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Neville Hilary feiert auf dem Landsitz im Kreise der Familie ihren 43. Geburtstag. In der Mitte ihres Lebens realisiert sie, dass sie als Mutter von ihren Kindern Gerda und Kay nicht mehr gebraucht wird und dass sie anders als ihr Mann Rodney keine erfüllende Karriere vorzuweisen hat. Das Medizinstudium hatte Neville mit Anfang zwanzig für Ehe und Kinder abgebrochen, doch nun beschließt sie, dass es höchste Zeit ist, einen gesunden Egoismus zu pflegen und vergangenen Ambitionen nachzustreben: Sie wird an die Universität zurückkehren und das Examen absolvieren.

Ihre 63-jährige Mutter, Mrs Hilary, fühlt sich unterdessen in ihrem Witwendasein derart unbeachtet, dass sie sich sogar der (von ihr zunächst argwöhnisch abgelehnten) Psychoanalyse zuwendet – mit dem Ziel, wenigstens beim Therapeuten endlich mal nur über sich selbst sprechen zu können. Und auch die anderen Frauen der Familie Hilary schlagen für ihre Zeit höchst ungewöhnliche Wege ein: Die unentschlossene Nan liebt zwar Barry, möchte aber vielleicht doch lieber ungebunden bleiben, die feministische Pamela findet ihr Glück in Arbeitsleben und Frauenwohngemeinschaft. Und dann wäre da noch die zwanzigjährige Gerda, jung und freigeistig, die alles kriegt, was sie will – und wenn es der Verehrer ihrer Tante Nan ist …

»Rose Macaulay ist eine der wenigen Autorinnen, von denen man sagen kann, dass sie unser Jahrhundert zierten.« Elizabeth Bowen

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© Getty Images/Sasha

ROSE MACAULAY wurde 1881 in Rugby geboren, studierte in Oxford und lebte danach in London. Sie schrieb über zwanzig meist satirische Romane, daneben auch Biografien und Reiseliteratur. Kurz vor ihrem Tod 1958 wurde sie zur Dame Commander of the British Empire geadelt.

IRMA WEHRLI wurde 1954 in Liestal geboren und studierte Anglistik, Germanistik und Romanistik an der Universität Basel. Seit 1984 arbeitet sie als freie Übersetzerin von englischsprachiger Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und hat Texte von u. a. Rudyard Kipling, Thomas Hardy, Thomas Wolfe, Walt Whitman und Katherine Mansfield ins Deutsche übertragen.

Rose Macaulay

EIN UNERHÖRTES ALTER

Roman

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Aus dem Englischen
von Irma Wehrli

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Für meine Mutter,

die beschwingt durch die abenteuerlichen mittleren Jahre segelt

 

 

»Dazu lässt sich sagen, dass jedes Alter für jeden Menschen gefährlich ist in diesem gefährlichen Leben, das wir führen«, meinte Mr Cradock.

»Eine Betrachtung darüber, dass das Menschenleben auf diesem winzigen und vergänglichen Planeten bestenfalls eine reine Episode ist und so kurz wie ein Traum …«

Logan Pearsall Smith, Trivia

ERSTES KAPITEL

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Nevilles Geburtstag

Neville erwachte an ihrem Geburtstagsmorgen um fünf (die Stunde der Natur, nicht die der Menschen) aus dem träumerischen Schlaf anbrechender Sommertage, erhitzt von der Last zweier Laken und einer Decke, geweckt vom vielfachen hellen Rufen einer Welt voller Vögel. Schrill und melodisch erklangen sie rund um das überwachsene Haus wie hundert Bäche, die nach der Schneeschmelze steile Runsen hinunterschießen. Und ungleich jedem Bach und auch jedem Vogel und überhaupt jedem Ding auf der Welt außer einer Kuckucksuhr, rief unbeirrt in den Ästen der großen Ulme auf der anderen Seite des silberglänzenden Rasens ein Kuckuck.

Neville drehte sich um, legte ihr kleines Gesicht in die sonnengebräunten Hände und schaute verschlafen hinaus. Die prickelnde Freude des jungen Tags erfasste sie, als sie sie durch das offene Fenster einsog. Sie erschauderte verzückt, als ein kalter Hauch sich ihr auf die Blöße von Hals und Brust legte, und sie vergaß die rastlose Geburtstagsbitterkeit der Nacht; vergaß, wie sie wachgelegen und gedacht hatte: »Wieder ein Jahr vorbei und noch nichts zustande gebracht. Bald werden alle Jahre vorbei sein, ohne dass je etwas zustande gebracht wurde.« Von ihr zustande gebracht, meinte sie natürlich, wie alle wissen, die sich mit Geburtstagen auskennen. Aber was ›etwas‹ war und was ›nichts‹, wussten weder sie noch andere Geburtstagskinder angemessen zu benennen. Sie haben gelebt, sie haben gegessen, getrunken, geliebt, gebadet, gelitten, geplaudert, getanzt in der Nacht und gejubelt in der Früh und sich eigentlich beide Hände am Feuer des Lebens gewärmt, und doch sind sie noch nicht bereit, abzutreten, denn sie hecheln der Zeit hinterher, sind besessen von so vielen Welten und so vielen Tätigkeiten: das Geleistete winzig, das noch Ausstehende riesig.

Dies bedrückte Milton einst, als er dreiundzwanzig wurde, und es bedrückt jeden eitlen und ehrgeizigen Menschen mindestens einmal im Jahr. Manche nennen es Reue um verschwendete Tage und sind stolz darauf, andere nennen es Eitelkeit, Unzufriedenheit oder Gier und schämen sich deswegen. Doch ob so oder so – es spielt keine Rolle.

