnten wir aus der jetzt drohenden wirtschaftlichen Talfahrt gestärkt hervorgehen. Kurzum: Wenn wir die Dinge jetzt zusammen- und zu Ende denken, könnte sich die Corona-Katastrophe zu guter Letzt sogar als heilsam erweisen.

Mai 2020

Prolog: Aller Anfang ist …

»Nicht, weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.«

Seneca [1]

Zum Ende meines letzten Buches Das Seerosen-Prinzip, worin ich mich aus damals zahlreich gegebenen Anlässen mit dem Phänomen der Gier befasst habe, gab ich mich vorsichtig optimistisch. Im Anschluss an einige positive Beispiele »verantwortlichen« Wirtschaftens schrieb ich: »Vertrauen lässt sich wiedergewinnen, mehr Wohlstand kann erarbeitet, für mehr Gerechtigkeit und für Nachhaltigkeit kann gesorgt werden. Und zwar schon allein dadurch, dass ich mich ökonomisch vernünftig, dass ich mich nutzenorientiert verhalte. Dutzende von verantwortlich handelnden Frauen und Männern zum Beispiel in der Wirtschaft stellen das täglich unter Beweis. Sie zeigen, dass die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Werte vielleicht kurzfristig die Profitmarge schmälern mag, aber schon mittelfristig die erfolgversprechendere Strategie ist. Solcher Erfolg macht Hoffnung. So gibt es einige Anzeichen, dass sich sowohl das Verbraucherverhalten als auch die Unternehmensphilosophien zu ändern beginnen, dass sich der Blick wieder auf das Ganze weitet. Und zwar nicht nur durch die Einsicht, dass ein ›Weiter wie bisher‹ an unseren Lebensgrundlagen zehrt, sondern auch durch die Erfahrung, dass Verantwortung und Rücksichtnahme das Leben buchstäblich reicher machen. In jeder Beziehung.«

Ich sah diese Hoffnungszeichen als Bestätigung des bekannten Hölderlin’schen Diktums, wonach bei Gefahr auch das Rettende wächst. Leider musste ich in der Folge einsehen, dass ich allzu hoffnungsfroh gewesen war, und erkennen, dass zugleich gewissermaßen auch das Gegenteil passiert: Wo Neues entsteht und das Rettende wächst, wird auch der Widerstand des Alten, werden die Beharrungskräfte stärker – und rabiater. Dieser Kampf dauert bis heute an. Er nimmt sogar an Heftigkeit zu und prägt derzeit auf beängstigende Weise Teile des politischen und gesellschaftlichen Geschehens etwa in den USA, in der Türkei, in Polen oder Ungarn, aber auch unmittelbar vor unserer Haustür, in Deutschland und Österreich, in Frankreich und Italien. Überall finden Populisten und Vereinfacher Zulauf, die vorgeben, das Rad der Zeit anhalten oder zurückdrehen zu können. Auf ins heimatliche Biedermeier! Zurück ins Partikulare, ins Eigene! Zurück in die Grenzen der Nation, der Ethnie, der Religion! Das führt zu Unfreiheit und Gewalt, aber ganz gewiss nicht in die Zukunft.

Der Frontverlauf der daraus entstehenden Konflikte ist nicht immer klar auszumachen. Selbstverständlich lassen sich jeweils Gründe anführen, warum es hier und jetzt sinnvoll oder vermeintlich gar notwendig sein kann, etwa die Grenzen vor »illegal« Einwandernden zu sichern, Banken, denen durch eigenes Verschulden die Insolvenz droht, mit Steuergeldern zu retten, Polizei und Militär aufzurüsten und Waffen in alle Welt zu liefern, aus zu Kooperation verpflichtenden Gemeinschaftsprojekten, etwa der EU, dem Euro oder dem Klimaschutzabkommen, auszutreten, Schutzzölle zu erheben, um die heimische Wirtschaft kurzfristig zu stärken, Klimaschutzregeln zu brechen, um Absatz und Arbeitsplätze zu sichern – und so weiter und so fort. Gewerkschaften sperren sich gegen eine Verschärfung der Waffengesetze und gegen Einschränkungen von Rüstungsexporten; Bauern protestieren gegen das Verbot umweltschädlicher Pflanzenschutzmittel; alle wollen ein schnelles Internet und eine sichere Energieversorgung, stemmen sich aber gegen den Ausbau des Glasfaser- oder Stromnetzes, sofern die Maßnahmen in ihrer Nähe stattfinden; alle wünschen sich eine saubere Umwelt und eine gesunde Ernährung, und einige fahren dafür mit ihrem spritfressenden SUV etliche Kilometer ins Umland, um Produkte aus regionalem Anbau, von »ihrem« Bauern, zu kaufen. Je nach Perspektive und Klientel mag man das eine oder andere durchaus nachvollziehbar, vielleicht sogar sympathisch oder sinnvoll finden. Aber alle solche selbstbezogenen, im Grunde veränderungsfeindlichen Aktivitäten und Initiativen haben eines gemeinsam: Sie verlieren das Ganze aus dem Blick und werden am Ende, davon bin ich überzeugt, mehr schaden als nutzen. Wir können, wir könnten es besser wissen und besser machen, agieren aber stets in der Gegenwart und noch zu selten vorausschauend, für die Zukunft. Die bleibt deshalb stark gefährdet.

