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Der Dorfpunk ist Stadtbewohner geworden, allerdings kein glücklicher. Michael Sonntag ist Kunststudent, der die Kunst hasst. Nachts zieht er auf dem Hamburger Kiez durch die Kneipen, tagsüber schlägt er verkatert die Zeit tot, schreibt Gedichte oder geht zum Psychologen – das Leben ist für ihn eine Beleidigung. Seine einzige Hoffnung ist die Frau von gegenüber, die ihm beängstigend schöne Augen macht …

»Sternstunden der Bedeutungslosigkeit« erzählt vom Alltag in der Warteschleife des Lebens. Zwischen liebenswert kaputten Gestalten treibt Rocko Schamoni seinen unkaputtbaren Helden immer aufs Neue in Situationen, in denen nichts mehr hilft als sein verzweifelt trockener Witz.

Rocko Schamoni, 1966 in Deutschland geboren, veröffentlichte zahlreiche Musikalben, arbeitet für Theater, Film und Fernsehen, tourt regelmäßig solo oder mit Band durch die Republik und hat eine eingeschworene Fangemeinde. Nach seinem Debüt »Risiko des Ruhms« (2000) schrieb er den Roman »Dorfpunks« (2004), der zu einem lang anhaltenden Bestseller avancierte. Es folgten die Romane »Tag der geschlossenen Tür« (2011) und »Fünf Löcher im Himmel« (2016).

rocko schamoni

Sternstunden
der Bedeutungslosigkeit

Roman

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Für Norbert, Vaclaf, Sigurt, Tobias, Wolli, Heino, Moni, Renate, Björn, Ulli

1

Das ist das Ende. Gesundheitstermine sind die letzten Termine, die ich noch einhalten kann. Wenn man den Arzttermin nicht mehr schafft, tut sich nur noch die bodenlose Leere auf. Der Arzt ist der Letzte, der jemanden wie mich in einem sinnvollen, menschlichen Rahmen halten kann. Ärzte stehen noch über Chefs, über Politikern, über Eltern. Über dem Arzt ist nichts. Für einen wie mich.

Eben habe ich wieder in das eine alte Auge der Sprechstundenhilfe Fräulein Bethke gestarrt. Man kann nur in das eine blicken, das andere ist, seit ich in diese Praxis komme, zugeklebt. Die Frau ist deutlich über fünfzig, ihre Sehschärfe kann man nicht mehr richten wie bei einer Fünfjährigen, wieso also verklebt man ihr das eine Auge? Egal. Das eine Auge ist verklebt, und das andere stiert einen missmutig durch eine Hornbrille an, die für zwei Augen geschliffen wurde. Das Pflaster hinter der blinden Seite wird durch das Brillenglas vergrößert. Da das sehende Auge so missmutig blickt, starre ich immer auf die Poren des Pflasters, jedoch ohne Ablenkung zu finden vor dem stählernen, prüfenden Blick der Zyklopin.

»So, guten Tag, was möchten Sie?«

»Ich möchte zu Herrn Doktor, gibt es noch einen Termin heute Vormittag?«

»Wir haben jetzt offene Sprechstunde, Sie müssen aber Zeit mitgebracht haben.«

»Das ist mein geringstes Problem.«

»Waren Sie schon mal bei uns?«

Ich war schon etwa dreißig Mal in dieser Praxis und habe jedes Mal zur Begrüßung in dieses eine Auge geschaut. Warum fragt sie mich diese Frage immer wieder? Ich verstehe das nicht.

»Ja, ich war schon oft hier«, antworte ich. Sie ist unbeeindruckt.

»Haben Sie Ihre Karte dabei?«

Ich gebe ihr die Karte.

»Worum geht es denn überhaupt?«, fragt sie beiläufig.

»Es geht um mehrere Dinge. Ich habe seit einigen Tagen wieder starke Bauchschmerzen, so Krämpfe, und gestern kamen dann noch Stiche in der Brust dazu, ich habe Angst, dass …«

»Gut, setzen Sie sich ins Wartezimmer, Herr Doktor ruft Sie dann auf.«

Mann, ist die hart, denke ich. Was wäre, wenn ich jetzt wirklich etwas hätte? Kann doch sein. Wenn ich hier gleich auf dem Wartezimmerteppich verenden würde? Ich werde schwitzend warten und irgendwann wird mein Name aufgerufen. Irgendwann an diesem bedeutungslosen Tag wird jemand meinen Namen aussprechen. Dann weiß ich, dass ich da bin. Ich heiße, also bin ich.

Heute sind nur wenige Patienten hier. Ich sitze allein auf einem braunen Korbstuhl und starre auf ein kleines Aquarium, genauer gesagt: auf ein ballförmiges Glas mit etwas Sand und einem Fisch darin. Ein Guppy wahrscheinlich. Ich bin nervös, habe einen ziemlichen Kater, weiß, dass ich ungesund aussehe. Ich atme aus der Nase, damit die anderen Anwesenden wenigstens nichts von meiner Leidenschaft riechen können. Die Nase beherbergt aufwendige Filtersysteme, die den Mundgeruch herausfiltern, glaube ich. Ich habe noch nie bei einem Trinker die Fahne durch die Nase gerochen. Vollkommen logisch.