Neville streifte all diese Gedanken leichthin ab mit den Laken, sprang aus dem Bett und schlüpfte in Strandschuhe, warf sich einen großen Mantel über ihren schmalen, drahtigen Körper, trat leise auf den Flur, wo hinter drei geschlossenen Türen Rodney, Gerda und Kay schliefen, und stahl sich die Hintertreppe in die halbdunkle Küche hinunter, die hinter den Jalousien porzellanblau und morgenblass schimmerte. Sie machte sich eine Tasse Tee auf dem Gaskocher. Auch Brot und Marmelade nahm sie aus der Speisekammer und bestrich zwei dicke Schnitten damit, mampfte die eine und entschwand aus dem schlafenden Haus in den verwilderten Garten.

Neville blickte zu Gerdas Schlafzimmerfenster auf, das im Geißblatt ertrank, und hätte beinahe den Pfiff ertönen lassen, auf den Gerda üblicherweise antwortete. Beinahe, aber dann doch nicht. Alles in allem war es ein Morgen wie zum Alleinsein gemacht. Zudem wollte Neville eine Weile nichts mehr von Geburtstagen wissen, und Gerda hätte sie daran erinnert.

Sie ging über den Hof, um stattdessen Esau zu holen, der sie nicht daran erinnern würde und dessen überschäumende Freude sie mit einer mahnenden Geste dämpfte.

Über den feuchten, silbrigen Rasen schlenderte sie, zwischen den riesenhaften Schatten der Ulmen, ihre Füße in den alten Strandschuhen hinterließen dunkle Spuren im Tau, ihr Mund war voll Marmeladenbrot, der schwarze Zopf hüpfte auf ihren Schultern, und Esau tollte um sie herum. Über den Rasen weiter zum Wald, kühl und dämmrig auch er, aber nicht still, denn er widerhallte von Musik und raschelte vor Leben. Durch das Geäst der Buchen, Ulmen und Fichten versprühte der junge Tag sein Gold, sodass die blauen Glockenblumenbüschel hier aufleuchteten wie Tau in der Sonne und dort grau blieben wie Wasser im Dämmerlicht. Zwischen zwei großen Blumenwogen führte ein brauner Weg steil zu einem tiefen kleinen Bach hinunter. Neville und Esau kletterten ein kleines Stück bachaufwärts bis zu einem breiten Strudeltopf, den der Bach zwischen den Felsen bildete. Hier zog Neville Mantel, Schuhe und Schlafanzug aus und verharrte einen Augenblick auf dem vorspringenden Felsen: ein schlanker, nackter Körper, langbeinig und wohlproportioniert, feingliedrig mit beweglichen Muskeln – ein Körper geschaffen für Schnelligkeit, Anmut und eine gewisse drahtige Zähigkeit. Sie blieb sitzen, bis sie ihren schwarzen Zopf um den Kopf geschlungen hatte, tauchte dann ins kalte, klare Wasser ein, das ihr an einer Stelle knapp über den Kopf reichte, und rief nach Esau, aber Esau wollte wie üblich nicht ins Wasser und bellte bloß.

Eine Runde Schwimmen ist schon genug, mehr als genug, wie alle bestätigen werden, die sich mit frühmorgendlichen Bädern auskennen. Neville kletterte hinaus, stellte fest, dass sie ihr Handtuch vergessen hatte, und trocknete sich an ihrem Mantel ab, schlüpfte wieder in ihren Pyjama und setzte sich, um ihr zweites Marmeladenbrot zu genießen. Als sie es gegessen hatte, kletterte sie auf eine Buche, dicht an den glatten Stamm geschmiegt, bis sie ins Sonnenlicht gelangte, setzte sich rittlings auf einen dicken Ast und begann gellend zu pfeifen, mal den einen und mal den anderen Vogel imitierend.

Ja, das waren die Augenblicke, da es vollauf genügte, am Leben zu sein. Schwimmen, Marmeladenbrot und hoch droben in einer Buche sitzen, Auge in Auge mit dem goldenen Morgen – ja, das war Leben. Dann flog man wie ein beschwingtes Schiff mit Wind in den Segeln über die kalten schwarzen Untiefen der Zweifel. An manch einen solchen Junimorgen konnte Neville sich erinnern … Sie fragte sich, ob auch Gerda und Kay so über den Kummer hinwegsegelten. Dass Rodney es tat, wusste sie. Aber Rodney kannte sie in mancher Hinsicht besser als Gerda und Kay.

So plötzlich an Rodney, Gerda und Kay zu denken, wie sie da im stillen Haus jenseits des singenden Waldes und silbrigen Gartens schliefen, hieß sogleich in den dunklen Wogen versinken und wieder den stechenden Schmerz der nächtlichen Eifersucht spüren. Nicht Missgunst, denn dafür liebte sie sie alle zu sehr. Aber Eifersucht auf ihre Aussichten, auf ihre Berührungen mit dem Leben. Sie hatte zwar auch ihre eigenen, aber sie wollte noch alle möglichen anderen dazu. Nicht nur Rodneys, Gerdas und Kays, nein, die all ihrer Angehörigen und Freunde. Sich der Tatsache so bewusst, wie man es an Geburtstagen eben ist, dass das pralle Leben schon bald versiegt sein wird, suchte sie es verzweifelt einzudämmen. Es verfloss zu schnell. Sie betrachtete die nassen Strähnen ihres Haars, das ihr nun offen auf die Schultern fiel, um in der Sonne zu trocknen, und ihre starken Glieder und dachte an kommende Tage, da das schwarze Haar grau wäre und sie keine biegsamen Glieder mehr hätte, um auf Buchen zu klettern, und Rheuma bekäme, wenn sie bei Sonnenaufgang badete. Was tat man dann, um nicht in den schwarzen Wogen der Trauer unterzugehen? Man saß am Kamin oder im sonnenbeschienenen Garten, alt, grau und schläfrig – ja, man schlief ein, wann immer man konnte. Wenn man nicht schlafen konnte, so las man. Aber die Augen ermüdeten rasch – Neville dachte an ihre Großmutter –, und man musste sich vorlesen lassen von jemandem, der nicht vorlesen konnte. Aber gegen vergebliches Nachtrauern half das nicht genug, nur Freude an körperlicher Betätigung schaffte das. Darum musste man, bevor jene Stunde schlug, die Trauer erschlagen haben, ja, dieses Schlangenhaupt ein für alle Mal zermalmt haben.