Diese Gefahr lässt sich schon heute an etlichen Beispielen anschaulich machen. Spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 erleben wir, trotz oder gerade wegen aller hierzulande gemeldeten wirtschaftlichen Erfolgszahlen der letzten Jahre, eine Krisenphase: politisch, gesellschaftlich, ökonomisch. Allzu viele Menschen haben das Gefühl, dass es für sie persönlich selbst im Aufschwung nurmehr bergab geht. Das Realeinkommen der meisten sinkt, während die wenigen Reichen immer reicher werden und aberwitzige Geldsummen in planerischen Katastrophen versickern. Das politische Management der Flüchtlingskrise etwa, die Berater-Skandale im Verteidigungs- und Umweltministerium, die scheinbar unendliche Pleitengeschichte des Berliner Flughafenbaus, die an Irrsinn grenzenden Sanierungskosten des Vorzeige-Schiffs »Gorch Fock«, Betrügereien bei den großen Autoherstellern, deren Vorstände sich trotz Milliarden-Strafen, für die am Ende die dann doppelt geprellten Kunden aufkommen, über fette Gehaltssteigerungen freuen – um nur wenige Beispiele zu nennen: Das alles ist für niemanden mehr nachvollziehbar und verursacht bei vielen Menschen ein mehr oder weniger diffuses Unbehagen. Und eben daraus schlagen vor allem rechtsgerichtete Parteien nun überall ihr Kapital: Wir müssten uns endlich wieder auf uns selbst besinnen, heißt es allenthalben. Und ein zunehmend geneigtes Publikum spendet Beifall. Wir müssen zuerst die heimische Bevölkerung – und ihren Reichtum – schützen, indem wir die Einwanderung begrenzen oder gar stoppen. »America first«, Deutschland, die deutsche Wirtschaft und die Deutschen zuerst. Wir sollen endlich unsere eigenen lokalen und nationalen Interessen in den Vordergrund stellen. Die Briten und die US-Amerikaner, die Ungarn, Polen und Italiener machen es uns doch vor! Die Chinesen sowieso.

Landauf, landab werden solche Rufe und Forderungen immer lauter. Aber aufs Ganze betrachtet ist nichts davon vernünftig. Gerade in Großbritannien wird sich zeigen, dass der gewählte »Ausweg«, der Brexit, eine Sackgasse ist. Dead end! Für die weltweit miteinander zusammenhängenden Probleme der Gegenwart gibt es keine einfachen Insel-Lösungen. Ihre Ursachen sind so vielfältig wie ihre Symptome. Sie lassen sich hingegen, wie ich zu zeigen versuchen werde, auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Das Industriezeitalter, das uns in gut zweihundert Jahren zu ungeahnten Erfolgen und zu großem Wohlstand geführt hat, neigt sich dem Ende zu. Nun wohnt zwar jedem Ende, wie es so schön und treffend heißt, ein Anfang inne. Aber was da kommt – und tatsächlich in vielerlei Hinsicht Verbesserungen verspricht –, macht immer auch Angst, weshalb wir dazu neigen, uns an das Alte, Vertraute zu klammern, anstatt das Neue anzunehmen und nach unseren Vorstellungen zu gestalten.

