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An den weiterführenden Schulen und Universitäten, die Hédi Fried als Zeitzeugin und Holocaust-Überlebende besucht, stellen die jungen Erwachsenen ihr direkte Fragen. Und Hédi Fried antwortet ebenso konkret und offen wie eindringlich und weise. Sie berichtet von dem Tag, an dem ihre Familie aus ihrer Heimatstadt deportiert wurde, von der Zeit im Lager und dem Leben danach. Es gelingt ihr, einen Eindruck davon zu geben, was der Holocaust für die Verfolgten tatsächlich bedeutete. Gerade im Konkreten wird das Grauen ein Stück weit greifbar, rücken die unvorstellbaren Ereignisse näher an uns heran. Es wird deutlich, dass, was einmal geschehen ist, wieder passieren könnte. Hédi Frieds Zeugnis ist heute so wichtig wie nie zuvor.

 

»DIE 95-JÄHRIGE HÉDI FRIED IST EIN AUSNAHMEMENSCH, SIE LEUCHTET, OHNE AUFFÄLLIG ZU SEIN, IHR ZUZUHÖREN IST EIN PRIVILEG.«

Åsa Christofferson, Corren

Autor

© Eva Tedesjö

Hédi Fried, geboren 1924 in der rumänischen Stadt Sighet, ist Psychologin und Autorin. Sie überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen und immigrierte 1945 gemeinsam mit ihrer Schwester nach Schweden. Für ihre Bücher und ihr Engagement wurde sie mit zahlreichen Ehrungen bedacht, u. a. dem Raoul-Wellenberg-Preis, der Illis-Quorum-Medaille, dem Orden Stern von Rumänien und dem Verdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland.

 

Susanne Dahmann studierte Geschichte, Skandinavistik und Philosophie. Seit 1993 arbeitet sie als Übersetzerin von Romanen und Sachbüchern aus dem Schwedischen und aus dem Englischen.

Hédi Fried

FRAGEN,
DIE MIR ZUM
HOLOCAUST
GESTELLT
WERDEN

 

Aus dem Schwedischen
von Susanne Dahmann

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn die Trauer kommt, so wie wenn Nacht fällt
im wilden Wald, den ein Mann durchirrt,
wer glaubt da ans Licht, das die Ferne erhellt,
und an den Schein, der flackert und flirrt?
Zum Scherz schimmert’s, zum Scherz es flieht,
wer will Licht erkennen, wenn ein Irrlicht er sieht?

Gustaf Fröding, Trost

Vorwort

Viele Jahre sind vergangen, seit ich meine Autobiografie Fragmente meines Lebens. Ein Leben bis Auschwitz und ein Leben danach und meine anderen Bücher geschrieben habe. Seither habe ich in Schulen, Volkshochschulen und Universitäten Vorträge gehalten – immer in der festen Überzeugung, dass die jungen Menschen die Erinnerung an den Holocaust weitertragen müssen, wenn wir nicht wollen, dass er sich wiederholt. Das, was damals geschehen ist, kann leider wieder geschehen, wenn auch vielleicht nicht auf dieselbe Weise. Um zu verhindern, dass der Holocaust sich wiederholt, ist es wichtig, sich zu erinnern; das Vergangene prägt die Gegenwart und wirft seinen Schatten auf die Zukunft.

Anfang September 1940 fiel das nördliche Siebenbürgen wieder Ungarn zu. Zu dieser Zeit war unser Leben noch nicht direkt bedroht, obwohl die Judenverfolgung begonnen hatte. Zunächst hörten wir von den Judenverfolgungen in Rumänien. Man sagte, dass die Juden aus dem Osten Rumäniens mit dem Zug nach Transnistrien geschickt und ermordet würden. Da war ich froh, dass wir nicht mehr unter rumänischer Herrschaft standen, und an unsere schlechteren Lebensumstände unter den Ungarn hatten wir uns gewöhnt. Ich sehe mich noch dasitzen und Wollsocken für die armen Seelen stricken, die in die Züge steigen mussten und keine warmen Kleider mitnehmen durften. Dann kam der März 1944, der Einmarsch der Deutschen, und nun hatte ich allen Grund zu bedauern, dass wir nicht länger zu Rumänien gehörten. Die Rumänen lieferten keine Juden aus Südsiebenbürgen an die Deutschen aus.

