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Wegen eines disziplinarischen Vergehens wird der junge Soldat Reza 1960 vom iranischen Schah-Regime als Spion nach Europa verschickt. Studieren soll er, sich ein Leben aufbauen, Wissen sammeln und es in die Heimat transferieren. Über Umwege verschlägt es ihn ins erzreligiöse Westfalen, wo er auf Clara trifft, die in ihrer Heimat fremdelt und gegen die ständige Angst ankämpft, zu enttäuschen. Auch Reza taumelt in der Fremde. In ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung finden sie zueinander, doch die Fliehkräfte ihrer Geschichten torpedieren ein dauerhaftes Miteinander. Daran ändert auch die Geburt ihres Sohnes Niklas nichts, der sich, ganz Kind seiner Umgebung, schämt für die unübersichtlichen Strukturen und die überbordende Liberalität seiner Eltern. Als Reza 1979 die Islamische Revolution live im Fernsehen verfolgt, begreift er, dass es kein Zurück gibt. Er kollabiert und gerät in Abhängigkeit – von einer Familie, deren Hoffnungen er selbst stets enttäuscht hat.

Fesselnd und einfühlsam dringt Marius Hulpe bis zum Kern dessen vor, was ein Familienleben heute bedeuten kann. Souverän und abgründig erzählt er davon, wie Ideologie und Repression, aber auch ein ungerichteter Freiheitsdrang ein Labyrinth ohne Ausweg bilden können.

 
autor

© Ekko von Schwichow

Marius Hulpe, geboren 1982 in Soest, lebt nach Auslandsaufenthalten heute wieder in Berlin. 2008 erschien sein vielbeachteter erster Gedichtband ›Wiederbelebung der Lämmer‹ im Ammann Verlag. Es folgten die Bände ›Einmal werden wir‹ (2013) und ›Süße elektrische Nacht‹ (2014) sowie der Essay ›Der Polen-Komplex‹ (Hanser 2016). Für seine Gedichte, die in sieben Sprachen übersetzt und für Rundfunk und Bühne adaptiert wurden, erhielt er u. a. den Literaturförderpreis des Landes NRW, das LCB-Stipendium des Berliner Senats und das Stipendium der Villa Decius in Krakau. ›Wilde grüne Stadt‹ ist sein erster Roman.

Marius Hulpe

WILDE
GRÜNE
STADT

Oder
 
Im Labyrinth des
entwurzelten Lebens

ROMAN

 

 

 

 

 

 

»In den meisten Gärten stehen keine Häuser mehr; sie blühen und welken so vor sich hin, und es scheint kein Mensch von ihnen zu wissen. Aber selbst, wo noch Häuser sind, ist es schwer zu sagen, wer sie bewohnt. Man hört nur die Stimmen manchmal, wenn man an den Häusern vorübergeht, doch sie scheinen weit herzukommen von einem fernen Orte oder aus einer fernen Zeit … Und wenn man da aufwächst, so denkt man immerfort an die Vergangenheit. Wie alles wohl war, denkt man, und man wird nicht müde zu suchen …«

Rainer Maria Rilke

RAUSCHEN

Grüner Sandstein bröckelt leicht, und umso mehr unter Beschuss durch sauren Regen, oder durch sauren Urin. Oft porös und erwiesenermaßen lichtempfindlich, kann nichts und niemand ihn so ganz und gar beschützen. Gering bloß seine Quarzanteile, picken selbst die Spatzen hemmungslos die mineralhaltigen Krumen aus den abertausend Winkeln. Die Witterung mahlt unsichtbar durch die Dekaden. Über ganze Zeitalter hinweg zermarterten sich Dombauer, Pfaffen und Zimmerleute die schorfigen Köpfe darüber, wie sich der Stein nur besser hüten ließe, wobei es fromme Dominikaner in dieser zunehmend ewigen Angelegenheit nicht weniger zu Beflissenheit und Erfindungsreichtum trieb als hemdsärmelige Lutheraner. Hielt man es in allen Angelegenheiten des Glaubens und Hoffens stets so, einander Gottesfurcht und Demut abzusprechen, sich gegenseitig für teuflisch zu erklären und unhinterfragt zu bekriegen, so gab es in dieser Frage – der nach dem Erhalt der Häuser Gottes – keine Wahl, außer der jeweils anderen Seite aufmerksam zu lauschen und ihren Bemühungen möglichst unauffällig zu dienen.

Doch half selbst das schon bald nicht mehr, und so stimmten zunehmend auch die ursprünglich weniger Verzweifelten mit ins allgemeine Flehen und Klagen ein. Wer bloß einst auf die verfluchte und irrsinnige Idee gekommen sei, Kirchen und Gebäude aus dieser sinnlosen Mischung zu erbauen. Es sei doch immerhin um Gott gegangen! Durch die Jahrhunderte hinweg seien immer wieder Auswärtige vorbeigezogen, aus aller Herrgottswelt, hätten ihre sinnvollen Vorschläge eingebracht, und habe man denn je auf sie gehört? Ihre sanften Mahnungen erwogen? Ebenso scharf und unerbittlich blieben unterdessen die Verteidigungsreden, die auf die Vorzüge des Steins verwiesen. Man müsse ja nur einen Moment lang innehalten, dem Staunen lediglich eine Sekunde leihen, beschworen diese Stimmen hell und unermüdlich, man müsse doch nur aufschauen, mit unvoreingenommenem Blick aufschauen und wüsste schon alles. Wer in der Lage sei, mit diesem Stein, der zudem noch aus der Umgebung gewonnen werde, solche Erhabenheit zu erschaffen, der würde, der müsse es immer wieder so machen.

Als oben, in einer der höheren Gassen, an einem beliebigen Markttag in einem dieser elf Jahrhunderte, einer der fahrenden Händler, deren Stände sich am alten Vreithof reihen, es nicht mehr aushält, mitten auf der Gasse gegen die immer schon uralten Mauern pinkelt und ein nach Rosenkohl dünstendes Rinnsal sich seine Schneise hinunter zu den wackligen Ständen bahnt, wird über einem schattigen Portal mit Schwung ein Fenster aufgerissen, und eine der Schwestern oder auch Waschfrauen aus dem angrenzenden Hospital schiebt ihren Kopf hinaus. Sie brüllt etwas, ohne genau zu wissen, was sie brüllen soll, doch sie brüllt es mit einer Hingabe, die dem nun bereits flüchtenden Händler umgehend den Schrecken ins Gesicht fahren lässt und es, als es kurz in einem durch die düstere Gasse fahrenden Sonnenkegel erscheint, unschön verzerrt.

Über den niedrigen Giebeln breitet sich das Hallen seiner geputzten Absätze aus, und mit einer Handbewegung, in die sie alles hineinlegt, was der bisherige Vormittag ihr an Kummer bescherte, rammt die Frau das ächzende Fenster ins Scharnier.

ERSTES BUCH

1981

Grüner Sandstein. Sieben Kirchen. Rosenstöcke. Gräfte, Wall. Palmsonntag, weiße Kleider, Kommunion. Heißluftballons. Steigen in der Ferne auf, und mit ihnen die Embleme der regionalen Gebräue. Wimpel baumeln zwischen Häuserwänden, flappen hier und da unter den milden Frühlingsböen, und durch die von Rüschen gesäumten Tischreihen der Lokale jagen manisch Kleinkindtruppen, auf und ab.