In einer solchen, von Veränderungsängsten geprägten und dadurch schockstarren Situation befinden wir uns gerade. Und der Ausgang ist völlig offen. Es ist zwar verständlich, an den Erfolgen einer im Rückblick zumeist verklärten Ära festhalten zu wollen und zu versuchen, das Bewährte durch immer neue »Verbesserungen« zu erhalten. Es ist aber aussichtslos und wird in einen Crash münden, weil alle Anstrengung, den Erfolg zu konservieren – das zeigt sich gerade deprimierend eindrucksvoll in der Automobilbranche –, keinerlei Energie für eine nötige Alternativstrategie übrig lässt. Die Fassade mag ja hier und dort noch glänzen, aber das innere Leuchten ist erloschen. Und diese Kraftquelle ist durch keine noch so schöne Außenansicht zu ersetzen. Hier wird in vielerlei Hinsicht – politisch, gesellschaftlich, ökonomisch – eine am Gestern ausgerichtete Maschine am Laufen gehalten, deren Wirken zum reinen Selbstzweck verkommen ist. Das nährt inzwischen sogar Zweifel an der Demokratie selbst, deren Errungenschaften, etwa Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Diskriminierungsverbot, vielerorts bereits diskreditiert werden.

Es erscheint mir deshalb mehr als angebracht, einige Symptome dieser Krise einmal etwas genauer zu betrachten und deren Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Denn nur so wird es möglich sein, die Probleme nicht, wie bisher, vorübergehend zu lindern, indem man sie mit Geld zudeckt oder die eine oder andere punktuelle Verbesserung erreicht, sondern eine Wurzelbehandlung vorzunehmen. Daran mitzuwirken lohnt für mich jede Anstrengung.

Und ich bin ja keineswegs allein. Wenn ich mich umhöre, drängt sich der Eindruck auf, als verträte ich in vielen Positionen inzwischen sogar die Meinung einer Mehrheit. Sommerhitze, Waldbrände, Wetterextreme jeder Art, Plastikmüll in den Meeren, Bienensterben, drohende Fahrverbote in den Innenstädten, Gletscherschmelze oder, nicht zuletzt, weltweite Fluchtbewegungen und die Uneinigkeit der Europäischen Union: Es gibt kaum noch Mitmenschen, die sich angesichts täglicher Krisenmeldungen nicht mehr oder weniger alarmiert zeigt. Und ein Alarm ist doch eigentlich das Signal zum Einsatz. Wozu sonst? Der bleibt aber seltsamerweise aus. Folgen- und tatenloser Alarmismus. Es wird geredet, lamentiert, debattiert, es werden Pläne geschmiedet und wieder verworfen, Abkommen geschlossen und wieder gelöst, Ziele definiert und nicht eingehalten – von konkreten Handlungen, verbindlichen Vorgaben kaum eine Spur. Stattdessen: ungestalteter Wandel, organisierte Verantwortungslosigkeit. Und auch das werfen wir uns dann gegenseitig vor, immer sind die »anderen« schuld, immer sind es »andere«, die sich zuerst bewegen müssen. Diese zum Ritual geronnene Tatenlosigkeit ist der beste Nährboden für jede Art von Extremismus, sei er rechts oder links oder geradeaus, sei er religiös oder national, sei er sportlich oder – meinetwegen – ernährungsphilosophisch orientiert. Hauptsache, es tut sich mal was, wir tun mal was. Egal was!

Da kann ich nur demütig, nein reumütig einräumen: Meine Altersgenossen sowie die Generationen vor mir und nach mir haben versagt. Es ist daher hocherfreulich, zugleich aber auch beschämend, dass nun immer mehr junge Menschen, Schüler und Studenten, auf die Straße gehen und uns, den Älteren, einen Spiegel vorhalten. Was wir darin sehen, ist die alles andere als angenehme Wahrheit: Mit unserer Lebensweise, von der wir wider besseres Wissen nicht ablassen mögen, zerstören wir die Zukunft der nachfolgenden Generationen. Natürlich nicht jeder gleichermaßen. Aber aufs Ganze gesehen trifft die Diagnose zu. Und die Schülerinnen und Schüler haben jedes Recht der Welt, von uns nun endlich eine Therapie, konkrete Maßnahmen einzufordern. Wer das beklagt und gar noch oberlehrerhaft bemängelt, dass sie, um ihre berechtigten Zukunftssorgen öffentlich kundzutun, dafür freitags die eine oder andere Schulstunde »schwänzen«, macht sich einfach nur lächerlich. Nichts zeugt von höherer Bildung als das Eintreten für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Aus Fridays for Future sollten wir alle gemeinsam ein Everyday for Future machen, anstatt in kleinlichster – und peinlicher – Manier die Schulpflicht gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und politische Teilhabe in Stellung zu bringen.

