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Praxisnahe Hilfe für ein gesellschaftliches Problem

Einsamkeit betrifft jeden. Doch wer einräumt, einsam zu sein, beichtet einen vermeintlichen Defekt. Er stigmatisiert sich selbst, wird noch einsamer. Ein Teufelskreis. Die Anforderungen durch unsere immer effizientere und schnellere Arbeitswelt führen zu Dauerstress, einem der Hauptrisikofaktoren für Einsamkeit. In unserer marktorientierten Konsumgesellschaft verlieren wir die Fähigkeit zum Miteinander. Der Neurologe und Internist Walter Möbius und der Autor Christian Försch zeigen in diesem Buch ›7 Wege aus der Einsamkeit‹ auf. Kenntnisreich und anhand vieler Fallbeispiele beschreiben die Autoren, wie man sich aus gedanklichen und emotionalen Zwängen befreit und den Prozess der Vereinsamung aufhalten und umkehren kann. Die Akzeptanz der eigenen Person und der eigenen Grenzen ist dabei ebenso wichtig wie Spielfreude, Sinnlichkeit und Neugier.

autor

© Michael Lübke

Prof. Dr. Walter Möbius, geboren 1937 in Bonn, ist Facharzt für Innere Medizin und Neurologie. Seit 2002 hat er verschiedene Lehraufträge und ist als Berater für Patienten, Krankenhäuser und diagnostische Einrichtungen tätig. Er ist Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Krebshilfe.

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© Sebastian Wells

Christian Försch, geboren 1968 in Bad Kissingen, ist Buch- und Radioautor und Übersetzer aus dem Italienischen. Gemeinsam haben die beiden Autoren das Buch ›Der Krankenflüsterer‹ (DuMont 2014) veröffentlicht.

Walter Möbius
Christian Försch

7 Wege
aus der Einsamkeit
und zu einem
neuen Miteinander

 

 

 

 

Die Fallbeispiele in diesem Buch beruhen auf authentischen Begebenheiten. Zur Wahrung des Arztgeheimnisses und zum Schutz der Privatsphäre der Betroffenen sind Namen und biografische Details zum Teil verändert.

Vorwort

Dieses Buch ist das Ergebnis einer Entdeckung. Wir hatten uns als Autorenpaar bei der Niederschrift des Bandes »Der Krankenflüsterer« kennengelernt und wollten uns danach dem Thema »Alt und abgeschoben« widmen. Wir sammelten Geschichten von betagten Menschen, die in Pflegeheimen lebten und um die sich niemand wirklich kümmerte, die vor sich hin siechten oder sich in Verzweiflung und Perspektivlosigkeit das Leben nahmen. Dabei merkten wir schnell: Das eigentliche Übel liegt tiefer als der sogenannte »Pflegenotstand«. Ob Heimbewohner Essen auf Rädern oder frisch gekochtes Gemüse, ob sie von einer Pflegerin zwei oder zwanzig Minuten Zuwendung am Tag bekommen, macht gravierende Unterschiede aus, aber die eigentliche Tragik dieser Menschen ist meist die tiefe Einsamkeit, in der sie leben.

Als wir dann anfingen, Menschen zu dem Thema zu befragen, schienen wir plötzlich offene Türen einzurennen. Überall, nicht nur bei den Senioren im Heim, auch bei den Pflegern, bei Kindern und Enkeln. Jeder hatte Geschichten beizutragen, schien nur darauf gewartet zu haben, jemand davon zu erzählen. Wir merkten, dass die Einsamkeit sich durch alle Lebensabschnitte und Gesellschaftsschichten zieht. Sie betrifft keinesfalls nur alte Menschen, Kranke oder andere »Randgruppen«, die, aus welchen Gründen auch immer, aus den verlässlichen sozialen Netzwerken gefallen sind. Ob Rentner, deren Leben in geregelten Bahnen verlaufen. Kinder, die eingebettet in ihrer Familie und Schule gut zu funktionieren scheinen. Ob Arbeitslose oder Leistungsträger auf dem Zenit ihres Erfolges, ob alleinerziehende, pflegende Angehörige, die in Alkoholismus, Depression, Burn-out driften: Sie alle können an Einsamkeit leiden. Viele von ihnen haben niemanden, dem sie sich anvertrauen, den sie um praktische oder moralische Unterstützung bitten können, niemanden, der ihr Leid teilen, verstehen, durch Anteilnahme mildern kann. Sie fühlen sich abgeschnitten von den anderen und bald auch von sich selbst.