Willi sitzt vorm Wilden Mann. Kaut Hirschleber, stemmt den schimmernden Krug. Frisch aus dem Zapfhahn vom alten Seeberg. Schützen ziehen vorbei, Flöte, Pauke, Schelle. Ihm noch immer zu viele Debütanten im Bild. Zetern und lärmen, keiner geht gerade. Die Marschmusik davon schon ganz beschädigt. Das gibt einen Rüffel.

Er lehnt sich zurück, lässt den weiten Platz auf sich wirken. Den Platz, auf dem er aufwuchs, auf dem er heute erster Mann ist. Oder zumindest zweiter. Seine kleinen, achtsamen Augen wandern. Wenigstens der Takt stimmt. Wie oft hat er das mit denen geübt, im Gleichschritt. Angebölkt hat er sie, bis es passte. Dabei ist er ein so höflicher Mensch. Nun ziehen sie an ihm vorüber, und er mustert ihre Bewegungen genau, die synchronen Schritte, das Einsetzen der Bleche und den aufrechten Gang. Fällt alles auf einen zurück.

Auf dem Markt stehen die Menschen Spalier. Weiße Hüte, getönte Brillen, die Oberflächen des Fachwerks glühen wie Hochschnee im Mittagslicht. Früher ist Willi noch selbst mitgezogen, aber dann kam der zweite leichte Infarkt, und nun nimmt er sich ein wenig zurück. Pils muss trotzdem sein, und es beruhigt ihn, dass er unter den Zuschauern immer mehr vertraute Gesichter entdeckt. Doch längst kennt er sie nicht mehr alle, und etwas daran stört ihn. Selbst, wenn er den Zug näher betrachtet, sind es immer weniger echte Originale. Meine Güte, denkt er, wo sind sie nur alle hin.

Neben ihm der Vorstand, die alten Schützenbrüder. Heben die Krüge zum Stoß, schwätzen, schunkeln, starren. Er sitzt neben Maurer, der kaum zum Luftholen kommt vor lauter Gewäsch. Das teppichartige Gesicht rot und blau vom Saufen, pulsieren in seinem Hals mächtige Blutgefäße, Schweiß treibt aus ihm hervor und verbrutzelt im Sonnenschein.

Willi setzt abermals an, lässt das kühle Bier in seine Mundhöhle strömen. So muss ein Sonntag sein. Er schließt beim Trinken genussvoll die Augen und öffnet sie auch gleich wieder, schließt und öffnet, sodass er fast tranceartig zu blinzeln anfängt. Diese Momente sind die reine Wonne, dafür schuftet er die ganze Woche. Hart. Ohne Rücksicht auf sich und andere. Was auch sonst. Die Sonne scheint so mächtig, so verheißend. Er spürt ihre Wärme auf seinen Lidern.

Dann setzt er langsam wieder ab. Sein Blick weitet sich, über den Glasrand hinweg sieht er schon in die Ferne. Und muss sich gleich fürchterlich ärgern. Am anderen Ende des Zuges, noch am Rand der für seinen Geschmack elendig neumodisch geratenen Fußgängerzone, erspäht er niemand Geringeres als seine erste Schneiderin, wie sie mit einem riesigen Beutel voller Felle um die Ecke schleicht. Der Beutel ist kurz vorm Platzen, oben quillt alles heraus. Auch Frau Doubek selbst sieht nicht gerade nach Feiertag aus, unter ihrem Mantel lugt der gelbe Arbeitskittel hervor, und er ahnt, dass es sich bei dem, was sie da an diesem heiligen Tag in die Tüte gestopft hat und nun durch die halbe Stadt schlört, um nicht weniger handelt als die ausgesuchtesten Stücke, die die Kleiderschränke der hier anwesenden Bürgerschaft hergeben. Wintermäntel, die Willi schulterklopfend anvertraut wurden; um sie zu hüten, um sie zu retten. Er weiß, wie sehr er sie unter Druck gesetzt hat, alles bald fertig zu bekommen. Aber so? Er betet, dass niemand sie sieht. Und wenn doch, dann vielleicht mit einem wohlwollenden Auge oder sogar mit ein wenig Mitleid, dass sie auch heute ackern muss und nicht den Probezug verfolgen kann. Aber es bleibt eine Schmach. Niemand hier hat sich im Griff. Davon wird er irgendwann noch irre.

Doch dann sieht er etwas, das ihn Frau Doubek schlagartig vergessen lässt. Seine Augen weiten sich jäh vor stillem Entsetzen, er merkt sofort, wie er ganz starr wird vor Angst, jemand von den Schützenbrüdern könne es … könne sie ebenfalls sehen. Könne sie erkennen. Er will es ja selbst nicht glauben, nicht wissen, nicht mitbekommen. Der Vorstand darf es auf keinen Fall bemerken. Aber es ist schon zu spät.

– Ist das da vorne nicht dein Töchterlein?

– Was, wo denn?

Willi stutzt, zaudert, grämt sich. Natürlich ist sie es, und an ihrer Seite, er will es nicht wahrhaben, ein bärtiger Orientale. Dabei hat sie schon ein Kind von einem Ausländer, diesem flüchtigen Rumänen, für den sie Kopf und Kragen riskiert und alle Hebel der Welt in Bewegung gesetzt hat, um ihn aus dem Sozialismus loszueisen, und alles bloß, um sich nach ein paar Jahren wieder von ihm zu trennen. Dabei war er doch zumindest Zahnarzt, also ein Arzt, der auch etwas vom Handwerk versteht.

Ab einem gewissen Zeitpunkt hatte er ihn sogar gemocht, denn der Rumäne war fleißig und wollte hoch hinaus, zudem ist ihm sein erstes Enkelkind ein wahrer Segen. Die kleine Sheva ist so süß und lebensfroh, dass Willi gar nicht umhinkommt, ihr jeden Tag aufs Neue eine hübsche Aufmerksamkeit ins Haus zu tragen, und im Erdgeschoss gibt es für seine Anschaffungen neuerdings einen eigenen Raum, einen Spielraum. Puppenhäuser, Holzpferde, Kaufmannsläden, Kinderküchen. Eigentlich sollte aus dem Zimmer eine moderne Heimwerkstatt werden, um immer spontan zu sein für die ganz besondere Kundschaft. Auch am Abend noch auf spezielle Wünsche reagieren zu können, das war sein großer, unerfüllter Traum. Doch nun hat er ihn endgültig aufgegeben, der kleinen Sheva zuliebe. Endlich ein Kind, das seine Aufmerksamkeiten wertzuschätzen weiß. Nur für ihren Namen, sagt er immer, kann er nichts.

Willis Stolz darauf, dass er sich das alles problemlos leisten kann und die Dinge so eine rasante Entwicklung genommen haben, ist beträchtlich. Willi selbst hat alles von der Pike auf gelernt, das Ändern und Füttern, Stopfen und Zwecken, bis er das Unternehmen von seinen Eltern übernahm, so wie sein Vater und sein Großvater von ihren. In guten und in stürmischen Zeiten hielt er die Stellung, etwa als sein dämlicher Schwager wieder einmal zu viele Empfänge gab und auch ganz allgemein über seine Verhältnisse lebte, Willi daraufhin wiederholt für ein Familienmitglied bürgte und im Handumdrehen der Kuckuck auf sämtlichen Möbeln der Geschäftsräume, schnell auch des Privathaushalts klebte. Weil aber das ganze Land ohnehin nichts als ackerte, ackerte auch Willi, und manchmal ahnt er, dass er ohne den Schuldenberg nicht der geworden wäre, der er ist.