Je länger ich sitze, desto mehr Durst bekomme ich. Ich traue mich nicht aufzustehen, um mir ein Glas Wasser zu holen. Das würde meinen Nachdurst verraten. Ich kann den Mund nicht öffnen, meine Zähne sind mit Betonspeichel zusammengeklebt. Ich starre auf den Guppy, kann keine Zeitung lesen, ich sehe ihn seine Runden drehen, gefangen und beobachtet. Er ist wie ich. Vielleicht wartet er auch darauf aufgerufen zu werden? Seit Jahren. Minuten, Stunden, zähes Rinnen. Die vor mir liegende Wartezeit kommt mir vor wie eine Falle. Mein Durst wird unmenschlich.

Schließlich bin ich der Letzte im Wartezimmer, kurz vor der Mittagspause. Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn. Es gibt keinen anderen Ausweg: Ich stehe auf, packe das Aquarium, setze es an und trinke es in einem Zug aus. Der kleine Fisch rinnt mir die Kehle runter, ich spüre ihn in meinem Hals zappeln, es ist die umgedrehte Geschichte von Jonas und dem Wal. Ich setze das Glas ab und wische mir mit dem Ärmel die Mundwinkel trocken. Ein brackiger Geschmack breitet sich in meinem Rachen aus, Sand knirscht zwischen meinen Zähnen. Ich schleiche ins Vorzimmer, durchquere dieses im toten Winkel der Einäugigen und verlasse die Praxis, um auf die Straße zu stürzen. Was ist bloß mit mir los?

Was ist bloß los mit mir in letzter Zeit? Ich war doch schon mal anders drauf. Ich stehe an einer Bushaltestelle vor der Praxis und überlege, ob ich mich übergeben soll. Was mache ich mit dem Fisch? Lebt der noch? Der kann doch nicht da drinnen bleiben. Oder ist der jetzt schon zersetzt? Ich kann mich nicht übergeben, hocke mich ratlos in das Bushäuschen und stiere vor mich hin. Es ist kalt, kein Licht dringt durch die dichte Wolkendecke, die diese Stadt für immer umschlossen hat. Die Aufgeregtheit lässt nach, der Wartezimmerdruck schwindet, die Bauchschmerzen heißen mich wohlig willkommen – zurück in der normalen Welt. Einer zumindest könnte mehr wissen über die Ursache meiner Magenprobleme, denn er ist vor Ort, aber den kann ich nicht fragen. Was ist bloß los mit mir?

Ich beschließe erst mal nach Hause zu fahren. Verdammter Kater. Ich hätte es gestern sein lassen sollen. Wie immer. Der Bus ist gerammelt voll. Ich hasse gerammelt volle Busse, ich drängle mich in den Hintereingang, ergattere mit der Hand einen freien Platz an der Stange und halte die Luft an. All die Menschen um mich herum, die aus allen Poren und Öffnungen ausdünsten. Ich rieche Schweiß durchzogen mit Deodorantfetzen und Mundgeruch – von dem ich erst nach Sekunden wahrnehme, dass es mein eigener ist. Ich klappe schnell den Mund zu. In meiner nächsten Nähe schweben Gesichter in der Luft, Körperteile, Nasen, Ohren, Haare, einige Mitfahrer halten ihre Augen geschlossen. Wir können unsere Nähe nicht ertragen, alles unter einem Meter Distanz erzeugt beim Menschen Stress. Ich blinzle zwischen meinen halb geschlossenen Lidern hindurch, die Schläfrigkeit vortäuschen sollen, und beobachte die Züge der Umstehenden. Ich bete, dass bloß keiner hustet oder niest. Vor kurzem habe ich in einer Wissenschaftssendung eine Infrarotaufnahme eines Niesenden in einem Nahverkehrsbus gesehen. Es war grauenvoll. Es sah aus wie ein Atompilz, der trotz vorgehaltener Hände dem Kopf des Niesers entstieg und alle Umstehenden unbemerkt mit einschloss. Solche Bilder vergisst du nie. Kriegsberichte von der Alltagsfront. Wer in so einer Bakterienglocke landet, ist chancenlos gegen die Krankheitserreger, die in solchen Glocken wohnen. Aber auch die Vorstellung, in der badezimmerwarmen Innenluft meines Nächsten zu stehen, ist mir zuwider. Ich möchte nicht in seinem Atem schwimmen. Noch sechs Stationen und der verdammte Bus wird nicht leerer. Wieso steigt auf dieser Strecke keiner aus? Es kommen immer nur Fahrgäste hinzu. Die meisten Menschen schweigen gestresst, im Hintergrund höre ich jemanden husten, er scheint mir weit genug weg. Neben mir putzt sich jemand die Nase. Ich bekomme Panik. Wenn der jetzt losniest, denke ich. Schließlich halte ich diesen Menschen-Kompressor nicht mehr aus, meine Handflächen sind schweißnass und meine Nase ganz trocken, wie die eines kranken Hundes. Immer wenn ich eine trockene Innennase bekomme, ist das Ende meiner Geduld erreicht. Ich gebe mich geschlagen und steige aus. Die restlichen drei Stationen kann ich auch zu Fuß gehen, ist sowieso gesünder.

Ich springe aus dem Bus, platsche in eine Pfütze und schlurfe weiter. Vorbei an langen Reihen von Wohnhäusern, Parterrewohnungen. In einigen warten ältere ausländische Mitbürgerinnen, warten seit Jahren und träumen von der Heimat, von Ländern voller Licht, von einem Leben mit mehr Sinn als diesem in dieser kalten, dunklen, fremden Stadt in einem Land namens Deutschland, dessen Bewohner sie nicht kennen und deren Sprache sie kaum verstehen. In den Cafés sitzen junge Leute, emsig ins Gespräch vertieft, junge Leute in Szeneklamotten, junge Leute, die sinnvolle Gespräche führen und gleich wieder zu einer sinnvollen Arbeit gehen.