Einsamkeit bleibt oft unerkannt, wird versteckt, sie ist hinterhältig, allgegenwärtig. Sie treibt seltsame Blüten, sodass Menschen über Internetplattformen und Agenturen nicht nur Lebens- und Sexualpartner suchen, sondern auch Kuschelpartys und professionelle Zuhörer, die ihre Aufmerksamkeit vermieten. In England hat man jüngst in einem Ministerium eine Stelle zur Bekämpfung der Einsamkeit eingeführt, in Deutschland will man nachziehen. Immerhin, das Problem wird endlich nicht mehr totgeschwiegen.

Es schien, als sei ein Tabu gebrochen. Auch zwischen uns. Wir fingen an, über unsere eigenen Erfahrungen mit Einsamkeit zu reden, und stellten fest: Wir kennen das Gefühl nur zu gut. Wie wir beide Einsamkeit erlebt und immer wieder überwunden haben, gehört zur Geschichte und den Geschichten dieses Buches.

Ich, Christian Försch, habe als Kind unter der Isolation des Zugezogenen gelitten, ich habe mich in dem unterfränkischen Dorf immer und überall fremd gefühlt, in der Kirchengemeinde, der Fußballmannschaft, der Klasse – und letztlich auch in der eigenen Familie.

Und ich, Walter Möbius, erlebte Einsamkeit schon als Siebenjähriger. Im Zuge der Kinderlandverschickung wurde ich zwei Tagesreisen von meiner Familie entfernt auf einen Bauernhof in Schlesien verbracht. Als ich dann später Arzt wurde und sowohl in der Psychiatrie wie in der Inneren Medizin arbeitete, musste ich immer wieder versuchen, Patienten nicht nur aus ihrer Krankheit, sondern auch aus ihrer Isolation zu lotsen.

Ist also Einsamkeit ein universelles Gefühl, so alt wie die Menschheit? Natürlich, das ist sie. Sie gehört zum Menschsein, ist ein Gefühl, das jeder Mensch in seinem Leben erfährt. Und doch hat sie in unserer Gesellschaft eine neue Qualität angenommen. Die Anforderungen durch unsere immer effizientere, kurzlebigere Arbeitswelt führen zu Dauerstress, zu Burn-out und in die Einsamkeit.

»Wir leben in einer Zeit, in der der Zusammenhalt unserer Gesellschaft sich immer schneller aufzulösen scheint, in der Egoismus, Gewalt und Niedertracht die Qualität unseres Gemeinschaftslebens zu untergraben scheinen«, schrieb der Amerikaner Daniel Goleman schon vor zwanzig Jahren in seinem Buch »EQ. Emotionale Intelligenz«1.

Innerhalb weniger Generationen ist unser Gemeinwesen, das sich einst in Kirchengemeinden, in Großfamilien, Vereinen, Blaskapellen, in gemeinsamer Arbeit auf dem Feld oder in Werksschichten versammelt, das gemeinsam gebetet, gesungen und gegessen hat, in Monaden zerfallen. Wir werden in einem reißenden Daten- und Optimierungsstrom über den Globus gespült, von den Konzernen auf fremde Kontinente gebeamt. Oder wir haben den Zeitgeist verinnerlicht und sind selbst ständig auf der Suche nach dem nächsten Karrieresprung, dem smarteren Partner, dem günstigeren Standort, dem nächsten Kick. Die Welt teilt sich in Gewinner und Verlierer, jeder kämpft gegen jeden, jenseits der Bettkante beginnt das Feindesland. Oder diesseits? Der Stress setzt schon im Vorschulalter ein, wo Kleinkinder getestet, selektiert, optimiert werden, und er endet in den Verwahranstalten der Gebrechlichen, die keine Wirtschaftsleistung mehr erbringen und deshalb als »Ausschuss« unserer Gesellschaft empfunden und an den Rand geschoben werden.

Zudem ist Einsamkeit in unserer Welt der effizienten Macher ein Makel, ein Tabu. Das gute Netzwerk ist zum Aushängeschild geworden, Teil des Sozialstatus. Wer einräumt, einsam zu sein, beichtet einen Defekt. Er stigmatisiert sich, treibt die anderen zum Rückzug, wird noch einsamer.