Auch wenn ich in ein Konzentrationslager deportiert wurde, gehörte ich am Ende zu denen, die »Glück« hatten. Und das viele Male. Etwa bei der Ankunft in Auschwitz, wo meine Schwester und ich die Selektion überlebten. Die Zufälle, die mir das Leben retteten, häuften sich während meines Jahres in Gefangenschaft. Danach hatte ich großes »Glück«, dass ich nicht in eines der schlimmsten Arbeitslager kam.

Denn nach Auschwitz wurde ich in drei verschiedene Arbeitslager geschickt, wo wir meist den Schutt zwischen den Ruinen aufräumen mussten. In anderen Lagern mussten viele Gefangene in Schichtarbeit in unterirdischen Fabriken, Gruben oder Steinbrüchen arbeiten. Ich war mehrmals in Situationen, in denen ich überzeugt war, meine letzte Stunde sei gekommen, doch dann geschah etwas, und ich überlebte.

Im Lager wusste man nie, ob eine Veränderung Leben oder Tod bedeutete. Aber manchmal weiß man das im heutigen Leben auch nicht. Wir leben ein ruhiges Leben, die Tage fließen dahin, wir spüren nichts; die Veränderung geschieht Schritt für Schritt, bis sich plötzlich eine neue Situation ergibt und wir uns fragen: Wie konnte das passieren? Das Leben lehrt uns, dass im nächsten Moment alles anders sein kann, und man weiß vorher nie, ob es eine Veränderung zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird.

Meine Vorträge in Schulen bestanden immer aus drei Teilen, wobei der Schwerpunkt auf dem dritten Teil lag. Ich begann stets mit dem Versuch, die Menschen von damals und ihre Lebensumstände zu schildern, die dazu beitrugen, dass der Holocaust geschehen konnte. Dann berichtete ich davon, was mir selbst geschehen ist; am Ende gab es reichlich Zeit für Fragen.

Es gibt keine dummen Fragen und auch keine verbotenen, das habe ich immer betont, aber auf manche Fragen gibt es keine Antwort. So gibt es keine Antwort auf die Frage »Warum ist der Holocaust geschehen?«. Das wiederum verleiht den Fragen, die um diese Frage herumkreisen, umso mehr Gewicht.

Ich habe in diesem Buch die häufigsten Fragen gesammelt, die mir gestellt werden, um all denjenigen Auskunft zu geben, die mehr über den Holocaust erfahren möchten. Es ist meine Hoffnung, dass die jungen Menschen von heute wie von morgen dieses Buch lesen werden und dass es ihnen nützen wird.

Der Sinn dieses Buches ist, uns zu lehren, die Fehler der Geschichte zu vermeiden. Ich hoffe, es hat das Potenzial, jeden Leser erkennen zu lassen, dass weder die Rolle des Täters noch die des passiven Zuschauers uns vorherbestimmt ist. Wir als Individuen haben einen eigenen Willen und eine Verantwortung, und nur indem wir diese Verantwortung übernehmen, können wir vermeiden, dass die Geschichte sich wiederholt.

 

Hédi Fried, Dezember 2016,

überarbeitet im Juli 2018

Was war das Schlimmste, das Sie erlebt haben?

Wenn du nach dem Schlimmsten fragst, das ich je erlebt habe, dann kann ich mit einem einzigen Satz antworten: Der Augenblick, in dem ich von meinen Eltern getrennt wurde.

Aber ich will eine längere Antwort geben; ich werde von dem Weg erzählen, der dorthin führte. Der deutsche Plan zur Ermordung der Juden wurde zunächst sehr langsam umgesetzt und war dabei präzise kalkuliert. Genau wie man mit dem bloßen Auge die Entwicklung einer Blume von der Knospe bis zur vollen Blüte nicht erkennen kann, so bemerkte man auch die einzelnen kleinen Schritte nicht, die schließlich zur vollständigen Ausführung des Plans führten – bis hin zu dem, was man sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Anfangs gab es eine kleine Veränderung zum Schlechten, doch man konnte damit leben. Das wird vorübergehen, dachten wir. Es ging nicht vorüber, stattdessen kam eine weitere Veränderung. Wieder reagierten wir, indem wir hofften, dass es bald vorübergehen würde. Wir wussten nie, was die nächste Veränderung bringen und wann sie eintreten würde.

