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Auch in einer Stadt, in der scheinbar alles möglich ist, muss man sich sein Glück leisten können: Louise ist Ende zwanzig und versucht, sich irgendwie in New York durchzuschlagen. Eigentlich wollte sie Schriftstellerin werden – jetzt lebt sie in Brooklyn, hat mehrere miserabel bezahlte Nebenjobs und wird von permanenten Selbstzweifeln geplagt. Eines Tages begegnet sie Lavinia. Und die hat wirklich alles: Sie wohnt auf der Upper East Side, ist wild, frei und wunderschön. Doch vor allem ist sie reich. Ihr glamouröses Leben teilt sie gern – auf sämtlichen sozialen Netzwerken, aber auch mit Louise. Die beiden ungleichen Frauen werden Freundinnen. Louise wird auf Partys herumgereicht, lässt sich von Lavinia einkleiden, zieht bei ihr ein – sie verfällt Lavinia und ihrer Welt. Auch wenn sie nicht das Geld hat, um in ihr zu bestehen. Irgendwann beginnt sie, die Freundin zu bestehlen. Und um sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien, wird sie noch viel weiter gehen. Muss Lavinia sterben, damit Louise leben kann? Tara Isabella Burton erzählt von einer toxischen Freundschaft und von der Macht sozialer Abgründe: ein so intensiver wie spannender Roman über eine Welt der Eitel- und Oberflächlichkeiten, schnell, klug und unverwechselbar.

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© Rose Callahan

TARA ISABELLA BURTON lebt als Journalistin in New York. Sie wurde für ihre Reportagen mit dem ›Shiva Naipaul Award for Travel Writing‹ ausgezeichnet und hat in Oxford in Theologie promoviert. Für die Newswebsite Vox arbeitet sie als Korrespondentin.

CLARA DRECHSLER und HARALD HELLMANN übersetzen gemeinsam aus dem Englischen, u. a. Werke von Bret Easton Ellis, Nick Hornby, Adam Thirlwell und Irvine Welsh.

Tara Isabella Burton

SO SCHÖNE LÜGEN

Roman

Aus dem Englischen
von Clara Drechsler
und Harald Hellmann

 

© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Clara Drechsler und Harald Hellmann
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Vorlage für Coverdesign: © David Mann
Satz: Angelika Kudella, Köln
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8447-6

www.dumont-buchverlag.de

 

Für Brian –
der bei diesem Abenteuer von Anfang an dabei war

1

Zur ersten Party, auf die Lavinia sie mitnimmt, soll Louise unbedingt ein Kleid von ihr anziehen.

»Habe ich auf der Straße gefunden«, sagt Lavinia. »Ist original aus den Zwanzigern.«

Stimmt vielleicht sogar.

»Das hat irgendwer einfach weggeworfen. Ist das zu glauben?«

Louise glaubt es nicht.

»Wahrscheinlich dachten die alle, es wäre bloß irgendein alter Fetzen.« Sie stülpt die Lippen vor und trägt Lippenstift auf. »Und das ist das Problem mit den Leuten. Kein Mensch macht sich mehr klar, was die Dinge bedeuten.«

Lavinia nestelt an Louises Kragen herum. Lavinia bindet Louise eine Schärpe um die Taille.

»Na jedenfalls, kaum hatte ich es gesehen – ich hätte – ich hätte niederknien können! Den Boden küssen – küssen Katholiken den Boden, oder nur Matrosen? Na, jedenfalls hätte ich am liebsten meinen Mund an Ort und Stelle auf einen der festgetretenen Kaugummis auf dem Bürgersteig gepresst und gerufen: Danke, Gott, dass die Welt heute mal Sinn ergibt!«

Lavinia pudert Louises Wangen. Lavinia trägt Rouge auf. Lavinia redet weiter.

»Irgendwie ist das alles so verdammt perfekt, verstehst du? Irgendwie – in irgendeinem Brownstone im East Village stirbt eine einsame, alte Frau. In den letzten zwanzig Jahren hat sie kein Mensch besucht, und jetzt schmeißen sie ihren ganzen Scheiß einfach auf die East Ninth Street und bei Sonnenuntergang – da komme ich anspaziert. Diese alte Frau und ich haben, ohne uns je begegnet zu sein, im Abstand von neunzig Jahren zwei traumhafte, poetische Nächte erlebt, in denen wir dasselbe Kleid trugen – oh, Louise, kannst du es nicht förmlich riechen

Lavinia hält Louise die Spitze unter die Nase.

»In so einem Kleid könnte man seiner großen Liebe begegnen«, sagt Lavinia.

Louise atmet tief ein.

»Und weißt du, was ich dann gemacht hab?«

Lavinia malt Louise mit dem Augenbrauenstift einen Schönheitsfleck.

»Ich habe mich bis auf die Unterwäsche ausgezogen – nein, halt, den BH habe ich auch ausgezogen. Ich bin in das Kleid geschlüpft – mein eigenes habe ich auf der Straße liegen lassen –, und dann bin ich den Rest der Nacht darin rumgelaufen, den ganzen Weg bis zur Upper East Side.«

Lavinia knöpft Louise das Kleid zu.

Jetzt lacht Lavinia. »Wenn du dich an mich hältst«, sagt sie, »werden dir auch solche Dinge passieren, das verspreche ich dir.«

Lavinia macht Louise die Haare. Zuerst versucht sie dasselbe wie bei sich selbst: wilde, aufspringende Locken. Aber Louises Haar ist zu platt und zu glatt, darum zwirbelt sie es zu einem festen, sauberen Knoten.

Lavinia nimmt Louises Gesicht in beide Hände. Sie küsst sie auf die Stirn. Dann brüllt sie auf.

»Gott«, sagt Lavinia. »Du siehst so schön aus. Ich ertrage es nicht. Ich könnte dich umbringen. Los, wir machen ein Foto.«

Sie holt ihr Handy heraus und benutzt es als Spiegel.

»Stellen wir uns vor die Pfauenfedern«, sagt Lavinia. Louise gehorcht.

»Schmeiß dich in Pose.«

Louise weiß nicht, wie.

»Oh bitte!« Louise wedelt mit dem Handy. »Das kann jeder. Du weißt schon. Brust raus, Po raus. Den Kopf ein bisschen neigen. Tu so, als wärst du ein Stummfilmstar. Genau. Nein, nein, Kinn runter. Genau so!«

Lavinia rückt Louises Kinn zurecht. Sie macht mehrere Fotos.

»Das letzte ist gut«, sagt Lavinia. »Wir sehen super aus. Das poste ich.« Sie hält Louise das Handy hin. »Welchen Filter soll ich nehmen?«

Louise erkennt sich selbst nicht wieder.

Glatte, glänzende Haare. Dunkle Lippen. Hohe Wangenknochen. Sie trägt ein Charleston-Kleid und sieht mit den Katzenaugen und falschen Wimpern aus, als gehöre sie nicht in dieses Jahrhundert. Als sei sie nicht real.

»Ich glaube, wir nehmen Mayfair. Das gibt so einen Schimmer auf den Wangenknochen. Mein Gott – sieh dich an! Sieh. Dich. An. Du bist eine Schönheit.«

Lavinia hat das Foto untertitelt: In Erniedrigung vereint.

Louise findet das originell und witzig.

Louise denkt: Ich bin nicht ich selbst.

Gott sei Dank, denkt Louise. Gott sei Dank.

Sie fahren mit dem Taxi nach Chelsea. Lavinia zahlt.

Heute ist Silvester. Louise kennt Lavinia seit zehn Tagen. Es waren die besten zehn Tage ihres Lebens.