»Einsamkeit erzeugt das Bedürfnis nach Anschluss, aber auch Gefühle von Bedrohung und Furcht. Mit zunehmender Intensität dieses Erlebens bewirkt das Gefühl des Bedrohtseins die Tendenz, anderen kritisch gegenüberzustehen«2, hat der Einsamkeitsforscher John T. Cacioppo festgestellt. Ein Teufelskreis. Der Teufelskreis der Vereinsamung.

Sieht man sich zum Beispiel die Persönlichkeitsprofile der Amokläufer an, so wird man auf den ersten Blick wenige Gemeinsamkeiten zwischen ihnen finden. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch: Sie sind fast ausnahmslos männlich, kommen aber aus den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus. Und alle litten vor ihrer Tat unter Einsamkeit, unter der totalen Isolation des Mobbingopfers, des entwurzelten Immigranten oder des vom Leistungsdruck Überforderten (wie etwa der Pilot Andreas Lubitz, der im März 2015 die Germanwings-Maschine mit Absicht gegen die Felsen steuerte). Zum IS und dessen Rekrutierungserfolgen in unserer Gesellschaft schreibt der Psychotherapeut und Neurologe Joachim Bauer: »Bevor sich die Betroffenen einer Terrorgruppe angeschlossen hatten, (…) handelte es sich durchweg um fern von ihrer Heimat unter sozialer Isolation lebende und dringend nach Gemeinschaft suchende junge Leute arabischer oder fernöstlicher Herkunft. Da ihnen aber diese Gemeinschaft in den westlichen Ländern, in denen sie lebten, offenbar versagt blieb, hatten sie der Studie zufolge den Anschluss dann im Umfeld radikalisierter religiöser Gruppierungen gefunden …«3

Aber wie kommt man der Einsamkeit bei, wenn sie sorgfältig versteckt wird? Wie kann man den Teufelskreis der Vereinsamung aufbrechen?

Mit unserem Buch wollen wir zweierlei liefern: Diagnose und Therapie. Das heißt, wir wollen die Anzeichen von Vereinsamung benennen, um Kriterien für eine Selbsteinschätzung zur Verfügung zu stellen. Vor allem aber wollen wir konkrete Hilfestellungen zur Überwindung der Einsamkeit geben.

Unsere neoliberale Umwelt, die Profit über menschliche Werte stellt, lässt sich vom Einzelnen nicht stoppen. Und doch sind wir nicht machtlos. Wir leiden unter diesem Druck, und wir müssen uns dagegen wehren. Um unser aller Leben lebenswerter zu gestalten und der »epidemischen Verbreitung«4 von Einsamkeit entgegenzuwirken. Wir glauben, wie Mahatma Gandhi, dass, wer die Welt verändern will, bei sich selbst anfangen muss. Es geht um die Gesundheit des Einzelnen, zu der die Erfahrung von Gemeinschaft nötig ist. Es ist gut, dass der Staat das Problem angehen möchte. Aber mit Mehrgenerationen-WGs, Kulturinitiativen und veränderter Infrastruktur wird man nicht alle Betroffenen erreichen. Denn wer erst einmal in der Vereinsamung gefangen ist, nimmt Hilfe oft nicht mehr an. Deshalb wollen wir mit diesem Buch beim Einzelnen ansetzen, wollen helfen, das Auge zu schärfen und das Herz zu öffnen, wollen praktische Mittel an die Hand geben, mit denen man sich aus der Einsamkeit lösen und eine neue Kultur des Miteinanders entwickeln kann. Denn ebenso wie Einsamkeit »ansteckend« sein kann, so ist es auch das Gegenteil: das Miteinander. So wie die Einsamkeit überall lauert, kann man ihr auch überall entgegenwirken. Man kann seine emotionale Intelligenz und sozialen Fähigkeiten schulen, man kann sich gegen Stress und Leistungsdruck wappnen und Neugier, Offenheit und den Sinn für Gemeinschaft stärken. Manchmal sind ein freundliches Wort, eine Geste der Zuwendung, ein paar Sekunden Aufmerksamkeit schon Impulse, die neue Zuversicht in einem Menschen wecken. Unsere sozialen Fähigkeiten sind wie Muskeln, sie werden gesteuert über neurobiologische Vorgänge, die sich trainieren lassen. Unser Buch liefert dafür Trainingsansätze.