Den Krieg im Kessel vor Smolensk überstand er seltsam unbeschadet als Fahrer eines feigen Majors, während zwei seiner drei Brüder für immer in Russland blieben. Danach baute er das Geschäft aus Schrott und Trümmern wieder auf, erweiterte allmählich das Angebot, stellte erst Kürschnerinnen, später Verkaufskräfte ein und ließ sich tagelang nicht mehr zu Hause blicken. Willi weiß, was schwere Arbeit ist.

Noch immer hatte es den Anschein, als wisse sie das auch. Eine interessierte Tochter hat er, das will er gar nicht abstreiten, zugleich treibt sie sich noch immer auffallend häufig mit Studenten herum, und das nächtelang. Dass sie ihm nicht noch eine Intellektuelle wird? Eigentlich wäre es an der Zeit, ihr den ganzen Spaß zu übergeben, doch ohne Bindung an die richtigen Leute wird das nichts. Nie lässt sie sich bei den Schützen blicken. Es ist eine Schmach.

Allmählich beginnt Willi zu glauben, es wachse ihm über die Ohren. Ist also doch etwas dran am Gerede, an den Gerüchten, die er bislang so sicher zu parieren wusste; dass bei ihr die Muselmanen Schlange stehen; dass sie schon wieder einen Neuen habe, schon wieder so einen Hallodri? War der das etwa eben? Der Herr stehe ihm bei. Und Maurer? Auch Maurer hat es gesehen. Verdammt. Und natürlich fragt er gleich nach. Wer war denn der Knilch? Hiesig sah der ja nicht gerade aus, haha. Maurer meint es nicht so, denkt Willi. Trotzdem ist er ein verdammter Trottel. Und er hat es gesehen.

Spät am Abend torkelt Willi über die Allee nach Hause. Obwohl es noch lange hin ist bis zum Schützenfest, konnten es einige der Idioten wieder nicht lassen, hinten im Park eine ganze Ladung Schüsse abzugeben. Danach zog ein Gewitter auf, woraufhin sich alles unter das Festzelt presste. Für einen Moment hätte man meinen können, der Wind würde es wegreißen, doch er pfiff bloß gespenstisch und zerrte am schwarzen Stoff, während drinnen die Gläser klirrten. Auch jetzt nieselt es noch immer leicht, die Bergamotten im Vorgarten von Frau Stein haben ihre Blüten verloren, und Willi scheitert bei seinen albernen Versuchen, über Pfützen zu springen.

Mit nassen Socken schleppt er sich die Einfahrt und die Treppe hinauf, wühlt in seiner Innentasche nach dem Schlüssel. Er bekommt ihn zwischen lauter Kleingeld zu fassen und fischt ihn umständlich heraus, kann sich kaum gerade halten, beugt sich hinunter und findet im Halbdunkel den Schlitz nicht. Beinahe kippt er, stellt die Beine breit, hantiert mit den Armen, hält sich eben so. Durch das fahle Halblicht sieht er auf seine zitternde Hand, dann gibt er auf.

Er stützt sich an der Hauswand ab und richtet sich auf, wankt hinunter zur Garage, wuchtet nach kurzem Innehalten mit Schwung das schwere Tor nach oben und produziert dadurch gerade so viel Lärm, dass beim Nachbarn kurz darauf das Erkerlicht angeht. Willi schlurft hinein, ertastet die klamme, bröcklige Wand und schiebt sich vorsichtig am Taunus vorbei, der schimmernd in der Dunkelheit steht. Doch als er die Klinke der Zwischentür zum Waschkeller hinunterdrückt, gibt sie nicht nach. Obwohl es sinnlos ist, versucht er es noch mehrfach, drückt hinunter und nach vorn, als ließe sich dadurch ein geheimer Mechanismus aushebeln, dann lässt er los und schlägt mit der Faust gegen den hohlen Stahl.

Als er wieder aus der Garage tritt, erlischt nebenan das Licht. Einen Schatten meint er noch zu erkennen, dann ist es düster.

Immer auf Wache sind diese Leute, allzeit bereit und auf der Lauer, da hat sich in dreißig Jahren eigentlich nicht viel geändert, und es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als seine Frau aus dem Bett zu klingeln. Vom Moment an, in dem er den silbernen Knopf in seine Fassung drückt, bis zum Aufsummen des Türöffners versucht er noch, sich eine halbwegs glaubwürdige Geschichte zurechtzuklauben, doch er merkt, wie wenig Sinn es hat.

– So zu warst du ja lange nicht.

Natürlich, sie mosert. Ohne auch nur ein Wort zu erwidern, geht er, konzentriert auf seinen schaukelnden Gang, an ihr vorbei ins Büro, während Berta kopfschüttelnd im Schlafzimmer verschwindet. Er lässt sich in die tiefe Garnitur fallen, langt zum Telefon und wählt eine Nummer. Es tutet ewig, er sucht nach Worten, und als er gerade auflegen will, hebt sie ab.

– Ja?

– Ich bin’s.

Sie antwortet nicht sofort.

– Ich war schon weggenickt, Wilhelm! Den ganzen Abend hab ich über deinen blöden Fellen gehangen.

– Helga, ich … ich schaffe …

– Was ist denn jetzt wieder?

Er spürt den Widerstand in sich, dieser ehrbaren Frau gegenüber mit der Wahrheit herauszurücken. Doch er muss.

– Ich, sagt er, ich … schaffe es … einfach nicht mehr …

– Was denn?

– Na was wohl, bellt er in die Muschel.

– Mal ganz ruhig, Meister.

Er stößt Luft durch die Nase und greift nach einer Porzellanbrosche, die auf dem Beistelltisch liegt, wendet und knetet sie, sagt kurz nichts. Holt wieder Luft.

– Es geht nicht. Sie muss es machen.

Er lauscht gebannt, wie sie reagiert, und betont atmet Helga durch.

– Sie wird es schon machen.

– Aber, ich meine, jetzt. Jetzt muss sie voll einsteigen, sofort.

– Ach, stöhnt Helga, nun lass doch mal deine Tochter in Frieden. Hat sie mit dem Kind denn nicht schon genug zu schaffen? Und ich finde ja, es ist kein einfaches Kind.

– Dem Kind – die Berta kümmert sich doch! Um alles!

– Wilhelm.

– Helga, bitte.

– Du hast gesagt, du gibst ihr Zeit.

– Gute Nacht, Helga.

Mit dem Daumen langt Willi auf die Gabel. Dann hängt er ruhig ein, knipst das Stehlicht aus und schleicht über den Flur ins Schlafzimmer. Dort bettet er sich neben seine Frau, die mit einem dicken Klos im Hals und weit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit liegt.

Zunächst wälzt er sich ein wenig unruhig hin und her, sie noch immer unbeweglich neben ihm, doch ganz langsam treibt es ihn davon, immer mehr verliert er sich, und als er gerade angenehm eingenickt ist, hört er es von weit her schallen.

– Und wehe! – Wehe, du kommst nicht hoch!