Normalerweise sehen die Tage von Louise nicht so aus.

Sondern so:

Sie wird wach. Und würde am liebsten liegen bleiben.

Höchstwahrscheinlich hat sie nicht viel geschlafen. Sie ist Barista in einem dieser Cafés, in denen abends Wein ausgeschenkt wird, schreibt für eine Internet-Shoppingseite namens GlaZam, die Billigkopien teurer Handtaschen verkauft, und gibt außerdem SAT-Vorbereitungskurse. Ihr Wecker klingelt mindestens drei Stunden bevor sie irgendwo antreten muss, denn sie lebt im tiefsten Sunset Park, zwanzig Gehminuten bis zur Bahn, seit acht Jahren illegal zur Untermiete in derselben kakerlakenverseuchten Bude, und die Bahn fällt öfter aus, als sie fährt. Wenn sie alle paar Monate anrufen, fragen Louises Eltern jedes einzelne Mal, warum sie sich so stur weigert, zurück nach New Hampshire zu ziehen, wo dieser reizende Virgil Bryce mittlerweile die Buchhandlung leitet und immer wieder nach ihrer neuen Nummer fragt. Louise legt jedes einzelne Mal an dieser Stelle auf.

Sie stellt sich auf die Waage. Wenn sie ihre Periode hat, wiegt Louise knapp zweiundfünfzig Kilo. Sie schminkt sich mit großer Sorgfalt. Zieht ihre Brauen nach. Checkt ihren Haaransatz. Dann checkt sie ihren Kontostand (vierundsechzig Dollar und dreiunddreißig Cent). Sie kaschiert kleine Hautunreinheiten.

Sie schaut in den Spiegel.

Heute, sagt sie – und zwar laut (sie hatte mal eine Therapeutin, die ihr gesagt hat, es sei gut, solche Dinge laut auszusprechen) – ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.

Sie ringt sich ein Lächeln ab. Auch das hat die Therapeutin ihr geraten.

Louise geht die zwanzig Minuten zur U-Bahn. Sie ignoriert den Typen, der sie jeden Morgen belästigt, ihr nachruft und wissen will, wie ihre Muschi riecht. Dabei ist er im Grunde der einzige Mensch, mit dem sie regelmäßig Kontakt hat. Sie fährt nach Manhattan und betrachtet ihr Spiegelbild in den dunklen U-Bahn-Scheiben. Als Louise noch dachte, sie sei dazu bestimmt, eine große Schriftstellerin zu werden, hatte sie immer ein Notizbuch dabei, um auf dem Weg zur Arbeit schreiben zu können, aber jetzt ist sie zu müde dazu, und außerdem wird sie wahrscheinlich niemals Schriftstellerin werden, darum liest sie stattdessen trashige Misandry!-Artikel auf ihrem Handy, und manchmal beobachtet sie die Leute. (Louise beobachtet gern Leute; sie findet das beruhigend; wenn du dich lange genug auf das konzentrierst, was mit anderen nicht stimmt, fragst du dich nicht mehr ganz so oft, was mit dir nicht stimmt.)

Louise geht arbeiten – als Barista, für GlaZam oder sie gibt einen SAT-Kurs.

Die Kurse sind ihr am liebsten. Ihr überaus gepflegter Mid-Atlantic-Zungenschlag, ihr überaus gepflegtes, blondiertes, zu einem Knoten hochgestecktes Haar und die beiläufige Erwähnung, dass sie auf einer Schule in Devonshire, New Hampshire, war, bringen ihr achtzig Dollar die Stunde ein und das befriedigende Gefühl, den Leuten ein Schnippchen geschlagen zu haben. Wäre Louise tatsächlich auf der Devonshire Academy gewesen, einer elitären Privatschule, und nicht auf der schnöden öffentlichen Highschool, könnte sie zweihundertfünfzig Dollar nehmen, aber Eltern, die zweihundertfünfzig Dollar und mehr blechen können, schauen auch genauer hin.

Nicht, dass viele Leute genau hinschauen. Mit sechzehn hatte Louise eine Zeit lang die Angewohnheit, sehr früh aus dem Haus zu gehen, um im Speisesaal der Academy zu frühstücken. Ganze drei Monate kam sie damit durch, saß da und guckte sich die Leute an, ehe das Ganze jemandem auffiel, und selbst da war es nur ihre Mutter, die sie erwischte und ihr Hausarrest gab, und als sie sich eigentlich wieder frei hätte bewegen können, hatte sie über den AOL-Instant-Messenger-Chat Virgil Bryce kennengelernt, der es nicht mochte, wenn sie irgendwo ohne ihn hinging.

Louise macht Feierabend.

Sie schaut sich ihr Spiegelbild auf dem Handy an, mehrmals, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da ist. Sie guckt kurz bei Tinder rein, auch wenn sie nur selten antwortet, wenn sie ein Match hat. Da war mal ein Typ, der online einen total feministischen Eindruck machte, aber eben auch in Beziehungsanarchie lebte; und dann einer, der sexuelle Marotten hatte, die ihr an Missbrauch zu grenzen schienen, obwohl sie nie ganz sicher war; und dann einer, der wirklich richtig toll war, aber nach zwei Monaten abrupt jeden Kontakt mit ihr abbrach. Manchmal denkt Louise darüber nach, sich auf etwas Neues einzulassen, aber irgendwie rennt man damit auch nur ins Unglück.

Wenn Louise in der Woche Geld bekommt, geht sie in eine richtig schicke Bar: im Karree zwischen der Clinton Street und der Rivington Street oder auf der Upper East Side.

Sie bestellt sich den teuersten Cocktail, den sie sich leisten kann (eigentlich kann Louise sich überhaupt keine Cocktails leisten, aber ab und zu muss sie sich einfach etwas gönnen). Sie trinkt sehr, sehr langsam. Wenn sie das Abendessen ausfallen lässt (und Louise lässt immer das Abendessen ausfallen), wirkt der Alkohol schneller, ein Segen, denn wenn Louise betrunken ist, vergisst sie die unausweichliche Tatsache, dass sie sich eines Tages das Leben komplett versauen wird (wenn das nicht längst schon passiert ist), zum Beispiel, indem sie auf einen Schlag alle ihre Jobs verliert und aus der Wohnung fliegt oder zehn Kilo zunimmt – sie ist ja immer zu müde, um Sport zu machen –, sodass nicht mal der potenzielle Muschischnüffler noch sexuelles Interesse an ihr hat, oder sie bekommt Speiseröhrenkrebs, weil sie sich viel zu oft den Finger in den Hals gesteckt und ihr Essen ausgekotzt hat, oder eine andere, noch seltenere und ausgefallenere Form von Krebs, weil sie sich zwanghaft soundso oft in einem Badezimmer ohne Belüftung die Haare gefärbt hat; vielleicht stürzt sie sich auch selbst ins Unglück, indem sie Virgil Bryce auf sämtlichen Social-Media-Kanälen entblockt, und wenn nicht so, dann, indem sie sich auf eine Beziehung mit einem Mann einlässt, der auf Tinder einen richtig netten Eindruck gemacht hat und sie dann aber dringend retten will oder ihr sonstwie die Luft zum Atmen nimmt, und sie wird alles für ihn tun, weil allein zu sterben auch nur heißt, dass man sein Leben in den Sand gesetzt hat.