Aber ob dies überhaupt irgendwem gelang? Rodney mit seinem erfüllten, nützlichen, interessanten Leben, Rodney, der sich einen Namen gemacht hatte und noch machte, Rodney, den so viele beneideten und vor allem Neville, die sich immer noch an den scharfen Kanten ihrer längst abgebrochenen Karriere schnitt, selbst Rodney verzehrte sich manchmal insgeheim vor Ehrgeiz und Eifersucht auf Rivalen, grollte und litt an dem Wettlauf, den wir bestreiten müssen. Er hatte etwas geleistet und tat es noch, aber es war nicht genug. Er hatte es weit gebracht und immer noch weiter, aber nicht weit genug. Er konnte nicht alles erreichen, was er wollte; überall stellten sich ihm Hindernisse in den Weg. Dummköpfe behinderten seine Arbeit, und weniger tüchtige Männer als er gelangten in Positionen, die ihm zugestanden hätten. Er war ein Vollblutpolitiker und hätte doch gern mehr Zeit zum Schreiben gehabt. Hundert Karrieren neben der eigenen hätte er gern gehabt und musste sich mit der einen begnügen. (Gerda und Kay hingegen, die erst an der Schwelle zum Leben standen, glaubten noch, es gäbe tatsächlich hundert Karrieren für sie.) Nein, Rodney war nicht gefeit gegen Reue, aber immerhin hatte er mehr, womit er sie in Schach halten konnte, als Neville.

Neville hatte keine eigenen Leistungen vorzuweisen; sie hatte bloß ihre Liebe zu Rodney, Gerda und Kay, ihr Interesse am hinreißenden, sonderbaren Spektakel des Lebens, ihre körperliche Fitness (mit der sie alle andern mühelos im Schwimmen, Laufen, Tennis oder Squash übertraf) und ihren regen, aber ungenutzten Verstand. Und es war ein tüchtiger Verstand, hatte sie doch einst ihre medizinischen Prüfungen mühelos und mit Bravour bestanden – soweit sie sie, bevor etwas dazwischenkam, überhaupt ablegen konnte. Aber jetzt lag ihr Verstand brach, war verschwendet, verkümmert und vom mangelnden Gebrauch stumpf geworden. Konnte sie ihn so einfach wieder in Gebrauch nehmen? Oder blieb sie für immer gefangen im tiefen Wald, wo es dämmerte vor ihr und hinter ihr?

[1] Ich bin im tiefen Wald,

Es dämmert vor und hinter mir.

Über Berg und Tal

Hör ich das Waldland wogen

Wie die Stimme der Zeit, gemessen,

Wie die Stimme des Lebens, getragen,

Wie die Stimme des Todes, unbewegt …

Die Stimmen, die jungen und lauten Stimmen von Gerda und Kay, gellten vom Garten herab, und Esau kläffte zurück. Sie riefen nach ihr. Sie hatten sie vermutlich wecken wollen und festgestellt, dass sie verschwunden war.

Neville lächelte (wenn sie lächelte, erschien auf der einen blassbraunen Wange ein Grübchen) und schwang sich von der Buche herunter. Kay und Gerda waren ungeheuer wichtig, das Wichtigste im Leben außer Rodney, bloß nicht ihr Ein und Alles, denn nichts ist je alles in dieser so komplizierten Welt.

Als sie aus dem Wald in den Garten gelangte, der nun golden glänzte im Morgenlicht, stürzten die beiden auf sie zu und nannten sie eine Heimlichtuerin, weil sie sie nicht geweckt hatte zum Frühschwimmen.

»Du wirst dich verspäten zum Frühstück«, zwitscherten sie. »Es ist dein dreiundvierzigster Geburtstag, und du kommst zu spät.«

Sie legten beide einen Arm um sie und zogen sie zum Haus zurück. Sie waren zwanzig und einundzwanzig und rank und schlank. Zwischen ihnen wirkte Neville mit ihrem spitzen Gesicht, das für jeden Hauch eines Gedankens oder Gefühls wie vom Wind aufgerührtes Wasser empfänglich war, ihren großen Veilchenaugen, die unter schmalen schwarzen Brauen träumten, und ihrem in losen Strähnen herabfallenden feuchten Haar wie eine alterslose Waldnymphe zwischen zwei jungen Reisern. Kays Gesicht glich ein wenig ihrem, nur dass seine lila Augen kurzsichtig waren und er eine Brille trug. Gerda war kleiner, zarter und gertenschlank, mit einem blassen Gesicht und welligem Haar aus purem Gold, das um den weißen Hals kurz geschnitten war, verträumten blauen Augen, anmutigem Kinngrübchen und schmalen, geraden Lippen. Doch so fragil sie auch aussah, konnte sie die ganze Nacht durchtanzen und am Morgen so taufrisch und erlesen wie eine Lilienknospe zurückkehren. Eine Aura unbefleckter, geschlechtsloser Reinheit umgab Gerda; sie hätte den Erzengel Gabriel geben können: großäugig, jung und ernst. Mit diesem unschuldigen Blick sprach sie unerschrocken von Dingen, die Neville (als Produkt einer zimperlichen Generation und Klasse, die so annähernd geschlechtslos war, wie man es in dieser sexverrückten Welt nur sein kann, was nie viel heißen will) zuwider waren. Und Kay desgleichen. Sie lasen und diskutierten Freud zusammen, der für Neville mit ihren ungerechten Vorurteilen ein abscheulicher Irrer und Lügner war. Sie mochten zwar mit ihr über Freud lachen, wenn er sich über jenen Komplex ausließ, der zwischen Müttern und Töchtern, Vätern und Söhnen Hass sät, nahmen aber trotzdem Dinge ernst, die für Neville bloß unsäglicher Schwachsinn waren. Überhaupt fanden Gerda und Kay nicht so viel lustig oder abstoßend wie Neville. Und Neville ging im Geist zwanzig Jahre zurück und versuchte sich zu erinnern, ob sie die Welt damals als Medizinstudentin auch schon so komisch und schrecklich gefunden hatte wie heute; eher nicht, fand sie dann. Junge Leute sind nämlich bei all ihrem Temperament unendlich ernsthaft und pompös. Sie lachen, aber die augenzwinkernde Ironie der Dreißig- und Vierzigjährigen, die sich selbst und alles andere aufs Korn nehmen, geht ihnen noch ab. Sie können keine milden Zyniker sein, sind sie doch so voller Glauben und Hoffnung, und beschädigt man diese, so werden sie wütend. Kay und Gerda nahmen das Leben mit einem gewissen heiligen Ernst. Wunderbare Geschöpfe, dachte Neville und betrachtete sie mit humorvoller Zärtlichkeit. Sie hatten nichts mit der stümperhaften Vergangenheit der Vorkriegsjahre und der gekünstelten Fröhlichkeit des jungen Jahrhunderts zu schaffen. Sie waren im Weltkrieg groß geworden und waren ihm gestählt von elementaren Erfahrungen entwachsen und stritten über das Leben, Lust und Liebe, Politik und Sozialreform mit kühler Redlichkeit, kluger Gründlichkeit und elisabethanischer Offenheit. Sie waren sich nicht zu schade für Leidenschaften und dafür, ihnen freien Lauf zu lassen. Sie fänden es weder unfein noch lästig, ein Lotterleben zu führen. Es war ja vermutlich auch keins; vermutlich waren Neville und ihre Altersgenossen einfach überkultiviert und zu weit entfernt von den groben Tatsachen des Lebens und von den Kreisläufen und Affekten der Natur. Und jetzt nahm die Natur auf ziemlich verblüffende Weise an der nächsten Generation Rache.