Mit aller Kraft verteidigt sich sein Schlaf gegen den Eindringling, doch noch ist er nicht fest genug, ihre Stimme hämmert weiter in seine wohlige Ferne hinein und reißt ihn schließlich hoch. Er sieht, wie sie aufrecht dasitzt, sich zu ihm hinwendet und wieder wegdreht.

– Ich gehe nicht zum Termin. Das ist deiner!

Ihr Recht ist das eine. Auf jeden Fall aber erwartet sie eine Antwort, für die es wiederum heute schon zu spät ist. Sie wird sie nicht bekommen, vielmehr schweigen sie es aus, und darüber schläft er endgültig ein. Berta knipst noch einmal das Stehlicht an, betrachtet ihren Mann einen Augenblick lang im Zwielicht, und weil sie ein wachsamer Mensch ist und jedem kleinen Detail eine Bedeutung beimisst, fällt ihr mit Schrecken der Substanzverlust auf, wird sie der Furchen und Schatten gewahr, die sich um seine hohen Wangenknochen, am Kiefer und sogar am Hals breitmachen. Statt adrett und hager sieht er nur noch ausgemergelt aus. Trotzdem fehlt ihr eine Idee, wie sie alle Parteien zueinander bringen könnte, wie sie ein Problem von solchem Ausmaß angehen soll. Ihr leuchtet ein, dass es Willis allerhöchstes Ziel ist, seiner Tochter ein florierendes Unternehmen zu hinterlassen, doch jetzt, wo er es gerade so hinbekommen hat, will Clara von diesem Geschenk nichts mehr wissen.

Berta knipst das Licht aus, sinniert noch eine Weile über diese Gedankenkette, ohne dabei großartig in vollständige Sätze zu verfallen, dann gleitet auch sie hinein in einen tiefen, bewegungslosen Schlaf, aus dem sie erst wieder aufschreckt, als der Wecker rasselt und sie sieht, dass ihr Mann nicht mehr da ist.

Also hat er es geschafft. Er hat es geschafft, hochzukommen, und mit der unmittelbaren Eingebung, dass es heute einmal ihr vorbehalten sein wird, sich über die Blaumacher zu amüsieren, die die Feierei in schöner Zuverlässigkeit hervorbringt, dreht sie sich nochmals zur Seite, spürt sogar ein wenig Freude in sich aufsteigen und schläft zufrieden und versöhnt mit dem Lauf der Dinge wieder ein.

1959

Der Spätsommer im Hamadaner Land ist eine Jahreszeit, die nie zu enden scheint. Steinalte Trinkwasserbrunnen schwappen hemmungslos über, Obstwiesen sprießen in allen erdenklichen Farben. Lichtflecken zucken durch kurze, trockene Nächte. Weiter oben, an den kahleren Hängen, stehen endlose Reihen geflochtener Körbe, aus denen hellgrüne Trauben quellen. Unten läuft der erste Saft durch die Ritzen, tropft auf dampfende Wege. Hunde und Katzen, Ratten und Vögel, sogar Kinder kommen von überall her, um hastig vom süßsauren Fluss zu naschen, der sich langsam eine Schneise bahnt, hinab ins Tal. Moos lappt über die Kanten der Felsen. Ein Wanderfalke späht und lauscht.

Noch sieht niemand, was sich unter der wuchernden Flora verbirgt, noch einmal atmet und stoffwechselt alles. Lange aber dauert es nicht mehr, bis die Luft immer goldener und die Nächte an den staubigen Ufern des Qareh kühler werden und man oben am Massiv die ersten weißen Hänge erkennt. Klammheimlich zieht sich die satte Natur zurück, zuerst sind es nur ein paar verdorrte Reben, aber schon bald verwandeln sich die Wiesen ungesehen, fast über Nacht wieder in braunes Geröll, und wenn der allerletzte Falke unter den kreischenden Lauten des Aufbruchs dahinsegelt, wissen die fröstelnden Soldaten draußen vor den Toren, dass der Winter naht.

In diesem Moment, als das Jahr wieder einmal in Ödnis endet und dem Hörensagen nach zu allem Überfluss auch noch ein Krieg droht, schließlich das Öl knapp wird und sein Land ihn mehr als je zuvor braucht, fällt Reza, einem kleinen, wieselflinken Unteroffizier, zunächst einmal nichts Besseres ein, als seinem General lautstark zu widersprechen. Wer Recht hat, der hat Recht.

Der General sieht ihn entsetzt an. Was haben sie denn hier für ein selbstgefälliges Söhnchen aufgetrieben? Wohl aus feinem Hause und offenkundig nicht bereit, sich den Anforderungen des Militärdienstes gebührend zu stellen. Dem wird er schon zeigen, wo der Thymian wächst. Ohne jede sichtbare emotionale Regung, die Augen klar, schreitet er in aller Ausführlichkeit und voller Ankündigung auf den Soldaten zu, mustert das ausdrucksstarke, glattrasierte Gesicht von der Seite, tritt schließlich mitten hinein in Rezas Blick und ergreift, eben noch vollkommen gelassen und in der Reserve, jetzt mit Wucht seinen Kragen. Die schwarzen Lederhandschuhe knarzen unter dem mächtigen Kinn, und der General will gerade mit seinem Vortrag beginnen, da ist es auch schon um den Soldaten geschehen, und er holt mit einem Ruck aus, nimmt regelrecht Maß und hämmert seine Faust mitten hinein in das Generalsgesicht, das ohnehin schon vor Verärgerung flimmert.

Als der General sich fängt, erhebt er sich von der Liege, auf die man ihn nach einigem Tumult gehievt hat. Seine Fassungslosigkeit lässt ihn zögern. Ihm ist bewusst, dass er umgehend ein Exempel statuieren müsste, aber ebenso weiß er ganz genau, dass das kleine Scheusal aus höherem Hause stammt, also muss er vorsichtig sein. Abermals schleicht er zum inzwischen gefesselten Meuterer. Er versucht, an sich zu halten, spürt sein wütendes Zittern. Eigentlich hätte die Ratte längst am Galgen baumeln müssen, aber etwas an ihm imponiert dem General. Also noch einmal. Er sammelt sich und stellt sich, so breitbeinig es nur geht, vor den Aufmüpfigen. Der registriert es und fährt hoch, wird zurückgerissen von den Ketten.

– Deine Finger, Soldat, brüllt der General, deine Finger gehören deinem Land, und darum gehören sie auch an keinen anderen Ort als den Abzug deines Gewehrs. Das Volk will es so. Dein Körper ist ein Schild, für unsere Kultur und unsere Zivilisation, und dein kümmerlicher Verstand soll ein Opfer sein für die neuen Generationen, die kommen werden und unsere Riten pflegen, und wenn dein Blut verspritzt wird auf den Feldern draußen hinterm Talysch, dann soll der Boden, den es benetzt, fruchtbar werden und erblühen für eine Zukunft, von der dieses Land und erst recht du noch nicht einmal ahnen, wie würdevoll und herrlich sie sein wird!

Soso, denkt Reza und kann nur knapp verhindern, es auch zu sagen.

In den kommenden Tagen wird er einer ganzen Reihe von Verhören unterzogen, die immer wieder auf die Frage hinauslaufen, weshalb in Gottes Namen er sich nicht dem Willen des Volkes unterordne, was nur in ihn gefahren sei und weshalb er den unehrenhaften Tod am Galgen nicht fürchte. Vielleicht, weil er ein Spion sei?