Zur aktiven Teilnahme besteht jeder Anlass. Denn woran es am wenigsten mangelt, sind Krisen. Und im Großen und Ganzen kennen wir deren Ursachen und können auch die Folgen abschätzen. Und doch geschieht viel zu wenig. Darauf aufmerksam zu machen ist zunächst einmal das größte Verdienst der jungen Leute. Nicht zuletzt ihr Engagement hat auch die so lange zögerliche deutsche Politik bekanntlich jüngst zu einem sogenannten Klimagipfel motiviert und, nach Aussage von Bundesfinanzminister Scholz – »Fridays for Future hat uns alle aufgerüttelt« –, auch dessen Ergebnisse beeinflusst. Zwar wird der von der Großen Koalition nun beschlossene »Klimapakt« wegen zahlreicher Kompromisslösungen von vielen als »mutlos« bemängelt, aber ein Maßnahmenpaket im Umfang von mehr als 50 Milliarden Euro ist immerhin ein deutliches Signal. Mehr Anfang war noch nie.

Wir sollten den jungen Klimaaktivisten und dem weltweit gefeierten Gesicht ihrer Bewegung, der Schwedin Greta Thunberg, dafür aber nicht nur applaudieren, sondern, jeder nach seinen eigenen Kräften und Möglichkeiten, mit ihnen ins Handeln kommen. Eine andere, bessere Welt ist möglich – oder, wie dies Harald Welzer als Titel eines seiner letzten Bücher formuliert hat: Alles könnte anders sein. Hierbei aber auf irgendeine Revolution zu hoffen oder darauf zu warten, dass ein schwedischer Teenager es schon richten oder dass es von selbst anders wird, ist völlig aussichtslos. Wir müssen es anders machen.

Das ist natürlich leicht dahingesagt beziehungsweise dahingeschrieben. Gerade vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten Erfahrungen mit meinen schon mehrfach unerfüllten Hoffnungen sollte ich meinen Optimismus deshalb besser zügeln. Dennoch: Wir könnten, wir können aus der Sackgasse, in die wir vor langer Zeit eingebogen sind, immer noch herauskommen. Aber das Wendemanöver wird immer schwieriger, je länger wir auf das dead end, und zwar mit bislang unverminderter Geschwindigkeit, zufahren, weil sich die Straße, kaum spürbar, verjüngt. Aufzuwachen und auf die Bremse zu treten wäre das Erste – nicht nur für Politik und Wirtschaft, wie es im Untertitel heißt, sondern für jede Einzelne und jeden Einzelnen. Denn auch wir sind Teil des Problems: Als Wähler und Kunden sind wir letzten Endes der Treibstoff für ebenjene Entwicklungen, die wir nun beklagen.

Trump, Putin, Erdogan, Salvini, Orban, die AFD-Fraktion im Deutschen Bundestag und im EU-Parlament sind oder waren demokratisch legitimiert. Die SUVs und die mit jeder Menge Plastik umhüllten Lebensmittel zwingt uns niemand auf, ebenso wenig wie den Billigflug nach Palermo oder die Milch bei Aldi, Lidl und Co. Wir sind keine »schlechten, verderbten Menschen«, wenn wir bei einem der gerade Genannten aus Frustration, Protest oder Überzeugung unser Wahlkreuz machen oder als Konsument das eine oder andere Billigangebot in Anspruch nehmen. Bei aller geforderten Kritik an denen, die in Politik und Wirtschaft in Verantwortung stehen, sollten wir jedoch auch die eigene Rolle nicht geringschätzen.

Dies möchte ich beispielhaft an einigen ausgewählten Branchen, insbesondere der Automobilindustrie und der Landwirtschaft, zeigen. Da ich mich mit der Finanzindustrie schon in meinem letzten Buch ausführlicher beschäftigt habe, werde ich diesen sogenannten Markt, der außer Gewinnen und Verlusten nichts hervorbringt, allenfalls am Rande streifen, weil er natürlich inzwischen auf alle »Geschäftsvorgänge« einen eminenten und zumeist desaströsen Einfluss hat. Die IT-Wirtschaft wiederum (beziehungsweise die Digitalisierung) wird zumindest zum Ende hin eine wichtige Rolle spielen, weil sie der Industriegesellschaft insgesamt – und womöglich auch dem Kapitalismus als System – den Garaus machen wird. Die Netzökonomie, wie ich sie verstehe, wird Wirtschaft, Gesellschaft und Politik grundstürzender verändern, als wir es uns heute vorzustellen vermögen. Eigentum, Arbeit, Geld, gewissermaßen die Grundpfeiler, die Fundamente unserer Gegenwart, werden einen Bedeutungswandel erfahren, dessen Konsequenzen noch schwer absehbar sind. Aber Tendenzen lassen sich erkennen und benennen. Und sie können sowohl als geradezu paradiesische Utopie wie auch als Dystopie, also als ein Schreckensszenario beschrieben werden.