Louise wartet, bis sie halbwegs nüchtern ist (als betrunkene Frau allein in New York rumzulaufen, heißt ebenfalls, die Katastrophe herauszufordern), dann fährt sie mit der U-Bahn nach Hause. Louise schreibt zwar nicht mehr in ihr Notizbuch, aber wenn durch die rosa Brille des Restalkohols der bevorstehende Weltuntergang doch noch abwendbar erscheint, nimmt sie sich vor, morgen, wenn sie sich etwas weniger kaputt fühlt, eine Story zu schreiben.

Es heißt ja, wenn man in New York bis dreißig nichts erreicht hat, erreicht man nie etwas.

Louise ist neunundzwanzig.

Lavinia ist dreiundzwanzig.

So lernen sie sich kennen:

Lavinias Schwester Cordelia ist sechzehn. Sie geht auf ein Internat in New Hampshire – nicht die Devonshire Academy, aber eine Schule derselben Liga. Über die Weihnachtsferien besucht sie Lavinia. Ihre Eltern leben mittlerweile in Paris. Lavinia hat zufällig einen von Louises »SAT-Tutorin gesucht? STEHE JEDERZEIT ZUR VERFÜGUNG!«-Flyern im Corner Bookstore Ecke 39ste und Madison entdeckt, in dem es zu Weihnachten einen Champagnerempfang gibt, bei dem Louise sich seit drei Jahren einschleicht, nur um zu trinken und zuzusehen, wie reiche, glückliche Familien reich und glücklich sind.

»Ich fürchte, ich bin nicht die Hellste«, sagt Lavinia am Telefon. »Aber Cordy ist brillant. Und ich weiß, dass ich sie auf die schiefe Bahn befördere, wenn niemand was dagegen unternimmt. Du weißt, was ich meine. Sie braucht einen positiven Einfluss. Außerdem bleibt sie eine ganze Woche, bevor sie über Weihnachten nach Paris fliegt, und wir haben schon jede einzelne Ingmar-Bergman-DVD im Haus angeschaut, und ich weiß langsam nicht mehr, wie ich sie noch von der Straße halten soll. Ich kann dafür bezahlen. Wie viel zahlt man für so was? Sag was.«

»Hundertfünfzig Dollar die Stunde«, sagt Louise.

»Abgemacht.«

»Ich komme heute Abend vorbei«, sagt Louise.

Lavinia lebt in einer mehr als großzügig geschnittenen Wohnung in einem Haus auf der 78sten, zwischen Park Avenue und Lex Avenue. Als Louise ankommt, hört sie Opernmusik aus einem geöffneten Fenster schallen, und Lavinia singt mit, laut und falsch. So findet Louise heraus, dass Lavinias Apartment im zweiten Stock ist, ohne dass sie aufs Klingelschild gucken muss.

Lavinia hat Blumen auf jedem Fensterbrett stehen. Sie sind alle tot.

Lavinia öffnet ihr in einem ärmellosen schwarzen Kleid, das komplett aus Federn besteht. Ihr Haar reicht bis zur Taille. Es ist wirr und stumpf, und sie hat es offenbar seit Tagen nicht gekämmt, aber es hat genau den Blondton, den Louise in stundenlangen Experimenten mit Drogeriemarktprodukten zu erzielen versucht hat, nur eben von Natur aus. Sie ist nicht groß, aber dünn (Louise versucht abzuschätzen, wie dünn genau, aber die Federn sind ihr dabei im Weg), und sie fixiert Louise so durchdringend, dass Louise instinktiv einen Schritt zurückweicht: So stößt sie fast eine Vase mit toten Lilien um.

Lavinia bemerkt es nicht einmal.

»Gott sei Dank bist du da«, sagt sie.

Cordelia sitzt am Esszimmertisch. Sie trägt das Haar zu einem langen, dicken Zopf geflochten, den sie aufgerollt und festgesteckt hat. Sie schaut nicht von ihrem Buch auf.

Die Wände sind über und über mit antiken Fächern dekoriert. An einer Wand hängt ein goldbestickter Kaftan, und da steht eine Schaufensterpuppe mit einer gepuderten Perücke und einem mit Lippenstift bemalten Gesicht, und auf jeder verfügbaren Abstellfläche thronen in rostige Art-nouveau-Rahmen gefasste Tarotkartenbilder – die Hohepriesterin, der Turm, der Narr. Bis auf die vergoldeten Zierleisten sind die Wände in einem königlichen, intensiven Blau gehalten.

Lavinia küsst Louise rechts und links.

»Sieh zu, dass sie um zehn im Bett ist«, sagt sie und geht.

»So führt sie sich ständig auf.«

Cordelia schaut endlich hoch.

»Sie ist nicht wirklich so verstrahlt«, sagt sie. »Das ist nur ihr spezieller Humor. Sie findet es lustig, mich zu ärgern. Und dich.«

Louise schweigt dazu.

»Tut mir leid«, sagt Cordelia. »Ich habe schon allein mit Lernen angefangen.« Ihr Lächeln kräuselt sich an den Rändern.

Sie bietet Louise einen Tee an.

»Ich hätte Schoko-Vanille, du kannst aber auch Haselnuss-Zimt-Pfirsich-Kardamom haben«, sagt sie. »Vinny hat keinen normalen Tee.«

Sie serviert ihn in einer Teekanne mit kompliziertem Muster. (»Die ist aus Usbekistan«, sagt Cordelia. Louise weiß nicht, ob das ein Scherz ist.) Cordelia stellt die Kanne auf einem Tablett ab.

Sie hat den Teelöffel vergessen. Da ist zwar noch der in der Zuckerschale, aber wenn Louise den benutzt, wird er feucht und versaut den Zucker. Ohne Umrühren sammelt sich der ganze Zucker am Tassenboden.

Louise trinkt ihren Tee ohne Zucker. Sie überlegt kurz, um einen zweiten Löffel zu bitten, aber der Gedanke daran macht sie nervös, darum schweigt sie lieber.

Sie widmen sich dem sprachlichen Teil des SAT-Tests: Wie unterscheiden sich die Adjektive »lustlos«, »lakonisch« und »larmoyant« in ihrer Semantik? Dann Mathematik: Satz des Pythagoras und Oberflächen diverser Körper. Cordelia beantwortet alle Fragen richtig.

»Ich gehe nach Yale«, sagt Cordelia, als sei das etwas, das Menschen einfach so beschließen. »Dann mache ich an einer päpstlichen Universität in Rom meinen Master. Ich werde Nonne.«

Dann: »Entschuldige.«

»Was?«

»Ich nehme dich nur auf den Arm. Das sollte ich nicht tun. Ich meine – ich will tatsächlich Nonne werden. Aber trotzdem.«

»Ist nicht schlimm«, sagt Louise.

Sie trinkt noch eine Tasse von ihrem ungezuckerten Haselnuss-Zimt-Pfirsich-Kardamom-Tee.

»Ich hab ein schlechtes Gewissen«, sagt Cordelia. »Dass ich dich hier festhalte. Ich brauche eigentlich keinen Privatunterricht. Nimm das nicht persönlich – ich meine, du machst deinen Job wirklich gut. Nur – kann ich das alles schon, tut mir leid.« Sie zuckt mit den Schultern. »Vielleicht will sie nur, dass du den Babysitter für mich machst. Aber – bis zehn wird sie nicht zurück sein.«

»Ist nicht schlimm«, sagt Louise. »Ich traue dir zu, selbst zu entscheiden, wann du ins Bett gehst.«

»Das ist nicht das Problem.« Cordelia setzt wieder ihr mysteriöses halbes Lächeln auf. »Vinny hat das ganze Bargeld.«

Cordelia und Louise sitzen bis sechs Uhr morgens schweigend auf dem Sofa. Cordelia hat sich einen Morgenmantel voller Katzenhaare übergezogen (eine Katze ist nirgendwo zu sehen), und liest in einer Taschenbuchausgabe von John Henry Newmans Apologia Pro Vita Sua. Louise liest die Clickbait-Artikel von Misandry! auf ihrem Smartphone.

