Cover

»Für alle, die den Alterungsprozess verstehen, länger leben und den Alterskrankheiten entgehen wollen, ist dieses Buch unverzichtbar.«

Dr. Dale Bredesen, Autor von ›Die Alzheimer-Revolution‹

 

David A. Sinclair ist Professor für Genetik an der Harvard Medical School und Pionier der epigenetischen Medizin. Bis vor kurzem wusste die Wissenschaft nicht, warum und wie Lebewesen altern. Seit einigen Jahren fließen Milliarden in die Altersforschung; mit dem wachsenden Verständnis für die Funktionsweise des Epigenoms lösen sich viele Rätsel um die Entwicklung und die Veränderungen von Zellen und Organismen im Laufe des Lebens. In diesem Buch erklärt David A. Sinclair, auf welche Weise man Gesundheit und Lebensdauer steigern kann. Unser Epigenom nimmt über die Jahrzehnte Schaden. Diese Schäden lassen uns altern und machen uns anfällig für Krankheiten. Professor Sinclair erforscht, wie man die richtigen Gene wieder aktivieren und so den Organismus heilen und verjüngen kann. Seine Forschungsergebnisse eröffnen ungeahnte Möglichkeiten für die Medizin, aber sie können auch zu gesellschaftspolitischen Verwerfungen führen.

© Brigitte Lacombe

Prof. Dr. David A. Sinclair
arbeitet seit 1999 an der Harvard Medical School in Boston. Er ist Professor am Department of Genetics und Mitbegründer des Paul F. Glenn Center for the Biology of Aging. Geboren 1969 in Australien, promovierte er zunächst in molekularer Genetik an der New South Wales University in Sydney, und wechselte dann zum MIT. Seine Arbeit sorgt immer wieder für großes mediales Aufsehen. Laut Time gehört er zu den 100 einflussreichsten Personen weltweit.

Prof. Matthew D. LaPlante
ist Professor für journalistisches Schreiben an der Utah State University. Er arbeitet als Journalist, Radiomoderator, Autor und Co-Autor.

Dr. Sebastian Vogel
ist Biologe und übersetzte u.a. Bücher von Richard Dawkins, Richard Leaky und Daniel Dennett ins Deutsche.

Prof. Dr. David A. Sinclair
mit Prof. Matthew D. LaPlante

DAS ENDE DES ALTERNS

Die revolutionäre Medizin von morgen

Aus dem Englischen
von Dr. Sebastian Vogel

Mit Illustrationen
von Catherine L. Delphia

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

Für meine Großmutter Vera,
die mich lehrte, die Welt so zu sehen, wie sie sein könnte.

Für meine Mutter Diana,
die sich mehr um ihre Kinder sorgte als um sich selbst.

Für meine Frau Sandra,
mein Fels in der Brandung.

Und für meine Ururenkel: Ich freue mich auf euch.

DER WALD. In der wunderschönen Wildnis des Garigal-Clans winden sich Wasserfälle und Salzwasser-Mündungsarme zwischen uralten Sandsteinformationen unter den schattigen Kronen kohlrabenschwarzer Eukalyptusbäume, Angophoren und anderer Myrtengewächse. Es ist die Heimat von Eisvögeln, Würgerkrähen und kleinen Kängurus.

EINLEITUNG

DAS GEBET EINER GROSSMUTTER

Ich bin am Waldrand aufgewachsen. Mein Hinterhof war – bildlich gesprochen – ein Wald von vierzig Hektar. In Wirklichkeit war er viel größer. Er nahm, so weit meine jungen Augen sehen konnten, kein Ende, und ich wurde nie müde, ihn zu erkunden. Ich wanderte und wanderte, blieb stehen, um die Vögel zu beobachten, die Insekten, die Reptilien. Ich nahm Dinge auseinander. Ich zerrieb die Erde zwischen den Fingern, lauschte auf die Geräusche der Wildnis und versuchte, ihre Herkunft zu ergründen.

Und ich spielte. Aus Stöcken machte ich Schwerter, aus Steinen baute ich Burgen. Ich kletterte auf Bäume, schaukelte auf Ästen, ließ die Beine in tiefe Abgründe hängen und sprang von Stellen, von denen ich vermutlich nicht hätte springen sollen. Ich stellte mir vor, ich sei ein Astronaut auf einem weit entfernten Planeten. Ich tat, als sei ich ein Jäger auf Safari. Ich erhob die Stimme für die Tiere, als wären sie das Publikum in einem Opernhaus.

»Cuuuey!«, kollerte ich, was in der Sprache des Garigal-Volkes, das die Gegend ursprünglich bewohnt hatte, so viel wie »Komm her!« bedeutet.

Natürlich war ich mit alledem nicht der Einzige. In den nördlichen Außenbezirken von Sydney gab es eine Menge Kinder, die meine Liebe zu Abenteuern, Entdeckungen und Fantasie teilten. Bei Kindern rechnen wir damit. Wir wollen, dass sie auf diese Weise spielen.

Aber irgendwann sind sie natürlich für so etwas »zu alt«. Dann wollen wir, dass sie in die Schule gehen. Später wollen wir, dass sie arbeiten gehen. Dass sie einen Partner finden, Geld sparen, ein Haus kaufen.

Denn Sie wissen ja, die Uhr tickt.

Die Erste, die mir sagte, dass es so nicht sein muss, war meine Großmutter. Oder vermutlich sagte sie es mir nicht, sondern sie zeigte es mir.

Meine Oma war in Ungarn aufgewachsen. Im Sommer war sie im kühlen Wasser des Plattensees geschwommen und an seinem Nordufer von einem Urlaubshotel aus, in dem Schauspieler, Maler und Dichter abstiegen, im Gebirge gewandert. In den Wintermonaten hatte sie in einem Hotel in den Bergen von Buda gearbeitet, bevor die Nazis das Haus übernahmen und zur zentralen Kommandostelle der SS machten.

Zehn Jahre nach dem Krieg, in der Anfangszeit der sowjetischen Besetzung, schlossen die Kommunisten nach und nach die Grenzen. Als ihre Mutter versuchte, illegal nach Österreich zu reisen, wurde sie erwischt, inhaftiert und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz danach starb sie. Während des Ungarnaufstandes von 1956 schrieb und verbreitete meine Großmutter in den Straßen von Budapest kommunistenfeindliche Flugblätter. Nachdem die Revolution niedergeschlagen war, nahmen die Sowjets Zehntausende von Dissidenten fest, und meine Großmutter flüchtete mit ihrem Sohn – meinem Vater – nach Australien; weiter, so ihre Überlegung, konnte sie sich nicht von Europa entfernen.

Meine Oma setzte nie wieder einen Fuß auf europäischen Boden, aber sie hatte Ungarn in jeder Hinsicht mitgebracht. Wie man mir erzählte, war sie in Australien eine der ersten Frauen, die einen Bikini trug, und wurde deshalb des Bondi-Strandes verwiesen. Jahrelang lebte sie ganz allein in Neuguinea, das noch heute eine der ursprünglichsten Regionen der Erde ist.