Ich persönlich, das ist zu Beginn bereits deutlich geworden, neige eher dem Positiven als dem Negativen zu. Aber die Erfahrung mahnt mich, wie erwähnt, zur Vorsicht. Da es uns Menschen erkennbar schwerfällt, aus Fehlern zu lernen, und wir stattdessen dazu neigen, nach einem kurzen Schreckmoment wieder in die alten, fehlerverursachenden Verhaltensweisen zurückzufallen, traue ich mir keine eindeutige Prognose zu: Dass es uns im Zuge der Digitalisierung schlechter gehen wird als zuvor, ist deshalb durchaus wahrscheinlich; an »Big-Brother«-Horrorbildern herrscht kein Mangel. Dass es uns in der neuen, digitalen Welt aber weitaus besser gehen könnte als zuvor, dass viele drängende Probleme der Menschheit – Klimawandel, Artensterben, Krankheiten, Hunger, Armut, um nur einige zu nennen – durch eine völlig neue Art der Nutzung und Auswertung unvorstellbar großer Datenmengen gelöst werden könnten, ist möglich. Es liegt an uns.

Der Wandel ist bereits in vollem Gang, wird aber von denen, die qua Amt (Politik) oder Auftrag (Wirtschaft) in die Zukunft blicken und diese gestalten sollen, weitgehend verschlafen. Das hat jetzt schon nahezu ungeregelt vagabundierende Kapitalströme – die vielbeschworenen »Finanzmärkte« – sowie eine Handvoll Hightech-Giganten (etwa Google, Amazon, Apple, Microsoft) hervorgebracht, deren ökonomische, politische und gesellschaftliche Macht besorgniserregend ist. Facebook, Twitter und Co. erschaffen eine Realität, die mit der guten alten Wirklichkeit nicht mehr viel gemein hat. Das Silicon Valley, um das gebräuchliche Bild zu wählen, beziehungsweise die dort tätigen jungen, überwiegend männlichen Programmierer, die nicht viel von der Welt und dem Leben anderer Menschen wissen, bestimmen Takt und Tempo unserer Gegenwart – nicht etwa gewählten Regierungen und auch nicht mehr die einst führenden Konzerne der Industriegesellschaft.

Insbesondere die Vorzeigebranche der deutschen Wirtschaft, die Automobilbranche, in der ich einen Großteil meines Berufslebens verbracht habe, hat sich allzu lange im Glanz gestriger Erfolge gesonnt und es nach meiner Überzeugung seit Jahrzehnten versäumt, absehbaren Entwicklungen durch strategische Neuausrichtungen zu begegnen. Ihr »Immer-weiter-immer-größer-immer-besser«, ihre lineare Wachstums- und Großmannssucht hat sie am Ende in eine Situation geführt, in der auf unternehmerisch verantwortliche Weise hätte gehandelt werden müssen, aber nicht gehandelt wurde. Stattdessen wurde, sei es in frappierender Naivität, sei es in maßloser Arroganz oder Ignoranz, getrickst und geschummelt, was das Zeug hält – ein für mich, mittlerweile aus gewisser Distanz, völlig unverständliches Gebaren mit noch unabsehbaren Folgewirkungen. Ich werde darauf zurückkommen. Einige Unternehmen, und ich notiere das mit größter Sorge, laufen inzwischen in meinen Augen Gefahr, durch schwerwiegende Führungsfehler vorzeitig den Gang ins Museum des Industriezeitalters anzutreten – und würden damit gewissermaßen eine Art Selbstmord aus Angst vor dem Tod verüben. Denn die Automobilwirtschaft steht auch ohne »Abgasskandal« vor den größten Herausforderungen ihrer Geschichte, denen manch eine Firma nicht gewachsen sein wird.

Die Führungsfehler, die ich in erster Linie bemängele, bestehen darin, die offenkundigen Zeichen der Zeit systematisch ignoriert zu haben. Denn alles, was gerade passiert, hat sich schon lange deutlich abgezeichnet. Dass die fossilen Brennstoffe endlich sind, dass die Urbanisierung der Welt fortschreitet und der Stadtverkehr vielerorts vor dem Kollaps steht, dass zunehmende Umweltprobleme den Gesetzgeber zum Handeln und die Kunden zu Verhaltensänderungen veranlassen, sind keine Breaking News. Mir sei der bescheidene Hinweis erlaubt: Das alles wusste ich schon und habe es der Autoindustrie ins Lastenheft geschrieben, als mich der Spiegel 1989 in meiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender der deutschen Ford AG zu einem Gespräch einlud, in dem es um »die Entwicklung des Automobils und die Zukunft des Verkehrs« ging. Es ist ein wirklich komisches Gefühl, diesen Text vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse und Turbulenzen heute neu zu lesen.