Neville lief die Treppe hinauf und erschien dann im blauen Baumwollkleid zum Frühstück, das feuchte Haar glatt zurückgekämmt von der breiten Denkerstirn über dem kleinen, spitzen Gesicht. Sie sah aus wie eine unwirsche Waldnymphe, wie ein launischer, elfenhafter Freigeist. Rodney und Kay und Gerda hatten Päckchen auf ihren Teller gelegt, und dazwischen lag ein Stapel Briefe. Mindestens dies haben Geburtstage für sich, egal, wie alt sie uns machen. Kay hatte ihr ein prächtiges Taschenmesser geschenkt und ein Buch, das er lesen wollte, und Gerda ein Eichenkästchen, das sie geschnitzt hatte, und Rodney ein neues Fahrrad (neben der Haustür) und eine Zeichnung von Brangwyn (auf dem Tisch). Da somit der Augenblick gekommen ist, um Rodney einzuführen (obwohl in diesem Buch nicht viel von ihm die Rede sein wird), sei erwähnt, dass er Nevilles Gatte und Gerdas und Kays Vater war, ein tüchtiger und eleganter Mann von fünfundvierzig Jahren und Labour-Abgeordneter eines Wahlkreises in Surrey (so unwahrscheinlich dies auch klingt, und in der Tat sah er eher wie ein Schriftsteller aus). Und wenn Neville Kay und Gerda um ihre künftigen Karrieren beneidete, so neidete sie Rodney seinen jetzigen Wirkungskreis. Sich auch als verheirateter Mensch nützlich machen: So einfach war das bei Rodney und so schwierig bei ihr. Darum hatte sie Rodney vor zwanzig Jahren ein wenig beneidet und dann damit aufgehört, denn die Erziehung von Kay und Gerda war eine Aufgabe für sich. Doch jetzt war der Neid wieder aufgeflammt. Rodney und sie waren einander ähnlicher als ihren Kindern; sie hatten dieselben Eitelkeiten, Empfindlichkeiten, Launen und Distanzierungen und in mancher Hinsicht dieselbe Weltanschauung, bloß war sie bei Rodney durch seine Kontakte und die Erfordernisse seiner Laufbahn gefestigt worden, während sie sich bei Neville, die dilettantischer lebte, verflüchtigt und entkräftet in ihr Inneres zurückgezogen hatte. Natürlich »half sie Rodney in seinem Wahlkreis«, aber es war Rodneys Wahlkreis, nicht ihrer. Sie empfing seine Freunde und ihre, wenn sie in der Stadt waren, aber sie wusste, dass sie ein Leichtgewicht war und keine Frau, die die Fäden zog. Und doch war ihr Charakter stärker als Rodneys: großzügiger und reifer; es fehlte ihr bloß seine Erfahrung.

Rodney war liebenswürdig, war es immer gewesen: So viel stand fest, was auch immer man sonst von ihm halten mochte. Tüchtig war er auch, aber reizbar, und er schnaubte wie ein nervöses Pferd über die Zumutungen und Enttäuschungen im Leben, wie »Quaker Oats«, weil die »Grape-Nuts«-Flocken alle waren, und über die Morgennachrichten aus Politik und Industrie, die so schlecht waren wie üblich und viermal in viermal anderer Tonlage von den vier Tageszeitungen auf dem Tisch wiederholt wurden. Sie hatten vier Zeitungen abonniert, nicht unbedingt, damit jeder eine haben konnte, sondern wegen des Vergnügens, das ihnen die ganz unterschiedliche Darstellung derselben Nachricht bereitete. Eine Gemeinsamkeit verband nämlich diese Familie, die den meisten anderen Familien abgeht: Sie stimmten in ihren politischen Ansichten (mehr oder weniger) überein und hielten darum dieselben Nachrichten für gut oder schlecht. Der größte Unterschied in ihrer politischen Einstellung lag darin, dass Kay und Gerda hier einer Liga und dort einem Bund beitraten, weil sie noch jung genug waren, um zu glauben, dass dies ihre Sache voranbrachte.