Trotz allem, was ich durchgemacht habe, hatte ich »Glück«. Das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, ist mir nicht passiert. Ich geriet erst in der letzten Phase des Krieges in die Hände der Deutschen, im Frühjahr 1944, als die Mehrheit der europäischen Juden bereits in Gefangenschaft oder ermordet worden war.

Ich bin in Sighet geboren, einer kleinen Stadt in Rumänien, im nördlichen Teil Siebenbürgens – einer Region, um die Ungarn und Rumänen viele Jahrhunderte lang gekämpft haben. Noch heute gibt es zwischen den beiden Staaten Spannungen wegen des Gebiets. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Region Teil der ungarischen Hälfte der österreichisch-ungarischen Monarchie. Nach dem Frieden von Trianon 1920 ging sie an Rumänien, und als der Zweite Weltkrieg ausbrach, übte Deutschland Druck aus, dass die Region wieder unter ungarische Herrschaft gestellt werden sollte. Im September 1940 rückten die Ungarn in Nordsiebenbürgen ein, und damit war unser Schicksal besiegelt.

Ein Teil der antisemitischen Gesetze Ungarns trat sofort in Kraft, mit der Folge, dass sich die wirtschaftliche Situation der Juden zusehends verschlechterte. Juden im Staatsdienst wurden entlassen. Jüdische Ärzte und Anwälte durften nur noch Juden behandeln und beraten. Nichtjuden durften nicht in jüdischen Geschäften einkaufen. Jüdische Kinder durften nicht länger die Schule besuchen, vom Universitätsbesuch waren sie ausgeschlossen. Es war schlimm, aber nicht lebensbedrohlich. Und man gewöhnt sich an alles.

Eine der Lehren aus dem Holocaust lautet: Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten. Eine Ungerechtigkeit ist wie ein Sandkorn in der Hand, man spürt ihr Gewicht nicht. Doch Ungerechtigkeiten neigen dazu, sich zu vermehren, es werden mehr und mehr, und bald werden sie so schwer, dass du sie nicht länger tragen kannst. Und nach einiger Zeit wird trotzdem die nächste Ungerechtigkeit kommen.

Wir lebten so, wie es uns die Umstände eben erlaubten, und wenn wir daran dachten, was in Deutschland und im Rest der Welt geschah, gaben wir uns damit zufrieden, dass wir nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebten.

Doch Hitler fiel es schwer zu akzeptieren, dass die 800 000 Juden in Ungarn immer noch in einigermaßen normalen Verhältnissen lebten, und er verlangte ihre Auslieferung. Der ungarische Staatschef Miklós Horthy weigerte sich zunächst und nahm aufgrund der militärischen Lage Kontakt mit den Alliierten auf. Daher überschritten am 19. März 1944 deutsche Divisionen die ungarische Grenze. Nach einer von den Deutschen kontrollierten Marionettenregierung wurde am Ende der Anführer der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler, Ferenc Szálasi, als Ministerpräsident eingesetzt. Dieser wollte die Juden auch loswerden und kooperierte bereitwillig mit den Deutschen.

Von diesem Tag an ging alles in atemberaubendem Tempo vonstatten. Den Juden wurde augenblicklich befohlen, einen gelben Stern anzufertigen und ihn aufgenäht auf allen Kleidern zu tragen, die sie in der Öffentlichkeit trugen. Juden durften sich nicht auf der Straße blicken lassen, außer wenn sie dringende Angelegenheiten zu erledigen hatten; sie durften nicht stehen bleiben und miteinander reden, nicht ins Kino oder in Restaurants gehen und sich nicht in den Parks aufhalten. Dem konnte man nur Folge leisten, denn Ungehorsam wurde mit dem Tod bestraft. Das war ein nächster Schritt, und alle hofften, dass keiner mehr folgen würde. Doch es folgten weitere.

Knapp vier Wochen später wurde mitgeteilt, dass bereits am folgenden Tag der Umzug der Juden beginnen würde. Alle Juden sollten, Straße für Straße, in das neu eingerichtete Ghetto im Norden der Stadt umziehen. Unsere Straße war die erste. Man durfte mitnehmen, was man tragen konnte, Schubkarren waren erlaubt.