Etwa hundert Meter vor mir steht eine kleine Gruppe von Südländern auf dem Bürgersteig, eine ältere Frau, zwei jüngere, ein älterer Mann und ein etwa Zwanzigjähriger. Sie schreien aufeinander ein. Plötzlich sackt der junge Mann zu Boden, der ältere dreht sich um und kommt mit einem selbstgerechten Blick auf mich zu. Ohne zu wissen, was vorgefallen ist, lese ich in seinen Zügen, dass er sich im Recht fühlt und einen kalten Stolz empfindet. Ich gehe an ihm vorüber und komme der kleinen Gruppe näher, von der Kleidung, den Frisuren und der Sprache her halte ich die fünf für Jugoslawen. Die Frauen schreien einander an, der junge Mann kniet am Boden in seinem schneeweißen Jogginganzug. Als ich bei ihm bin, richtet er sich auf und schreit dem Alten voller Hass etwas hinterher. Ich kann nicht verstehen, was, dann sackt er wieder zusammen, eine der jungen Frauen rennt kreischend auf die Straße. Ich überlege kurz, ob ich umdrehen soll, dann frage ich mich, warum. Falscher Stolz, falsches Ehrgefühl, irgendeine Banalität, die sie hat durchdrehen lassen, es ist ihr Problem. Ich bin erstaunt, wie unberührt ich reagiere. Langsam vergesse ich den Vorfall und lande wieder bei mir selbst. Bei meiner Wenigkeit.

Ich gehe weiter, ohne den Kopf zu heben, schaue auf den Boden, entdecke keinen Schatten. Dann muss ich wohl selbst der Schatten sein. Habe mich vom Boden erhoben und gehe durch die Gegend. Nur wessen Schatten bin ich? Das wüsste ich wirklich gerne.

2

Ich heiße Sonntag. Mit Nachnamen. Vorname Michael. Das ist aber eigentlich egal, wird sowieso von niemandem benutzt. Von meinem vierzehnten Lebensjahr an nannten mich alle nur noch Sonntag. Ein Name, der zu dummen Sprüchen förmlich einlädt.

»Ach, der Herr ist wohl wieder in Sonntagslaune.«

»Heute ist ein ganz normaler Arbeitstag, Herr Sonntag.«

»Als Letzter kommt immer der Sonntag.«

Von mir aus! Ich hab den Namen trotzdem nicht ungern. Er strahlt eine gewisse Gelassenheit aus, täuscht etwas vor, selbst mir, was ich immer gerne gehabt hätte. Ich war nie gelassen, am wenigsten an Sonntagen.

Einmal die Woche hatte ich Namenstag. Wenn für alle anderen die Welt stillstand, war sie für mich am wenigsten zu ertragen. Wenn nichts passiert, alle Räder ruhen und die Gesellschaft zu Tische sitzt, bekommen die Einsamen, die Ängstlichen, die Hungrigen, die Paranoiden, die Suchenden, die Kaputten, die Depressiven, die Verlassenen, die, die draußen stehen, Panik.

Willkommen am siebenten Tag.

Ich schleiche die Treppen hoch zu meiner Wohnung im vierten Stock, das Holz ächzt und riecht, es gehört zu mir bei jedem Schritt. Ich habe eine Tür mit Türgriff, also ohne Knauf. Sie ist fast immer offen, da ich nicht abschließe. Bei mir gibt es kaum was zu holen. Die Wohnung ist klein, hat einen engen Flur und zwei Zimmer. Der Flur ist dreckig, mit alten Buchdeckeln tapeziert, eine Birne baumelt von der Decke und die Küche ist winzig. Man kann sich mit der Bratpfanne grade mal um die eigene Achse drehen. Aus dem Küchenfenster habe ich einen tollen Ausblick über das ganze Viertel. Ich kann bis zum Heiligengeistfeld gucken. Nur rechts ragt ein halb verfallenes Haus in mein Blickfeld, genauso schrottig wie meins. Hier lebe ich, das ist meine Welt. Meine und Brunos.

Bruno ist ein komischer Typ. Ich habe ihn eines Tages in der U-Bahn aufgelesen. Ich fuhr mit meinem Freund Mischa zum Proberaum seiner Band. Der Proberaum war in einem Hochbunker. Dort gab es einen langen Flur mit einer Unratecke am Ende. Der ideale Platz für unsere Schießübungen. Wir besaßen beide eine Milbro G2, die billigste Luftpistole, die es damals gab.

Auf jeden Fall tauchte in der U-Bahn plötzlich Bruno auf, in Schnäppchenmarktklamotten: klotzig, blond, kräftig, heruntergekommen, setzte sich breitbeinig vor uns und fragte: »Wo wollt ihrn hin?«

»Wieso?«

»Ist doch egal, sag doch mal, sag doch mal einfach, ich weiß nich, wo ich hin soll.« Eine klare, direkte Ansage.

»Wir gehen in nen Bunker und wollen da n bisschen Sport machen«, meinte Mischa, während er ihn musterte.

»Echt? Kann ich auch mit? Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.« Der Typ gefiel mir. Wie ein herrenloser Hund, einfach mit irgendjemand Wildfremdem mitgehen.