Der erste Schritt, nämlich sich zu öffnen, ist immer riskant. Wir wollen Wege aufzeigen, mit denen man den Mut dazu aufbringt und das Risiko, noch weiter verletzt und von der Gemeinschaft ausgesondert zu werden, verringert. Und wir wollen erläutern, wie die Gesellschaft, wie Institutionen, aber auch Mitmenschen Hilfestellung geben können, um Einsame aus ihrer Isolation zu befreien.

Die Leistungs- und Kommunikationsgesellschaft hat einen modernen Helden kreiert: stark, produktiv, optimistisch, flexibel, mobil und unabhängig. Der Prototyp des Einzelkämpfers. Eine Illusion. Unser Buch ist ein Plädoyer für die Beziehungsgesellschaft, in der wir unsere sozialen Instinkte nicht mehr nur als evolutionären Ballast einer Ära ansehen, in der wir außerhalb der Gemeinschaft verhungert, erfroren oder von Raubtieren zerrissen worden wären. Wir sind auch heute noch soziale Wesen, die nicht nur ein natürliches Bedürfnis nach Gemeinschaft empfinden, sondern Lebenssinn und Glück aus der Resonanz durch andere beziehen. Unser Gemeinschaftssinn ist kein Hemmschuh für Fortschritt. Im Gegenteil.

Die 7 Wege

In den sieben zentralen Kapiteln dieses Buches finden Sie Fallbeispiele, die meist zeigen, wie man in die Einsamkeit geraten kann. Am Ende jeden Kapitels stehen Wegweiser, die helfen sollen, diese Dynamik umzukehren.

Da Einsamkeit viele Gesichter hat, könnte es sein, dass nicht alle dieser Empfehlungen für Sie realisierbar oder hilfreich sind. Je nach Lebenslage, Alter, Mobilität, Grad der Einsamkeit, werden die Wegweiser für Sie unterschiedlich nützlich sein. Einige zielen eher auf Prophylaxe ab, andere auf eine Befreiung aus einer inneren Einsamkeit, wieder andere zeigen Wege aus der sozialen Isolation mit konkreten Ratschlägen. Dabei wollen wir auch Impulse zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit geben, denn ein selbstbewusster und authentischer Mensch kann leichter tiefe, befriedigende Bindungen eingehen und mit Rückschlägen umgehen. Soziale Einbindung ist nichts Feststehendes, sondern begleitet unser ganzes Leben.

Verlangen Sie nicht zu viel von sich, sondern konzentrieren Sie sich auf realistische Etappenziele. Sie sollten alle Wege aus der Einsamkeit in kleinen Schritten gehen und sich für jede bewältigte Aufgabe belohnen. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine gute und erfüllte Reise.

Wege
aus der Einsamkeit

Was ist Einsamkeit?

Der Einsame ist nur der Schatten eines Menschen,
und wer nicht geliebt wird,
ist überall und mitten unter allen einsam.

George Sand

Es gibt viele Arten von Einsamkeit. Doch bevor wir uns diese genauer ansehen, möchte wir zunächst eine Grundfrage klären: Was ist eigentlich Einsamkeit?

Jeder von uns hat sie bereits erlebt und wird sagen: Na ist doch klar. Einsamkeit, das ist … das unangenehme Gefühl, isoliert, abgeschnitten von anderen zu sein.

Einsamkeit erlebt der Student in der fremden Stadt in der Anonymität des Universitätsbetriebs. Das Kind, das in eine neue Klasse kommt. Der Pubertierende, der sich von seinen Eltern nicht mehr verstanden fühlt, ja, der sich selbst nicht mehr versteht und sich beim Blick in den Spiegel verwundert fragt: »Das soll ich sein?« Der Ehepartner, der plötzlich in der halb leeren Wohnung sitzt, weil der andere ihn verlassen hat. Freiwillig oder nach einer schweren Krankheit. Vielleicht ist er noch physisch anwesend, aber die Gespräche sind schon vor Jahren versiegt, das Gefühl füreinander verloren gegangen. Es gibt Menschen, die sich ihr Leben lang einsam fühlen, gerade in Gesellschaft. »Man ist immer am einsamsten in großen Städten, am Hofe, im Parlamente, unter seinen Kollegen; dort fühlt man sich mitunter wie ›unter Larven die einzige fühlende Brust‹. Aber im Walde fühle ich mich niemals einsam«, sagte Otto von Bismarck.