Sie ist sehr müde, aber die vierhundertfünfzig Dollar braucht sie dringender als Schlaf.

Lavinia kommt nach Hause, als der Morgen dämmert, in einem Wust von Federn.

»Es tut mir ja so, so leid«, ruft sie aus. Sie stolpert über die Türschwelle. »Ich bezahl dir natürlich die Stunden. Jede einzelne Stunde. Jede.«

Sie bleibt mit dem Rock in der Tür hängen. Er reißt.

»Himmel noch mal.«

Federn fallen, schneiden die Luft. »All meine holden Küchlein1«, schreit Lavinia auf. »Alle! Was! All die holden Küchlein, samt der Mutter!«

»Ich gehe Wasser holen«, sagt Cordelia.

»Das ist ein schlechtes Omen.« Lavinia ist mittlerweile umgekippt, sie lacht und hält eine schwarze Feder hoch. »Das bedeutet Tod!«

Louise schnappt nach den Federn unter der Tür, die sich selbstständig gemacht haben.

»Nein, nicht! Lass sie liegen!«

Lavinia greift nach Louises Handgelenken; sie zieht sie an sich.

»Es ist einen Heldentod gestorben.« Sie hickst. »Dieses Kleid – ist in der Schlacht gefallen

Ihr Haar liegt wie ein Fächer auf dem Boden ausgebreitet, es reicht bis zu dem riesigen Überseekoffer, den sie zum Couchtisch umfunktioniert hat. »Und was für einer Schlacht! Oh – wie heißt du noch mal?«

»Louise.«

»Louise!« Lavinia zerrt wieder an ihrem Handgelenk, aber in freudigem Überschwang. »Wie Lou Salomé!« Louise weiß nicht, wer das ist. »Louise! Ich hatte die wundervollste, aller-wundervollste Nacht der Welt. Eine dieser Nächte. Weißt du?«

Louise lächelt höflich.

»Etwa nicht?«

Louise zögert.

»Ich habe meinen Glauben wiedergefunden, Louise!« Lavinia schließt die Augen. »An Gott. Und alles Herrliche! Und Liebe und Feenstaub – meine Güte, ich liebe diese Stadt.«

Cordelia stellt ein Glas Wasser auf dem Überseekoffer ab.

Aber Lavinia schleppt sich aufs Sofa. Sie ist wie verklärt, verschattet von Glitter, strahlend vor Glitter, und Louise weiß nicht, was sie sagen kann, damit Lavinia sie mag, aber sie ist eine gute Beobachterin und merkt Menschen meistens an, was sie brauchen, sie findet immer einen Zugang zu ihnen.

»Ich kann das in Ordnung bringen, weißt du?«

Lavinia setzt sich auf. »Was in Ordnung bringen?«

»Es ist nur der Saum. Den kann ich wieder annähen. Ich brauche nur Nadel und Faden.«

»Nadel und Faden?« Lavinia schaut zu Cordelia.

»In meinem Zimmer«, sagt Cordelia.

»Du kannst das in Ordnung bringen?«

»Natürlich nur, wenn es dir recht ist.«

»Ob es mir recht ist?« Lavinia rafft ihr Kleid zusammen. »Lazarus, von den Toten auferstanden.« Sie sammelt die Röcke in ihrem Schoß. »Wahrlich, ich sage euch!« Sie reißt die Arme auseinander. »Oh! Es tut mir so – so! – leid.«

»Muss es nicht«, sagt Louise.

»Ich weiß – ich weiß –, du findest mich wahrscheinlich total lächerlich.«

»Ich finde dich nicht lächerlich.«

»Ganz sicher nicht?«

Louise weiß nicht, was Lavinia von ihr hören will.

»Ich meine –«

Lavinia lässt sie gar nicht ausreden.

»Du findest nicht, dass ich mich unmöglich benehme?«

»Kein bisschen.«

»Ganz sicher nicht?«

Louise spricht sehr langsam. »Nein«, sagt sie. »Ganz sicher nicht.«

»Es war – wir waren nur ganz wenige. Ich und Pater Romylos und Gavin – Gavin ist ein narzisstischer Soziopath. Hat er mir mal gesagt. Einer der nettesten Menschen der Welt, aber genau genommen ein narzisstischer Soziopath. Ja, egal, jedenfalls wollten wir ausprobieren, ob man in den Botanischen Garten einbrechen kann. Und man kann! Guck!«

Sie zeigt Louise ein Foto. Lavinia, ein orthodoxer Priester und ein kahlköpfiger Mann im Rollkragenpullover liegen in einer Hecke.

»Pater Romylos ist der im Talar«, sagt sie.

»Blüht da zu dieser Jahreszeit überhaupt irgendwas?« Cordelia kommt mit einem Nähset zurück. Sie reicht es Louise.

»Es gibt nichts Schöneres für mich, als irgendwo einzubrechen! Nirgends fühlt man sich so lebendig wie an einem Ort, an dem man nicht sein sollte! Einmal haben sie uns geschnappt, im Zoo im Central Park, aber wir mussten nur eine fette Geldstrafe bezahlen, das war alles! Oh – sieh mich doch nicht so an!«

»Wie denn?«

Louise näht den Saum an. Sie hat überhaupt nicht aufgeschaut.

»Als fändest du mich furchtbar!«

»Tue ich nicht«, sagt Louise.

Was ihr durch den Kopf geht, ist:

Lavinia hat vor gar nichts Angst.

»Ich bin nicht betrunken, weißt du«, sagt Lavinia. Sie schwenkt ihr Haar – ihr langes, strohiges, wundervolles Haar – über Louises Schulter. »Ich schwöre. Weißt du, was Baudelaire gesagt hat?«

Louise macht einen weiteren Stich am Saum.

»Baudelaire hat gesagt, man soll sich berauschen. An Wein, an Versen, an Tugend – ganz egal. Hauptsache berauschen.«

»Vinny ist tugendbesoffen«, sagt Cordelia.

Lavinia schnaubt. »Es ist nur Prosecco«, sagt sie. »Sogar Cordy trinkt Prosecco. Mutter zwingt uns dazu.«

»Ich verabscheue Alkohol.« Cordelia zwinkert Louise zu, während sie vereinzelte Federn aus den Ritzen der Couchpolster pflückt. »Trinken ist ein Laster.«

»Ist sie nicht schrecklich?« Lavinia legt ihre Füße auf den Überseekoffer. »Ich wette, du glaubst noch nicht mal an Gott, oder, Cordy? Sie zieht das seit einem Jahr durch – ist das zu fassen? Davor war sie Veganerin. Und – meine Güte, du bist ein Genie

Ihr Blick ist auf den Saum gefallen, den Louise für sie festgenäht hat.

»Bist du Kostümschneiderin? Eine Freundin von mir ist Kostümschneiderin. Sie näht jedes Jahr Barock-Gewänder für den Karneval in Venedig.«

»Ich bin keine Kostümschneiderin.«

»Aber du kannst nähen.«

Louise sagt achselzuckend: »Viele Leute können nähen.«

»Kein Mensch kann nähen. Was kannst du sonst noch alles?«

Die Frage erwischt Louise auf dem falschen Fuß.