»Und heute?«, fragte Rodney Neville. »Was hast du vor?«

»Tennis«, antwortete sie. »Zum Fluss gehen. Und sonnenbaden.« (Man beachte, dass dies einer der neun Sommertage des Jahrs 1920 war, an denen solche Aktivitäten in Frage kamen.) »Was eben jeder so mag … Ich habe ja schon recht viel vom Tag gehabt und ein Bad … Oh, und Nan kommt heute Nachmittag zu Besuch.«

Sie entnahm dies einem der Briefe; Nan war ihre jüngste Schwester. Sie machten sich nun daran, weitere Neuigkeiten aus den Briefen auszutauschen, wie es Familien mit einigem Familiensinn gerne tun.

Eine Neuigkeit lag Gerda schon auf den Lippen, doch dann fielen ihr die Aversionen ihres Vaters ein, und sie hielt sich zurück. Der kultivierte Rodney hatte für den naiven Hang seiner Kinder zu barbarischen Sitten nichts übrig. Er nannte sie junge Wilde. Also hob Gerda ihre Nachricht für später auf, wenn sie mit Neville und Kay auf Wolldecken im Rasen liegen würden, nachdem Neville Kay einen Satz abgenommen hatte. (Sie hatte einst für ihre Grafschaft Tennis gespielt.)

Sie lagen da, rauchten und kühlten ab, bis Gerda, der aus einem Mundwinkel eine Zigarette und aus dem andern eine Butterblume hing, murmelte: »Penelopes Baby ist jetzt übrigens da. Ein Mädchen. Wieder eine Frau zu viel.«

Neville hob schläfrig die Augenbrauen. »Penelope Jessop? Wie kommt die denn zu einem Baby? Ich wusste gar nicht, dass sie geheiratet hat.«

»Hat sie natürlich auch nicht! Habe ich dir nicht von Penelope erzählt? Sie lebt jetzt mit Martin Annesley zusammen.«

»Oh, ich verstehe. In wilder Ehe, sozusagen.«

Neville gehörte zu jenen, die wilde Ehen unzivilisiert und sozial rückständig fanden, ein Rückfall, gewissermaßen, zur Natur, der sie langweilte. Gerda und Kay hielten zwar solche Ehen mit Recht für ziemlich vorteilhaft gegenüber den öffentlich sichtbareren (weil man sie besser auflösen konnte, wenn man sie satt hatte) und für sehr vorteilhaft gegenüber null Eheschließungen, was so gar nichts zum Bevölkerungswachstum beitrug, das im Weltkrieg eingebrochen war. Wenn sie sich mit wunderbarem Bürgersinn so äußerten, wandte Neville gern ein: »Es braucht gar kein Wachstum. Zwanzig Minuten habe ich neulich am Trafalgar Square gewartet, bevor ich in meinen Bus einsteigen konnte. Die Bevölkerung könnte gut und gerne noch schrumpfen, finde ich – durch eine Pestepidemie oder dergleichen«, was Kay und Gerda richtig egoistisch fanden.

»Ich will doch hoffen«, sprach Neville das aus, was sie eben gedacht hatte, »ich will doch sehr hoffen, dass keiner von euch sich je auf eine solche Ehe einlassen wird. Das wäre schrecklich geschmacklos von euch.«

»Wer weiß«, sagte Kay ausweichend.

»Wenn man bedenkt«, sagte Gerda, »dass in diesem Land eine Million mehr Frauen als Männer leben, leuchtet es ein, dass irgendeine Form von Polygamie einmal üblich sein wird.«

»Die war schon immer üblich, Schatz. Furchtbar üblich. Es ist viel spannender, sich in dieser Hinsicht an das Unübliche zu halten.«

Nevilles Stimme verebbte schläfrig. Polygamie. Sex. Freie Liebe. Liebe in Ketten. Die Kinder schienen das alles so oft zu diskutieren. Wie sie und ihre Freunde vor zwanzig Jahren scheinbar endlos über die Grenzen der Persönlichkeit, die Ethik der Freundschaft und die Natur Gottes diskutiert hatten, wenn es ihn denn gab. (Letzteres war für Kay und Gerda zu hypothetisch, um ein anregendes Thema zu sein. Sie wären eingeschlafen dabei wie Neville beim Thema Sex.)

Neville hing zynisch ihrem von der freien Liebe heraufbeschworenen Bild von Wilden nach, die in Urwäldern um einen Holzstoß tanzten und sich dem hingaben, was Missionare, Journalisten und Verfasser von Romanen über unsere farbigen Geschwister »namenlose Orgien« nannten (als hörten Orgien sonst auf einen Namen wie die Sterne), und sah die steilen Straßen der runden Erde rasend schnell rück- und rück- und rückwärts laufen – ob vorwärts oder rückwärts spielte keine Rolle, weil die Welt rund war – bis zu diesem einen Punkt. Sie sah auch tausend stickige Stuben, in denen Paare durch ein so starres, ewiges und unauslöschliches Versprechen aneinander gebunden waren, dass selbst all ihre Tränen kein Wort davon wegschwemmen konnten, außer sie taten sich mit einem anderen Gefährten zusammen, und dann endete ihr zweiter Versuch vielleicht noch unglücklicher als der erste. Freie Liebe – Liebe in Ketten. Wie absurd dies alles war und auch wie tragisch! Da fiel man dann vielleicht auf die verbleibende Option zurück – gar keine Liebe –, aber dies war noch absurder und noch tragischer, war der Mensch (unter anderem) doch vor allem dazu gemacht, zu lieben. Während sie so unter schweren Wimpern hervor auf ihren Nachwuchs schielte (der so unglaublich jung, aberwitzig theoretisch, radikal lauter im Denken und freimütig im Reden war, von einer Klarheit, die noch nicht von den Opportunitäten, Kompromissen und Experimenten des Lebens getrübt war), wurde Neville von schmerzlicher Angst um sie und Hoffnung zugleich durchzuckt: Angst, dass sie einer flüchtigen Aufwallung nachgeben und der sentimentalen Banalität kurzlebiger Umarmungen oder der Trostlosigkeit von Banden erliegen würden, die beständiger waren als jedes Begehren. Und Hoffnung, dass sie wie sie selbst durch einen glücklichen Zufall zu einer Beziehung fänden, die so dauerhaft wie ausdauernd war. Den dritten Weg hingegen – gar keine Liebe –, nein, den würden wohl weder Kay noch Gerda einschlagen. Sie waren gefühlvoll in ihrer jugendlichen Unverfrorenheit und glaubten durchaus, sie sollten mithelfen, die Bevölkerung zu mehren. Was für ein wunderbar edler Glaube von Zwanzigjährigen, dachte Neville und erinnerte sich an den Leichtsinn ihrer eigenen unbekümmerten Jugend, als ihr einziges Interesse an Bevölkerungsfragen der Albtraum gewesen war, sie würden dereinst so viele, dass man sie aus den Städten aufs Land verscheuchte, wo sie über die Moore, Hügel und Wälder wuseln mussten wie die Schaben des Nachts in den Küchen. Sie waren besser, als sie gewesen war, diese Kinder: Sie hatten mehr Gemeinsinn und Lebensernst.