Obwohl meine Großmutter von aschkenasischen Juden abstammte und selbst eine protestantische Erziehung genossen hatte, war sie ein sehr säkularer Charakter. Die Entsprechung zum Vaterunser war bei uns das Gedicht »Jetzt sind wir sechs« des englischen Dichters Alexander Milne. Es endet mit den Worten1:

Doch nun bin ich sechs

und bin schlau – unbeschreiblich.

Und sechs find ich prima.

Ich glaube, sechs bleib ich.

Das Gedicht las sie meinem Bruder und mir immer und immer wieder vor. Sechs Jahre, so sagte sie uns, sei das allerbeste Alter, und sie gab sich alle Mühe, auch ihr eigenes Leben im Geist und mit dem Staunen eines sechsjährigen Kindes zu führen.

Auch als wir noch ganz klein waren, wollte meine Großmutter nicht, dass wir sie »Großmutter« nennen. Auch den ungarischen Begriff »nagymama« und andere liebevolle Benennungen wie »Oma« oder »Nana« mochte sie nicht.

Für uns Jungen und alle anderen war sie einfach »Vera«.

Vera brachte mir das Autofahren bei, wobei ich über alle Spuren schlingerte und ausscherte und auf jede Musik »tanzte«, die gerade im Autoradio lief. Sie brachte mir bei, meine Jugend zu genießen, das Gefühl des Jungseins auszukosten. Erwachsene, so sagte sie, würden die Dinge immer ruinieren. Werde nicht erwachsen, sagte sie. Werde nie erwachsen.

Bis weit über ihr sechzigstes und sogar siebzigstes Lebensjahr hinaus war sie das, was man »im Herzen jung geblieben« nennt. Mit Freunden und Familie trank sie Wein. Sie liebte gutes Essen, erzählte großartige Geschichten, half den Armen, Kranken und weniger Begünstigten. Sie tat, als würde sie Symphonien dirigieren, und lachte bis spät in die Nacht. Nach praktisch allen Maßstäben führte sie »ein gutes Leben«.

Und doch tickte die Uhr.

Mit Mitte achtzig war Vera nur noch ein Schatten ihres früheren Ichs, und die letzten zehn Jahre ihres Lebens mitanzusehen war schwer. Sie war gebrechlich und krank. Immer noch hatte sie so viel Weisheit, dass sie darauf bestand, ich solle meine Verlobte Sandra heiraten, aber die Musik machte ihr keine Freude mehr, und sie stand kaum noch aus ihrem Sessel auf – die Lebenslust, die sie ausgezeichnet hatte, war verschwunden.

Als es zu Ende ging, hatte sie die Hoffnung aufgegeben. »So geht das eben«, sagte sie zu mir.

Sie starb mit 92 Jahren. Nach allem, was man uns über solche Dinge beigebracht hat, war es ein gutes, langes Leben. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker gelangte ich zu der Überzeugung, dass der Mensch, der sie eigentlich gewesen war, uns schon viele Jahre zuvor verlassen hatte.

Das Altwerden mag für viele Leser scheinbar in weiter Ferne liegen, aber jeder von uns wird das Ende seines Lebens erleben. Nachdem wir unseren letzten Atemzug getan haben, werden unsere Zellen nach Sauerstoff schreien, Giftstoffe werden sich anreichern, die chemische Energie wird erschöpft sein, und die Zellstrukturen werden zerfallen. Wenige Minuten später sind alle Bildung, all unsere Weisheit und alle Erinnerungen, die wir geschätzt haben, und unser gesamtes zukünftiges Potenzial unwiederbringlich ausgelöscht.

Das erlebte ich hautnah mit, als meine Mutter Diana starb. Mein Vater, mein Bruder und ich waren bei ihr. Glücklicherweise war es ein schneller Tod, verursacht durch eine Flüssigkeitsansammlung in ihrem noch verbliebenen Lungenflügel. Kurz zuvor hatten wir noch gemeinsam über den Nachruf gelacht, den ich auf dem Flug von den Vereinigten Staaten nach Australien geschrieben hatte, und dann wand sie sich plötzlich in ihrem Bett, schnappte nach Luft, die den Sauerstoffbedarf ihres Körpers nicht mehr befriedigen konnte, und starrte uns mit Verzweiflung in den Augen an.

Ich beugte mich über sie und flüsterte ihr ins Ohr, sie sei die beste Mama, die ich mir hätte wünschen können. Während weniger Minuten starben ihre Nervenzellen ab und löschten nicht nur die Erinnerung an die letzten Worte aus, die ich zu ihr gesprochen hatte, sondern alle Erinnerungen. Ich weiß, dass manche Menschen friedlich einschlafen. Meiner Mutter erging es nicht so. In diesen Augenblicken war sie nicht mehr der Mensch, der mich großgezogen hatte, sondern sie verwandelte sich in eine zuckende, würgende Zellmasse und kämpfte um den letzten Rest der Energie, die auf der atomaren Ebene ihres Daseins erzeugt wurde.

Ich konnte nur denken: »Wie es ist, wenn man stirbt, sagt dir niemand. Warum sagt es dir niemand?«

Nur wenige Menschen haben den Tod so eingehend studiert wie der Holocaust-Dokumentarfilmer Claude Lanzmann. Und sein Urteil – oder eigentlich seine Warnung – ist beängstigend. »Jeder Tod ist gewaltsam«, sagte er 2010. »Einen natürlichen Tod gibt es nicht, ganz im Gegensatz zu dem Bild, das wir gern zeichnen – der Vater, der in aller Stille und umgeben von seinen Angehörigen im Schlaf stirbt. Daran glaube ich nicht.«2

Kinder erkennen zwar vielleicht nicht den gewaltsamen Aspekt des Todes, aber die Tragödie begreifen sie schon erstaunlich früh. Mit vier oder fünf Jahren wissen Kinder, dass der Tod stattfindet und dass er unwiderruflich ist.3 Für sie ist das ein erschreckender Gedanke, ein Wirklichkeit gewordener Albtraum.

Zu Beruhigung denken die meisten Kinder anfangs, bestimmte Menschengruppen – Eltern, Lehrer und sie selbst – seien vor dem Tod geschützt. Zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr begreifen aber alle Kinder, dass der Tod etwas Allgemeingültiges ist. Jeder Angehörige wird sterben. Jedes Haustier. Jede Pflanze. Alle, die sie lieben. Und auch sie selbst. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich das zum ersten Mal verstand. Ebenso weiß ich genau, wie Alex, unser ältestes Kind, es gelernt hat.

»Papa, du wirst nicht immer da sein?«

»Leider nein«, sagte ich und legte Alex den Arm um die Schulter.

Ein paar Tage lang weinte Alex immer wieder, hörte aber irgendwann damit auf und stellte mir nie mehr die gleiche Frage. Auch ich erwähnte das Thema nicht mehr.