Im Durchschnitt verbringen wir rund achtzig Prozent unserer Zeit mit anderen. Doch die Anzahl der Menschen, mit denen wir uns umgeben, und die Häufigkeit der Begegnungen sind nicht der Gradmesser für unser Gefühl von Einsamkeit.

Der Leuchtturmwärter auf der Insel kann weniger einsam sein als der Manager, der rund um die Uhr von Mitarbeitern, seiner Frau und Kindern, vielleicht gar einer Geliebten umgeben ist. Das Bedürfnis nach Gesellschaft ist individuell unterschiedlich. Die Ansprüche, die wir stellen, sind es auch.

Worin besteht dann also Einsamkeit? Es kommt nicht auf Anzahl, sondern Qualität der Sozialkontakte an, darauf, wie sehr uns diese Kontakte erfüllen. Spüren wir einen Mangel, dann leiden wir unter Einsamkeit. Sie ist das schmerzhafte Gefühl, dass unsere Sehnsucht nach Bindung unbefriedigt bleibt. Wichtiger als die Anwesenheit anderer Menschen ist also Bindung. Auch über große räumliche Distanzen, ja Zeiträume hinweg.

Wenn sich dagegen das Gefühl des Mangels einstellt, kann dies an verschiedenen Faktoren liegen: Vielleicht haben wir besonders hohe Ansprüche an Bindung, reagieren besonders empfindlich auf Signale, die uns Distanz zu anderen weisen. Vielleicht leben wir in Beziehungen, in denen wir uns nicht verstanden und gesehen fühlen. Und wenn wir dies äußern, reagiert das Gegenüber zudem noch mit Verständnislosigkeit. Dann fühlen wir uns noch einsamer.

Doch wenn Einsamkeit Leid verursacht, wenn sie uns hemmt, stresst und in die Defensive treibt – wozu gibt es sie dann? Welchen evolutionären Zweck erfüllt sie?

Das Asch-Experiment

Edward war nervös, als er den Raum betrat. Er hatte sich in einer fremden Fakultät für einen Sehtest gemeldet, weil es ein kleines Honorar dafür gab. Sein Augenlicht war exzellent, aber trotzdem sah er sich unsicher um: ein normaler Seminarsaal. An hufeneisenförmig aufgestellten Tischen saßen sieben Studenten, die er nicht kannte. Sie schienen sich nicht besonders für ihn zu interessieren.

Der Professor kam herein, ein freundlicher Herr, der kurz den Ablauf erklärte. Der Test sei simpel. Jeder würde zwei Karten bekommen. Auf der einen Karte war ein einzelner Strich, auf der anderen drei von unterschiedlicher Länge. Einer der drei Striche stimmte mit der Länge des Einzelstrichs überein. Man sollte ihn benennen.

Edward bekam seine Karten. Er drehte sie um und verglich die Striche. Eindeutig, dachte er, der mittlere auf der Dreierkarte war so lang wie die Linie auf der anderen Karte.

Der Professor bat den ersten Studenten um die Lösung. »Der linke«, sagte dieser.

Was?, dachte Edward, das kann doch nicht sein.

Der nächste Student wurde befragt. »Der linke«, sagte er ebenfalls. Edward suchte Blickkontakt zu seinem Nachbarn. Doch dieser schaute ihn nur gleichgültig an.

Die Studenten gaben, der Reihe nach, dieselbe Antwort: »Der linke.« Edward prüfte die Linien noch einmal genauer, verschob die Karten.

Gleich wäre er an der Reihe. Was sollte er sagen? Sein Blick sprang hastig hin und her zwischen den Karten, den Studenten, dem Professor.

»Und Sie?«, fragte der Professor. »Was meinen Sie?«

Edward zögerte, nahm seinen Mut zusammen und sagte: »Der mittlere.« Stille. Keiner reagierte, keiner protestierte. Und das verwirrte Edward noch mehr. Wunderten sich die anderen nicht?

