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Ikigai ist der Schlüssel für ein langes, gesundes und erfülltes Leben

Ob die Obstbauern von Sembikiya, der Keramiker Sokichi Nagae oder der 94-jährige Jiro Ono, der älteste mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Koch: Sie alle haben ihr ikigai gefunden und damit Sinn und Freude im Leben. Anhand dieser und anderer inspirierender Lebensgeschichten und fundiert durch wissenschaftliche Erkenntnisse erklärt der japanische Neurowissenschaftler Ken Mogi die japanische Philosophie, die hilft, Erfüllung, Zufriedenheit und Achtsamkeit im Leben zu finden.

Er gewährt zudem tiefe Einblicke in die japanische Kultur, in der das Verständnis von ikigai allgegenwärtig ist. Japaner trachten danach, ihr ikigai zu finden und zu leben – egal, ob in der Karriere, in den Beziehungen zu Freunden und der Familie oder in ihren akribisch gepflegten Hobbys.

Dabei ist entscheidend, dass man sein Ziel mit Hingabe verfolgt und das, was man tut, um seiner selbst willen tut.

 

Die Fünf Säulen des ikigai:

1. Klein anfangen

2. Loslassen lernen

3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben

4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken

5. Im Hier und Jetzt sein

Ken Mogi ist Neurowissenschaftler und Autor. Er studierte Physik und Rechtswissenschaften in Tokio und Cambridge. Er lehrt an Universitäten und veröffentlicht Texte zu kognitiven und neurowissenschaftlichen Themen sowie eine Vielzahl von Romanen, Essaybänden und populärwissenschaftlichen Sachbüchern, die in Japan regelmäßig auf der Bestsellerliste stehen und sich insgesamt eine Million Mal verkauft haben. Er war der erste Japaner, der 2012 auf der TED-Hauptbühne einen Vortrag hielt. Zudem moderiert er eine populäre Radiosendung und ist derzeit Gastgeber eines Design- und Kunstprogramms bei BS Nippon TV.

Sofia Blind übersetzte für DuMont u. a. ›Was gibt’s zu sehen?‹ und ›Denken wie ein Künstler‹ von Will Gompertz sowie die Bücher von John Lewis-Stempel.

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KEN MOGI

IKIGAI

DIE JAPANISCHE
LEBENSKUNST

Aus dem Englischen
von Sofia Blind

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VORBEMERKUNG

DIE FÜNF SÄULEN DES
IKIGAI

 

Im Verlauf dieses Buches werde ich immer wieder auf die Fünf Säulen des ikigai zurückkommen:

1. Klein anfangen

2. Loslassen lernen

3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben

4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken

5. Im Hier und Jetzt sein

Diese Säulen tauchen häufig auf, weil sie zusammen das tragende Gerüst – als entscheidende Grundlagen – bilden, auf dem ikigai gedeiht. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus und sie sind nicht allumfassend; ebenso wenig folgen sie einer bestimmten Reihenfolge oder Hierarchie. Aber sie sind zentral für unser Verständnis von ikigai und können Ihnen als Wegweiser dienen, während Sie das verarbeiten, was Sie auf den folgenden Seiten lesen, und über Ihr eigenes Leben nachdenken. Jedes Mal, wenn sie auftauchen, wird sich ihre Bedeutung erneuern und vertiefen.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei dieser Entdeckungsreise.

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KAPITEL 1

WAS IST
IKIGAI?

 

Als US-Präsident Barack Obama im Frühling 2014 Japan einen offiziellen Besuch abstattete, wurden japanische Regierungsbeamte damit beauftragt, eine Örtlichkeit für das Willkommensdinner zu suchen, das der japanische Premierminister geben wollte. Es sollte ein privates Abendessen werden, noch vor dem offiziellen Beginn des Staatsbesuchs am nächsten Tag, zu dem ein feierliches Abendessen im Kaiserpalast gehören sollte, unter dem Vorsitz von Kaiser und Kaiserin.