Das Gespräch hat vor gut dreißig Jahren stattgefunden. Wir stehen also nicht vor neuen, sondern immer noch vor den alten Herausforderungen. Und kaum etwas ist seit damals passiert. Die Politik und die »Realwirtschaft« insgesamt, keineswegs »nur« die Autoindustrie, wirken seitdem seltsam gelähmt. Manche deuten dies als Arroganz der Satten, andere glauben, darin eine Angststarre zu erkennen – wahrscheinlich ist es stets eine Kombination aus beidem mit unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Im Ergebnis ist mangelnder Veränderungswille in jedem Fall eine schwere Hypothek: Wenn sie, wenn wir nicht endlich aufwachen und aktiv werden, wenn sie, wenn wir nicht endlich anfangen, die Dinge zu Ende zu denken und entsprechend zu handeln, gerät alles ins Wanken, worauf wir zu Recht stolz sein können: Demokratie, Freiheit und Wohlstand, das Gleichheits- und Gerechtigkeitsgebot, der Sozial- und der Rechtsstaat, innerer und äußerer Frieden. Die Wahrheit ist: Vieles wankt ja bereits bedrohlich.

Ich weiß, Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie und Wohlstand, das sind alles große Worte, die nicht selten als Worthülsen missbraucht werden und deren inhaltliche Füllung zumeist eigentümlich verschwommen bleibt und wenig fassbar wird. Aber um nichts Geringeres geht es am Ende. Ich gelobe daher, mich um Konkretion zu bemühen, und muss mich an diesem Anspruch messen lassen. Im weiteren Verlauf des Buches wird sich zu erweisen haben, ob ich die Zusammenhänge hinreichend deutlich und zumindest beispielhaft anschaulich machen kann.

In einem ersten Teil werde ich mich – um die Wahrheit zu sagen: durchaus widerwillig – meinem alten Wirkungsbereich, der Automobilindustrie, zuwenden. Widerwillig deshalb, weil ich mich der Branche nach wie vor verbunden fühle. Ich verfolge deren Entwicklung und »Performance« daher mit großer Sorge und empfinde nicht das geringste Vergnügen daran, auch noch Öl ins Feuer zu gießen. Aber alles andere wäre falsche Rücksichtnahme. Wollen die wunderbaren deutschen Hersteller mit ihren »eigentlich« hervorragenden Produkten weiterhin eine wichtige Rolle im Mobilitätsmarkt spielen, müssen sie aus ihren Fehlern lernen und einen Richtungswechsel vollziehen. Andernfalls werden sie das Ende des Industriezeitalters nicht überstehen. Ich will mich bemühen, dies mit einigen Überlegungen zu unterfüttern, ohne mich dabei als Lehrmeister aufzuspielen.

Tatsächlich steht die Automobilindustrie, unabhängig von ihren Besonderheiten und ihren spezifischen Verfehlungen, auf die ich natürlich eingehen werde, unter einem Veränderungsdruck, der unser gesamtes Leben – Politik, Gesellschaft und Wirtschaft – erfasst hat. Wir treten in ein neues, anderes »Maschinenzeitalter« ein. Insofern möchte ich in einem nächsten Schritt das inhaltliche Spektrum erweitern. Denn was sich in der Automobilbranche zuweilen öffentlichkeitswirksam vollzieht, findet in anderen, ebenso wichtigen Wirtschaftszweigen nahezu identisch statt: etwa in der Versicherungs- und Bankenbranche, in der Landwirtschaft, in der Bildung, in der IT-Wirtschaft. Vor allem am Beispiel der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelindustrie möchte ich zeigen, dass der besorgniserregende Zustand der Autobranche keine eigenständige, spezifische Problemlage darstellt, sondern Symptom einer tieferliegenden, allgemeinen Krise ist.