»Nicht viel.«

»Lüg mich nicht an.«

»Wie?«

»Du bist außergewöhnlich, ein Genie. Das steht dir auf die Stirn geschrieben. Ich habe es sofort gewusst, als ich dich gesehen habe. Und du – du hast mit Cordy Wache gehalten, oder nicht? Die ganze Nacht. Das ist auch außergewöhnlich.«

Louise ist nicht außergewöhnlich. Sie weiß es. Wir wissen es auch. Sie braucht nur die vierhundertfünfzig Dollar.

»Bist du Schauspielerin? Hübsch genug dafür wärst du.«

»Ich bin keine Schauspielerin.« (Louise ist nicht hübsch genug dafür.)

»Künstlerin?«

»Nein.«

»Dann bist du Schriftstellerin!«

Louise zögert.

Sie zögert, weil man sich kaum Schriftstellerin nennen kann, wenn man nie etwas geschrieben hat, das andere gut genug fanden, um es zu veröffentlichen; ja, nicht mal irgendwas geschrieben hat, das man selbst gut genug fand, um einen Verleger dafür zu suchen; nicht in einer Stadt, in der sich schon etliche gescheiterte Schriftsteller lächerlich machen. Aber sie zögert so lange mit ihrem »Nein«, dass Lavinia sich darauf stürzt.

»Ich wusste es!« Sie klatscht in die Hände. »Ich wusste es! Natürlich schreibst du. Du bist eine Frau der Worte.« Sie greift nach den Lernkarten: Wie unterscheiden sich die Verben »beschwichtigen«, »beruhigen« und »beipflichten« in ihrer Semantik? »Das hätte ich gleich merken müssen.«

»Ich meine –«

»Was hast du bis jetzt geschrieben?«

»Na ja, nicht viel, weißt du. Nur ein paar Kurzgeschichten und so.«

»Und worüber?«

Langsam wird Louise panisch. »Ach, du weißt schon. New York. Mädchen in New York. Der übliche Quatsch.«

»Sei nicht albern!« Lavinia starrt sie von unten mit diesen leuchtenden, feurigen Augen an. »New York ist die großartigste Stadt der Welt. Worüber solltest du sonst schreiben wollen?«

Lavinia hält ihre Handgelenke so fest umklammert und starrt sie so eindringlich an mit diesem unschuldigen Augenaufschlag, dass Louise es nicht über sich bringt, sie zu enttäuschen.

»Du hast recht«, sagt Louise. »Ich schreibe.«

»Ich irre mich nie!«, ruft Lavinia triumphierend. »Cordy sagt, ich habe ein Gespür für Leute – ich merke sofort, ob jemand interessant ist. Es ist wie ein siebter Sinn, allerdings für poetische Qualitäten – darum passieren mir immer diese Dinge!« Sie rekelt sich wie eine Katze auf dem Sofa. »Ich schreibe auch, weißt du. Ich meine – ich arbeite gerade an einem Roman. Ich mache gerade so was wie ein Sabbatjahr.«

»Ein Sabbatjahr?«

»Von der Uni! Darum bin ich hier.« Sie zuckt die Achseln. »Ich hab mir das Jahr freigenommen, um meinen Roman zu Ende zu schreiben. Mein Problem ist, dass mir die Disziplin fehlt. Ich bin nicht wie Cordy. Sie ist so intelligent.« (Cordelia liest wieder in ihrem Buch und schaut nicht davon auf.) »Ich, ich gehe bloß auf Partys.« Sie gähnt lange und genüsslich. »Du Arme«, sagt sie leise. »Ich habe dir die Nacht versaut.«

Das Licht fällt durchs Fenster herein.

»Ach was«, sagt Louise. »Das hast du nicht.«

»Deine schöne Freitagnacht. Deinen schönen Winterfreitag – und ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit. Du hattest wahrscheinlich Pläne. Eine Weihnachtsfeier, stimmt’s? Oder ein Date?«

»Ich hatte kein Date.«

»Was hattest du dann vor? Ehe ich dir alles vermiest habe?«

Louise zuckt die Achseln.

»Weiß nicht. Ich wollte nach Hause gehen. Vielleicht ein bisschen fernsehen.«

Eigentlich wollte Louise nur ins Bett. Im Moment kann sie sich nichts Schöneres vorstellen als zu schlafen.

»Aber es ist praktisch schon Silvester

»Eigentlich gehe ich nicht oft aus.«

»Aber wir sind in New York!« Lavinia macht Augen wie Untertassen. »Und wir sind jung

Ausgehen ist teuer. Es dauert ewig, bis man wieder zu Hause ist. Überall muss man Trinkgeld geben. Es ist immer so furchtbar kalt. In den U-Bahn-Stationen stehen Pfützen. Ein Taxi kann sie sich nicht leisten.

»Geh mit mir aus«, sagt Lavinia. »Ich nehme dich mit auf eine Party!«

»Jetzt?«

»Jetzt doch nicht, Dummerchen – ich bin doch nicht verrückt! Im MacIntyre Hotel ist eine Silvesterparty – es wird wundervoll. Die beste Party aller Zeiten. Und ich bin dir was schuldig! Die ganzen Stunden, die du noch drangehängt hast – ich schulde dir was.«

»Du schuldest ihr hundertfünfzig die Stunde«, sagt Cordelia aus ihrem Sessel. »Von sieben« – sie schaut auf ihre Armbanduhr – »bis sieben.«

»Herrgott, fuck!«, sagt Lavinia mit solcher Heftigkeit, dass Louise zusammenfährt. »Ich hab mein ganzes Geld dem Straßenmusiker gegeben, der vor der Bandshell ›New York, New York‹ gespielt hat. Wir waren sehr müde – wir waren sehr ausgelassen

Sie setzt sich auf.

»Jetzt musst du mitkommen«, sagt sie. »Wenn ich dich nicht wiedersehe, kann ich dich für heute Nacht nicht bezahlen.«

Sie lächelt so ekstatisch.

»Ich schulde dir mehr als Geld«, sagt sie. »Ich schulde dir die schönste Nacht deines Lebens.«

Es ist die erste Party, auf die Lavinia sie mitnimmt, und zugleich die beste, die, auf die Louise sich immer wieder zurückwünschen wird. Sie geht in dem Kleid aus den Zwanzigern (in Wirklichkeit ist es eine Retro-Kopie aus den Achtzigern und von der Stange, aber das weiß Louise nicht), das Lavinia auf der Straße gefunden hat, weil Menschen wie Lavinia Williams so was ständig passiert.

Nun, das MacIntyre Hotel ist kein Hotel. Es ist eine Art Lagerhaus-Club-Bühne in Chelsea mit an die hundert Räumen auf sechs Stockwerken. In der Hälfte davon sieht es aus wie in einem Spukhotel in den Dreißigern, aber da ist auch so was wie ein Wald aufgebaut, und im obersten Stock eine komplette Irrenanstalt, wo Ophelia immer wieder durchdreht (sie spielen dort Hamlet, nur ohne Text), und Louise hat gehört, es kommt vor, dass Schauspieler einen in versteckte Zimmer oder Kapellen entführen und auf die Wange, die Stirn oder den Mund küssen, aber eine Karte kostet hundert Dollar (und dabei sind das Geld für die Garderobe und die Vorverkaufsgebühr von zehn Dollar noch nicht mitgerechnet), daher ist Louise nie dagewesen, um sich selbst ein Bild davon zu machen.