Malen Sie sich aus, wie viele Überlegungen in die Auswahl des Restaurants einflossen! Als bekannt gegeben wurde, dass das Sukiyabashi Jiro ausgesucht worden sei, eines der wohl berühmtesten und angesehensten Sushi-Restaurants der Welt, wurde diese Entscheidung allgemein gebilligt. Tatsächlich zeigte Präsident Obamas Lächeln beim Verlassen des Restaurants, wie sehr er das Erlebnis des Essens dort genossen hatte. Angeblich sagte Obama, es sei das beste Sushi gewesen, das er je gegessen habe. Das war ein Riesenkompliment von jemandem, der auf Hawaii mit seinen starken japanischen Einflüssen – Sushi eingeschlossen – aufgewachsen ist und vermutlich schon viele Haute-Cuisine-Erfahrungen hinter sich hat.

Der stolze Chef des Sukiyabashi Jiro ist der im Oktober 1925 geborene Jiro Ono. Er ist weltweit der älteste lebende Drei-Sterne-Koch. Das Sukiyabashi Jiro war bei japanischen Feinschmeckern schon lange berühmt, als 2012 der erste Michelin-Führer für Tokio erschien, aber seit dieser Veröffentlichung steht das Restaurant definitiv auf der Weltkarte der Gourmets.

Obwohl das Sushi, das er produziert, von einer beinahe mystischen Aura umgeben ist, basiert Onos Küche auf praktischen, erfinderischen Techniken. Beispielsweise hat er eine spezielle Prozedur entwickelt, um Lachsrogen (ikura) das ganze Jahr über frisch zu halten. Das stand im Widerspruch zur althergebrachten Branchenweisheit der besten Sushi-Restaurants – dass ikura nur während der Herbstsaison serviert werden sollte, wenn die Lachse sich die Flüsse hinaufkämpfen, um ihre Eier zu legen. Außerdem erfand er eine spezielle Räuchermethode, bei der eine bestimmte Sorte Fischfleisch für ein spezielles Aroma über brennendem Reisstroh geräuchert wird. Um den Geschmack des Sushi zu optimieren, muss der Zeitpunkt, zu dem die Sushi-Teller vor die sehnlich wartenden Gäste gestellt werden, ebenso präzise kalkuliert werden wie die Temperatur des Fischfleischs (dabei wird angenommen, dass die Gäste das Essen ohne allzu langes Zögern in den Mund stecken). Im Sukiyabashi Jiro zu essen ist, als erlebe man ein exquisites Ballett, das ein würdevoller, angesehener Maestro mit strenger Miene hinter der Theke dirigiert (obwohl man, mit etwas Glück, hin und wieder ein Lächeln über sein Gesicht huschen sieht).

Es ist zu vermuten, dass Onos unglaublicher Erfolg außergewöhnlichem Talent, äußerster Entschlossenheit und sturer Hartnäckigkeit im Laufe von vielen Jahren harter Arbeit entstammt, außerdem der unablässigen Beschäftigung mit kulinarischen Techniken und dem Liefern allerhöchster Qualität. Man muss nicht erwähnen, dass all dies Onos eigene Leistung ist.

Allerdings hat Jiro Ono darüber hinaus – und vielleicht vor allem – ikigai. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass er den unfassbar märchenhaften Erfolg in seinem beruflichen und privaten Leben der Verfeinerung dieses extrem japanischen Ethos verdanke.

Ikigai ist ein japanischer Begriff, der die Freuden und den Sinn des Lebens beschreibt. Wörtlich übersetzt, besteht er aus iki (»leben«) und gai (»Sinn«).

Im Japanischen wird ikigai in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt; das Wort kann sich ebenso auf kleine Alltagsdinge beziehen wie auf große Ziele und Erfolge. Der Begriff ist so gebräuchlich, dass die Menschen ihn ganz beiläufig im täglichen Leben verwenden, ohne sich seiner besonderen Bedeutung bewusst zu sein. Besonders wichtig ist, dass man für ikigai nicht unbedingt im Berufsleben erfolgreich sein muss. In dieser Hinsicht ist es ein sehr demokratisches Konzept, durchdrungen von der Freude an der Vielfalt des Lebens. Es stimmt zwar, dass ikigai zum Erfolg führen kann, aber Erfolg ist keine notwendige Bedingung für ikigai. Es steht uns allen offen.