Es dauert nicht lange, dann hat sich der tragische Gedanke tief in die Winkel unseres Unterbewusstseins eingegraben. Fragt man Kinder, ob sie sich wegen des Todes Sorgen machen, erklären sie in der Regel, sie würden nicht daran denken. Fragt man sie dann, was sie darüber denken, antworten sie, es sei nicht von Bedeutung, denn es werde erst in der fernen Zukunft stattfinden, wenn man alt sei.

EIN SCHÖNES, LANGES LEBEN. Meine Großmutter »Vera« nahm im Zweiten Weltkrieg Juden auf, lebte im tropischen Neuguinea und wurde des Bondi Beach verwiesen, weil sie einen Bikini trug. Das Ende ihres Lebens mitzuerleben war schwer. »Das ist halt so«, pflegte sie zu sagen. Aber da war der Mensch, der sie eigentlich gewesen war, schon lange tot.

Die gleiche Sichtweise behalten die meisten von uns bei, bis wir weit über fünfzig sind. Der Tod ist einfach zu traurig und lähmend, als dass man jeden Tag darüber nachgrübeln könnte. Oft kommt uns die Erkenntnis zu spät. Wenn er dann an die Tür klopft und wir nicht darauf vorbereitet sind, kann der Gedanke deprimierend und sogar niederschmetternd sein.

Der Kolumnistin Robin Marantz Henig von der New York Times wurde die »bittere Wahrheit« über die eigene Sterblichkeit erst spät im Leben klar, nachdem sie Großmutter geworden war. »Hinter allen wunderschönen Augenblicken, die man teilen und genießen kann, wenn man Glück hat«, schrieb sie, »steht die Erkenntnis, dass es im Leben des Enkelkindes eine lange Reihe von Geburtstagen geben wird, die man nicht mehr miterlebt.«4

Bewusst über die Sterblichkeit von Angehörigen nachzudenken, bevor sie Wirklichkeit wird, erfordert Mut. Und noch mehr Mut erfordert es, sich regelmäßig und eingehend Gedanken über den eigenen Tod zu machen.

Der Erste, der diesen Mut von mir verlangte, war der Comedian und Schauspieler Robin Williams mit seiner Verkörperung des Lehrers John Keating in der Hauptrolle des Films Dead Poets Society (dt. Der Club der toten Dichter): Er stellt seinen jugendlichen Schülern die Aufgabe, in die Gesichter längst verstorbener Jungen auf einem verblichenen Foto zu blicken.5

»Sie sehen gar nicht so anders aus wie Sie, oder?«, sagt Keating. »Unbesiegbar, genauso wie Sie sich sehen … Aus ihren Augen spricht die Hoffnung … Und sehen Sie, Gentlemen, diese jungen Männer dienen jetzt den Narzissen als Dünger.«

Keating fordert die jungen Männer auf, sich nach vorn zu beugen und eine Botschaft aus dem Grab zu hören. Er steht hinter ihnen und flüstert mit leiser, geisterhafter Stimme: »Carpe diem. Carpe diem. Nutzet den Tag, Jungs. Macht etwas Besonderes aus eurem Leben.«

Diese Szene hatte auf mich eine ungeheure Wirkung. Wahrscheinlich wäre ich nicht motiviert gewesen, Professor an der Harvard-Universität zu werden, wenn es nicht diesen Film gegeben hätte. Mit zwanzig Jahren hatte ich endlich gehört, wie jemand anderes das Gleiche sagte, was meine Großmutter mir in jungen Jahren beigebracht hatte. Trage deinen Teil dazu bei, dass es der Menschheit so gut wie möglich geht. Vergeude keinen Augenblick. Und bewahre dir deine Jugend; halte daran fest, solange du kannst. Kämpfe dafür. Kämpfe dafür. Höre nie auf, dafür zu kämpfen.

Aber statt für die Jugend zu kämpfen, kämpfen wir um unser Leben. Oder genauer gesagt: Wir kämpfen gegen den Tod.

Als Spezies leben wir heute viel länger als je zuvor. Aber nicht viel besser. Überhaupt nicht. Im Laufe der letzten hundert Jahre haben wir uns zusätzliche Jahre verschafft, aber kein zusätzliches Leben – jedenfalls kein Leben, das sich lohnen würde.6

Deshalb sagen die meisten von uns bei dem Gedanken, hundert Jahre alt zu werden, »um Gottes willen, bloß nicht«. Wir haben miterlebt, wie diese letzten Jahrzehnte aussehen, und den meisten Menschen erscheinen sie in den meisten Fällen alles andere als reizvoll. Ventilatoren und Medikamentencocktails. Gebrochene Hüften und Windeln. Chemo- und Strahlentherapie. Eine Operation nach der anderen. Und Krankenhausrechnungen; du liebe Güte, die Krankenhausrechnungen.

Wir sterben langsam und qualvoll. In reichen Ländern leiden die Menschen am Ende ihres Lebens oft zehn Jahre oder mehr unter einer Krankheit nach der anderen. Das halten wir für normal. Wenn die Lebenserwartung auch in den ärmeren Staaten wächst, werden Milliarden weitere Menschen das gleiche Schicksal erleiden. Unsere Erfolge bei der Lebensverlängerung hatten nach Ansicht des Chirurgen und Arztes Atul Gawande zur Folge, dass »die Sterblichkeit zu einer medizinischen Erfahrung wird«.7

Und wenn es nun nicht so sein müsste? Wenn wir länger jung bleiben könnten? Nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte länger? Wenn diese letzten Jahre nicht so entsetzlich anders aussehen würden als alle, die davor kamen? Und wenn wir damit nicht nur uns selbst, sondern auch die Welt retten könnten?

Vielleicht können wir nie wieder sechs Jahre alt sein – aber wie wäre es mit sechsundzwanzig oder sechsunddreißig?

Wie wäre es, wenn wir in unserem Leben länger wie Kinder spielen könnten, ohne uns so frühzeitig um die Dinge zu kümmern, die Erwachsene tun müssen? Wenn die vielen Dinge, die wir geballt in unseren Teenagerjahren tun, nicht so zusammengedrängt sein müssten? Wenn wir im Alter zwischen zwanzig und dreißig nicht so gestresst wären? Wenn wir uns zwischen dreißig und vierzig nicht als Menschen in mittleren Jahren fühlen würden? Wenn wir mit über fünfzig noch einmal von vorn anfangen wollten und uns keinen Grund vorstellen könnten, es nicht zu tun? Wenn wir uns mit über sechzig nicht darum bemühen würden, ein Erbe zu hinterlassen, sondern eines anzutreten?

Wie wäre es, wenn wir uns keine Sorgen darum machen müssten, dass die Uhr tickt? Und wenn ich Ihnen sage, dass wir es schon bald – ja sogar sehr bald – nicht mehr müssen?

Nun, genau das sage ich.