Es hat keinen Sinn. Sie beschwören, schreien und toben, sie fuchteln wild mit den Händen in der Luft, immer kurz davor, sich zu vergessen. Der junge Gutsherrensohn verweilt ruhig auf seinem Stuhl. Der Schnauzer des Kommandeurs steht wie eine algebraische Gleichung unter der herben Nase, und Reza beschließt, sich auch so einen stehen zu lassen, wenn er hier heil wieder rauskommt.

Dann unterläuft es ihm doch. Obwohl er der Geschichte schon fast entkommen scheint, er ihre aufgrund seiner Stellung zwangsläufige Gnade spürt, entgleitet ihm doch noch eine Kleinigkeit, und die Militärs schauen ihn an, als sei er schon längst im Jenseits.

Dann sehen sie einander an. Hat er das gerade wirklich gesagt? Und wie kommt er dazu, so in ihren Gedanken zu lesen? Der eine greift schon zum Knüppel, wird aber vom Ranghöheren zurückgehalten. Der will es noch ein letztes Mal im Guten versuchen. Er beugt sich über Reza, der gleich seine Zugewandtheit, sein ehrliches Interesse spürt, die ganze Ladung an Vereinnahmung.

– Was bezweckst du damit, Junge?

Reza schnauft. Er möchte kein Verständnis, und er möchte es vor allem nicht von diesem Wichtigtuer, der rein gar nichts für ihn wird ausrichten können. Es scheint Reza offensichtlich, dass es ihm bloß darum geht, seine Macht zu dokumentieren, und zwar in Form von Wohlwollen, einem widerlichen, gönnerhaften Wohlwollen, und wenn er nicht darauf eingeht, ahnt er, wird der Spinner allen Grund haben, vor dem Gefolge des Schahs zu behaupten, dass diesem Meuterer schlichtweg nicht zu helfen sei, weil er sich nicht einmal von ihm, einem wirklich Wohlwollenden, helfen lasse.

– Rein gar nichts bezwecke ich!

– Nicht …?

Zu Rezas Verwunderung scheint das schon zu genügen. Die beiden wechseln unsichere Blicke.

Kuni, murmelt Reza in sich hinein.

– Was hast du da gesagt?

– Was? Nichts.

– Du musst mir schon Glauben schenken, sonst kann ich dir nicht helfen, sagt der Wohlwollende.

– Ach, ich bitte dich, dir soll ich glauben?

Der Militär mustert ihn ausführlich mit seinen hellgrünen Augen, und [1] Reza lächelt ihm freundlich ins Gesicht. So lange, bis es nicht mehr freundlich ist.

– Es wird dir nur nützlich sein, Junge.

Doch Reza schüttelt den Kopf, was ein dämlicher Hund.

– Geh nach Hause, sagt er, geh sofort los und sieh zu, dass deine Alte dir glaubt. Das ist mein Rat an dich.

Der Tritt trifft ihn unglücklich. Wehrlos durch die Fesseln, kippt er mitsamt dem Stuhl zur Seite weg. Kiefer und Nase hat es voll erwischt, und bevor er sich weiter mit diesem elenden Schmerz herumplagen muss, gibt Reza sich lieber seiner Ohnmacht hin.

1989

Niklas kann auf seiner Zimmerwand fliegen. Bis gerade eben war es noch sehr laut in seinem Kopf, aber das hier beruhigt ihn immer. Sein Blick ist ein junger Vogel, der in hohen Bögen die Stationen abflattert, vom Regal zum Türrahmen oder auf den Schatten des Lampenschirms. Manchmal ist es auch bloß ein Flummi oder er selbst in Miniaturform, was da herumhüpft. Das hängt ganz vom Gefühl ab. Über das Vielfache seiner neuen Körpergröße hinweg kann er von Sims zu Sims springen. Stundenlang könnte er so dasitzen. Weit zurückgelehnt ins Kindersofa, vollkommen bewegungslos, nur sein Blick rast geschmeidig über die Zimmerwand auf der anderen Seite.

Er hat nicht die blasseste Ahnung, warum er das macht. Aber das Flattern und Springen mit den Augen ist etwas, das mittlerweile fest dazugehört zu seinem sogenannten Tagesablauf, so wie den Opa durch das Erdgeschoss zu schieben oder sich die Namen und Quadratkilometer aller Länder auf dem riesigen Weltatlas zu merken, der im Büro seiner Mutter hängt. Auch die Busfahrpläne lernt er auswendig, obwohl sie im Zentrum wohnen, und natürlich die Stände der wichtigsten Aktienkurse. Er mag den DAX sehr mit seinen unberechenbaren Sprüngen. Aber beim Flattern entspannt man am meisten. Er spürt, wie er ganz anders wird dabei, wie ihm ganz anders wird. Wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er einen Ausschnitt des gerade wolkenlosen Innenstadthimmels. Auch die leicht gebogene Kirchturmspitze, um die Tauben, Krähen und Elstern kreisen. Und nun macht Niklas etwas ganz Verbotenes, denn er bindet sie einfach ins Flattern ein, er flattert zwischen ihnen umher. Verboten ist das, weil er dafür den Fensterrahmen, also eine abgeschlossene Linie, mit seinem Blick durchbrechen muss. Die Fläche des Fensters wird dadurch zu etwas, auf dessen oberem Rand er nicht nur mit seinem Blick zum Stehen kommt, sondern das er mit ihm von nun an auch seitlich betreten kann, indem er sich durch den Rahmen hindurchbeamt, um auf den dahinter erscheinenden Konturen zu landen. Doch auf dem Blau des Himmels flattert Niklas plötzlich nicht mehr, er schwimmt. Das Fenster mit der Welt dahinter kann nur ein Aquarium sein. Auf den Kondensschlieren der Düsenjäger verbietet es sich zu landen, und weil es in diesem Ausschnitt vom Himmel nichts anderes gibt außer dem Kirchturm, sinkt er ihm langsam schräg entgegen. Auf der Spitze kommt er zum Stehen, doch sie ist klein und bietet gar keine richtige Fläche, auf der er beruhigt landen könnte, und ihm fehlt auch die Lust, wieder aufzutauchen, also springt er nun doch mit seinem Blick aus der Wand beziehungsweise aus dem Fenster heraus, zuerst auf die Heizung, und von dort mit einem kräftigen Satz weiter auf den kleinen Tisch, der vor ihm steht.

Niklas versucht zu vergessen, wie übel ihm ist. Auf dem Tisch steht immer noch das angeknabberte Marmeladenbrot. Darunter schwimmt flüssige Butter, die durch das warme Brot auf den Teller gesuppt ist. Eben hat Niklas erfahren, dass es noch mehr von seiner Sorte gibt. So jedenfalls haben sie es ihm gesagt, noch mehr von deiner Sorte. Noch begreift er es nicht ganz, obwohl im Grunde alles mehrmals klar und deutlich wiederholt wurde. Dein Vater hat noch ein paar Kinder mehr. In aller Selbstverständlichkeit haben sie das so vor sich hingesagt, ohne auch nur ein bisschen seltsam zu gucken, ohne einmal unruhig zu werden. Als sei das ebenfalls eines dieser angstmachenden, aber auch ganz selbstverständlichen Geheimnisse, die jederzeit aus dem Boden schießen können wie samstags die Fontänen am Feuerwehrhaus. Es sind böse Geheimnisse, in die man nach und nach eingeweiht wird und sich so nach den ersten Malen immer schon innerlich auf das nächste vorbereitet, um bloß nicht von den Begleitumständen oder Neuerungen, die diese Geheimnisse mit sich bringen, überrumpelt zu werden.