Nan Hilary kam durch den Garten; sie war aus der Stadt angereist, um Neville an ihrem dreiundvierzigsten Geburtstag zu sehen. Nan war noch nicht so unglaublich alt wie Neville. Nan war dreiunddreißigeinhalb. Sie stand für die Dreißiger und schlug in Nevilles Kopf eine Brücke zwischen den fernen Zwanzigern und den unwirklichen Vierzigern, von denen es heißt, dass die Männer und Frauen misstrauisch darin herumtappen wie in fiktiven Welten, während die Fünfziger an einen noch absurderen Traum erinnern. Spätestens in den Sechzigern sollte man etwas zur Ruhe gekommen, mit sich im Reinen sein und die Gegensätze von Leben und Zeit versöhnt haben. Aber normal scheint es trotzdem zwangsläufig, in den Dreißigern zu sein: im richtigen, gewöhnlichen Alter, in dem sich die meisten Leute befinden. Nan schrieb, lebte in einer Wohnung in Chelsea und hatte große Ähnlichkeit mit einem wilden Tier – einem Leoparden zum Beispiel. Lang und geschmeidig, mit kleinem, runden und bleichen Gesicht und nachdenklichen gelben Augen tief in den Augenhöhlen, unter düsteren schwarzen Brauen, die sich schräg zu den äußeren Rändern hinaufzogen. Nan amüsierte sich: gesellschaftlich und intellektuell. Sie war faul und gescheit, vertrödelte Tage und Wochen mit sinnlosen geisteswissenschaftlichen Erkundungen oder aalte sich auf dem Land in der Sonne wie eine Katze. Ihr größter Fehler war eine zynische Unfreundlichkeit, die sie nicht bekämpfte, weil sie Gefallen daran fand, die weniger bewundernswerten Seiten der Menschen zu studieren. Ihr Neffe und ihre Nichte amüsierten sie sehr, aber sie war auch oft boshaft zu ihnen, einfach weil sie so jung waren. Kurzum, sie war Zynikerin, Lebefrau, eine ausgezeichnete Literaturkritikerin und brillante Schriftstellerin mit spitzer Feder und hatte eine schwärmerische, fürsorgliche Passion für Neville, die der einzige Mensch war, dem sie stets das anvertraute, was sie ihre dunkleren Lebensgeheimnisse nannte.

Sie setzte sich ins Gras, die Knöchel von ihren schmalen, gebräunten Händen umschlossen, und sagte zu Neville: »Du siehst sehr hübsch aus, Altchen. Dreiundvierzig steht dir anscheinend gut.«

»Und du«, gab Neville zurück, »siehst aus, als hättest du die ganze Nacht verjazzt und vom Morgengrauen bis zum Frühstück böse Kritiken geschrieben.«

»Das ist nicht weit daneben«, gab Nan zu, warf sich längelang auf den Rücken und machte die Augen zu, um sie vor der Sonne zu schützen. »Darum bin ich auch hergekommen, um meine angegriffenen Nerven zu besänftigen. Und auch, weil Rosalind mit mir zu Mittag essen wollte.«

»Hast du meine Gedichte schon gelesen?«, fragte Gerda, die nie Anzeichen der üblichen Hemmungen im Umgang mit solchen Dingen zeigte. Sie und Kay legten Nan ihre literarischen Bemühungen vor, weil sie erstens an ihre Fähigkeiten als Kritikerin und zweitens an ihren Einfluss in literarischen Kreisen glaubten. Nan nutzte Erstere für sie, Letzteren aber nur selten, weil sie – mit seltsamen Aufwallungen von Großmut – eifersüchtig auf Gerda und Kay war. Warum wollten sie überhaupt schreiben? Warum sollten sie nicht alles Mögliche sonst tun, als in ihrem Revier zu wildern? Obwohl sie ja selbst nie Gedichte geschrieben hatte oder je schreiben würde. Und natürlich schrieb heutzutage jeder und vor allem die ganz Jungen, aber bei einer Nichte und einem Neffen war es eher lästig. Sie schrieben nicht gut, denn das schafft in ihrem Alter nie jemand, aber eines Tages mochte es ihnen gelingen. Ihre Gedichte erschienen schon in den Wochenzeitungen und in Sammelbänden von Gegenwartslyrik. Bald würde man sie in eigenen Bändchen herausgeben. Da sollten sie doch viel lieber heiraten, dachte Nan, und das Feld räumen.

»Ich hab sie gelesen – ja«, antwortete Nan einsilbig auf Gerdas Frage.

»Und?«, ließ Gerda nicht locker, »was meinst du dazu?«

»Ich habe gesagt, ich hätte sie gelesen«, antwortete Nan. »Ich hab nicht gesagt, ich hätte eine Meinung dazu.«

Gerda sah sie mit dem freimütigen Blick ihrer großen Augen an, mit der gelassenen Sanftmut der Jugend, die es noch gewohnt ist, gerüffelt zu werden. Nan würde sie hänseln und verwirren, sie zappeln lassen und spotten, aber am Ende stets ihre Meinung sagen, und ihre Meinung zu kennen, lohnte sich stets, auch wenn sie nicht mehr ganz jung war.