Nachdem ich dreißig Jahre lang Erkenntnissen über die Biologie des Menschen auf der Spur war, habe ich heute das Glück, mich in einer einzigartigen Lage zu befinden. Wer mich in Boston besucht, findet mich meist in meinem Labor an der Harvard Medical School. Dort bin ich Professor am Institut für Genetik und Co-Direktor des Paul F. Glenn Center for the Biological Mechanism of Aging. Außerdem betreibe ich ein Schwesterlabor an meiner früheren Hochschule, der University of New South Wales in Sydney. In meinen Labors haben Arbeitsgruppen ausgezeichneter Studierender und Doktoranden die Alterungsprozesse in Modellorganismen sowohl beschleunigt als auch rückgängig gemacht; damit waren sie für einige der am häufigsten zitierten Forschungsarbeiten verantwortlich, die in einigen der weltweit führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Außerdem bin ich Mitbegründer der Zeitschrift Aging, die anderen Wissenschaftlern ein Forum bietet, um ihre Erkenntnisse über einige der schwierigsten und zugleich spannendsten Fragen unserer Zeit zu veröffentlichten; und ich bin Mitbegründer der Academy for Longevity and Healthspan Research, einer Gruppe von zwanzig weltweit führenden Altersforschern.

In dem Bestreben, meine Entdeckungen praktisch zu nutzen, habe ich an der Gründung einiger Biotechnologieunternehmen mitgewirkt, und bei mehreren weiteren bin ich Vorsitzender der wissenschaftlichen Beratergremien. Diese Unternehmen arbeiten mit Hunderten führender Hochschulwissenschaftler in verschiedenen wissenschaftlichen Fragen zusammen – das Spektrum reicht von den Ursprüngen des Lebens über die Genomforschung bis zur Medikamentenentwicklung. Die Entdeckungen aus meinem eigenen Institut kenne ich natürlich schon Jahre vor ihrer Veröffentlichung, aber wegen solcher Verbindungen bin ich auch über viele andere umwälzende Entdeckungen frühzeitig – manchmal ein Jahrzehnt im Voraus – informiert. Die folgenden Seiten sind für Sie, meine Leserinnen und Leser, die Eintrittskarte für den Blick hinter die Kulissen und für einen Sitz in der ersten Reihe.

Nachdem ich in Australien in den Genuss der Entsprechung zu einer Erhebung in den Adelsstand gekommen war und die Funktion eines Botschafters übernommen habe, verwende ich jetzt einen beträchtlichen Teil meiner Zeit auf die Unterrichtung von Führungspersönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft der ganzen Welt; ich kläre sie darüber auf, wie sich unsere Kenntnisse über die Alterung verändern – und was das im weiteren Verlauf für die Menschheit bedeuten wird.8

Eine ganze Reihe meiner wissenschaftlichen Befunde habe ich auch auf mein eigenes Leben angewandt, und das Gleiche haben viele meiner Angehörigen, Freunde und Kollegen getan. Die Ergebnisse sind ermutigend – aber man sollte festhalten, dass es sich ausschließlich um Einzelfallberichte handelt. Ich bin jetzt fünfzig und fühle mich wie ein Kind. Meine Frau und meine Kinder werden sagen, dass ich auch wie ein Kind handle.

Dazu gehört auch, dass ich naseweis bin, ein stickybeak, wie die Australier sagen; das heißt, ich bin überaus wissbegierig; der Begriff geht vielleicht auf die Krähen zurück, die an den Milchflaschen, die uns vor die Haustür geliefert werden, den Foliendeckel aufpicken und die Milch trinken. Meine alten Schulfreunde ziehen mich noch heute damit auf, dass ich jedes Mal, wenn sie in mein Elternhaus kamen, gerade damit beschäftigt war, etwas auseinanderzunehmen: einen Schmetterlingskokon, einen Spinnen-Unterschlupf aus zusammengerollten Blättern, einen alten Computer, die Werkzeuge meines Vaters, ein Auto. Irgendwann konnte ich das ganz gut. Ich war nur nicht gut darin, die Dinge wieder zusammenzusetzen.

Für mich war es einfach unerträglich, nicht zu wissen, wie etwas funktioniert oder woher es kommt. Das ertrage ich noch heute nicht – aber wenigstens werde ich jetzt dafür bezahlt.

Mein Elternhaus schmiegt sich an einen felsigen Berghang. Darunter fließt ein Fluss, der in den Hafen von Sydney mündet. Arthur Phillip, der erste Gouverneur von New South Wales, erkundete diese Täler im April 1788, nur wenige Monate nachdem die »First Fleet«, die erste Flotte mit Soldaten, Häftlingen und ihren Familien, an dem »schönsten und größten Hafen im Universum«, wie er ihn nannte, eine Kolonie gegründet hatte. Dass er dort war, lag vor allem an dem Botaniker Sir Joseph Banks, der acht Jahre zuvor mit Captain James Cook auf dessen »Reise rund um die Welt« an der australischen Küste entlanggesegelt war.9

Nachdem Banks nach London zurückgekehrt war und seine Kollegen mit Hunderten von gesammelten Pflanzen beeindruckt hatte, setzte er sich bei König George III. dafür ein, auf dem Kontinent eine britische Sträflingskolonie einzurichten, und der beste Ort dafür, so meinte er, sei eine Bucht namens »Botany« am »Cape Banks«.10 Wie die Siedler der ersten Flotte aber schon bald herausfanden, gab es in der Botany Bay trotz des vielversprechenden Namens kein Süßwasser; also segelten sie weiter zum Hafen von Sydney und fanden dort eine der größten »Rias« der Welt – eine weit verzweigte, tiefe Wasserstraße, die sich gebildet hatte, als das Flusssystem des Hawkesbury River nach der letzten Eiszeit durch den steigenden Meeresspiegel überflutet worden war.

Mit zehn Jahren hatte ich auf meinen Ausflügen bereits entdeckt, dass der Fluss, nachdem er vor unserem Haus vorübergeflossen war, in den Middle Harbor mündete, einen Zweig des Hafens von Sydney. Ich konnte es nicht mehr ertragen, nicht zu wissen, wo der Fluss entsprang. Außerdem war ich erpicht darauf zu wissen, wie der Anfang eines Flusses aussieht. Also folgte ich dem Wasserlauf stromaufwärts, ließ die erste Gabelung hinter mir und stellte fest, dass er sich durch mehrere Vorstädte wand. Bei Einbruch der Nacht war ich mehrere Meilen von zu Hause entfernt und jenseits des letzten Berges am Horizont. Ich musste einen Fremden ansprechen, der mich meine Mutter anrufen ließ, sodass ich sie bitten konnte, mich abzuholen. Danach ging ich noch einige Male stromaufwärts auf die Suche, aber ich kam nie auch nur in die Nähe der Quelle. Wie der spanische Entdecker Juan Ponce de León in Florida, der vor allem durch seine angebliche Suche nach dem Jungbrunnen bekannt wurde, so scheiterte auch ich.11

So lange ich denken kann, wollte ich immer begreifen, warum wir alt werden. Aber das Bestreben, die Ursache eines komplizierten biologischen Prozesses zu finden, gleicht der Suche nach der Quelle eines Flusses: Es ist nicht einfach.