»Könn ja mal kucken, was du draufhast.«

»Geile Sache, ich heiße Bruno, ich hab durchgemacht, weiß nicht, wo ich hin soll«, wiederholte er sich.

»Ah ja, ich bin Sonntag, das ist Mischa, grüß dich.«

»Hi, ich bin Bruno«, wiederholte er sich erneut.

Wir verließen die U-Bahn und machten uns auf den Weg zum Proberaum.

»Habt ihr Bock auf was zu saufen, he, wartet mal.« Bruno rannte auf die andere Straßenseite – mir fiel auf, dass ihm die Hacke seines linken Schuhs fehlte –, zu einer Tanke, verschwand kurz darin, ich sah ihn an der Kasse rumfuchteln, er zeigte mit dem Finger auf den Kassierer und schien lautstark auf ihn einzureden, der Kassierer nickte, dann kam Bruno mit einer Tüte voller Bier wieder raus.

»Wie hastn das gemacht?«, fragte ich.

»Ich hab ihm gesagt, dass er mir Bier geben soll.« Wieder eine einfache und gute Idee. Dieser Bruno hatte eindeutig eine Schraube locker, aber er war lustig, suchte Anschluss, wir konnten ihn nicht wegjagen. Wer weiß, ob er gegangen wäre, wenn wir es versucht hätten. Wir lagen den ganzen Nachmittag im Bunker auf dem Boden im Flur, wälzten uns im Dreck, tranken Bier und ballerten mit Diabolos auf selbst gezeichnete Pappkameraden. Immer wenn irgendwelche blöden Rockbands zu ihren Proberäumen wollten, mussten sie bei uns vorbei und bekamen Angst. Wir waren ein fertiger Haufen, und wenn wir anfangs bei Transporten noch aus dem Weg gerobbt waren, so mussten sie später ihre Gitarren und Amps über uns rüberhieven. »Haltet uns bloß nicht vom Schießen ab.« Bruno fing an, doofe Witze zu erzählen, und lachte dann als Einziger über sie. Das mochte er gerne. Er erzählte, dass alle Frauen auf ihn abfahren würden, kaum eine könne ihm widerstehen. Träum weiter, Bruno, in deinen geliehenen Flohmarktklamotten. Wir waren relativ schnell miteinander vertraut geworden.

»Ey Leute, mal im Ernst, ich krieg die meisten Weiber, ich weiß, wie das geht.«

»Klar, Alter, grade du, kuck dich doch mal an.«

Bruno schaute an sich runter.

»Es kommt auf die Methode an, man muss geduldig sein«, antwortete er wissend.

»Wie machst dus denn?«

»Is ganz einfach: Ich stell mich in die Innenstadt, an ner guten Stelle, bisschen abseits, aber wo trotzdem viele Leute vorbeikommen, wenn dann ne einzelne Frau vorbeikommt, frag ich sie einfach, ob sie Bock hätte mit mir zu kommen und ne Nummer zu schieben.« Er machte eine Handbewegung, die die Logik seiner Ausführungen untermalen sollte, eher aber fahrig besoffen wirkte.

»Klar, und das klappt dann immer, ja sicher.«

»Nein, natürlich nicht immer, meistens krieg ich eine gelangt, oder sie treten mich, oder sie gehen einfach weg. Aber jede Achte oder Zehnte, würde ich sagen, kommt mit.«

»Sicher, und wohin geht ihr dann?«, fragte ich nach.

»Ich war schon überall, in nem Hauseingang, in ner Telefonzelle, in nem Auto, was grade geht.«

»Sicher, Bruno, das glauben wir dir sofort.« Wir reagierten hämisch, aber ein leiser Zweifel hatte sich eingeschlichen. Was war, wenn er recht hatte, wenn das stimmte, wenn es so leicht war: einfach ein paar Ohrfeigen kassieren und dafür dann irgendwann die körperliche Belohnung.

»Ich werd es euch beweisen«, schlug er vor.

»Mag sein, aber nicht heute. Ich will jetzt erst mal nach Hause, keinen Bock mehr«, sagte ich. Allein die Vorstellung. Ich könnte das nie bringen, es wäre mir zu peinlich.

»Kann ich mit, ich weiß nicht, wo ich hin soll«, fing er sofort wieder an.

»Ich hab eigentlich keinen Platz bei mir«, sagte ich.

»Also bei mir gehts überhaupt nicht«, lehnte auch Mischa prompt ab.

»Scheiße, was soll ich denn jetzt machen, ich weiß nicht, wo ich hin soll«, jammerte Bruno weiter.

Ich gab nach. »Ich hab noch nen kleinen Raum mit ner Matratze.«

Seitdem wohnt Bruno bei mir im vorderen Zimmer. Seine Tür steht halb offen, ich schaue hindurch, er liegt dort nackt, halb auf dem Boden, er hat schwarze Tinte ins Gesicht geschmiert und eine Platte mit Wurstscheiben und Lachs lugt unter seinem muskulösen Arsch hervor. Die muss er sich irgendwo erlungert haben. Seit ein paar Tagen, sagt er, sei er Privatsekretär von so ner Galerietusse. Seitdem kommt er immer mit großen Fressplatten an. Davon leben wir.