Als Nan ihren schlanken und ranken Körper auf dem Gras umdrehte, fing sie den Blick der geduldigen Kleinen auf und lachte. Sie schwankte zwischen Aufwallungen von Großmut und launischer Boshaftigkeit in ihrem Umgang mit Nevilles albernen, pompösen, egoistischen, hübschen Kindern.

»Also gut, du blauäugige Schöne. Ich werde alles aufschreiben für dich und es dir mit dem Manus zurücksenden, wenn du es wirklich haben willst. Es wird dir nicht gefallen, weißt du, aber ich denke, das bist du inzwischen gewohnt.«

Neville hörte ihnen zu. Bedauern regte sich in ihr, kalt und flau und missgünstig. Alle schrieben sie außer ihr. Schreiben: Das war ja nichts Großartiges, außer man war richtig gut darin, und es hatte sie persönlich nie interessiert, und doch war es etwas – ein kleines Stück von einem selbst in den dahineilenden Fluss geworfen. (Man wird inzwischen erraten haben, dass Neville eine Egoistin war.) Sie hatte nie geschrieben, nicht einmal in Gerdas Alter. Gedichte schreiben hatte vor zwanzig Jahren, anders als Tennis, Französisch oder Tanzen, noch nicht zur vollendeten Bildung eines jungen Menschen gehört. Zudem hätte Neville nie mit Freude dichten können, schien ihr doch der Graben zwischen guter und schlechter Lyrik zu breit, als dass sie ihn mit ihren Talenten hätte überwinden können. Auch Romane kamen nicht in Frage, denn sie missfielen ihr fast allesamt, weil sie sie langweilig, billig und konventionell fand und jeden Bezug zur gelebten Wirklichkeit ebenso wie zur Welt der Fantasie vermisste. Was sie in früher Jugend trotzdem geschrieben hatte, waren abstruse Einbildungen gewesen, die sie aus kindlichen Abenteuern im Märchenland gesponnen hatte, und stammte später aus Reisen in noch exotischere Gefilde: tropische Länder, die sie mit ihrem Vater besucht hatte. Aber viel hatte sie nicht geschrieben oder schreiben wollen: Wissenschaftliche Studien hatten sie immer stärker angezogen als literarische Meriten. Doch dann hatte sie Rodney geheiratet, und damit war es für sie mit jeglichen Studien und Meriten vorbei, während Rodney in keinerlei Hinsicht am Ende stand, sondern erst am Anfang.

Rodney erschien vor dem Haus, seine Pfeife im Mund. Er hatte immer noch den schlendernden Gang eines jungen Studenten – die Schultern hochgezogen, die Hände in den Hosentaschen –, und genau so ging auch Kay. Er setzte sich zu seiner Familie. Kay und Gerda sahen ihn wohlwollend an, denn auch wenn sie seine Schwächen kannten, war er doch genau der Vater, den sie sich selbst ausgesucht hätten, und von wie vielen Eltern lässt sich das sagen! Sie nahmen ihn stolz zu politischen und anderen Zusammenkünften mit, und noch stolzer waren sie, wenn sie unten im Saal sitzen durften, wenn er vor Publikum sprach. Schließlich hatten nur wenige Männer in seinem ehrwürdigen Alter (alles in allem) einen so klugen Kopf und das Herz am rechten Fleck, und noch seltener waren sie eine solche Augenweide. Wenn von den bösen alten Männern die Rede war, denen diese böse Welt ihren Zustand verdankt, weil die Jungen sie leider noch nicht in die Schranken gewiesen und totgeschlagen haben, machten Kay und Gerda stets geltend, dass es immerhin einige Ausnahmen gebe.

Nan schenkte Rodney ein knappes, flüchtiges Lächeln. Sie behandelte ihn mit stirnrunzelnder Freundlichkeit, hatte ihn aber nie annähernd gut genug für Neville gefunden.

Gerda und Kay begannen ein Einzel, und Nan sagte: »Ich bin in der Klemme.«

»Pleite, Liebes?«, fragte Neville, denn darum ging es meistens, manchmal allerdings auch um zwischenmenschliche Verwicklungen.

Nan nickte. »Wenn ich zehn Pfund haben könnte … ich würde sie in zwei Wochen zurückzahlen.«

»Kein Problem«, sagte Rodney in seiner jovialen Art.

»Aber natürlich«, sagte Neville. »Du alter Luftikus.«

»Danke, ihr Lieben. Jetzt kann ich für Mutter ein Geburtstagsgeschenk besorgen.«

Mrs Hilary hatte nämlich nächste Woche Geburtstag, und zur Feier versammelten sich ihre Kinder für gewöhnlich im ›Haus zur Möwe‹ in St Mary’s Bay, wo sie wohnte. Nan bedachte sie immer mit einem teureren Geschenk, als sie sich leisten konnte, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, dass sie sich über ihre Mutter ärgerte.

»Oh, die arme Mutter«, rief Neville, weil ihr plötzlich einfiel, dass Mrs Hilary in einer Woche dreiundsechzig wurde und dies noch um zwanzig Jahre schlimmer sein musste, als dreiundvierzig zu sein.

Der eilige Strom des Lebens plapperte laut in ihren Ohren. Wie schnell riss er sie doch alle mit – Gerda und Kay, die auf dem Tennisplatz herumhüpften, Nan und Rodney mit ihrem scharfen Verstand und sie selbst, gedankenverloren beim Sonnenbaden, das fiebrige Herz ihrer Mutter, voller Liebe und Hass, das sich dort am Meer rastlos verzehrte, die altersmilde Seele der Großmutter, die schon vierundachtzig war und am selben Strand im Eselgespann ausfuhr.