Als wir zu packen begannen, lief ich durch das Haus und nahm Abschied von den Dingen, die zurückzulassen mir schwerfiel. Erst versteckte ich meine alten Tagebücher hinter den Dachbalken, dann spielte ich ein letztes Mal auf dem Klavier, und als ich den Deckel zuklappte, strich ich noch einmal zärtlich darüber. Meine Augen wanderten über die Bücher im Regal, ich streichelte meine gedruckten Freunde und ging auf den Hof hinaus, um unseren treuen Hofhund Bodri zu umarmen. Ich versuchte ihn und mich selbst zu beruhigen, indem ich daran dachte, dass der Nachbar sicherlich nicht vergessen würde, sich um ihn zu kümmern. Drinnen im Haus blieb ich vor den Fotografien meiner Großeltern stehen und bat sie, auf das Haus aufzupassen, während wir weg waren.

Ich war davon überzeugt, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelte, bis wir zurückkommen würden. Der Krieg verlief nicht mehr so günstig für die Deutschen; anders als sie gedacht hatten, bissen sie sich an Russland die Zähne aus. Bald werden die Deutschen den Krieg verloren haben, Rumänien bekommt alle seine Gebiete zurück, alles wird so sein wie immer, und ich kann wieder zur Universität gehen – das glaubte ich in meiner Naivität.

Am nächsten Morgen erwachte ich in der Wirklichkeit. Die Gendarmen von der Ortspolizei kamen. Papa schloss ab, steckte den Schlüssel in die Tasche, und wir wurden zum Ghetto gebracht. Jetzt begann eine noch schwerere Zeit. Doch wieder einmal blieb einem nichts anderes übrig, als sich daran zu gewöhnen. Und die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende blieb bestehen.

Es dauerte knapp vier Wochen, bis wir, nur zwei Monate nach dem Einmarsch der Deutschen, den Ortstrommler an der Straßenecke schlagen und rufen hörten: »Achtung, Achtung! Die Juden werden aus dem Ghetto gebracht. Sie sollen zwanzig Kilo pro Person packen und sich morgen früh vor ihrer Tür zum Abtransport bereit einfinden.« Wohin? Das wusste niemand. Mutter war verzweifelt. »Sie werden uns töten«, sagte sie weinend. Ich wollte ihre Schwarzseherei nicht akzeptieren und antwortete: »Nein, warum sollten sie? Wir haben doch nichts getan. Du wirst sehen, sie schicken uns ins Kernland Ungarns, wo wir auf dem Feld arbeiten sollen. Die Männer sind an der Front, sie brauchen Arbeitskräfte zur Frühjahrsaussaat.«

Und Mutter ließ sich trösten.

Was nimmt man mit, wenn einem nur zwanzig Kilo erlaubt sind? Mama packte hauptsächlich Lebensmittel ein, die lange haltbar waren. Wir zogen mehrere Lagen Kleider übereinander und feste Schuhe an. Ich selbst packte einen kleinen Rucksack mit Unterwäsche, meinem Tagebuch und einem Gedichtband meines Lieblingsdichters Attila József. Wir konnten nicht ahnen, dass selbst dies, unser letzter Besitz, uns genommen werden würde.

Am nächsten Morgen standen wir mit unserem Gepäck vor der Tür. Wir wurden in Fünferreihen aufgestellt und mussten durch die Straßen der Stadt hinaus zum Bahnhof marschieren, wo Viehwaggons warteten.

»Für acht Pferde« stand auf dem Waggon, und dorthinein wurden wir zu je hundert gepfercht. Es war eng, und es war dunkel. Nur eine kleine Luke ließ etwas Licht und Luft hinein. Wir drängten uns, so dicht wir konnten, trotzdem gab es nicht für alle einen Sitzplatz. Zwei Eimer für Notdurft und zwei Eimer mit Wasser wurden hineingestellt, die Schiebetüren zugezogen und abgeschlossen, und dann setzte sich der Zug in Bewegung. Die Reise, unter den widrigsten Umständen, dauerte drei Tage und drei Nächte. Der Zug fuhr und stand abwechselnd, während Gestank und Durst unerträglich wurden. Vergeblich baten wir um Hilfe, es geschah nichts bis zu der Nacht vom 17. auf den 18. Mai. Da kamen wir in Auschwitz an.

Warum hasste Hitler die Juden?

Ich erinnere mich an einen Witz mit Galgenhumor, der während des Krieges erzählt wurde. Jakob fragt Daniel: »Wer hat den Krieg angefangen?«, und Daniel antwortet: »Die Juden und die Fahrradfahrer.« – »Warum die Fahrradfahrer?«, fragt Jakob. »Warum die Juden?«, erwidert Daniel.