Diese Krise ist Ausdruck eines Wachstums- und Beschleunigungswahns, in dessen Verlauf wir scheinbar jedes Maß verloren haben. Dabei wissen wir, und viele erleben es bereits ganz manifest, indem sie in Depression verfallen, einen Burnout erleiden oder eine oder mehrere der sich epidemisch ausbreitenden Unverträglichkeiten ausbilden: Ein vor allem nach Effizienz- und Rentabilitätsvorgaben getaktetes Leben ist kein gutes, weshalb auch eine primär an Effizienz und Rentabilität orientierte Ökonomie zumindest auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt ist. Denn wenn eine Wirtschaft nicht mehr den »Nutzen der vielen mehrt«, wie dies einer ihrer wichtigsten Vordenker, Adam Smith, gefordert hat, wenn sie ihr soziales, auch solidarisches Gepräge verliert, wenn Kundenwünsche, Mitarbeiterengagement und Umwelterfordernisse von stetig zunehmenden Wachstums- und Absatzzielen zerrieben werden, entzieht sie sich gewissermaßen, wie die Seerose, deren Selbstzerstörungstrieb mir für mein letztes Buch als Titelmotiv diente, ihre eigene Lebensgrundlage. Das gilt für einzelne Firmen wie für Volkswirtschaften, und das gilt letzten Endes, wie uns die Auswirkungen der Klimakrise immer drängender vor Augen führen, für die Menschheit insgesamt.

Im abschließenden Teil werde ich deshalb Hinweise geben, was meiner Ansicht nach zu tun und zu ändern ist, damit das absehbare Ende des Industriezeitalters, wie wir es kennen, nicht in einen Kollaps mündet. Vor allem der digitale Wandel, den wir zurzeit erleben, macht eine andere Form des Wirtschaftens nicht nur möglich, sondern nötig. Ob die deutschen Autobauer dabei weiterhin eine gewichtige Rolle spielen werden, entscheidet sich jetzt. Noch halten sie ihr Schicksal in den eigenen Händen.

TEIL 1

Mit Vollgas in die Krise

»Man entdeckt keine neuen Weltteile, ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren.«

André Gide [2]

Die einst so ruhmreiche deutsche Autoindustrie, der ich eine Weile in verschiedenen Führungspositionen angehört habe und deren Entwicklung ich seitdem weiterhin intensiv verfolge – mit wachsendem Unverständnis, wie ich einräumen muss –, befindet sich seit geraumer Zeit in einem chronischen Krisenmodus. Finanziell stehen die Premiummarken, wie etwa VW, Daimler oder BMW, zwar alles in allem noch durchaus kraftvoll da, aber kulturell, politisch und technisch ist gewissermaßen die etablierte Geschäftsgrundlage ins Rutschen geraten, wodurch sich die Zukunftsperspektiven der gesamten Branche deutlich eingetrübt haben. Dieser Zustand ist zu großen Teilen, aber nicht ausschließlich selbstverschuldet.

Ich möchte mich deshalb in einem ersten Schritt dieser »Schlüsselindustrie« zuwenden und die aus meiner Sicht falschen Weichenstellungen benennen, nicht ohne noch einmal zu erwähnen, dass die Autobauer, trotz aller brancheneigenen Besonderheiten, in vielerlei Hinsicht als exemplarisch gelten können; in anderen Branchen sind ganz ähnliche Fehlsteuerungen zu erkennen. Verantwortlich für die zentralen Fehler ist natürlich, hier wie dort, das leitende Management – im Verbund mit politischen Steigbügelhaltern –, auf dessen Wirken ich daher besonders eingehen werde. In welchem Ausmaß die Autoindustrie das Eigeninteresse den Kundenbedürfnissen vorangestellt hat, und das lässt sich ähnlich evident etwa am Banken- und Versicherungssektor oder an der Landwirtschaft zeigen, ist empörend – und am Ende selbstzerstörerisch. Der sogenannte Abgasskandal wie auch das allzu lange, unverbesserliche Festhalten an einer Monokultur des auf immer mehr Leistung getrimmten Verbrennungsmotors sind hierfür nur die anschaulichsten Beispiele, die Spitze des Eisbergs sozusagen. Erst dieses »optimierende« Festhalten an einer zweifellos hervorragenden Technologie mündete schließlich in die flächendeckenden Betrügereien.

Und die Fehler der Vergangenheit drohen sich aktuell zu wiederholen. Nachdem jahre-, nein jahrzehntelang die Erforschung und Entwicklung alternativer Antriebsarten verschlafen und nicht selten boykottiert wurden, überbieten sich die Hersteller nun in ihren guten Vorsätzen und den Verheißungen einer vermeintlich sauberen Elektromobilität der Zukunft – genötigt von immer strenger werdenden Umwelt- und Emissionsgesetzen und aufgeschreckt durch gerichtlich erwirkte, im Autoland Deutschland noch bis vor Kurzem undenkbare Fahrverbote. Getrieben werden sie dabei auch noch von unliebsamer, peinlicherweise branchenfremder Konkurrenz (etwa vom E-Pionier Tesla oder gar von der altehrwürdigen Deutschen Post, die ihre E-Transporter inzwischen in Eigenregie baut, weil die großen Hersteller die Nachfrage danach lange Zeit einfach überhört haben).