Für den Eigentümer eines erfolgreichen Sushi-Restaurants wie Jiro Ono ist ein Kompliment des Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Quelle von ikigai. Vom Guide Michelin als ältester Drei-Sterne-Koch der Welt ausgezeichnet zu werden, zählt sicherlich ebenfalls als ziemlich nettes Beispiel für ikigai. Aber ikigai beschränkt sich nicht auf die Bereiche von weltlicher Anerkennung und Ruhm. Vielleicht findet Ono sein ikigai einfach darin, einem lächelnden Gast den besten Thunfisch zu servieren oder die erfrischende Kühle der Luft am frühen Morgen zu spüren, wenn er aufsteht, um auf den Tsukiji-Fischmarkt zu gehen. Ono könnte sein ikigai sogar in der Tasse Kaffee finden, an der er nippt, bevor er seinen Tag beginnt. Oder in einem Sonnenstrahl, der durch die Blätter eines Baumes fällt, während er zu seinem Restaurant im Stadtzentrum von Tokio spaziert.

Ono hat einmal erwähnt, dass er gerne beim Zubereiten von Sushi sterben würde. Es vermittelt ihm eindeutig ein tiefes Gefühl von ikigai, ungeachtet der Tatsache, dass viele der dafür notwendigen Einzelschritte als solche monoton und zeitraubend sind. Damit Oktopusfleisch zart und aromatisch wird, muss Ono den Kopffüßler beispielsweise eine Stunde lang »massieren«. Auch Kohada, ein kleiner, glänzender Fisch, der als Krönung des Sushi gilt, braucht viel Aufmerksamkeit: Schuppen und Gedärme müssen entfernt und eine präzise ausbalancierte Marinade aus Salz und Essig angewendet werden. »Mein allerletztes Sushi wird vielleicht Kohada sein«, sagte er.

Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge. Die Morgenluft, die Tasse Kaffee, der Sonnenstrahl, das Massieren von Oktopusfleisch und das Lob eines amerikanischen Präsidenten sind gleichberechtigt. Nur diejenigen, die den Reichtum dieses gesamten Spektrums erkennen, schätzen und genießen es wirklich.

Das ist eine wichtige Lektion zum Thema ikigai. In einer Welt, in der es vor allem unser Erfolg ist, der unseren Wert und unser eigenes Selbstwertgefühl bestimmt, stehen viele Menschen unter unnötigem Druck. Sie haben manchmal das Gefühl, das eigene Wertesystem sei nur dann gerechtfertigt, wenn es zu konkreten Erfolgen führt – beispielsweise zu einer Beförderung oder einer lukrativen Investition.

Entspannen Sie sich! Sie können ikigai haben – ein Wertesystem, nach dem Sie leben können –, ohne sich unbedingt auf solche Art beweisen zu müssen. Das heißt aber nicht, dass es von selbst entsteht. Manchmal muss ich mir diese Wahrheit wieder ins Gedächtnis rufen, obwohl ich in einem Land geboren und aufgewachsen bin, in dem das Wissen um ikigai mehr oder weniger vorausgesetzt wird.

In einem Vortrag mit dem Titel »Wie man 100 oder älter wird« (»How to live to be 100) während einer TED-Konferenz sprach der US-Autor Dan Buettner über ikigai als spezifisches Ethos für Gesundheit und ein langes Leben. Während ich dies schreibe, ist Buettners Vortrag schon über drei Millionen Mal angesehen worden. Buettner beschreibt die Lebensstile von fünf Orten in aller Welt, an denen Menschen länger leben. Jede dieser »blauen Zonen«, wie Buettner sie nennt, hat eine eigene Kultur und Traditionen, die zu Langlebigkeit beitragen. Die Zonen sind Okinawa in Japan, Sardinien in Italien, Nicoya in Costa Rica, Ikaria in Griechenland und die Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten im kalifornischen Loma Linda. Unter den Bewohnern dieser blauen Zonen genießen jene von Okinawa die höchste Lebenserwartung.