Auf meiner Suche führte mich mein gewundener Weg nach links und rechts, und es gab Tage, da wollte ich aufgeben. Aber ich blieb hartnäckig. Unterwegs habe ich viele Nebenflüsse gesehen, aber ich habe auch die mutmaßliche Quelle gefunden. Auf den nun folgenden Seiten werde ich neue Gedanken zu der Frage darlegen, warum sich die Alterung in der Evolution entwickelt hat und wie sie in die Informationstheorie des Alterns passt, wie ich sie nenne. Außerdem werde ich erläutern, warum ich das Altern mittlerweile als Krankheit – als die häufigste aller Krankheiten – betrachte, die man nicht nur aggressiv behandeln kann, sondern auch aggressiv behandeln sollte. Das ist der erste Teil des Buches.

Im zweiten Teil wird davon die Rede sein, welche Schritte wir heute schon unternehmen können – und welche neuen Therapieverfahren sich in der Entwicklung befinden –, um die Alterung zu verlangsamen, aufzuhalten oder umzukehren und damit dem Altwerden, wie wir es kennen, ein Ende zu bereiten.

Und ja, mir ist vollkommen bewusst, welche Folgerungen sich aus den Worten »dem Altwerden, wie wir es kennen, ein Ende zu bereiten« ergeben. Deshalb werde ich mich im dritten Teil mit den vielen möglichen Zukunftsszenarien beschäftigen, auf die solche Maßnahmen hindeuten könnten, und ich werde einen Weg in die Zukunft vorschlagen, auf den wir uns freuen können – den Weg in eine Welt, in der wir eine längere Lebenserwartung durch eine stetig zunehmende Gesundheitserwartung erreichen können, einen immer größeren Teil unseres Lebens, der frei von Krankheiten oder Behinderungen ist.

Viele Menschen werden einwenden, das alles sei ein Märchen, das den Arbeiten von H. G. Wells näherstehe als denen von C. R. Darwin. Manche dieser Kritiker sind sehr kluge Leute. Einige von ihnen wissen sogar ziemlich gut über die Biologie des Menschen Bescheid, und ich respektiere sie.

Diese Leute werden behaupten, unsere moderne Lebensweise habe uns zu einer immer kürzeren Lebensdauer verurteilt. Sie werden behaupten, wir würden höchstwahrscheinlich nicht hundert Jahre alt werden, und auch unsere Kinder würden die Hundertergrenze nicht überschreiten. Sie werden sagen, sie hätten sich alle wissenschaftlichen Befunde angesehen und entsprechende Vorausberechnungen angestellt, und danach sehe es sicher auch nicht so aus, als würden unsere Enkel ihren hundertsten Geburtstag erleben. Und sie werden sagen: Wenn du tatsächlich hundert wirst, erreichst du dieses Alter wahrscheinlich nicht in gesundem Zustand, und du wirst danach eindeutig nicht mehr lange leben. Und wenn sie einräumen, dass Menschen länger leben werden, sagen sie gleichzeitig, dies sei das Schlimmste, was unserem Planeten widerfahren könne. Menschen sind der Feind!

Für all das gibt es gute Belege – insbesondere die gesamte Menschheitsgeschichte.

Natürlich stimmt es: Nach und nach, Jahrtausend für Jahrtausend, so werden sie sagen, haben wir der durchschnittlichen Lebensdauer eines Menschen Jahre hinzugefügt. Früher wurden die meisten Menschen nicht einmal 40 Jahre alt, später schon. Die meisten wurden keine 50 Jahre alt, später schon. Die meisten wurden keine 60 Jahre alt, später schon.12 Im Großen und Ganzen kam es zu dieser Zunahme der Lebenserwartung, weil immer mehr Menschen Zugang zu einer zuverlässigen Lebensmittelversorgung und sauberem Wasser hatten. Und im Wesentlichen wurde der Durchschnitt von unten nach oben angehoben; die Sterblichkeit im Säuglings- und Kindesalter sank, und die Lebenserwartung stieg. Das ist die einfache Mathematik der Sterblichkeit von Menschen.

Aber während der Durchschnitt immer weiter zunahm, stieg die Obergrenze nicht. Seit Beginn der historischen Aufzeichnungen wissen wir von Menschen, die ihr 100. Lebensjahr erreichten und es um einige Jahre überschritten. Aber nur sehr wenige werden hundertzehn, und fast niemand wird hundertfünfzehn.

Unser Planet war bisher die Heimat von mehr als 100 Milliarden Menschen. Darunter kennen wir nur einen, nämlich die Französin Jeanne Calment, die angeblich länger als 120 Jahre lebte. Als sie 1997 starb, war sie nach Ansicht der meisten Wissenschaftler 122 Jahre alt, es wäre aber auch möglich, dass ihre Tochter ihren Platz eingenommen hatte, um keine Steuern bezahlen zu müssen.13 Aber ob Jeanne Calment tatsächlich so alt geworden ist oder nicht, spielt eigentlich auch keine Rolle: Andere sind ebenfalls in die Nähe eines solchen Alters gekommen, aber die meisten von uns – um genau zu sein: 99,98 Prozent – sterben, bevor sie hundert sind.

Deshalb ist es sicher plausibel, wenn oftmals behauptet wird, wir könnten zwar weiter am Durchschnitt arbeiten, aber die Obergrenze würden wir wahrscheinlich nicht verschieben. Es heißt, man könne zwar die maximale Lebensdauer von Mäusen oder Hunden leicht verlängern, aber mit uns Menschen sei es etwas anderes. Wir leben ohnehin bereits zu lange.

Wer das behauptet, hat Unrecht.

Außerdem besteht ein Unterschied zwischen der Verlängerung des Lebens und der Verlängerung der Lebensfreude und Vitalität. Zu beidem sind wir in der Lage, aber Menschen einfach nur am Leben zu erhalten, wenn ihr Dasein schon seit Jahrzehnten von Schmerzen, Krankheiten, Gebrechlichkeit und Unbeweglichkeit geprägt wird, ist nichts Erstrebenswertes.

Die Verlängerung der Vitalität dagegen – das heißt die Vermehrung nicht nur der Jahre, sondern der aktiven, gesunden und glücklichen Jahre – steht bevor. Sie wird schneller eintreten, als die meisten Menschen erwarten. Schon zu der Zeit, wenn heute geborene Kinder das mittlere Alter erreichen, wird Jeanne Calment wahrscheinlich nicht einmal mehr auf der Liste der hundert ältesten Menschen aller Zeiten stehen. Und zu Beginn des nächsten Jahrhunderts wird man über einen Menschen, der mit 122 Jahren stirbt, wahrscheinlich sagen, er habe ein erfülltes, aber nicht sonderlich langes Leben geführt. 120 Jahre sind dann kein Sonderfall mehr, sondern sie liegen so stark im Bereich der Erwartungen, dass wir nicht einmal mehr von Langlebigkeit sprechen werden; wir werden es einfach »Leben« nennen und voller Trauer auf eine Vergangenheit zurückblicken, in der es anders war.