Ich nehme mir ein paar von den Wurstscheiben von der Platte und gehe in die Küche frühstücken. Während ich die Wurst aus Ermangelung von Brot pur esse, schaue ich rüber zu dem verfallenen Haus zur Rechten. Dort wohnt sie. Ich sehe sie nur selten, zufällig. Sie trägt immer einen schwarzen langen Trenchcoat und oft eine schwarze Baskenmütze. Sie ist dunkelhäutig, groß, sportlich und hat Mandelaugen, die sie mit Kajalstift nachzieht. Manchmal sehe ich sie im Treppenhaus gegenüber und muss spontan stehen bleiben, meine Beine gehen dann nicht weiter, ich kann nur noch zu ihr hinschauen. Sie ist so unglaublich sexy, sie ist meiner Ansicht nach die schönste Frau dieser Straße, vielleicht des ganzen Stadtteils. Wie sie wohl heißt und was sie macht, frage ich mich oft. Nachts liegt sie nur wenige Meter weiter. Wir sind getrennt durch ein paar dünne Mauern, ich spüre ihren Atem, ich weiß, in welchem Zimmer sie wohnt, das Fenster ist immer von einem roten Seidenvorhang verhängt. Ich bin kein feiger Typ, aber ich kann sie nicht ansprechen, das ist zu viel für mich, sie steht zu hoch im Himmel meiner Wünsche, als dass ich sie erreichen könnte.

Ich schlinge die Wurst runter, hänge mit dem Blick auf ihrem roten Tuch, lasse ihn von dort wandern, nach oben, über die nassen Dächer, weiter über diese triste Stadt, die ich so liebe.

3

Ich bin seit zwei Jahren alleine. Es war die richtige Entscheidung. Patricia war meine Jugendliebe, wir waren verwoben, verstrickt, Kinder aus einer anderen Zeit, wir brauchten uns, um nicht alleine zu sein, als wir unsere Nester verließen, wir waren eine erotische und emotionale Zweckgemeinschaft. Ich glaube, es kann keine Liebe für ein ganzes Leben geben, vom Anfang bis zum Ende. Liebe besteht bei den meisten Menschen nach ein paar Jahren zu fünfzig Prozent aus Gewohnheit und zu fünfzig Prozent aus Feigheit. Ich will nicht sagen, dass es nicht auch andere Paare gäbe, Paare, die sich sehen, schätzen, achten, gegenseitig voranbringen, die sich lieben. Aber der größte Liebeszerstörer ist das, was die meisten Menschen die Liebe nennen, oder? Wir beide waren jedenfalls hungrig auf die Welt, spürten beide den Rand unseres Tellers und wollten darüber hinaus. Und sie auf eine andere Art und Weise als ich.

Als sie nach einer durchredeten Nacht die Wohnung verließ, konnte ich es trotzdem nicht glauben. Kurz vor der Zimmertür drehte sie sich um, und die Tränen in ihren grauen Augen glänzten wie Klebetropfen in den Strahlen der Morgensonne, die durch einen Spalt im Vorhang auf ihr Gesicht fielen. Es war beschlossen – sie ging.

»Ciao«, sagte sie leise und traurig, dann drehte sie sich in extremer Zeitlupe um und glitt durch die Tür. Bis ihre letzten Haarspitzen aus meinem Blickfeld verschwunden waren, vergingen Stunden. Mein Blick wanderte durch den leeren Raum, konnte sich an nichts festhalten, rutschte an den Gegenständen ab, als wenn sie mit einer unsichtbaren dünnen Ölschicht überzogen wären. Sie war gegangen. Sie hatte sich tatsächlich entschieden.

Ihre Tasse stand neben meiner auf dem Bett, sie war noch voll. Ich steckte den Finger hinein, um zu schauen, ob ihr Kaffee noch warm war. Tatsächlich. Das machte mich fertig. Diese Wärme war ihre Wärme, sie hatte den Kaffee gemacht, die Wärme des Kaffees war gleichsam die Wärme ihres Körpers, die jetzt langsam wich und in der Kälte des Todes unserer Liebe enden würde. Ich konnte nicht ertragen, dass der Kaffee sich weiter abkühlte. Ich ging in die Küche, holte ein Teestövchen, zündete ein Teelicht an und stellte die Tasse drauf. Ich fühlte mich besser. Aber das Wasser im Kaffee würde verdunsten, verschwinden, wie sie es getan hatte. Ich holte etwas Frischhaltefolie, spannte sie über den Kaffee und konnte nun beruhigt zurücksinken. Solange dieser Kaffee warm blieb, war die Sache nicht gestorben, lief unser Ding irgendwie weiter, war dieser Moment festgehalten, gab es einen Weg zurück. So fühlte ich. Ich habe mir eine Warmhalteplatte gekauft, und nach einigen Monaten habe ich den Kaffee in ein Einweckglas umgefüllt, weil die Frischhaltefolie immer so zerbeulte, aber nun steht er da, ewig warm, wie ein olympisches Feuer der Liebe. Ich kümmere mich um ihn, entstaube das Glas, bewege ihn manchmal ein wenig, damit er nicht absetzt. Andere Leute haben Haustiere, ich habe meinen Kaffee.