Okinawa ist eine Kette von Inseln am südlichsten Ende des japanischen Archipels. Die Präfektur rühmt sich einer Vielzahl von Hundertjährigen. Buettner zitiert ihre Einwohner als Zeugen dessen, was ikigai ausmacht: Ein 102-jähriger Karatemeister sagte ihm, sein ikigai bestehe aus der Beschäftigung mit der Kampfkunst; ein 100-jähriger Fischer fand seines darin, weiterhin drei Mal pro Woche Fisch für seine Familie zu fangen; eine 102-jährige Frau berichtete, ihres bestehe darin, ihre winzige Urururenkelin im Arm zu halten – sie sagte, das sei wie ein Sprung in den Himmel. Miteinander verwoben, liefern diese einfachen Entscheidungen zum Lebensstil Hinweise darauf, was die Essenz von ikigai ausmacht: ein Gefühl von Gemeinschaft, eine ausgewogene Ernährung und ein Bewusstsein für Spiritualität.

Obwohl sie in Okinawa vielleicht offensichtlicher sind, teilen Menschen überall in Japan diese Grundsätze. Schließlich ist die Lebenserwartung im gesamten Land extrem hoch. Nach einer Studie des japanischen Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt aus dem Jahr 2016 ist im internationalen Vergleich die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer in Japan mit 80,79 Jahren die vierthöchste der Welt, nach Hongkong, Island und der Schweiz. Japanische Frauen leben mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 87,05 Jahren am zweitlängsten, nach denen in Hongkong und vor den spanischen Frauen.

Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr ikigai vielen Japanern im Blut liegt. Wissenschaftler der Tōhoku-Universität im nordjapanischen Sendai haben 2008 eine wichtige Studie zum gesundheitlichen Nutzen von ikigai durchgeführt (Sense of Life Worth Living (ikigai) and Mortality in Japan: Ohsaki Study, Sone et al. 2008). Sie untersuchten eine große Zahl von Testpersonen und konnten so statistisch signifikante Korrelationen zwischen ikigai und verschiedenen gesundheitlichen Vorteilen feststellen.

In ihrer Untersuchung analysierten die Forscher Daten aus einer Langzeitstudie der nationalen Krankenversicherung (NHI), die über sieben Jahre hinweg in der Stadt Ōsaki durchgeführt wurde. Ein selbst auszufüllender Fragebogen wurde an 54 996 Menschen zwischen 40 und 79 Jahren verteilt, die das öffentliche Gesundheitszentrum von Ōsaki genutzt hatten, eine lokale Behörde zur Gesundheitsversorgung der Bewohner von 14 Gemeinden.

Die Studie bestand aus einem Fragebogen mit 93 Fragen zur eigenen medizinischen Vorgeschichte, zu familiären Krankengeschichte, körperlicher Gesundheit, Trink- und Rauchgewohnheiten, Beruf, Familienstand, Bildung und anderen gesundheitsrelevanten Faktoren, darunter auch ikigai. Die entscheidende Frage zu Letzterem war sehr direkt: »Haben Sie ikigai in Ihrem Leben?« Die Befragten konnten zwischen drei Antworten auswählen: »Ja«, »Weiß nicht« oder »Nein«.