Wo liegt die Obergrenze? Nach meiner Überzeugung gibt es keine. Der gleichen Ansicht sind auch viele meiner Kollegen.14 Kein biologisches Gesetz besagt, dass wir altern müssten.15 Wer behauptet, es gebe ein solches Gesetz, weiß nicht, wovon er redet. Vermutlich sind wir zwar noch weit von einer Welt entfernt, in der Todesfälle eine Seltenheit sind, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis wir sie immer weiter in die Zukunft verschieben können.

Das alles ist sogar unvermeidlich. Eine längere gesunde Lebensdauer ist in Sicht. Die gesamte Menschheitsgeschichte legt eine andere Vermutung nahe, das stimmt. Aber in unserem Jahrhundert sagt uns die Wissenschaft der Lebensverlängerung, dass frühere Sackgassen schlechte Ratgeber sind.

Sich auch nur ansatzweise auszumalen, was das für unsere Spezies bedeutet, erfordert radikale Gedanken. In den Jahrmilliarden unserer Evolution hat uns nichts darauf vorbereitet, und das ist der Grund, warum die Vorstellung, es sei schlicht nicht möglich, so einfach und sogar verlockend ist.

Aber das Gleiche hatten die Menschen auch über das Fliegen gedacht – bis zu dem Augenblick, da es jemand tat.

Heute stehen die Gebrüder Wilbur und Orville Wright wieder in ihrer Werkstatt, nachdem es ihnen gelungen ist, mit ihren Gleitern die Sanddünen von Kitty Hawk hinunterzufliegen. Die Welt wird sich ändern.

Und genau wie in den Tagen vor dem 17. Dezember 1903, so ist die Mehrzahl der Menschen auch heute vergesslich. Damals gab es einfach kein Umfeld, in dem man die Idee eines kontrollierten Motorfluges entwickeln konnte, und deshalb galt die Idee als zauberhaftes Fantasiegebilde, als Stoff für spekulative Erzählungen.16

Aber dann hoben sie ab. Und plötzlich war alles anders.

Heute stehen wir wiederum an einem solchen historischen Wendepunkt. Was bisher als Zauberei galt, wird Wirklichkeit werden. Es ist eine Zeit, in der die Menschheit neu definieren wird, was möglich ist. Eine Zeit, in der das Unvermeidliche nicht mehr unvermeidlich ist.

Es ist sogar eine Zeit, in der wir neu definieren werden, was es bedeutet, ein Mensch zu sein: Heute beginnt nicht nur eine Revolution, sondern auch eine Evolution.

TEIL 1

WAS
WIR
WISSEN

VERGANGENHEIT

KAPITEL 1

ES LEBE DER ANFANG

Stellen wir uns einmal einen Planeten ungefähr von der Größe unserer Erde vor, der ungefähr ebenso weit von seinem Stern entfernt ist und ein wenig schneller um seine Achse rotiert, sodass ein Tag ungefähr zwanzig Stunden dauert. Er ist von einem flachen Salzwasserozean bedeckt und besitzt keine nennenswerten Kontinente – nur hier und da ragt eine Kette basaltschwarzer Inseln über die Wasseroberfläche. Seine Atmosphäre besteht nicht aus derselben Gasmischung wie unsere, sondern sie ist eine feuchte, giftige Hülle aus Stickstoff, Methan und Kohlendioxid.

Sauerstoff gibt es nicht. Und Leben gibt es auch nicht.

Der Grund: Dieser Planet – unser Planet vor vier Milliarden Jahren – ist ein erbarmungslos unwirtlicher Himmelskörper. Heiß und vulkanisch. Elektrisch. Turbulent.

Aber das alles wird sich ändern. In der Nähe warmer Thermalschlote, die sich über eine der größeren Inseln verteilen, sammelt sich Wasser. Organische Moleküle, die huckepack auf Meteoriten und Kometen eingetroffen sind, bedecken alle Oberflächen. Solange diese Moleküle auf trockenem Vulkangestein liegen, bleiben sie schlichte Moleküle, aber wenn sie sich in warmen Wassertümpeln lösen und an den Rändern der Tümpel den Kreislauf von Austrocknung und Durchfeuchtung durchmachen, laufen besondere chemische Vorgänge ab, die man erst vor Kurzem entdeckt hat.1 Nucleinsäuren reichern sich an und wachsen zu Polymeren heran wie die Salzkristalle, die sich bilden, wenn ein Gezeitentümpel am Meer austrocknet. Es sind die ersten RNA-Moleküle der Welt, die Vorläufer der DNA. Wenn der Tümpel sich wieder auffüllt, wird das primitive genetische Material von Fettsäuren umhüllt und es bilden sich mikroskopisch kleine Seifenblasen – die ersten Zellmembranen.2

Es dauert nicht lange – vielleicht eine Woche –, dann sind die flachen Tümpel von einem gelblichen Schaum aus Billionen winziger Zellvorläufer bedeckt, die mit kurzen Nucleinsäuresträngen – heute sprechen wir von Genen – gefüllt sind.

Viele dieser Zellvorläufer werden wieder abgebaut, aber einige bleiben erhalten, und die Evolution primitiver Stoffwechselvorgänge setzt ein, bis die RNA sich am Ende selbst kopiert. Dieser Zeitpunkt kennzeichnet den Anbeginn des Lebens. Nachdem sich nun Leben gebildet hat – nachdem die Fettsäure-Seifenblasen mit genetischem Material gefüllt sind –, konkurrieren sie um die Vorherrschaft. Es ist einfach nicht genügend Material für alle vorhanden. Möge der beste Schaum gewinnen.

Tagein, tagaus entwickeln sich die mikroskopisch kleinen, empfindlichen Lebensformen weiter, bringen höherentwickelte Formen hervor und verbreiten sich in Flüssen und Seen.

Dann taucht eine neue Bedrohung auf: eine längere Trockenzeit. Der Wasserspiegel der von Schaum bedeckten Seen ist in der Trockenzeit schon immer um ein paar Meter gesunken, aber dann kam der Regen, und die Gewässer füllten sich wieder auf. Dieses Jahr dagegen herrscht auf der anderen Seite des Planeten ungewöhnlich heftige Vulkanaktivität, und deshalb fällt der alljährliche Regen nicht so stark aus wie sonst, sondern die Wolken ziehen einfach vorüber. Die Seen trocknen vollständig aus.

Zurück bleibt eine dicke gelbe Kruste auf dem Grund der Seen. Sie ist ein Ökosystem, das nicht durch die alljährliche Zu- und Abnahme des Wassers gekennzeichnet ist, sondern durch einen brutalen Überlebenskampf. Und damit nicht genug: Es ist auch ein Kampf um die Zukunft – denn die überlebenden Organismen werden die Vorläufer alles Lebendigen sein, das nach ihnen kommt: Archaea, Bakterien, Pilze, Pflanzen und Tiere.

In der Masse aus sterbenden Zellen ist jede bemüht, mit einem Minimum an Nährstoffen und Feuchtigkeit auszukommen und davon zu leben; jede tut, was sie kann, um der urtümlichen Forderung nach Fortpflanzung gerecht zu werden; unter ihnen ist eine einzigartige Spezies. Nennen wir sie Magna superstes. Der lateinische Name bedeutet »großer Überlebender«.