Patricia habe ich seitdem nur selten gesehen. Wir haben das Ding durchgezogen. Ich spürte, dass sie recht hatte, dass für uns beide jetzt das richtige Leben anfangen sollte, ein Leben mit uns selbst. »Du musst erst mal lernen, alleine zu leben!« Was man alles so muss im Leben. Erst muss man geboren werden, dann muss man aufwachsen, dann muss man lieben lernen, dann muss man lernen, alleine zu leben, und dann muss man auch noch sterben. Leben heißt sterben lernen. Abgesehen von all dem anderen Scheiß, den man daneben auch noch muss, wie z.B. Waschsalon, Lidl, Bundestagswahl und Arbeitsamt. Dieses MUSS macht mich fertig. Ich will nicht müssen. Ich dachte oft an sie, am Anfang jede Stunde, dann jeden Tag, jetzt nur noch jede Woche. Manchmal denke ich gar nicht mehr an sie. Liebe ist Opium für die Lebenden. Trennung ist ein schwerer Entzug. Warum es wohl dafür keine Entzugsanstalten gibt? Für all die, die diesen Entzug nicht überstehen, die durchdrehen, sich und andere umbringen oder im Rinnstein landen. Mein Kaffee war mein Methadon. Mein Kaffee und unendliche Onanieorgien.

Aber ich habe den Entzug eigentlich ganz gut geschafft. Es hat lange gedauert, und ich habe mich wirklich und ehrlich gequält und jetzt, jetzt bin ich frei. Frei, das heißt allein.

4

Am nächsten Morgen wache ich auf. Die Bauchschmerzen sind wieder da. Schon beim Aufwachen. Wie nervig. Ob der Fisch noch in mir lebt? Vielleicht lebt er jetzt für immer in mir. Vielleicht ernährt er sich von all den Speisen, die dort unten landen. Verhungern muss er jedenfalls nicht. Es ist zu früh für Maloxan. Also quäl ich mich aus dem Bett und mache mir in der Küche einen Kamillentee. Ekelhaftes Zeug, aber es hilft ein klein wenig. Brunos Tür steht offen, alle möglichen Dinge liegen bei ihm auf dem Boden herum: Schallplatten, Essensreste, alte Unterhosen, eine Perücke, er selber ist abwesend. Die Wände sind kahl, an der Decke hängt eine nackte Glühbirne. Mein Gott, wie wir hier leben. Die totale Achtlosigkeit. Ich gehe in mein Zimmer und räume auf, um den Anschein von Ordnung zu wahren. Platten sortieren, Kleidung ins Billy-Regal, Teppich saugen, den Kaffee bewegen und das Bett machen. Dann wieder hinlegen. Um elf Uhr ist der Fernseher an, und ich esse einen Teller Haferflocken. Der Zonk mit meinem Lieblingsmoderator Jörg Draeger. Einmal wie Jörg Draeger sein, nur einen Tag lang. Ich stelle es mir in Jörg Draeger sehr gemütlich vor. Irgendwie ausgeglichen und zufrieden. Ich schaue in den Spiegel und grinse mich als Jörg an. Meine Zähne blitzen sauber und weiß, mein Schnurrbart ist gut frisiert und die Haare liegen seidig weich um meinen selbstsicheren Schädel. In letzter Zeit spannt mein Showjackett ein wenig um die Taille, aber das steht mir gut. Ich bin ein charmanter Spieler, und die Frauen wollen mich gerne anfassen. Ich fühle mich ein wenig wie Gott, wenn ich vor den Kameras das Schicksal ganz nach meinem Gusto zuschlagen lasse, und ich bin sogar in der Lage, daraus sexuellen Profit zu schlagen, denn diejenigen, die ich gewinnen lasse, zahlen nach der Show auch gerne ein wenig zurück.

Die Wahrheit sieht anders aus: Ich sitze in einer verdreckten Wohnung im Schanzenviertel und angle im Nichts. Wie viele Stunden von solchen Shows habe ich bereits konsumiert? Vor allem amerikanische Fernsehshows. Die Amis halten den absoluten Rekord im Weltlebenszeitvernichten. Sie nehmen uns unsere verbrauchte Zeit günstig ab, wir – die Überflüssigen – können ja sowieso nichts damit anfangen. Wir haben die quälenden, sinnlosen Stunden über, sie nehmen sie ab, vernichten sie, und wir zahlen durch den Kauf beworbener Konsumgüter. Das ist ein fairer Deal. Auch die Holländer haben mir schon Wochen abgenommen. Engländer und Spanier nicht so viel. Und die Türken so gut wie gar nichts. Dafür kaufe ich ihr Obst, bei mir kommt jeder auf seine Kosten. Ich überlege, ob ich zum Lidl gehen soll, um etwas zu essen zu kaufen, dann fällt mir ein, dass ich keinen Pfennig auf der Naht habe. Der verdammte Dispo ist knietief ausgereizt. Ein Job ist nicht in Sicht, Alhi dauert noch und meine Eltern kann ich nicht schon wieder anpumpen. Was soll ich tun? Hab nichts gelernt, bin nicht qualifiziert, bin Kunststudent, der nicht studiert. Ich hasse die Kunst und noch viel mehr den Kunstmarkt, bin ein Überflüssiger, hab kaum Ambitionen. Immerhin: Ich bin ein guter Zeichner, habe unendlich viele bescheuerte Ideen, und Schriftsteller oder Dichter würde ich auch gerne sein. Neuerdings schreibe ich jeden Morgen beim Frühstück ein Gedicht. Eines wie dieses:

Da ist nichts!

Wo nichts ist

da ist nichts

schaut meinetwegen noch mal nach

da war nichts und da ist nichts

nicht unter den Kissen

nicht unter dem Bett

nicht in dem Ärmel

oder unter dem Sack

da ist nichts, seht es doch endlich ein

da ist verdammt nichts

ich habe selber schon geschaut

ich habe nichts gefunden

nun lasst es endlich sein

ihr plagt euch umsonst ab

ihr steht da umsonst rum

ihr seid umsonst gekommen

ich habe jeden Stein hochgehoben

ich habe jedes Staubkorn weggeblasen

da ist nichts, rein gar nichts

verdammt nichts

ihr Idioten

ihr wollt es nicht begreifen

und eure Söhne und Töchter werden

weitersuchen

aber ich werde hier gewesen sein

und ich werde es euch allen gesagt haben

da ist nichts und da wird nichts sein!