In manchen Nächten, diesen Nächten, in einer dieser Nächte, veranstalten sie hier Mottopartys: Frei-trinken-bis-zum-Morgen-Partys, Küss-einen-Fremden-und-lass-es-darauf-ankommen-Partys, bei denen sich alle verkleiden und durch das Labyrinth der ineinander übergehenden Räume taumeln, wo in jedem Stock andere Musik läuft und sogar die Badewannen in der Irrenanstalt voller Leute sind, die miteinander schlafen.

Louise hat noch nie eine dieser Nächte erlebt.

Nur keine Sorge. Das wird sie schon noch.

Im MacIntyre trifft Louise in dieser Reihenfolge auf: roten Samt, Kerzen, Straußenfedern, Champagnerflöten, Menschen mit Happy-New-Year-Gläsern, Leute, die Selfies machen, eine Frau in einem roten, rückenfreien Paillettenkleid, die »Is that all there is?« von Peggy Lee singt, Leute, die Selfies machen. Lavinia. Ein Mädchen im Frack. Marie Antoinette. Jemanden in der Uniform eines Löwenbändigers. Lavinia.

Leute in geliehenen Smokings. Leute, die eigene Smokings besitzen, in Smokings. Leute in Korsetts. Leute in Spitzenunterwäsche. Lavinia.

Einen Mann, der ein Priestergewand trägt (»Sag nicht, dass du es von mir hast, aber er wurde eigentlich seines Amtes enthoben«). Eine Frau von stolzen eins achtzig, nackt bis auf Brustwarzen-Pasties und Federn, mit dem schnarrendsten New Yorker Akzent, den Louise je gehört hat (»Ihr Burlesque-Name ist Athena Maidenhead. Keine Ahnung, wie sie richtig heißt«). Einen glatzköpfigen Mann in schwarzer Skinny-Jeans und Rollkragenpullover, der sich als Einziger nicht verkleidet hat und das nicht mal zu bemerken scheint. (»Das ist Gavin. Er führt eine Excel-Tabelle über die Frauen, mit denen er ausgeht.«) Lavinia.

Lavinia, die tanzt. Lavinia, die trinkt. Die so viele Fotos macht und Louise dabei zu sich heranzieht, so nahe, dass Louise ihr Parfüm riechen kann. Louise wird bald herausfinden, dass es extra für Lavinia angefertigt wird, in einem chinesischen Kramlädchen auf der East Fourth Street, und es riecht nach Lavendel und Tabak und Feige und Birne und allem Schönen dieser Welt.

Peggy Lee singt die Zeile »Is that all there is to a fire?«, und Louise stürzt ihren Champagner in einem Zug hinunter und wird dann sofort nervös, denn wenn sie trinkt, konzentriert sie sich nicht mehr so darauf, alles richtig zu machen, und die schlimmsten Patzer leistet sich Louise meistens dann, wenn ihre Konzentration nachlässt; aber Lavinia legt eine Hand um Louises Taille und kippt mit der anderen Bombay Sapphire direkt aus der Flasche in Louises Mund, der bald überläuft, und obwohl Louise nicht dumm ist und so gut im Beobachten von Menschen und so, so vorsichtig – immer so vorsichtig! –, denkt sie bei dem intensiven Druck von Lavinias Hand über ihrem Kreuzbein, wenn die Welt schon untergeht, dann gerne heute Nacht.

»Freunde! Römer! Landsleute! Bringt mir mehr Gin!«

Lavinia. Lavinia. Lavinia.

Als Louise noch in New Hampshire lebte, stellte sie sich oft vor, auf Partys wie diese zu gehen, wenn sie erst einmal in New York wäre. Sie stand mit Virgil Bryce auf der Eisenbahnbrücke, drängte ihn, ihre Brüste zu berühren, und er ließ sich endlich, großmütig, dazu herab, und dann redeten sie davon, miteinander fortzugehen (er wollte in Colorado leben und dort Mangas zeichnen), und er erinnerte sie immer wieder daran, wie grausam die Welt war, und sie versuchte ihm klarzumachen, dass New York nicht so war wie der Rest der Welt.

Es spielte keine Rolle, wenn man nicht übertrieben außergewöhnlich war, sagte sie ihm, oder selbst nach den Maßstäben von Devonshire, New Hampshire, nicht übertrieben hübsch, man müsste es nur genug wollen. Die Stadt würde einen mit einem Schwung ans Ziel, hinauf in den Himmel deiner hochfliegenden Träume befördern; jede einzelne Party in jeder einzelnen Nacht in dieser ganzen glitzernden, gleißenden Stadt würde einem das Gefühl geben, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, und dazu der außergewöhnlichste und ultrabeliebteste.

Ihr und ich, wir kennen natürlich die Wahrheit.

Wir wissen, wie einfach sich so was faken lässt. Dazu gehören nur gedämpftes Licht und ein paar Showgirls, denen man mit Sekundenkleber ein paar billige Federn ans Korsett geklebt hat; und man muss dafür sorgen, dass die Leute immer weiter trinken.

Aber jemand wie Louise weiß das nicht. Noch nicht. Louise ist glücklich wie nie.

Neun Uhr. Lavinia und Louise und Gavin Mullaney und Pater Romylos und Athena Maidenhead und so viele andere Namenlose tanzen Charleston auf einer Bühne unter einem Kronleuchter von der Größe einer Giraffe. »Dürfen wir überhaupt auf die Bühne?«, fragt Louise, aber Lavinia kann sie bei der Musik nicht hören. Zwei Luftakrobaten knoten ihre Körper zusammen und treten nach den Kristalltropfen des Lüsters, und Athena hat ihre Federn abgelegt und zwischen ihrer Haut und dem Schweiß aller anderen befinden sich nur noch eine mondsichelförmige Schamhaarperücke und zwei Nippelpropeller.

»Guter Vorsatz fürs neue Jahr«, brüllt Lavinia. »Wir wollen das Leben trinken, bis zum letzten Tropfen!«

Lavinias Kleid ist ihr von der Schulter gerutscht, und eine Brust blitzt hervor. Das stört sie nicht weiter.

Dann legen sich zwei Hände über Louises Augen. Jemand drückt ihr einen Kuss auf den Hals.

»Rate, wer ich bin«, flüstert es gegen Louises Schlüsselbein.

Louise dreht sich sehr schnell um.

Vor ihr steht ein sehr verwirrtes Mädchen. »Aber …«

»Mimi?« Lavinia hat aufgehört zu tanzen. Sie lächelt nicht.

»AberdeinKleid.« Das Mädchen spricht mit lauter, monotoner, hölzerner Stimme, wie in einer High-School-Theater-AG. »Ichdachte …« Sie lacht. Nicht weniger hölzern und nicht weniger laut. »Siehstdu?« Ihr Lächeln hängt verzweifelt von ihren Lippen. »SiehatsichdeinKleidgenommen!«

Niemand reagiert darauf.

»Sorrydassichspätdranbin«, sagt sie. »Therapiehatewiggedauert. UnddannhabichmeineguteUnterwäschenichtgefunden.«

Auch darauf reagiert niemand.

»ErsagtichleideanneurotischerVerzweiflung

Die Musik ist so laut. Das Mädchen kommt noch näher. Sie kneift entschlossen die Augen zusammen.

»ICHSAGTE:ERSAGTICHLEIDEANNEUROTISCHERVERZWEIFLUNG.«

Nichts. Nicht mal ein Nicken.

»DASHATNICHTMALEINENEIGENENDIAGNOSESCHLÜSSEL.«

Pater Romylos nickt verhalten, und das ist schlimmer, als hätte er sie weiterhin links liegen lassen.

Noch schlimmer ist, dass sie weiterlächelt.

Selbst noch, als sie zu Lavinia hingeht. Selbst noch, als Lavinia zurückweicht.