Die nächste Serie wurde ausgegeben. Diesmal war die rechte Linie auf der einen Karte genauso lang wie die Einzellinie. Edwards Puls beruhigte sich. Bis der erste Student drankam und sagte: »Die linke.«

Bei der sechsten Runde konnte Edward sich nicht mehr richtig konzentrieren. Die Karten in seiner Hand zitterten. Die linke, dachte er, nein, die mittlere. »Die linke«, sagte der erste Student. Die linke?, dachte Edward. Ja, kann sein. »Die linke«, sagte der zweite Student. »Die linke«, sagte der dritte, der vierte. Und jetzt sah es auch Edward. Sie hatten recht. Wie hatte er nur zweifeln können? Er hatte die Karte schräg gehalten, in der richtigen Perspektive erkannte man es: »Die linke«, sagte er – und fühlte sich sofort besser.

Was die Testperson, die wir in unserer freien Nacherzählung Edward genannt haben, nicht wusste: Sie nahm nicht an einem Sehtest teil, sondern an einem psychologischen Experiment.

Die ganze Situation war eine Inszenierung, mit Schauspielern, die nur eine Aufgabe hatten: eine falsche Antwort zu geben. Systematisch. Alle dieselbe. Edward sollte mit seiner (richtigen) Meinung isoliert werden.

Solomon Asch, so hieß der Professor, wollte nämlich untersuchen, wie Gruppenzwang wirkt. Und das erschreckende Ergebnis war, dass Menschen, die mit ihrer Meinung allein dastehen, irgendwann umfallen. Sie passen sich der Mehrheit an, weil sie den Stress nicht ertragen, isoliert zu sein.

Im Laufe der Jahrzehnte hat man den Test erweitert und durch Hirnscans geschärft. Dabei ist Erstaunliches zutage getreten. Es stimmt, dass die meisten Menschen sich der Mehrheit anpassen. (Etwa ein Viertel bleibt standhaft, lässt sich nicht von der eigenen Meinung abbringen.) Allerdings geschieht dies wohl nicht aus »Falschheit« und »Feigheit«. Fast noch gespenstischer ist nämlich, dass das Gehirn die Informationen des Sehnervs so umzugestalten scheint, dass man irgendwann tatsächlich, unter dem Einfluss der anderen, das Falsche »sieht«.

Allerdings hat man bei den Tests noch etwas Verblüffendes festgestellt: Gibt es einen weiteren »Studenten«, der mit seiner Meinung von der Mehrheit abweicht – und diese Meinung muss nicht einmal mit Edwards übereinstimmen –, dann fällt Edward nicht um. Dann sieht und sagt er konsequent das Richtige.

Wir können also festhalten: Allein gegen alle, das hält keiner aus. Mit einem einzigen Verbündeten kann man es mit dem Rest der Welt aufnehmen.

Dass wir Einsamkeit als derart schmerzlich und verstörend empfinden, beweist, dass wir soziale Wesen sind. Immer und überall. Tatsächlich können wir Erfahrungen nur sammeln, wenn wir sie mit anderen abgleichen. Schon ein Kleinkind, das sich am Tisch stößt, blickt zuerst in das Gesicht seiner Mutter, um das Ausmaß seines Malheurs zu verstehen. Erst danach fängt es, entsprechend heftig, zu weinen an. Auch als Erwachsene entschlüsseln wir die Welt, ja uns selbst, nur im Zusammenspiel mit anderen. Instinktiv richten wir unser Verhalten nach den Signalen der Mitmenschen aus. In ihren Bewegungen, in ihrer Mimik und Gestik, im Tonfall erkennen wir, ob wir in Gefahr sind, ob wir attraktiv, langweilig, geschätzt oder bizarr sind. Sie geben uns Wärme und Halt, ohne die wir nicht existieren können. Fehlt die Resonanz im sozialen Raum, dann leiden wir. Es kann so schlimm sein, dass wir daran sterben.

»Zu den eindrucksvollsten Beispielen, was ein gezielter und vollständiger Ausschluss aus dem sozialen Spiegelungs- und Resonanzraum bewirken kann, zählt der Voodoo-Tod in einigen sogenannten primitiven Völkern. (…) Übertritt in einem solchen Volk ein Stammesmitglied ein heiliges Verbot, ein Tabu, dann führt dies zu einem Urteil, das den Betroffenen vollständig aus der Gemeinschaft ausschließt. Man gibt ihm den Auftrag zu sterben. Diese allumfassende Verstoßung hat zur Folge, dass der verzweifelte Betroffene ohne sonstige äußerliche Einwirkung tatsächlich innerhalb kurzer Zeit stirbt«, schreibt der Psychotherapeut Joachim Bauer5.