Von Gedichten kann man nicht leben.

Nachmittags ruft Maff an. Endlich, die Erlösung.

»Hörma, Sonntag, ick brauch dich heute. Haste Zeit?«, fragt mich seine ranzige Stimme am Telefon.

»Hm, lass ma überlegen, ich könnte wohl was frei machen. Wann denn?«

»Heute Abend, sagen wir mal ab neun, komm zum Schuppen«, lockt er mich. Super, der Tag ist gelaufen, jetzt kann ich machen, was ich will, es gibt eine Entschuldigung, ich kann mich hängen lassen, denn heute Abend gibts Arbeit. Maff hat ne kleine Plakatfirma und plakatiert wild für alle möglichen Auftraggeber. Er hat einen alten Kombi, fährt mich rum, und ich knall den Kram an die Wände. Wenn die Bullen kommen, haut er ab. Dafür krieg ich aber auch mehr als die anderen Plakatierer.

Maff ist Nasendrogist. Bei ihm gibts ab und zu etwas abzustauben. Ich vertrödle den Tag, glotze noch ein paar Stunden und geh dann spazieren. Vielleicht treffe ich jemanden, der mich einlädt. Auf dem Schulterblatt treffe ich Sina. Sie kommt mir mit einem Omaeinkaufsroller entgegen. Sie trägt bunte Plastikklamotten und riecht nach Alkohol. Weil sie mich mag und ich ihr einige Liebesdienste erwiesen habe, lädt sie mich auf ein Sandwich ein. Sex gegen Thunfischsemmel. Sie ist wirklich süß. Kleiner gelber Vogel. Aber ich kann nicht bei ihr bleiben, ich muss alleine sein. Ich laufe ziellos durch das Viertel und vergammle die Zeit bis zum Abend. Menschen beobachten. Langsam in Spiralen nähere ich mich meinem Ziel, und pünktlich um neun Uhr tauche ich bei Maffs Schuppen auf. Es ist bereits dunkel, nur ein Neonlicht weist mir den Weg durch einen vermüllten Vorgarten. Maff hat sein Lager im Bogen einer S-Bahn-Überführung. Das hohe Tor ist aus alten Brettern zusammengenagelt und nur angelehnt. Ich trete vorsichtig ein, drinnen stehen Regale quer im Raum, Neonröhren leuchten an der Decke und überall liegen Plakate herum. Plakate aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Künstlern und Anlässen. Vergangene, anzukündigende, freudvolle Ereignisse. Irgendwas stinkt alt, feucht und muffig. Ich sehe mich um, kann niemanden entdecken, mich fröstelt. Wie aus dem Nichts steht auf einmal Maff vor mir. Vielleicht hat er auf dem Boden gehockt oder ist hinter einem Regal hervorgesprungen? Ich weiche einen Schritt zurück. Maff ist bereits älter, vielleicht vierzig. Er hat eine ausgetrocknete Haut, schmale Lippen und spitze Zähne. Seine Augen sind geädert, und die dünnen Haare hängen ihm wirr vom Kopf. Er trägt einen Jeansoverall. Soll wohl cool aussehen.

»Pünktlich wie die Sau, typisch Sonntag!«, kräht er mich an. Jetzt weiß ich, was hier stinkt: Es ist sein Mundgeruch, der die ganze Halle ausfüllt.

»Klar, wie immer, Maff. Was gibts zu tun, Maff?«, frage ich müde, während ich einen weiteren Schritt zurückweiche.

»Du, ne janze Menge, haha, ne janze Menge. Wenn du Power hast, kannste heute Nacht tausend Plakate an die Wände ballern, haha, iss allet dabei: Motörhead, Chris Norman, Axel Zwingenberger, Senta Berger und lauter sone Scheiße, haha.« Er schmeißt alles in einen Topf. Maff ist egal, für wen und was er plakatiert, und mir muss es demnach auch egal sein, »Hauptsache, die Scheiße klebt, wie ick immer zu sagen pflege, haha.« Er berlinert meistens, obwohl er aus Braunschweig kommt. Das soll ebenfalls cool und großstädtisch wirken. Außerdem presst er in jeden Satz ein paar Lacher, so als ob er etwas Lustiges vermerkt hätte. Hat er aber nie. Maff öffnet die Klappe seines Opel Kombi, und wir verladen die schweren Stapel. Der Wagen sackt merklich ab. Als er bis unters Dach gefüllt ist, fahren wir los. Maff hat seine festen Touren: einmal durchs ganze Schanzenviertel, dann das Karoviertel, Innenstadt, St. Georg, dann St. Pauli und schließlich Altona. Das dauert viele Stunden. Maff sitzt am Steuer, fährt etwa fünfhundert Meter bis zum nächsten voll plakatierten Eckladen, ich spring raus, Eimer, Kleister, vier Plakate, zwei oben, zwei unten, fertig, dreihundert Meter weiter. Bei großen Wänden gibt mir Maff auch mal acht oder zehn Plakate raus. Heute Nacht läuft alles gut, ich achte wie immer drauf, nur abgelaufene Ereignisse zu überkleben, sonst gibts Ärger. Nach drei Stunden Geacker hält er an einer ruhigen Ecke.