M. superstes sieht kaum anders aus als die übrigen Lebewesen seiner Zeit, hat aber einen eindeutigen Vorteil: Bei ihm hat sich ein genetischer Überlebensmechanismus entwickelt.

In den nachfolgenden Erdzeitaltern werden sich noch weitaus kompliziertere Evolutionsschritte abspielen, Veränderungen, die so extrem sind, dass ganze Zweige des Lebendigen neu entstehen. Diese Veränderungen – verursacht von Mutationen, Insertionen, Genumordnungen und horizontalem Gentransfer von einer Spezies zur anderen – lassen Organismen mit zweiseitiger Symmetrie, räumlicher Sehfähigkeit und sogar Bewusstsein entstehen.

Im Vergleich dazu wirkt der anfängliche Evolutionsschritt auf den ersten Blick ziemlich einfach. Er ist ein Kreislauf. Ein Genkreislauf. Der Kreislauf beginnt mit dem Gen A, einem Aufpasser, der die Zellen in schlechten Zeiten an der Fortpflanzung hindert. Das ist der Schlüssel zu allem, denn in der Frühzeit des Planeten waren die Zeiten meistens schlecht. In dem Kreislauf gibt es auch ein Gen B, das ein »Abschaltprotein« codiert. Dieses besondere Protein schaltet das Gen A aus, wenn die Zeiten gut sind; auf diese Weise kann die Zelle dann und nur dann Kopien ihrer selbst herstellen, wenn ihre Nachkommen wahrscheinlich überleben werden.

Die beiden Gene selbst sind nichts Neues. Alle Lebensformen in dem See besitzen sie. Einzigartig wird M. superstes dadurch, dass das Abschaltgen B durch Mutation eine zweite Funktion erworben hat: Es trägt dazu bei, die DNA zu reparieren. Wenn die DNA in der Zelle zerbricht, entfernt sich das vom Gen B codierte Abschaltprotein vom Gen A und hilft bei der DNA-Reparatur; gleichzeitig wird das Gen A eingeschaltet. Damit kommen Sexualität und Fortpflanzung vorübergehend zum Stillstand, bis die DNA-Reparatur abgeschlossen ist.

DIE EVOLUTION DES ALTERNS. Schon vor vier Milliarden Jahren schaltete ein Schaltkreis in den ersten Lebensformen die Fortpflanzung ab, wenn die DNA repariert wurde, was einen Überlebensvorteil bedeutete. Das Gen A unterbindet die Fortpflanzung, und das Gen B stellt ein Protein her, welches das Gen A abschaltet, wenn die Fortpflanzung ungefährlich ist. Bricht aber die DNA, verlässt das Protein B seinen Posten und repariert die DNA. Die Folge: Gen A wird eingeschaltet und bringt die Fortpflanzung zum Stillstand, bis die Reparatur abgeschlossen ist. Eine höherentwickelte Form dieses Schaltkreises haben auch wir geerbt.

Das ist sinnvoll, denn wenn die DNA zerbrochen ist, sind Sexualität und Fortpflanzung das Letzte, womit ein Organismus sich beschäftigen sollte. Bei den späteren vielzelligen Organismen zum Beispiel verlieren Zellen, die während der Reparatur eines DNA-Bruches nicht stillhalten, mit ziemlicher Sicherheit ihr genetisches Material. Der Grund: Vor der Zellteilung wird die DNA von einem Anheftungspunkt aus auseinandergezogen, und die restliche DNA wird mitgenommen. Ist die DNA zerbrochen, geht dabei ein Teil des Chromosoms verloren, oder er wird verdoppelt. Solche Zellen sterben höchstwahrscheinlich ab, oder sie vermehren sich unkontrolliert und bilden einen Tumor.

Mit seinem neuartigen Abschaltgen, das die DNA auch repariert, hat M. superstes einen entscheidenden Vorteil. Die Zelle verhält sich ruhig, wenn ihre DNA geschädigt ist, und erwacht dann wieder zum Leben. Damit verfügt sie über hervorragende Voraussetzungen zum Überleben. Zum Glück. Denn nun kommt eine neue Gefahr für das Leben hinzu. Starke kosmische Strahlung aus einer weit entfernten Sonneneruption überflutet die Erde und zerstückelt die DNA aller Mikroorganismen in den sterbenden Seen. Die meisten dieser Lebewesen teilen sich aber weiterhin, als wäre nichts geschehen – sie wissen nicht, dass ihre Genome zerbrochen sind und dass Fortpflanzung sie umbringen wird. Mutter- und Tochterzelle tragen nun nicht mehr die gleiche DNA-Menge, und das führt zu Fehlfunktionen. Letztlich ist das Unternehmen zum Scheitern verurteilt. Alle Zellen sterben, und nichts bleibt übrig.

Nichts mit Ausnahme von M. superstes. Wenn die Strahlen ihr Unheil anrichten, tut M. superstes etwas Ungewöhnliches: Da das Protein B sich vom Gen A löst und bei der Reparatur der DNA-Brüche mitwirkt, wird das Gen A eingeschaltet, und die Zellen stellen nahezu alle anderen Tätigkeiten ein; sie verwenden ihre begrenzten Energievorräte ausschließlich auf die Reparatur der geschädigten DNA. Da die Zelle den uralten Fortpflanzungsdrang unterdrückt hat, überlebt sie.

Wenn die letzte Trockenperiode zu Ende geht und die Seen sich wieder mit Wasser füllen, wacht M. superstes auf. Jetzt kann er sich fortpflanzen. Das tut er immer und immer wieder. Er vermehrt sich. Wandert in neue Lebensräume ein. Entwickelt sich weiter. Schafft Generation auf Generation neuer Nachkommen.

Sie sind für uns Adam und Eva.

Wie bei Adam und Eva, so wissen wir auch bei M. superstes nicht, ob er jemals existiert hat. Meine Forschungsarbeiten der letzten 25 Jahre legen aber die Vermutung nahe, dass alle Lebewesen, die wir heute um uns herum beobachten, Produkte dieses großen Überlebenden sind oder zumindest von einem primitiven Organismus abstammen, der ihm sehr ähnlich war. Der »Fossilbericht« in unseren Genen reicht weit zurück und beweist, dass alle Lebewesen, die unseren Planeten mit uns teilen, noch den uralten genetischen Überlebensschaltkreis mehr oder weniger in derselben grundlegenden Form besitzen. Er ist in jeder Pflanze vorhanden. Er ist in jedem Pilz vorhanden. Er ist in jedem Tier vorhanden.

Und er ist in uns vorhanden.

Dass dieser Genschaltkreis erhalten geblieben ist, liegt nach meiner Vermutung daran, dass er eine recht einfache, elegante Antwort auf die Herausforderungen einer manchmal brutalen, manchmal aber auch üppigen Welt darstellt: Er sichert das Überleben der Organismen, die ihn tragen. Letztlich ist er eine urtümliche Überlebensausrüstung, die Energie in den Bereich mit dem größten Bedarf umlenkt: Er repariert das Vorhandene in Zeiten, in denen die äußeren Belastungen zusammenwirken und Schäden im Genom anrichten, und gleichzeitig erlaubt er die Fortpflanzung nur dann, wenn günstigere Verhältnisse herrschen.