»Ich habe dich vermisst«, sagt sie.

Das Mädchen kreiselt weiter zu Louise.

»Ibimimi«, sagt sie.

»Was?«

»Ich bin Mimi«, sagt sie, als müsste Louise sie kennen.

»Oh«, sagt Louise.

Mimi hält Louise ihr Smartphone hin. Sie schlingt ihren Arm um Lavinias Hals.

»Mach ein Foto!«

Lavinia lächelt nicht.

Mimi reißt ihr Smartphone wieder an sich. Sie scrollt durch die Fotos.

»Wir sehen super aus«, sagt sie. »Die poste ich alle.«

Jetzt ist es zehn. Es ist Vollmond.

»Versprich mir was«, sagt Lavinia. Sie rauchen auf dem Dach; sie stehen in einer Hecke oder einem Labyrinth oder sonst was voller Rosenbüsche, die trotz des Frosts noch blühen; Louise hat keine Ahnung, wie sie hierhergekommen sind. »Ich will gut in das neue Jahr starten. Ich will, dass alles ist, wie es sein soll. Ich will, dass das Jahr besser wird als das letzte.« Sie pustet Rauch in die Luft. »Das muss es.« (Es ist niemand sonst hier, weder Mimi noch Gavin noch Pater Romylos noch Athena Maidenhead; Louise kann sich allerdings nicht erinnern, sich von ihnen verabschiedet zu haben.)

»Klar«, sagt Louise.

»Ich will, dass wir heute Nacht Gedichte rezitieren.«

Zuerst glaubt Louise, Lavinia hätte einen Witz gemacht. Aber Lavinia lächelt nicht, kneift die Lippen zusammen und sieht so ernst aus, wie Louise sie noch nicht gesehen hat.

»Pass auf, dass ich es nicht vergesse, ja?«

»Okay«, sagt Louise.

»Versprochen?«

»Ja«, sagt Louise. »Versprochen.«

Louise wollen keine Gedichte einfallen.

Lavinia holt einen Stift aus der Tasche. Sie schreibt sich MEHR POESIE!!! auf den Arm. Louise auch. Die Buchstaben sind krumm und schief. »So vergessen wir es nicht.«

Sie schauen zusammen über die Dächer der Stadt. Louise weiß zwar, dass sie vor allem Großstadtlichter sieht, aber es fühlt sich an, als wären es Sterne.

»He, Louise?« Lavinias Zigarettenrauch ringelt sich von ihren Lippen.

»Ja?«

»Was ist dein guter Vorsatz fürs neue Jahr?«

Louise hat ja so viele: weniger essen – abnehmen – mehr Geld verdienen – einen besseren Job finden – eine Story schreiben, diese Story schreiben, endlich diese gottverdammte Story schreiben und irgendwo einsenden, endlich mal den Mut dazu haben – um vier Uhr morgens anstatt Misandry! zu lesen verdammt noch mal zur Abwechslung ein echtes Buch in die Hand nehmen – irgendwann vielleicht, verdammt noch mal eine Story schreiben.

»Ich weiß nicht.« (Weniger langweilig sein, das ist ein weiterer.)

»Na los – mir kannst du es doch sagen!«

Sie sagt es, als sei es ihr ernst. Sie sagt es, als könne Louise sich bei ihr sicher fühlen.

Louise möchte ihr glauben.

»Es ist idiotisch«, sagt Louise.

»Ist es nicht, da wette ich drauf! Ich wette hundert Dollar dagegen.« Genau genommen schuldet Lavinia Louise jetzt schon zwischen vierhundertfünfzig und tausendachthundert Dollar, je nachdem, ob Louise die Stunden, in denen sie mit Cordelia auf Lavinias Rückkehr gewartet hat, mitzählt oder nicht, aber Louise nimmt es schon längst nicht mehr so genau.

»Ich will eine meiner Storys einschicken. Wenn sie gut genug ist.«

Louise hat plötzlich Angst, dass sie es jetzt, nachdem sie es ausgesprochen hat, auch durchziehen muss.

»Bei einer Zeitschrift?«

»Ja.«

»Und das hast du noch nie gemacht?«

»Nein. Ich meine doch. Aber das ist Jahre her.«

»Ich wette, du schreibst fantastisch«, sagt Lavinia. »Deine Texte sind genial, wette ich. Ich wette, alle Welt wird dir zu Füßen liegen!«

»Hör auf, das ist nicht –«

»Widersprich mir nicht! Ich hab’s im Gefühl. Ich weiß es einfach.« Lavinia wirft dieses endlos lange Haar zurück.

»Und was ist deiner?«

Lavinia schüttelt die letzten Glutreste von ihrer Zigarette. »Ich nehme mir jedes Jahr dasselbe vor. Und das werde ich auch weiter tun, bis an mein Lebensende.« Sie atmet langsam und genüsslich durch. »Ich will leben«, sagt sie. »Ich meine wirklich, richtig leben. Weißt du, was Oscar Wilde mal gesagt hat?«

Louise weiß es nicht, aber es wird wohl etwas Geistreiches gewesen sein.

»Er hat gesagt: Mein Talent investiere ich in meine Arbeit, mein Genie aber in mein Leben. Das will ich genauso machen. Aber vielleicht findest du das ja auch irgendwie abgedroschen.« Das letzte Wort spuckt sie aus.

»Nein – nein!«

»Ist es wahrscheinlich aber. Scheiß drauf. Ist mir egal. Ich will es so.«

Es ist jetzt elf. Sie sind wieder auf der Tanzfläche; alle küssen sich gegenseitig ab; alle außer Lavinia, die unter einem Spot im Mittelpunkt steht, unberührt, für sich allein tanzend.

»WasfüreinewildeNachtunglaublich

Mimis Lippenstift ist verschmiert. Ihr Lidstrich auch.

»Na komm!« Sie zupft an Lavinias Ärmeln. Sie redet immer noch so hölzern, wie auswendig gelernt. »Wir trinken Champagner!«, ruft Mimi aus. »Wir machen ein Selfie!«

Dann geht Louise ein Licht auf: das Unheimliche an Mimis seltsam künstlicher Sprache.

Sie versucht so zu reden wie Lavinia.

Lavinia lächelt nicht. »Wir haben schon ein Selfie gemacht.«

Mimi lächelt so verzweifelt. »Dann machen wir noch eins!«

Sie drängt sich an Lavinia heran und streckt den Arm mit der Kamera aus. Sie hinterlässt einen verschmierten Lippenstiftfleck auf ihrer Wange.

»Herrgott, Mimi!«

»Scheiße – auf dem habe ich meine Augen zu! Nurnocheinsokay?«

Sie kann die Hand nicht ruhig halten. Die Fotos sind alle verwackelt.

»Okay, wir sind hier fertig.«

»Nur noch eins. Eins noch.«

Mimi kann es nicht lassen, Lavinia zu betatschen, sich mit den Brüsten an sie zu drücken, zu versuchen, sie zu küssen.

»Nur noch eins, na los!«

Sie streckt die Hand nach Lavinias Ärmel aus. Sie zerrt daran.

Das ratschende Geräusch kommt Louise unglaublich laut vor.

»Oh fuck, Mimi, merkst du nicht, wenn du unerwünscht bist?«

Lavinias Blick ist tödlich.

Mimis Augen füllen sich mit Tränen. Sie lächelt noch immer.

»Komm schon.« Mimi winselt weiter wie ein Hund. »Es ist eine dieser Nächte. Oder nicht? Oder nicht?«

»Du bist betrunken, Mimi. Geh heim.«

Mimi geht heim.