Die Ōsaki-Studie, in der Daten von über 50 000 Menschen analysiert wurden, kam zu dem Schluss: »Verglichen mit den Menschen, die ein Gefühl von ikigai entwickelt haben, sind diejenigen, auf die das nicht zutrifft, mit größerer Wahrscheinlichkeit unverheiratet, arbeitslos und weniger gut ausgebildet, empfinden sich als weniger gesund und stärker mental gestresst, haben häufiger schwere oder mäßige körperliche Schmerzen, eingeschränkte Körperfunktionen und können mit geringerer Wahrscheinlichkeit gehen.«

Allein anhand dieser Studie lässt sich natürlich nicht sagen, ob ikigai zum besseren Familien-, Berufs- und Bildungsstatus der Befragten geführt hat oder ob umgekehrt die Häufung verschiedener kleiner Erfolge im Leben ein verstärktes Gefühl von ikigai bewirkt. Aber man kann mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass das Empfinden von ikigai auf eine bestimmte Geistesverfassung hindeutet – es gibt den Betreffenden das Gefühl, ein glückliches und aktives Leben aufbauen zu können. ikigai ist gewissermaßen ein Barometer, das die Lebensperspektive eines Menschen umfassend und treffend darstellt.

Darüber hinaus war die Sterblichkeitsrate bei den Menschen, die die Ikigai-Frage mit »Ja« beantworteten, signifikant niedriger als bei jenen, die sie mit »Nein« beantworteten. Diese niedrigere Rate war auf ein geringeres Risiko in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen. Interessanterweise gab es beim Krebsrisiko keine signifikanten Unterschiede zwischen den Menschen, die auf die Frage nach ikigai mit »Ja« antworteten, und denen, die »Nein« sagten.

Warum hatten die Menschen mit ikigai ein geringeres Risiko in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen? Zur Erhaltung der Gesundheit trägt eine Vielzahl von Faktoren bei. Es ist schwer zu sagen, welche letztendlich entscheidend sind, aber der Rückgang der Herz-Kreislauf-Erkrankungen legt nahe, dass Menschen mit ikigai mit größerer Wahrscheinlichkeit Sport treiben, weil körperliche Aktivität erwiesenermaßen das Risiko bezüglich Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt. Tatsächlich zeigte die Ōsaki-Studie, dass Menschen, die positive Antworten zu ikigai gaben, mehr Sport trieben als jene mit negativen Antworten.

Ikigai gibt dem Leben einen Sinn, und das verleiht uns das Durchhaltevermögen zum Weitermachen. Auch wenn das Sukiyabashi Jiro heute ein weltberühmtes kulinarisches Reiseziel ist und von Gästen wie Joël Robuchon besucht wird, ist Jiro Onos Herkunft sehr bescheiden. Seine Familie kam nur mit Mühe über die Runden, und er musste aus finanziellen Gründen schon als Grundschüler anfangen, abends in einem Restaurant zu arbeiten (damals war Kinderarbeit in Japan noch nicht verboten). Müde von der langen, harten Arbeit nickte er oft tagsüber in der Schule ein. Wenn der Lehrer ihn zur Strafe vor die Tür schickte, nutzte er die Unterrichtspause oft, um ins Restaurant zurückzurennen und Aufgaben zu beenden oder vorzuziehen, um sein Arbeitspensum zu verringern.

Als Ono sein erstes Sushi-Restaurant eröffnete – einen Vorläufer des Sukiyabashi Jiro –, war sein Ziel nicht, das beste Esslokal der Welt zu erschaffen. Damals war es verglichen mit anderen Arten von Gaststätten einfach billiger, ein Sushi-Restaurant zu eröffnen. In seiner einfachsten Form braucht ein solches Lokal nur eine rudimentäre Ausstattung. Das ist nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass das erste Sushi während der Edo-Zeit im 17. Jahrhundert als Imbiss an Straßenständen verkauft wurde. Ein Sushi-Restaurant zu eröffnen, war für Ono damals der Versuch, über die Runden zu kommen – nicht mehr und nicht weniger.

Dann begab er sich auf den langen, anstrengenden Weg nach oben. Allerdings hatte Ono in jedem Stadium seiner beträchtlichen Karriere ikigai als Unterstützung und Motivation – bei seiner endlosen Suche nach Qualität hörte er auf seine innere Stimme. Das war nichts, was für den Massenmarkt taugte oder für ein großes Publikum leicht zu verstehen war. Ono musste sich auf seinem Weg selbst auf die Schulter klopfen, vor allem in der ersten Zeit, als die Öffentlichkeit noch gar keine Notiz von seinen Anstrengungen nahm.