Das müßige Plaudern von Rodney und Nan, das Schreien und Schlagen von Gerda und Kay, das mittägliche Vogelgezwitscher, das ferne Gackern der Hennen, sie hätten ein Ei gelegt – alles verschwamm mit dem Rauschen des unerbittlichen Flusses, der weiter und weiter und weiter zog. Wie ein endlos strömender Fluss schwemmt die Zeit all ihre Kinder weg. Geschnatter, Geplapper, Geschnatter, alles leeres und hohles Geklapper? Sie ziehen ins Vergessen, wie ein Traum bei Tagesanbruch erstirbt … Nein, es spielte wohl gar keine Rolle, was man tat und wie viel man ins Leben packte, wenn es dann trotzdem schon so bald enden würde.

Der Garten wurde fremd, fern und flach wie ein Bildteppich, wie ein Traum …

Der Gong, der zum Essen rief, dröhnte. Nan, die so rasch eingeschlafen war wie ein niederes Tier, die Wange auf ihre Hand gebettet, wachte auf und streckte sich. Gerda und Kay spielten unbeirrt weiter und beendeten den Satz.

»Gott sei Dank bin ich nicht bei Rosalind zum Lunch«, sagte Nan.

ZWEITES KAPITEL

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Mrs Hilarys Geburtstag

Sie erschienen alle rechtzeitig zum Mittagessen im ›Haus zur Möwe‹ in St Mary’s Bay an Mrs Hilarys Geburtstag. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, dass alle ihre Kinder, soweit es ihnen möglich war, sich jedes Jahr dazu einfanden. Ihr Liebling Jim fehlte diesmal; er war Chirurg, ein Beruf, bei dem man schlecht planen konnte. Die anderen kamen vollzählig: Neville und Pamela und Gilbert und Nan, und mit Gilbert kam auch seine Frau Rosalind, die dort nichts zu suchen hatte, denn sie war ja bloß angeheiratet; aber wenn Rosalind sich etwas in den Kopf setzte, konnte man sie nicht davon abhalten. Sie und Mrs Hilary waren einander herzlich unsympathisch, trotz Rosalinds Beteuerungen zu den andern: »Eure liebe Mutter! Sie ist unschlagbar, ich bin hin und weg von ihr!« Das sagte sie, wenn sie Mrs Hilary bei einem Fauxpas erwischt hatte. Sie verleitete sie dazu, zu behaupten, sie habe dieses oder jenes Buch gelesen, (war es doch Ehrensache für sie, nie zuzugeben, dass sie irgendein Buch nicht kannte, das von andern erwähnt worden war), und dann sagte sie: »Du bist ja reizend, Mutter! Es ist noch gar nicht draußen, ich habe bloß Gilberts Rezensionsexemplar gesehen«, worauf Mrs Hilary erwiderte: »Dann habe ich wohl ein anderes Buch im Kopf«, und Rosalind zu Neville, Pamela, Gilbert oder Nan sagte: »Eure liebe Mutter. Ich bin ja so begeistert von ihr!« Und Nan, die ihre Mutter dafür verachtete, dass sie sich zu so billiger Flunkerei hergab, und Rosalind verachtete, weil sie keine bösartige Bloßstellung scheute, zuckte nur mit den Schultern und wandte sich ab.

Bis auf Neville kamen alle mit demselben Zug aus der Stadt, der um 12:11 Uhr eintraf. Neville war schon am Vortag aus Surrey angereist und hatte übernachtet, weil Mrs Hilary sie gerne noch ein wenig für sich hatte, bevor die anderen kamen. Nach Jim war Neville Mrs Hilarys zweitliebstes Kind. Sie war immer eine Mutter mit ausgeprägten Vorlieben gewesen. Es gab verschiedene Hindernisse zwischen ihr und ihren Kindern. Gilbert, achtunddreißig, hatte sie schon vor langer Zeit verärgert, als er sich nach dem Studium in Cambridge entschloss, auf die Literatur zu setzen, statt einen »Männerberuf« zu ergreifen, wie sie es nannte, und später noch einmal, als er die leichtlebige Rosalind heiratete, die in Mrs Hilarys Augen unmoralisch war. An der neununddreißigjährigen Pamela, die für ein Hilfswerk in Hoxton arbeitete, missfiel ihr deren Zuneigung zu Frances Carr, der Freundin, mit der sie zusammenlebte. Mrs Hilary fand diese engen Freundschaften zwischen Frauen einfältig. Sie hielten vom Heiraten ab und führten zu dummem Getue um Gesundheit und Glück der anderen. An Nan störte sie, dass sie »im Gerede war« wegen Männerbekanntschaften; dass sie Bücher schrieb, die Mrs Hilary langweilig und nicht sehr anständig im Ton fand, und dass sie so gereizt auf die Art ihrer Mutter reagierte. Tatsächlich war Nan oft unhöflich und barsch zu ihr.

An Jim hingegen störte sie gar nichts. Er war ein Mann, und er war Arzt, ein starker, gutmütiger Mensch und ihr ältester Sohn. Auch Neville mochte sie, ihre älteste Tochter, die ihr Enkel und unbegrenztes Wohlwollen geschenkt hatte.

Neville wusste all dies und noch einiges mehr. Sie traf immer am Vorabend des Geburtstags bei ihrer Mutter ein, und dann plauderten sie den ganzen Morgen. In Nevilles Gegenwart war Mrs Hilary in Hochform: Sie war weder gereizt noch nervös und gab auch nicht an. Sie wirkte viel jünger als dreiundsechzig. Sie war eine große, dünne Frau mit hinkendem Gang und den Spuren einstiger Schönheit, und ihr dunkles, wirres Haar hatte erst wenige graue Strähnen. Seit dem Tod ihres Mannes zehn Jahre zuvor lebte sie in St Mary’s Bay mit ihrer Mutter. Es war ihre Heimat gewesen, nicht das ›Haus zur Möwe‹, sondern das Pfarrhaus, damals, als St Mary’s Bay noch ein Fischernest ohne Strandpromenade gewesen war. Für die alte Mrs Lennox war es noch immer dasselbe Fischerdorf, und sie sah in seinen Bewohnern und selbst in den Sommergästen die Schäfchen ihres Gatten, der vor zwanzig Jahren verstorben war.