Innere und äußere Einsamkeit

Sophie saß beim Frühstück, als Dr. Welsch, der Leiter des Altenstifts, an ihre Tür klopfte. Sie freute sich – wie über jeden Besuch.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Dr. Welsch.

»Gut.« Sophie war 92 Jahre alt, rüstig und luzide.

»Keine Anzeichen von Übelkeit, Schwäche, Appetitlosigkeit?«

»Nein. Wieso?«

»Leider grassiert bei uns das Norovirus, und wir müssen die Bewohner unter Quarantäne stellen.«

Das gefiel Sophie ganz und gar nicht. Eine Quarantäne hatte sie schon einmal erlebt, vor vielen Jahren auf einem Ozeandampfer im Hafen von Marseille. Vierzig Tage in einer Kabine, von der aus sie das Treiben auf den Kais und das Flattern der weißen Segel hatte beobachten können, selbst in Gesellschaft ihres Mannes Reinhard eine zermürbend lange Zeit.

»Bitte melden Sie umgehend verdächtige Symptome. Wir haben einen Notdienst eingerichtet und werden Ihnen das Essen aufs Zimmer bringen, das Sie bis auf Weiteres nicht verlassen dürfen.«

Sie hatte den Zweiten Weltkrieg überlebt, die Flucht aus Ostpreußen, eine Rebellion in Namibia und zwei Hüftoperationen. Da würde sie ein Norovirus nicht kleinkriegen, dachte Sophie.

Sie sollte sich irren.

Nachdem Dr. Welsch gegangen war, machte sie einen Plan. Dass sie am nächsten Tag nicht zum Bridgespielen durfte, war für sie der härteste Schlag. Denn sie liebte es, wenn ihr türkischer Lieblingsfahrer sie mit seinem Mercedes in die Innenstadt chauffierte und ihr dabei die schönsten Komplimente machte. Dieses Ritual ließ sie einen Hauch der großen weiten Welt spüren, es war Sauerstoff für eine Woche. Sie würde stattdessen ihre Kinder anrufen. Sie würde fernsehen und lesen und natürlich mit Herta reden, ihrer Freundin im Heim.

»Wer weiß, wie lange die uns einsperren«, jammerte Herta, als wäre sie nicht zwei Türen weiter, sondern irgendwo in einem Straflager.

»Es geschieht nur zu unserem Besten. Wir können außerdem reden, solange wir wollen.«

Die beiden Freundinnen hätten unterschiedlicher kaum sein können. Sophie entstammte ostpreußischem Landadel, Herta einer westdeutschen Fleischer-Dynastie. Sophie mochte Hertas spontane, manchmal etwas direkte Art. Sie selbst war in einem weltoffenen Haus erzogen worden, inmitten von polnischen Melkerinnen und englischen Gouvernanten, litauischen Viehhändlern und Berliner Beamten. Später hatte sie mit ihrem Mann, einem Auslandskorrespondenten und Dokumentarfilmer, in Afrika und Lateinamerika gelebt. Sie hatte einen Blick für die Eigenheiten und Schwächen der Menschen, auch für ihre eigenen. Aber dieser Blick war voller Humor und Wohlwollen.

Nach drei Tagen stieg die Temperatur plötzlich auf 37 Grad. Sophie schloss die Vorhänge und ließ die Rollläden herab, weil ihre Fenster auf der Südseite lagen. Sie hörte die Grillen zirpen wie in ihrer Kindheit, wenn der süßliche Duft des reifen Weizens über den Feldern lag. Sie bekam Heimweh nach einer Zeit, die nie zurückkommen würde.

Ihr Hausarzt kam vorbei, untersuchte sie und redete ihr ins Gewissen: »Sie müssen mehr trinken. Das vergessen Menschen in Ihrem Alter zu oft.«

»Was haben Sie gegen mein Alter?«

»Nichts.«

»Vergesslich bin ich auch nicht. Fragen Sie im Bridgeklub.«

Sie rief ihre Freundin an, aber Herta wirkte deprimiert. »Hast du dich angesteckt?«, fragte Sophie.

»Mich macht das Alleinsein verrückt.«

»Soll ich rüberkommen?«

»Nein, das dürfen wir nicht.«

»Merkt doch niemand.«

»Ich habe auch Durchfall.«