Er nahm weiter im Stillen kleine Verbesserungen an seinem Lokal vor; beispielsweise entwarf er einen Spezialbehälter, der genau auf den ungewöhnlichen Tresen seines Restaurants passte, damit alles ordentlich und sauber aussah. Er verbesserte verschiedene Werkzeuge, die zur Herstellung von Sushi verwendet werden, wobei er nicht ahnte, dass viele davon später in anderen Restaurants verwendet und letztendlich als seine Erfindungen anerkannt werden sollten. All diese kleinen, liebevollen Fortschritte wurden dadurch gestützt, dass Ono sich der Bedeutung des Kleinanfangens lebhaft bewusst war (die erste Säule des ikigai).

Dieses kleine Buch möchte all jenen eine bescheidene Hilfe sein, die sich für das Ikigai-Ethos interessieren. Ich hoffe, ich konnte mit Jiro Onos Geschichte einen kleinen Vorgeschmack darauf liefern, was dieser Begriff umfasst und wie wertvoll er sein kann. Wie wir zusammen sehen werden, kann ikigai buchstäblich Ihr Leben verändern. Sie können länger, gesünder, glücklicher, zufriedener und weniger gestresst leben. Außerdem – als Nebenprodukt von ikigai – werden Sie vielleicht sogar kreativer und erfolgreicher. All diese Vorteile von ikigai können Sie genießen, sobald Sie gelernt haben, diese Lebensphilosophie zu schätzen und auf Ihr Leben anzuwenden.

Weil der Begriff des ikigai in der japanischen Kultur und ihrem Erbe fest verankert ist, werde ich tief in die Traditionen Japans eintauchen und gleichzeitig seine zeitgenössischen Sitten untersuchen, um zu erklären, was er umfasst. Ich betrachte ikigai als eine Art Denk- und Verhaltensknotenpunkt, um den sich verschiedene Lebensgewohnheiten und Wertsysteme organisieren. Die Tatsache, dass Japaner diesen Begriff im Alltagsleben benutzen, auch wenn sie nicht unbedingt immer wissen, was er genau bedeutet, ist ein Beweis für die Bedeutung von ikigai – vor allem, wenn man die lexikalische Hypothese berücksichtigt, die der englische Psychologe Francis Galton im späten 19. Jahrhundert erstmals aufstellte: Seiner Ansicht nach werden wichtige individuelle Eigenschaften der Persönlichkeit eines Volkes in der Sprache der betreffenden Kultur kodiert; je wichtiger eine Wesensart ist, desto wahrscheinlicher wird sie in einem einzigen Wort zusammenfasst. »ikigai« hat sich zu einem einzigen Wort entwickelt – das zeigt, dass dieser Begriff eine wichtige psychologische Eigenschaft bezeichnet, die für das Leben der Japaner relevant ist. ikigai repräsentiert die japanische Lebensweisheit: all jene Empfindsamkeiten und Verhaltensweisen, die auf einzigartige Weise mit der japanischen Gesellschaft verwoben sind und sich über Hunderte von Jahren in der eng vernetzten Gemeinschaft des Inselstaats entwickelt haben.

Ich werde Ihnen zeigen, dass Sie natürlich nicht Japaner oder Japanerin sein müssen, um ikigai zu haben. Wann immer ich mir ikigai als private Freude vorstelle, denke ich an einen besonderen Stuhl, den ich in England gesehen habe.

Mitte der 1990er-Jahre arbeitete ich ein paar Jahre lang als Postdoktorand am physiologischen Labor der Universität Cambridge. Ich wohnte in einem Haus, das einem berühmten Professor gehörte. Als er mir mein Zimmer zeigte, deutete er auf einen Stuhl und erklärte, dieser habe für ihn einen besonderen Gefühlswert: Sein Vater habe den Stuhl speziell für ihn angefertigt, als er noch ein kleiner Junge gewesen sei.