Seine Mama ruft. Ihre Stimme schallt grell durch das Treppenhaus, und mit der Stimme breitet sich auch ihr Gehetztsein aus, bis unter den Dachgiebel. Das Gehetztsein zischt an Niklas vorbei, macht wie ein Bumerang kehrt und rauscht auf ihn zu, wummert in sein Ohr hinein, und schon wird ihm wieder mulmig vor dem Mittagessen. Dem Mittagessen mit Mama. So wie fast jeden Sonntag, denn neuerdings hat es sich Mama angewöhnt, einmal in der Woche zu kochen. Auch wenn es ihr sichtlich Mühe bereitet. Wenn sie kocht, ist es ganz anders als bei seiner Oma, die wochentags alles in vollkommener Entspanntheit dahinzaubert. Wenn man nach Hause kommt, ist das Essen einfach vorhanden, bei niedriger Temperatur dünstend im Topf, und schon halb weggedämmert sitzt Oma am Fenster. Manchmal steht ihr Mund weit offen, die Augen sind fest geschlossen, aber trotzdem sitzt sie ganz gerade da. Erst nach einer Weile kippt der Kopf fast unmerklich nach hinten weg und kommt allmählich, wie von einer unsichtbaren Hydraulik gefedert, auf der Stuhllehne zum Liegen.

Jetzt aber wird Oma bestimmt wach sein. Niklas lehnt sich über das Treppengeländer und rutscht langsam hinunter, macht auf halber Höhe, in der Kurve, einen Zwischenschritt, gleitet bäuchlings weiter auf dem blankpolierten Holz.

– Kannst du mir mal verraten, was du da machst?

Er hat seine Mama weder kommen hören noch sie hier, am Fuß der Treppe, erwartet.

– Was, ich?

Niklas hat sich sehr erschrocken, möchte das aber verbergen. Claras Stimme vibriert.

– Nein, der heilige Geist!

– Ich … sagt Niklas.

– Würdest du den Mist wohl lassen? Ich glaub, ich spinne.

Oben im Dachgeschoss springt die Tür auf.

– Könnt ihr mal die Klappe halten?

Sheva hämmert die Tür wieder zu.

Weil das die Aufmerksamkeit kurz von ihm fernhalten wird, stiehlt sich Niklas an Clara vorbei in die Wohnung und gesellt sich zu seiner Oma in die Küche, wo sie gerade wieder mal in die Welt hinter der Gardine verreist ist und die Vorgänge auf dem dortigen Bürgersteig inspiziert. Mit ihren Unterarmen, deren Speck er immer gern und ganz zu ihrem Vergnügen zum Schwingen bringt, lehnt sie auf der Fensterbank. Ihr Hörgerät fiept.

– Hallo Omma!

Sie zuckt ganz leicht, dreht sich in winzigen Trippelschritten um und strahlt ihn an. Fast reißt sie die Gardine von der Stange.

– Ach, der Niklas!

Auch er strahlt. Sofort strahlt Oma noch mehr.

– Wollen wir mal sehen, was deine Mutter wieder geschmötkert hat, sagt sie, dreht sich weiter und betrachtet verstohlen den Herd. Ein ganz komisches, zusammengequetschtes Gesicht macht sie dabei, zuckt mit den Schultern, hebt die Brauen und spitzt den Mund. Als sie die Etagentür hören, erschlafft alles an ihr wieder ruckartig. Sofort nehmen sie ihre Plätze ein. Sie haben jetzt keine andere Wahl, Oma und Niklas lachen.

Clara stapft mit klackenden Absätzen hinein, sieht kurz zum Tisch, an dem bequem und grinsend ihre Mutter und ihr Sohn sitzen, wendet sich ab zur Einbauküche, tritt mit roher Gewalt eine Schublade zu und rührt ein letztes Mal in dem herum, was sie dort fabriziert hat, während ihre Mutter schon wieder anfängt zu grienen. Auch Niklas muss prusten. Dagegen kann er angesichts ihrer Wut gar nichts machen. Fest drückt er sich die Hand auf den Mund, und nun bekommt seine Oma doch schon sehr früh ihren Lachanfall. Clara fährt herum.

– Könntest du mir bitte verraten, was so lustig ist?

Niklas lehnt sich in seinen Stuhl zurück und rutscht langsam nach unten.

– Ohhh, macht seine Oma und lacht ganz offen alles hinaus, jetzt gibt’s wieder Ärger! Sie johlt mehr, als dass sie es sagt.

Clara überhört es und konzentriert sich auf Niklas.

– Würdest du bitte deine Schwester holen? Das Essen ist fast kalt.

– Aber es ist doch gerade erst fertig, sagt Niklas.

– Ich wiederhole mich nicht, sagt sie zwar leiser, doch ihre Augen weichen nicht mehr von ihm.

– Oh nein, bitte nicht, quengelt er. Sie kommt eh nicht bei mir.

– Doch. Ich erwarte, dass sie kommt, wenn du sie holst.

– Ich möchte aber lieber …

Clara packt Niklas am Arm.

– Ich geh ja, sagt er, seine Stimme klingt dabei für seinen Geschmack ganz seltsam hoch, kurz fragt er sich, ob das gerade aus ihm herauskam, und während ihn eben noch das Lachen mit seiner Oma trug und vom Gedanken an das gemeinsame Mittagessen abzulenken vermochte, ist das nun wieder der Abfall in jenen Zustand, für den er noch keinen Namen gefunden hat, doch es drückt sich durch ihn hindurch und pocht und zerrt und fließt nach unten, wo es sich als böse, faule Kraft in seinem Magen sammelt.

Er reißt sich los und geht die Treppe hinauf, unten in der Tür Clara, die seinen Gang verfolgt.

– Geht das vielleicht etwas schneller? Wenn ich auch alles in dem Tempo machen würde, bekämt ihr nie was zu essen.

– Jaja, macht er und springt über die knarzenden Stufen.

Von oben hört er ein Poltern, hinter der Etagentür brummt der Bass von Rock. Was dahinter liegt, erscheint ihm als eine abgeschottete, nicht zu betretende Welt, und als er um die letzte Wendung geht und sein Blick auf die Tür fällt, spürt er schon das Weiche in seine Knie dringen. Ganz schlabbrig werden sie und taub, und von Stufe zu Stufe wird es schwieriger, die Beine zu heben.

Der Bass dröhnt und nähert sich. Niklas ist oben angekommen. Er hebt den Arm und macht eine Faust zum Klopfen, lässt sie wieder sinken. Er betrachtet die Klingel. Vorsichtig greift er in ihre Richtung, die Fingerkuppen voraus. Seine Hand kommt kurz zum Stehen, er pustet aus und lauscht, dann legt er sie auf die Taste. Er tippt und lässt los, in ihm pocht es. Aber das war zu wenig Druck, es klingelt nicht. Nur das ferne Echo eines Tons, verschluckt vom Rock.