Plötzlich setzt alle Welt auf E-Mobilität, zumindest nach außen hin, für das geneigte Publikum und, nicht zuletzt, für den Gesetzgeber. Alle namhaften Marken übertrumpfen sich mit ihren sogenannten Studien und ihren Hochglanz-Prototypen, die aber leider noch nicht so schnell in Serie gehen können, so heißt es, obwohl Tesla und chinesische Firmen die Aussage Lügen strafen, weil es an der Ladesäulen-Infrastruktur mangele, für die nun erst mal »die Politik« sorgen solle. Bis dahin: business as usual, das allbekannte Schwarze-Peter-Spiel, mit dessen Hilfe seit Jahrzehnten notwendige Veränderungen immer wieder hinausgezögert oder gar blockiert werden, um die bestehenden Fertigungsanlagen so lange wie möglich auszulasten. Dabei gehe es schließlich auch um Arbeitsplätze – eine Drohung, bei der Politiker reflexartig in Schnappatmung verfallen. Also: Gemach!

Aber der Wind hat sich gedreht, und plötzlich sollen die Segel, wie es schon Aristoteles empfahl, anders gesetzt werden. Und als wären die Fehler der Vergangenheit der Schnee von gestern, macht man irgendwie doch weiter wie bisher: Wieder soll es eine in Massenproduktion herzustellende Antriebsart möglichst allein richten, und wieder stehen hierbei die Interessen der Industrie und nicht die Bedürfnisse der Kunden im Vordergrund – abgesehen davon, dass die nun plötzlich herbeigesehnte E-Mobilität völlig andere Rohstoffkrisen nach sich ziehen und geopolitische Verwerfungen auslösen wird, über deren massive Konsequenzen bislang nur sehr wenige Verkehrs- und Umwelt-Experten nachdenken.

Ich möchte zeigen, warum hier aus meiner Sicht erneut falsche Weichenstellungen erfolgen. Dabei sollte ich vorher klarstellen, dass ich durchaus kein Gegner der E-Mobilität bin. Im Gegenteil, ich selbst habe, gemeinsam mit dem legendären Unternehmensberater Nicolas Hayek, schon vor nunmehr rund dreißig Jahren für ein elektrisch betriebenes Stadtauto geworben. Zuvor war ich schon beim damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors vorstellig geworden, um ihn um politische und finanzielle Unterstützung für die aus meiner Sicht perspektivisch notwendige Elektrifizierung des Individualverkehrs zu bitten. Denn um den Eintritt in die E-Mobilität zu ermöglichen, hielt ich den von keinem Unternehmen allein zu bewältigenden Aufbau einer Lade-Infrastruktur für erforderlich. Delors ließ sich nicht lange bitten: Wenn die großen Hersteller, und zwar gemeinsam, ihre Bereitschaft signalisierten, E-Autos zu bauen, würde er sich für eine großzügige europäische Entwicklungsförderung der entsprechenden Infrastruktur und der Batterietechnik einsetzen.

Mit dieser guten Nachricht im Gepäck fuhr ich daraufhin, nach Rücksprache mit Carl Hahn, zu einem Treffen mit dem damaligen ABB-Chef Percy Barnevik nach Zürich. Das global tätige Energie- und Automatisierungstechnik-Unternehmen schien uns ein guter Partner für die Weiterentwicklung der von den Autobauern so lange vernachlässigten Batterietechnik zu sein. Um sich für den massenhaften Einsatz in Fahrzeugen zu eignen, müssten die Zellen, so mein Anliegen, deutlich an Gewicht verlieren und an Energiekapazität gewinnen. Ohne auf mein Kooperationsersuchen einzugehen, ging Barnevik ans Flipchart und erteilte mir eine kostenlose Lehrstunde in Sachen Management, als würde er sich für Aufgaben in der Automobilindustrie bewerben wollen. An Batterien allerdings war er nicht interessiert: Nachfrage gleich null. Das klassische Problem des Anfangs: Den Autobauern fehlen geeignete Batterien und eine Lade-Infrastruktur, beides gibt es nicht, solange die großen Hersteller nicht erkennbar in die E-Mobilität einsteigen.

VWBMW BMWVW