»Hast du Bock auf ne Nase?«, fragt er.

»Was gibts denn heute?«

»Du, Jeschwindigkeit, kennst mich doch, haha, ick steh uff Jeschwindigkeit, is jutes Zeug, hab ick schon öfter jefahren, wirklich prima, ick jeb ne Runde aus, komm, Atze.«

Maff mag am liebsten Speed. Ich hab jetzt keinen Bock auf Speed. Plakatieren und Speed passt für mich sowieso schwer zusammen, weil Plakatieren so ein niederes Geschäft ist. Und dann auch noch die euphorischen Gefühle mit Maff teilen, lieber nicht.

»Nee, Maff, iss noch zu früh, vielen Dank, vielleicht nachher.« Er lässt den Wagen an und fährt ein Stück weiter. Ich denke schon, dass er es sich selber auch anders überlegt hat, doch plötzlich bremst er unvermittelt, reißt das Handschuhfach auf, greift sich ein schmales Briefchen, öffnet es und zieht mit einem gewaltigen Geräusch seine Nase hindurch. Ich schaue ihn erstaunt an, während er mit einem Gewinnerlächeln zurückgrinst.

»Du, ick kann das Zeug nicht mehr einfach so nehmen. Immer wenn ick davon rede oder wenn ick auch nur daran denke, schwillt mir die Nase zu. Ick muss mir selbst überraschen. Ick muss es ne Weile vergessen, bis die Nase bereit ist, und dann muss es schnell gehen, sonst krieg ick es nich mehr rein. Haha, jut, nä?« Er ist begeistert von seinem Selbstüberlistungstrick, schaut in den Rückspiegel und wischt sich den Frankfurter Kranz von den Nasenflügeln.

»Fantastisch, Maff!«, muss ich zugeben. Der Mann ist erfinderisch. »Aber ahnt die Nase denn nicht, dass du sie reinlegen willst?«

»Vielleicht. Aber irgendwann regt sie sich ab. Früher oder später wird sie nachlässig, und dann krieg ick sie und dann mach ick sie voll, haha, so schnell wie ick ziehe, so schnell ist die nicht wieder dicht!« Ich habe Respekt vor Maffs Willen zur Selbstvernichtung und davor, wie er sogar vor den deutlichsten Zeichen seines Körpers großzügig die Augen schließt. Ab jetzt wird das Arbeiten unangenehm, weil Maff durch das Speed platt zutraulich wird.

»Los, Junge, baller ran den Scheiß, du bist doch meen bestes Pferd im Stall, so wie du zieht keener durch.«

»Danke, Maff, is schon okay.« Ich versuche so viel wie möglich außerhalb des Wagens zu bleiben und gehe kleinere Strecken zu Fuß. Wir klotzen die halbe Nacht, irgendwann kurz nach drei Uhr sind wir fertig. Maff is immer noch drauf, das ist lohntechnisch günstig für mich. Ich steige in den Wagen, setze mich neben ihn. Auf einmal umarmt er mich. Sein Mundgeruch steigt mir in die Nase, ich möchte ihn wegschieben, weiß aber, dass das meinen Lohn schmälern könnte, also warte ich, bis er seine Zuneigung an mir abgerieben hat. Er nimmt mich bei den Schultern und guckt mir gerührt in die Augen. Die Adern um seine Pupillen sehen aus wie rote Kanäle auf zwei toten Planeten.

»Sonntag, du bist meen Bester«, sagt er, und ihm steigen Tränen in die Augen. Mir wird schlecht vor so viel falschem Gefühl, und ich schaue zu Boden. Er schüttelt mich an den Schultern, bis ich wieder hoch schaue.

»Meen Bester, hörst du?«

»Ja, Maff, danke dir.« Bitte gib mir mein Geld und lass mich hier raus, denke ich mir.

»Junge, irgendwann, wenn das Zeug mich fertig macht, werde ick dir alles überlassen, ick hab ja sonst niemand.« Tränen rinnen über seine Wangen, die gesprungenen Augen röten sich weiter, sein Atem hüllt uns beide ein. Ich bin kurz davor mich zu übergeben, schaffe es aber, meinen dankbaren Gesichtsausdruck zu halten. Er zieht nen Hunderter aus der Innentasche seiner Bomberjacke, steckt ihn mir in meine Brusttasche und sagt:

»So, nu aber raus, kein Wort, komm, komm, ick will nix hören, hau ab, Junge, mach dir ne schöne Zeit damit.« Er wendet sich heldenhaft und stolz von mir ab und guckt in eine andere Richtung, was seine Rührung verbergen soll, besser: was zeigen soll, dass er seine Rührung verbergen möchte, natürlich von mir voller Respekt honoriert. In Wirklichkeit schäme ich mich wahnsinnig, steige schnell aus, poche auf die Motorhaube und gehe dann langsam vom Wagen weg. Je weiter ich mich entferne, desto besser geht es mir, desto leichter wird mein Herz. Oh Gott, war das schlimm, so schlimm war es noch nie, der Typ ist echt am Ende. Und was wird, wenn der abnippelt? Hinterlässt er mir dann wirklich alles? Und was heißt alles? Den scheiß alten Opel und die blöde gemietete Halle mit den abgelaufenen Plakaten und ein paar alten Eimern? Herr Richter, ich lehne das Erbe ab.