Drinnen wechselt das Lied, sie spielt etwas Leiseres. Auch beginnt es bloß ganz langsam. Jetzt. Er drückt fest zu, ein wenig zu lang, sodass der Ton sehr gedehnt klingt. Aber er übertönt das beginnende Lied. Niklas hört Schritte, sie stampft über das Parkett, kommt näher, ist nah, öffnet. Ein Blick aus einer düsteren Sphäre.

– Was willst du?

Sheva wirkt wie immer auf dem Sprung, mit ganz anderem beschäftigt, in fernen Kosmen unterwegs, und hiervon hält er sie nun wieder einmal ab. Nach einem zuckenden Moment, in dem er noch zögert, ist sie schon wieder kurz davor, die Tür zuzuknallen, was ihm nur recht wäre.

– Nichts, sagt Niklas und sieht an ihr vorbei in die kleine, früher einmal helle Dachgeschosswohnung, in die er, wie auch das Licht, nicht mehr hineingelangt, seit Sheva dort haust. Auf dem Esstisch liegen aufgeschlagene Fotoalben und Schminkzeug wild verstreut, Tuben, Kajalstifte und Puderdöschen, auf dem Boden die Gitarre. Es müffelt nach kaltem Rauch.

– Na was jetzt, willst du mich verarschen?

– Nein. Ich will nichts. Mama …

– Was Mama? Könntest du mal einen vollständigen Satz von dir geben?

– Mama will, dass du jetzt essen kommst.

– Dann muss sie mir das schon selbst sagen.

Sie will die Tür zudrücken. Er fasst sie am Handgelenk und fängt an, daran zu zerren. Sofort reißt sie sich los. Starrt ihn kurz ungläubig an und schlägt ihm mit der Faust auf die Schulter. Niklas brüllt ungebremst. Mit Macht schiebt sie ihn über die Schwelle, haut nochmal wahllos in seine Richtung und trifft ihn mit ihren Nägeln an der Lippe, dann springt sie zurück in die Wohnung und knallt die Tür, dass es kracht. Niklas lehnt am Geländer und hält sich den Mund.

– Wie lange dauert das denn?, ruft seine Mutter die zwei Stockwerke hinauf.

Durch die Lücke zwischen den Streben linst Niklas nach unten, sodass sich ihre Blicke treffen.

– Was ist? Kommt sie?

Hastig spurtet er die Treppe hinunter, sofort wird sie lauter.

– Du bleibst jetzt da und holst sie!

Er läuft weiter, bis er vor ihr steht. Sie sieht ihn an, als sei ihm etwas sehr Wichtiges nicht gelungen. Ihre Augen sind vollgepresst mit Müdigkeit.

– Kann ich noch nicht einmal erwarten, dass du deine Schwester zum Essen an den Tisch bringst? Ist das wirklich zu viel verlangt?

Sie drückt sich an ihm vorbei, schleppt sich die Treppe hinauf.

Niklas sagt nichts und verfolgt ihre Schritte. Nach ein paar Stufen dreht sie sich noch einmal um.

– Es bleibt wie immer alles an mir hängen.

Sie geht weiter, er hört die Schwere in ihren Schritten. Oben angekommen, hämmert sie ohne zu zögern auf die Tür ein.

– Machst du bitte sofort auf, ruft sie, sofort!

Sheva öffnet, und es gibt ein unverständliches Gezeter, von dem Niklas lieber nichts hören will, darum flieht er schnell zurück in die Küche, wo seine Oma gerade wieder die Gardine anhebt und beschwingt vor sich hinmurmelt. Als sie ihn bemerkt, lässt sie die Gardine fallen und sieht ihn mit schimmernden Augen an. Freudentränen. Ihre blonden Locken glänzen.

– Was hat die Frau Erlhöfer einen fürchterlichen Hut!, sagt sie so vergnügt, dass sie es kaum hinausbekommt. Er nickt zustimmend.

– Und, was machen die beiden jetzt?

Niklas zeigt nach oben und tippt sich an die Schläfe. Sie lacht kollernd und gedämpft, fast nach innen, ihr Kopf wird ganz rot. Niklas geht zum Herd und isst direkt aus dem Topf einen Löffel von den zermanschten Steckrüben seiner Mutter. Gar nicht so schlimm, denkt er.

– Wenn das deine Mutter sieht, flötet Oma. Sie ist schon wieder so gereizt. Pass ja auf.

Niklas setzt sich wortlos zu ihr, sieht nun selbst hinunter auf den gerade menschenleeren Bürgersteig, und er fragt sich, wie es ist, als Stein dort irgendwo zu liegen. Es scheint ihm in diesem Moment nicht anders möglich, als dass die Steine leben und denken können und somit auch alles sehen, was vor sich geht. Vielleicht so ungefähr wie Bäume. Aber auch Steinen kann man nichts vormachen, sie sind Zeugen von allem.

Man hört etwas von oben, mehrere Füße trampeln über die Stufen, die untere Etagentür macht ihr Scharniergeräusch, und schon stehen Clara und Sheva mit voller Wucht im Raum. Oma erstarrt, sucht ebenfalls den Blick hinaus, und Niklas versucht, sich nicht zu rühren.

– Du setzt dich sofort gerade hin, herrscht Sheva ihn an. Sie droht mit einer Gabel, Niklas hebt schützend die Arme. Ihre Lippen schimmern rosa von zu viel Gloss.

– Gerade!

– Mach ich doch!

– Wieso ist dein Sohn schon wieder so unverschämt?, wendet sie sich an ihre Mutter.

Clara steht gebeugt über der Spüle, die Züge dunkel und versunken. Das Wasser rauscht, im Hintergrund plärrt das Radio, und wie seit jeher, wenn eine solche Geräuschkulisse herrscht, entschwindet sie an einen anderen Ort, lässt alles in einem bedeutungslosen Brei zerfließen, und zumindest für einen kurzen Moment muss sie es sich nicht antun, das Gewese und Gezeter der Menschen um sie herum.

Was soll sie noch tun, außer sich Mühe zu geben? Als sie klein war, empfand sie ihre Eltern als laut und dominant, und jetzt, findet Clara, sind es ihre Kinder, die sie nicht bremsen kann, die mit ihrer Energie über alles hinwegrollen. Zwei kleine nimmermüde Züge, die ahnungslos und schutzlos in die Dunkelheit rauschen, so stellt sie sich sie manchmal vor, wenn sie nachts über ihren Akten hockt und an sie denkt. Doch wie oft hat sie gesagt, dass sie es nicht gut verträgt, die Zänkereien und den Aufruhr, ja wird das denn niemals aufhören, hat sie gesagt. Und ihr bleibt das Gefühl, nicht gehört zu werden, bis heute nicht. Von ihrer Mutter, das verdrängt sie schon viel zu lange, wird sie ohnehin sabotiert. Sich einmal in der Woche ein ruhiges Beisammensein zu wünschen, guten Willen einzufordern und ein wenig Unterstützung, ist das zu viel verlangt? Hat sie geschuftet, Kopf und Kragen im Osten riskiert, um sich nun von denen vorführen zu lassen? Bei dem, was hinter ihr und vermutlich auch noch vor ihr liegt, soll diese Gleichgültigkeit alles sein?