Gleichzeitig ist er so einfach und so robust, dass er nicht nur das fortgesetzte Dasein des Lebens auf unserem Planeten gewährleistete; er sorgte auch dafür, dass der chemische Überlebenskreislauf von den Eltern auf die Nachkommen weitergegeben wurde, wobei er mutieren und sich stetig verbessern konnte; auf diese Weise konnte das Leben sich über Jahrmilliarden fortsetzen, ganz gleich, was der Kosmos mit ihm anrichtete, und in vielen Fällen schuf er auch die Möglichkeit, dass das Leben eines Individuums viel länger dauerte, als es eigentlich notwendig war.

Der menschliche Körper ist zwar bei Weitem nicht vollkommen, und seine Evolution setzt sich immer noch fort, aber er trägt eine hoch entwickelte Form des Überlebensschaltkreises in sich und kann deshalb jenseits des fortpflanzungsfähigen Alters noch Jahrzehnte weiterleben. Darüber zu spekulieren, warum unsere lange Lebensdauer in der Evolution ursprünglich entstand, ist zwar interessant – eine reizvolle Theorie besagt, Großeltern seien zur Erziehung des Stammes notwendig gewesen –, aber angesichts des Chaos, das auf molekularer Ebene herrscht, ist es ein Wunder, dass wir auch nur 30 Sekunden überleben, ganz zu schweigen davon, dass wir es bis zum fortpflanzungsfähigen Alter und in den meisten Fällen sogar bis zu einem Alter von 80 Jahren oder darüber hinaus schaffen.

Und doch schaffen wir es. Auf wundersame Weise schaffen wir es. Denn wir sind die Nachkommen einer sehr langen Abstammungslinie von großen Überlebenden. Also sind auch wir große Überlebende.

Die Sache hat aber ihren Preis. Dieser Schaltkreis in uns, das Ergebnis einer Reihe von Mutationen bei unseren entferntesten Vorfahren, ist auch der Grund, warum wir altern.

Und ja: Der bestimmte Artikel im Singular ist richtig. Er ist der Grund.

ALLES HAT SEINEN GRUND

Es soll für die Alterung also nur einen einzigen Grund geben? Wer sich über diese Behauptung wundert, steht damit nicht allein. Und auch wenn jemand bisher überhaupt noch keinen Gedanken auf die Frage verwendet hat, warum wir altern, ist das völlig normal. Selbst viele Biologen haben kaum darüber nachgedacht. Sogar Gerontologen – Ärzte, die sich auf das Altern spezialisiert haben – fragen kaum einmal, warum wir altern; vielmehr bemühen sie sich einfach darum, die Folgen zu behandeln.

Eine solche Kurzsichtigkeit herrscht nicht nur im Zusammenhang mit dem Altern. Noch Ende der 1960er-Jahre war auch der Kampf gegen Krebs ein Kampf gegen die Symptome des Krebses. Eine einheitliche Erklärung dafür, warum Krebs entsteht, gab es nicht; also entfernten die Ärzte so gut wie möglich die Tumore und verwendeten viel Zeit darauf, den Patienten zu sagen, sie sollten ihre Angelegenheiten ordnen. Für Krebs galt das Motto »Das ist eben so« – das sagen wir, wenn wir etwas nicht erklären können.

Dann aber, in den 1970er-Jahren, entdeckten die Molekularbiologen Peter Vogt und Peter Duesberg erstmals Gene, die Krebs verursachen, wenn sie mutiert sind. Diese sogenannten »Onkogene« brachten für die gesamte Krebsforschung einen Paradigmenwechsel mit sich. Die Medikamentenentwickler hatten jetzt Zielscheiben: die krebserzeugenden Proteine, codiert von Genen wie BRAF, HER2 und BCR-ABL. Nachdem man Wirkstoffe entwickelt hatte, die gezielt die tumorerzeugenden Proteine blockieren, kam man endlich von Strahlen und den giftigen chemotherapeutischen Wirkstoffen weg und konnte den Krebs an seiner genetischen Ursache angreifen, während alle normalen Zellen unangetastet blieben. In den seither verstrichenen Jahrzehnten haben wir natürlich noch bei Weitem nicht alle Krebstypen besiegt, aber wir halten es heute nicht mehr für unmöglich.

Bei einer zunehmenden Zahl von Krebsforschern herrscht sogar Optimismus. Diese Hoffnung, so kann man mit Fug und Recht behaupten, bildete die Grundlage für den denkwürdigsten Teil der letzten Rede zur Lage der Nation, die der US-Präsident Barack Obama 2016 hielt.

»Für die Angehörigen, die wir verloren haben, für die Familien, die wir noch retten können, lasst uns Amerika zu dem Land machen, das den Krebs ein für alle Mal heilt«, sagte Obama vor dem Repräsentantenhaus, dann forderte er eine »Krebs-Mondlandung«. Als er die Aufgabe dem damaligen Vizepräsidenten Joe Biden übertrug, dessen Sohn Beau ein Jahr zuvor an einem Gehirntumor gestorben war, fiel es sogar einigen der härtesten politischen Gegner der Demokraten schwer, die Tränen zurückzuhalten.

In den nachfolgenden Tagen und Wochen machten viele Krebsexperten klar, dass weit mehr als das verbleibende Jahr der Obama-Biden-Regierung notwendig sein würde, um dem Krebs ein Ende zu machen. Aber nur sehr wenige Experten erklärten, es sei absolut unmöglich. Der Grund: In wenigen Jahrzehnten hat sich unsere Vorstellung von Krebs völlig verändert. Wir nehmen ihn nicht mehr als zwangsläufigen Bestandteil unseres Lebens hin.

Zu den vielversprechendsten Fortschritten der letzten zehn Jahre gehört die Immun-Checkpoint-Therapie, meist kurz »Immuntherapie« genannt. T-Zellen des Immunsystems patrouillieren ständig durch unseren Körper und suchen nach unbotmäßigen Zellen, die sie dann erkennen und töten, bevor sie sich vermehren und zu einem Tumor werden können. Gäbe es die T-Zellen nicht, würde jeder von uns schon im Alter zwischen 20 und 30 Jahren Krebs bekommen. Aber in den über die Stränge geschlagenen Krebszellen entwickeln sich Mechanismen, mit denen sie die T-Zellen täuschen und sich dann fröhlich weiter vermehren. Die neuesten, wirksamsten immuntherapeutischen Wirkstoffe binden an Proteine auf der Oberfläche der Krebszellen. Es ist so, als würde man den Krebszellen die Tarnkappe abnehmen, sodass die T-Zellen sie erkennen und töten können. Bisher profitieren noch nicht einmal 10 Prozent aller Krebspatienten von der Immuntherapie, aber der Anteil wird angesichts vieler Hundert Studien, in denen die Medikamente derzeit erprobt werden, mit Sicherheit steigen.

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