Eine Stunde später postet Mimi sämtliche Fotos, die sie am Abend gemacht hat. Auf allen ist Lavinia markiert.

Ich und meine BFF, schreibt sie, garniert mit Emojis von einem tanzenden Fuchs und einem hüftwackelnden Hula-Hoop-Mädchen und einer Katze, die einen Salto nach dem anderen macht. Als würde noch irgendwer BFF sagen.

Die Musik ist jetzt so laut. Man versteht einander nicht mehr, ohne sich so nahe zu kommen, dass man sich fast küsst; jetzt tanzen alle, jetzt stehen alle dicht an dicht auf einem erhobenen Podest, und hier thront Lavinia, zwei Meter über der Menge, Kinn hoch, Schultern zurück, wie eine Gottheit.

Jetzt senkt sich die große Uhr herab; jetzt kreischen alle ja, ja; jetzt steht Lavinia da und durchsucht die Menge mit diesen helllichten Augen, die zu brennen scheinen.

»Was ist?«

Lavinia gibt ihr keine Antwort.

»Suchst du nach Mimi?«

Lavinia schaut und schaut, und Louise versucht, ihrem Blick zu folgen, sieht aber nichts, nur ein paar schnapstrinkende Jungs im Smoking, die sie nicht kennt, und dann ist da etwas wie ein elektrischer Schlag, als Lavinia ihre Fingernägel in Louises Handgelenk krallt, und Louise fragt, was ist, aber sie ist mittlerweile betrunken genug, dass sie die Frage vergessen hat, als Lavinia sich wieder zu ihr umdreht.

Lavina packt Louise bei den Schultern.

»Wir sollten springen«, sagt Lavinia.

»Was?«

»Du. Ich. Wir sollten es machen.«

»Du meinst Crowdsurfen

Wer macht so was schon im echten Leben?

Aber dies ist nicht das echte Leben.

»Was soll uns schon passieren?«

Es ist eine Minute vor Mitternacht.

»Vertrau mir«, sagt Lavinia. »Bitte.«

Zehn … neun …

Jetzt denkt Louise wieder an alles, wovor sie Angst hat.

Dass sie sich nicht die Knochen brechen darf, weil sie nicht krankenversichert ist, und dass sie morgen arbeiten muss und es sich nicht leisten kann, frei zu nehmen, selbst wenn es theoretisch möglich wäre (acht), und dass sie Lavinia im Grunde kaum kennt und ihr überhaupt nicht trauen dürfte, weil neue Bekanntschaften einen in der Regel wieder fallen lassen, wenn sie nicht noch Schlimmeres tun, und (sieben) dass Lavinia, obwohl sie Louise gerade so voller Verzückung ansieht, eine Fremde ist, und sich einem anderen Menschen zu öffnen das Dümmste ist, was man tun kann (sechs), und sie sich keine Dummheiten erlauben darf – Dummheit ist ein ebensolcher Luxus wie Glück, aber ihr Herz flattert wie ein Kolibri, der noch vor Mitternacht (fünf) erschöpft sein Leben aushauchen wird, aber Louise ist seit sie denken kann zum ersten Mal glücklich und wird, wenn es sein muss, für dieses Gefühl ihren letzten Herzschlag geben (vier), denn am Ende will sie nur eins auf der Welt, nämlich geliebt werden und (drei, zwei, eins).

Die Menge fängt sie auf.

So viele Menschen – die sie halten, sie berühren, Taille und Schenkel und Hintern, und Louise hat keine Angst; sie weiß, sie weiß, sie werden sie nicht fallen lassen; sie weiß, sie kann ihnen vertrauen, weil alle mitmachen und sie alle so herrlich, so grenzenlos betrunken sind und genau wie sie wollen, dass sie sich oben hält, denn es ist etwas Großartiges, so hoch oben zu schweben, und sie alle wollen daran teilhaben.

Lavinia streckt über die Menge hinweg den Arm nach ihr aus; sie lächelt, sie ist so weit weg und dann nicht mehr und schließlich nahe genug, um nach Louises Hand zu greifen und sie fest zu drücken.

Jetzt ist es beinahe Morgen. Nach und nach strömen sie alle auf die Straße. Mädchen ziehen ihre Heels aus, gehen barfuß über das Eis. Taxifahrer nehmen schon für die kurze Strecke zur Upper East Side hundert Dollar pro Person.

Louise ist wieder ein bisschen nüchterner; sie kann die Blasen an ihren Füßen spüren, doch sie ist zu glücklich, um sich darum zu scheren. Sie wickelt sich in den Mantel, der zwar hauchdünn ist, aber deswegen noch lange nicht elegant, und duckt sich gegen den Wind. Lavinia ruft ohne lange nachzudenken ein Uber.

»Wo fahren wir hin?«

Lavinia legt einen Finger an die Lippen.

»Das wird eine Überraschung.«

Ihr Uber fährt sie durchs West Village, die Lower East Side und über die Brooklyn Bridge.

»War es so, wie du es haben wolltest?« Lavinia ist in einen voluminösen Pelz gehüllt. Sie blinzelt gespannt.

»Was?«

»Die Party. War es so, wie du es haben wolltest?«

»Ja«, sagt Louise. »Es war wundervoll.«

»Gut. Das freut mich. Ich wollte dich glücklich machen.«

Das Auto rollt weiter, am Wasser entlang.

»Stell dir vor«, sagt Lavinia. »Du könntest gerade auch zu Hause im Bett sein.«

Louise müsste gerade zu Hause im Bett sein.

»Und stattdessen …« Lavinia öffnet das Fenster. Der Wind peitscht ihnen ins Gesicht. »Wirst du den Sonnenaufgang sehen. Ist das nicht fantastisch?«

Das Auto bleibt unter einem Riesenrad stehen: Sie sind in Staten Island, bei den knallbunten Eingangstoren, den Freakshow-Schildern, der Achterbahn.

Der Park hat zu dieser Jahreszeit geschlossen. Aber die Straßenlampen illuminieren das Karussell, die Spukhäuser, die Strandpromenade: und dahinter die Wellen.

»Ich wollte am Wasser sein«, sagt Lavinia.

Der Holzsteg der Strandpromenade ist spiegelglatt überfroren, darum hält sich Lavinia an Louise fest; sie fallen beide hin und schrammen sich ein bisschen die Knie auf, aber dann sind sie da.

»Endlich«, sagt Lavinia.

Es ist zu kalt zum Hinsetzen, aber sie gehen trotzdem in die Hocke, zusammen unter Lavinias Riesenpelz gekuschelt.

Lavinia reicht Louise einen Flachmann.

»Trink das«, sagt sie. »Das wärmt dich auf.«

Darin ist Whiskey – guter Whiskey, viel zu edel, um ihn aus dem Flachmann zu trinken, um sich aufzuwärmen, wenn man seine Hände nicht mehr spürt, aber das ist typisch Lavinia.

»Auf der Titanic haben sie Whiskey getrunken«, sagt Lavinia. »Sie wussten, dass sie mit dem Schiff untergehen würden und hatten das Ende vor Augen, also sagten sie sich Scheiß drauf, warum nicht?, und gaben sich komplett die Kante mit erstklassigem Whiskey, und als das Schiff dann sank, war das ihre Rettung. Sie waren innerlich so gut durchwärmt, dass sie die Kälte nicht mehr gespürt haben. Sie sind bis zu den Rettungsbooten geschwommen. Ich denke immer – die ganze Zeit – wenn – oh, dein Kleid

Lavinias Kleid