Dieser innige Wunsch, ihre Kinder einmal in der Woche zu bekochen, ganz gleich, mit welchen Spötteleien ihre Mutter über ihr Essen herzieht, manchmal scheint er schon zu viel verlangt. Diese Kinder fühlen sich noch immer zu häufig nicht von ihr gemeint, leben nicht in Wachsamkeit für das, was ihre Mutter sich wünscht. Sie halten niemals still, lassen ihr nicht die Konzentration für ihre Fürsorge. Und sogar jetzt nicht, wo sie doch sichtlich über alles nachdenkt. Sheva tippt ihr fest und ungeduldig auf die Schulter.

– Könntest du bitte hier für Ordnung sorgen?

Clara schweigt, sieht zwischen allen umher, bleibt mit ihrem Blick an ihrem Sohn hängen, der reglos aus dem Fenster starrt, und versucht, in ruhigem Ton von Neuem anzusetzen. Doch scheint ihre Mutter genau hier ihren Einsatz gekommen zu sehen, lacht schrill hinein in Claras Bemühungen, und auch Sheva greift ihre sichtbare Zerstreutheit dankbar auf.

– Ich kann ja auch einfach gehen, sagt Sheva.

– Du setzt dich jetzt wie alle anderen hierher zu uns an den Tisch, erwidert Clara ruhig, deutet auf den leeren Platz, hebt den Kochtopf auf das große Brett in der Mitte des Tisches. Dazu stellt sie Petersilie, und in einer kleinen Pfanne, die Niklas zu seiner Verwunderung bislang gar nicht wahrnahm, hat sie Filetstreifen gebraten. Sie legt sie auf einen Teller und kippt die Pfanne darüber aus, langsam läuft der Sud über das zarte Fleisch, und jetzt bekommt Niklas doch Lust auf ihr Essen. Sogar richtigen Hunger hat er. Gut, dass er beim Fliegen auf der Zimmerwand, und auch davor, beim Transformers-Schauen, nicht geschnuckert hat.

Oma kramt zwischen Heizung und Fensterbank herum, zieht eine zerknüllte Zeitung hervor, fängt an, sie auszubreiten. Weil sie ein unausgesprochenes Abkommen haben, dass er mitlesen darf, hebt Niklas die Zeitung an. Auf der Rückseite erkennt er das Bild eines Jungen, der anscheinend entführt wurde, von dem jedenfalls jede Spur fehlt. Die großen roten Buchstaben lassen sich leicht lesen. Auch die Fotos sind sehr groß, findet Niklas. Der Junge hat schwarze Haare und ist auch sonst ziemlich dunkel. Seine Oma dreht die Zeitung um und entdeckt nun auch das Bild.

– Schlimm, sagt sie, was alles so passiert auf der Welt.

– Oma, weist Sheva sie zurecht, das geschieht hier überall, um die Ecke!

Aber sie bekommt es gar nicht mit.

– Der Junge hier, grient sie, das könnte der Niklas sein!

Sie hebt die Zeitung an und streckt sie ihm entgegen, findet sichtlich Freude an der Feststellung.

Niklas betrachtet ruhig das vor seinen Augen flatternde Bild.

– Nein!, schreit er, nein, und haut mit der Faust auf den Tisch.

Sofort hat er die Hand seiner Schwester im Gesicht. Er schreit wieder und weiß, gleich kippt er ins Weinen. Bertas Augen weiten sich vor Erstaunen über das Treiben vor ihr am Tisch. Nur momentlang hat es den Anschein, als würde ihr Ausdruck ausnahmsweise ins Entsetzen kippen, das grundsätzlich immer leicht mitschwingt in ihrem Blick, doch schon kehrt wieder ihre Freude an der reinen Situation darin zurück.

– Jetzt kriegst du wieder was an die Ohren, sagt sie und klingt genau so, halb erfreut, halb entsetzt. Hab ich’s dir doch gesagt …

– Wenn jetzt nicht gleich Schluss ist!

Clara sagt es so bestimmt, dass sie über sich selbst verwundert ist. Sheva springt auf und greift nach der Türklinke.

– Schluss klingt gut!

Kaum hat sie es ausgesprochen, hört man sie aus der Wohnung und über die Treppe stürmen. Clara möchte ungern zeigen, was gerade wieder in ihr zerbricht, darum versucht sie, etwas Souveränes zu sagen.

– Das habt ihr ja toll gemacht.

– Hier ist wieder was los, sagt Oma erfreut.

Clara scheppert mit Geschirr herum, schleudert sich eine Kelle auf den Teller und verlässt die Küche.

– Oje, macht Oma und runzelt die Stirn. Was haben die schon wieder eine Wut. Fürchterlich!

Langsam erhebt sie sich, wirft noch einen verächtlichen Blick in den Topf und geht an den Kühlschrank. Sie klaubt Butter, Blutwurst und einen halben Aal zusammen, nimmt das Brot aus der Dose und macht es sich wieder bequem. Dann schnitzt sie so lange zufrieden an ihren Zutaten herum, bis alles zu kleinen handlichen Häppchen verarbeitet ist. Eines nach dem anderen schiebt sie sich in den Mund und spült mit kaltem Frühstückskaffee. Dabei schüttelt sie immer wieder kaum merklich den Kopf und grient. Niklas isst allein die Stampfe und das Filet. Es schmeckt.

1959

Es hämmert metallen. Der Nerv, auf dem er die ganze Nacht – es ist doch Nacht? – gelegen hat, zuckt, und mit ihm Reza. Langsam taucht er auf aus einem Schlaf voll abwegiger, wilder Träume. Um ihn herum nur tiefe Schwärze, doch was heißt schon »nur«. Er tastet unsicher ins feuchte Nichts. Noch kann der Rest seines Geistes nichts fassen, mit suchenden Händen fährt er durch die Leere des Raumes. Dann erst erinnert er sich, wo er ist.

Wieder hämmert es gegen die schwere Eisentür. Reza kann nicht deuten, woher es kommt, seine Orientierung hat gelitten. Er rafft sich hoch vom Feldbett, streift sich den Lumpen über, den sie ihm gelassen haben, und stellt sich in die Richtung auf, in der er die Tür vermutet. Ihm wird übel, mit Macht hält er sich auf den Beinen. Seit Tagen liegt er im Dunkeln, hat sich kaum bewegt, nur auf der verfluchten Pritsche herumgegammelt, dabei stellte er sich vor, er fliege durch den Weltraum. Zwischendurch schoben sie ihm eine Schale mit ein paar Klecksen Humus und Rinde von uraltem Brot durch das Sichtfenster, dazu gab es einen Becher Wasser, das extrem nach Metall schmeckte, und er betet nur noch, dass sie ihm jetzt etwas Richtiges geben.

Das Eisenschloss der Zellentür kracht, und langsam, mit einem gedehnten Ächzen öffnet sie sich. Licht dringt erst spärlich, dann gleißend in die winzige Kammer. Reza muss sofort die Augen schließen. Natürlich ist er hilflos, aber das darf ihm nicht zu viel ausmachen. Allein aus diesem Grund, sagt er sich, haben sie ihn ja hier hineingesteckt, in dieses Loch. Damit es ihm etwas ausmacht.

– Vorwärts, ruft der Soldat. Nicht im Stehen einschlafen!

Reza setzt einen Fuß vor den anderen, er spürt den Boden kaum unter seinen Sohlen. Aus der Schwärze des Lochs tritt er ins Licht der Halle